Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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»Ich wäre fast gestorben, weißt du«, sagte Nick. Er und Tom gingen auf dem leeren Bürgersteig. Der Wind heulte ohne Unterbrechung; als ob ein endloser Geisterzug über ihnen durch den schwarzen Himmel raste. Es war unheimlich. Wenn Tom wach gewesen wäre, wäre er davongelaufen. Aber er war nicht wach – jedenfalls nicht richtig -, und Nick war bei ihm. Hagelkörner trafen sein Gesicht.
»Wirklich?« fragte Tom. »Meine Fresse!«
Nick lachte. Seine Stimme war tief und melodisch. Eine angenehme Stimme. Tom hörte ihr gern zu. »Wirklich. Die Grippe hat mich nicht gekriegt, aber ein kleiner Kratzer am Bein hätte mich fast umgebracht. Sieh dir das an.«
Als ob er die Kälte nicht spürte, öffnete Nick seinen Gürtel und schob die Jeans nach unten. Tom beugte sich vor, neugierig wie ein kleiner Junge, dem jemand eine Warze zeigt, aus der Haare sprießen, oder eine interessante Wunde oder ähnliches. Über Nicks Bein zog sich eine häßliche rote Narbe, die fast verheilt war. Sie begann dicht unterhalb der Leiste und verlief spiralig das Bein hinunter, am Knie vorbei und bis zur Mitte des Schienbeins.
»Und das hätte dich fast umgebracht?«
Nick zog seine Jeans wieder hoch und schnallte den Gürtel zu. »Die Wunde war nicht tief, aber sie entzündete sich. Das bedeutet, es kamen böse Bazillen in die Wunde. Infektionen sind das Schlimmste, was es gibt, Tom. Durch Infektion sind fast alle Menschen am Supergrippe-Bazillus gestorben. Und es war auch eine Infektion, die die Leute dazu getrieben hat, den Bazillus zu machen. Es war eine Infektion des Geistes.«
»Infektion«, flüsterte Tom fasziniert. Sie gingen weiter, schwebten fast über den Bürgersteig.
»Was Stu jetzt hat, ist eine Infektion, Tom.«
»Nein... nein, sag das nicht, Nick... du machst Tom Cullen Angst, meine Fresse, ja, wirklich!«
»Ich weiß, daß ich dir Angst mache, Tom, und es tut mir leid. Aber du mußt es wissen. Er hat eine doppelseitige Lungenentzündung, weil er fast zwei Wochen lang draußen geschlafen hat. Du mußt ihm helfen. Und vielleicht wird er trotzdem sterben. Du mußt darauf vorbereitet sein.«
»Nein, bitte...«
Nick legte eine Hand auf Toms Schulter, aber Tom spürte nichts... es war, als sei Nicks Hand nichts weiter als Rauch. »Wenn er stirbt, mußt du mit Kojak weiterziehen. Du mußt nach Boulder gehen und den Leuten erzählen, daß du die Hand Gottes in der Wüste gesehen hast. Wenn es Gottes Wille ist, wird Stu mit dir gehen... wenn er wieder gesund ist. Wenn es aber Gottes Wille ist, daß er stirbt, dann wird er sterben. Wie ich.«
»Nick«, sagte Tom flehentlich. »Bitte...«
»Ich habe dir mein Bein aus einem bestimmten Grund gezeigt. Es gibt nämlich Tabletten gegen Infektionen. In Geschäften wie diesem.«
Tom sah sich um und stellte fest, daß sie nicht mehr auf der Straße waren, sondern in einem dunklen Laden. Es war ein Drugstore. An Klavierdrähten hing ein Rollstuhl von der Decke herab, wie ein unheimlicher, mechanischer Leichnam. Daneben wurden auf einem Plakat Hilfen gegen Inkontinenz angepriesen.
»Ja, Sir? Was kann ich für Sie tun?«
Tom fuhr herum. Hinter dem Ladentisch stand Nick in einem weißen Kittel.
»Nick?«
»Ja, Sir.« Nick fing an, Fläschchen mit Tabletten auf dem Ladentisch aufzureihen. »Das ist Penicillin. Sehr gut gegen Lungenentzündung. Das ist Ampicillin; und das hier ist Amoxicillin. Auch beides sehr gut. Und das ist Vacillin. Das gibt man meist Kinder. Manchmal hilft es, wenn die anderen Mittel nicht wirken. Er muß viel trinken. Am besten Fruchtsäfte. Wenn du keine Fruchtsäfte auftreiben kannst, gib ihm dies: Vitamin-C-Tabletten. Außerdem muß er Bewegung haben...«
» Ich kann das alles nicht behalten!« jammerte Tom.
»Du wirst dir Mühe geben müssen. Weil kein anderer da ist. Du bist ganz allein.«
Tom fing an zu weinen.
Nick beugte sich vor. Er holte aus. Es gab keine Ohrfeige – da war bloß dieses Gefühl, daß Nick nur Rauch war und an Tom vorbei oder durch ihn hindurch ging. Trotzdem ruckte Toms Kopf zur Seite.
Irgend etwas in seinem Schädel schien einzurasten.
»Hör auf damit, Tom! Benimm dich nicht wie ein Baby! Sei ein Mann!
Um Himmels willen, sei ein Mann!«
Tom starrte Nick entgeistert an, eine Hand an der Wange, die Augen weit aufgerissen.
»Stu muß aufstehen«, sagte Nick. »Du mußt ihm helfen, auf seinem guten Bein zu stehen. Zieh ihn hoch und stütz ihn. Er darf nicht die ganze Zeit liegen.«
»Er ist nicht bei Verstand«, sagte Tom. »Er schreit... er schreit Leute an, die gar nicht da sind.«
»Er phantasiert. Trotzdem muß er aufstehen, sooft es geht. Gib ihm das Penicillin. Immer eine Tablette. Gib ihm Aspirin. Halt ihn warm. Bete. Das alles kannst du tun.«
»Ja, Nick, ja. Ich will versuchen, ein Mann zu sein. Ich will versuchen, das alles zu behalten. Aber ich wünschte, du könntest bei mir bleiben. Meine Fresse, ja.«
»Tu dein Bestes, Tom. Das ist alles.«
Nick war verschwunden. Tom kam zu sich und stand in dem verlassenen Drugstore vor dem Ladentisch, auf dem vier Fläschchen mit Tabletten lagen. Tom starrte sie lange an, bevor er sie einsteckte.
Als Tom zurückkam, war es vier Uhr morgens. Er hatte einen frostigen Panzer aus Hagelkörnern auf den Schultern. Im Osten wurde der Himmel schon ein wenig hell. Kojak begrüßte Tom mit begeistertem Gebell, und Stu stöhnte und wachte auf. Tom kniete sich neben ihn auf den Boden. »Stu?«
»Tom? Ich kann kaum atmen.«
»Ich habe Medizin, Stu. Nick hat sie mir gezeigt. Du nimmst sie, dann wirst du diese Infektion los. Du mußt gleich eine nehmen.«
Tom holte die vier Fläschchen mit Tabletten und eine große Flasche Fruchtsaft aus einer Plastiktüte. Zu seiner Erleichterung hatte er festgestellt, daß es in der Green River Superette genügend Fruchtsaft gab.
Stu betrachtete die Tabletten, indem er sie ganz dicht vor die Augen hielt. »Tom, woher hast du das?«
»Aus dem Drugstore. Nick hat sie mir gegeben.«
»Nein, also ehrlich.«
»Ehrlich! Ehrlich! Zuerst mußt du das Penicillin nehmen, damit wir sehen, ob es hilft. Auf welcher steht Penicillin?«
»Auf dieser... aber Tom...«
»Nein. Du mußt. Nick hat es gesagt. Und du mußt aufstehen und herumgehen.«
»Ich kann nicht gehen. Mein Bein ist gebrochen. Und ich bin krank.«
Stus Stimme wurde mürrisch, aufsässig. Eine richtige Krankenzimmerstimme.
»Du mußt. Oder ich zieh' dich hoch«, sagte Tom.
Stu fing wieder an zu phantasieren. Tom schob ihm eine Penicillintablette in den Mund und gab ihm Fruchtsaft zu trinken. Stu schluckte den Saft und die Tablette reflexhaft und bekam einen gräßlichen Hustenanfall. Tom klopfte ihm den Rücken, als sei er ein Baby. Dann zerrte er ihn von seinem Lager hoch und schleifte ihn durch die Empfangshalle, wobei Kojak ihnen ängstlich folgte.
»Bitte, lieber Gott«, sagte Tom. »Bitte, lieber Gott. Bitte.«
Stu schrie: »Ich weiß, wo ich ihr ein Waschbrett besorgen kann, Glen! In diesem Musikladen gibt es welche! Ich habe sie im Fenster gesehen!«
»Bitte, lieber Gott«, keuchte Tom. Stus Kopf lehnte an Toms Schulter. Er war heiß wie ein Backofen. Das geschiente Bein schleifte kraftlos über den Fußboden.
Boulder schien nie so weit entfernt gewesen wie an diesem trostlosen Morgen.
Stus Kampf mit der Lungenentzündung dauerte zwei Wochen. Er trank literweise Multivitaminsäfte, V -8, Welch's Traubensaft und verschiedene Marken Orangensaft. Er merkte kaum, was er trank. Sein Urin roch stark und scharf, und sein Stuhlgang war gelb und locker wie der eines Babys. Er konnte nicht zur Toilette gehen. Tom hielt ihn sauber. Tom schleifte ihn durch die Eingangshalle des UtahHotels. Und die ganze Zeit wartete Tom auf die Nacht, in der er aufwachen würde, nicht weil Stu im Schlaf phantasierte, sondern weil seine unregelmäßigen Atemzüge nicht mehr zu hören waren. Nachdem Stu das Penicillin zwei Tage lang genommen hatte, bekam er einen häßlichen roten Hautausschlag, und Tom gab ihm Ampicillin. Dieses Mittel war besser. Als Tom am 7. Oktober aufwachte, sah er, daß Stu tiefer und ruhiger als sonst schlief. Sein ganzer Körper war schweißnaß, aber seine Stirn war kühl. Das Fieber war zurückgegangen. Die nächsten zwei Tage schlief Stu fast ohne Unterbrechung. Tom hatte Schwierigkeiten, ihn soweit wachzurütteln, daß er seine Tabletten und den Würfelzucker aus dem Restaurant des Utah-Hotels nahm.
Am 11. Oktober bekam Stu einen Rückfall, und Tom hatte furchtbare Angst, daß jetzt das Ende käme. Aber das Fieber stieg nicht mehr so hoch, und Stu atmete nicht so mühsam wie an jenen schrecklichen ersten Tagen im Utah-Hotel.
Als Tom am 13. Oktober aus einem unruhigen Schlaf in einem der Hotelsessel erwachte, saß Stu aufrecht auf seinem Lager und sah sich um. »Tom«, flüsterte er, »ich lebe.«
»Ja«, jubelte Tom, »meine Fresse, ja!«
»Ich habe Hunger. Könntest du etwas Suppe besorgen, Tom? Vielleicht mit Nudeln drin?«
Am Achtzehnten war er schon etwas zu Kräften gekommen. Tom hatte ihm Krücken aus dem Drugstore geholt, auf denen er durch die Empfangshalle humpelte. Er schaffte schon fünf Minuten, ohne ausruhen zu müssen. Der Heilvorgang in seinem gebrochenen Bein machte sich durch ständiges Jucken bemerkbar, das ihn fast verrückt machte. Verpackt in dicke, wollene Unterwäsche und einen riesigen Schaffellmantel ging er am 20. Oktober zum ersten Mal wieder ins Freie.
Der Tag war warm und sonnig, aber die Luft schmeckte kühl. In Boulder herrschte wahrscheinlich noch mildes Herbstwetter, das die Blätter an den Bäumen golden färbte, aber hier kündigte sich der Winter schon unmißverständlich an. Stu konnte kleine Flecken gefrorenen, körnigen Schnees an jenen schattigen Stellen sehen, die nie ein Sonnenstrahl erreichte.
»Ich weiß nicht, Tom«, sagte er. »Bis Grand Junction könnten wir es vielleicht schaffen, aber weiter weiß ich nicht. Es wird eine Menge Schnee in den Bergen geben, und ich kann mir nicht viel zumuten. Ich muß erst wieder richtig auf die Beine kommen.«
»Wie lange brauchst du, um wieder richtig auf die Beine zu kommen, Stu?«
»Ich weiß es nicht, Tom. Wir müssen einfach abwarten.«
Stu war entschlossen, nichts zu überstürzen, nicht zu drängen – er war dem Tode so nahe gewesen, daß er seine Genesung auskosten wollte. Und er wollte sie so weit fortschreiten lassen wie nur möglich. Sie zogen aus der Empfangshalle in zwei nebeneinanderliegende Zimmer mit einer Verbindungstür im Erdgeschoß. Das Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors wurde Kojaks provisorische Hundehütte. Der Knochen in Stus gebrochenem Bein schien tatsächlich wieder zusammenzuheilen, nur leider ziemlich schief. Wenn er wieder auf zwei geraden Beinen gehen wollte, würde George Richardson den Knochen wieder brechen und richten müssen. Bis dahin würde er nur humpeln können, wenn er die Krücken nicht mehr benutzte.
Trotzdem fing er an, das Bein zu trainieren. Er wußte, daß es lange dauern würde, auch nur fünfundsiebzig Prozent der alten Ausdauer und Beweglichkeit wiederzuerlangen, aber er hatte ja auch viel Zeit: wahrscheinlich einen ganzen Winter.
Am 28. Oktober fiel in Green River ungefähr zehn Zentimeter Schnee.
»Wenn wir hier nicht bald verschwinden«, sagte Stu, als er mit Tom am Fenster stand und sich die Bescherung ansah, »werden wir den ganzen verdammten Winter im Utah-Hotel verbringen.«
Am nächsten Tag fuhren sie in ihrem alten Plymouth zur Tankstelle am Rande der Stadt. Sie tauschten die abgefahrenen Hinterreifen gegen ein Paar Winterreifen mit Spikes. Stu mußte einige Ruhepausen einlegen, und Tom machte die Muskelarbeit. Vorher hatte Stu überlegt, ob sie nicht lieber ein Fahrzeug mit Vierradantrieb nehmen sollten, aber dann hatte er sich – ganz irrational – entschlossen, dem alten Auto, das ihnen Glück gebracht hatte, treu zu bleiben. Zum Schluß lud Tom noch vier Säcke mit je einem halben Zentner Sand in den Plymouth. Sie verließen Green River am Tag vor Allerheiligen und fuhren nach Osten.
Am 2. November mittags kamen sie in Grand Junction an. Und wie sich herausstellte, hätte die Fahrt keine drei Stunden länger dauern dürfen. Der Himmel war schon den ganzen Vormittag bleigrau gewesen, und als sie die Hauptstraße hinunterfuhren, fing es an zu schneien. Die Flocken wirbelten über die lange Kühlerschnauze des Plymouth. Schon unterwegs hatte es ein paar Schneeschauer gegeben, aber das hier war kein Schauer. Der Himmel versprach heftigen Schneefall.
»Such dir aus, wo du wohnen willst, Tom. Hier werden wir wohl eine Weile bleiben.«
Tom zeigte: »Da! Das Motel mit dem Stern drauf!«
Das Motel mit dem Stern drauf war das Grand Junction Holiday Inn. Unter dem Stern und dem bekannten Namenszug war ein Transparent angebracht, auf dem in großen roten Buchstaben zu lesen stand: ILLKOMMEN INGR NDJUNC ION ZUM SOMMERF ST'90! 12. JUNI BIS 4. JULI!
»Okay«, sagte Stu. »Also ins Holiday Inn.« Er fuhr auf den Parkplatz, stellte den Motor ab, und dort blieb der Wagen stehen. Er rührte sich nicht mehr vom Fleck. Jedenfalls nicht für Tom und Stu. Um zwei Uhr nachmittags fiel der Schnee nicht mehr in vereinzelten Flocken vom Himmel, sondern als dichter, weißer Vorhang, und die Flocken tanzten wild nach der verrückten Melodie des Windes. Der Schnee fiel lautlos und scheinbar endlos. Gegen vier Uhr nachmittags hatte der leichte Wind sich in einen Sturm verwandelt, der die Schneemassen vor sich her peitschte und sie mit unglaublicher Schnelligkeit zu hohen Wehen auftürmte. Es schneite die ganze Nacht. Als Stu und Tom am nächsten Morgen aufstanden, saß Kojak hinter der großen Eingangstür und sah hinaus auf eine weiße Welt, in der sich nichts rührte. Nur ein einzelner Blauhäher stolzierte auf den zerfetzten Resten einer Sonnenschutzmarkise herum, die auf der anderen Straßenseite windschief an einem Laden hing.
»Verrückte Krähe«, flüsterte Tom. »Wir sind eingeschneit, Stu, stimmt's?«
Stu nickte.
»Wie können wir nach Boulder kommen durch all das Zeug?«
»Wir warten bis zum Frühling«, sagte Stu.
»So lange?« Tom blickte betrübt drein, und Stu legte einen Arm um die breiten Schultern des kräftigen Mannes, der in seinem Innern noch ein Kind war.
»Die Zeit wird vergehen«, sagte er, aber selbst er war nicht sicher, ob sie die Geduld aufbringen würden, so lange zu warten.
In der Dunkelheit hatte Stu eine Zeitlang gestöhnt und gekeucht. Schließlich stieß er einen Schrei aus, der so laut war, daß er davon erwachte, und der Traum ließ ihn los; er lag, auf die Ellbogen gestützt, wieder in seinem Motelzimmer im Holiday Inn und starrte aus weit aufgerissenen Augen ins Nichts. Er stieß einen langen, zitternden Seufzer aus und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Er hatte den Schalter bereits zweimal gedrückt, bevor ihm wieder zu Bewußtsein kam, daß es ja gar keinen Strom mehr gab – seltsam, wie schwer es fiel, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Er nahm die Coleman-Lampe vom Fußboden und zündete sie an. Als das Licht neben dem Tisch brannte, benutzte er den Nachttopf. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben dem Tisch. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß es Viertel nach drei morgens war.
Wieder dieser Traum. Der Frannie-Traum. Der Alptraum. Es war immer dasselbe: Frannie in Schmerzen, ihr Gesicht schweißgebadet, Richardson zwischen ihren Beinen, und Laurie Constable als Assistentin daneben. Frans Füße hingen in Stahlschlingen...
Pressen, Frannie. Kräftig! Gut so.
Aber wenn Stu Georges ernste Augen über der weißen Gesichtsmaske sah, wußte er, daß überhaupt nichts gut war. Im Gegenteil: Irgend etwas stimmte nicht. Laurie tupfte Fran den Schweiß vom Gesicht und strich ihr das Haar aus der Stirn. Steißlage.
Wer hatte das gesagt? Es war eine unheilverkündende, körperlose Stimme. Tief und schleppend, wie von einer zu langsam abgespielten Schallplatte.
Steißlage.
Georges Stimme: Ruf Dick. Sag ihm, vielleicht müssen wir...
Lauries Stimme: Doktor, sie verliert jetzt sehr viel Blut...
Stu zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte scheußlich, aber nach diesem Traum war alles eine Erholung. Es ist ein Angsttraum. Das ist alles. Das ist die typische Macho-Vorstellung, daß alles schiefgeht, wenn du nicht dabei bist. Vergiß es, Stuart. Es geht ihr gut. Nicht alle Träume werden wahr...
Aber zu viele Träume waren im letzten halben Jahr wahr geworden. Das Gefühl, daß dieser immer wiederkehrende Traum von Frans Entbindung ihm die Zukunft zeigte, wollte ihn nicht loslassen. Er drückte die halb gerauchte Zigarette aus und starrte mit leerem Blick in das sanfte, ruhige Licht der Gaslampe. Heute war der 29. November; das Holiday Inn von Grand Junction war jetzt schon seit vier Wochen ihr Quartier. Die Zeit war langsam und zäh verronnen, aber sie hatten es geschafft, bei Laune zu bleiben, indem sie die ganze Stadt immer wieder nach interessanten Dingen durchstöbert hatten, mit denen man sich beschäftigen und die Zeit totschlagen konnte.
Stu war in der Lagerhalle eines Elektrogroßhandels an der Grand Avenue auf einen mittelgroßen Honda-Elektrogenerator gestoßen, und er und Tom hatten ihn ins Convention Center gegenüber dem Holiday Inn geschleppt, indem sie das Ding mit Hilfe eines Flaschenzuges auf einen Schlitten gehoben und dann zwei Schneemobile vor den Schlitten gespannt hatten – mit anderen Worten: Sie hatten den Generator auf eine ganz ähnliche Art und Weise transportiert wie der Mülleimermann sein allerletztes Geschenk an Randall Flagg.
»Und was tun wir damit?« fragte Tom. »Den Strom im Motel wieder anmachen?«
»Dafür ist dieser Generator zu klein«, sagte Stu.
»Warum nehmen wir ihn dann mit? Wozu?« fragte Tom voller Ungeduld.
»Du wirst schon sehen«, sagte Stu.
Sie stellten den Generator in der kleinen Elektrozentrale der Convention Hall ab, und damit war das Gerät für Tom gestorben und vergessen – und genau das hatte Stu sich erhofft. Am folgenden Tag war er mit dem Schneemobil zum Grand Junction Simplex gefahren und hatte – indem er wieder, diesmal alleine, den Flaschenzug benutzte – einen alten Fünfunddreißig-Millimeter-Filmprojektor aus einem Fenster im zweiten Stock der Lagerhalle, wo er ihn auf einem seiner früheren Streifzüge entdeckt hatte, heruntergehievt. Der Projektor war in Plastikfolie eingewickelt gewesen... und dann, nach der dicken Staubschicht zu urteilen, die sich auf der Schutzfolie angesammelt hatte, schlicht und einfach vergessen worden. Stus Bein hatte ganz gut mitgespielt, aber er hatte dennoch fast drei Stunden gebraucht, um den Projektor durch den Haupteingang der Convention Hall bis in die Mitte des Sitzungssaales zu schleppen. Er hatte dazu drei kleine Transportkarren benutzt und immer damit gerechnet, daß Tom plötzlich auftauchen würde, um nach ihm zu sehen. Mit Toms Hilfe wäre die Arbeit viel schneller vonstatten gegangen, aber es hätte auch die Überraschung verdorben, die Stu Tom bereiten wollte. Aber Tom war offensichtlich in eigener Sache unterwegs, und Stu bekam ihn den Tag über nicht zu Gesicht. Als Tom schließlich gegen fünf Uhr nachmittags ins Holiday Inn zurückkehrte, mit von der Kälte roten Wangen und einem dicken Schal um den Hals, war die Überraschungsparty drüben in der Convention Hall bereits vorbereitet.
Stu hatte alle sechs Filme mitgebracht, die er in einem Kino in Grand Junction gefunden hatte. Nach dem Abendessen sagte er beiläufig:
»Komm mal mit mir rüber zur Convention Hall, Tom.«
»Warum?«
»Du wirst schon sehen.«
Sie überquerten die verschneite Straße. Am Eingang der Convention Hall drückte Stu Tom eine Tüte Popcorn in die Hand.
»Was soll das?« fragte Tom.
»Ist doch schöner, sich 'nen Film anzusehen, wenn man was zu knabbern hat, du großer Dummkopf«, sagte Stu grinsend.
» FILM?«
»Ja, sicher.«
Tom brach wie ein Unwetter durch die Eingangstür. Sah den Projektor, vorführbereit, mit eingelegter Filmrolle. Sah die große Leinwand der Versammlungshalle, die Stu heruntergelassen hatte. Sah zwei Klappstühle auf dem leeren Mittelgang.
»Whow«, flüsterte er, und das Erstaunen auf seinem Gesicht war so echt und tief und kindlich, wie Stu es sich nur erhoffen konnte.
»Ich habe im Starlite Drive-In drüben in Braintree drei Jahre den Sommer über als Filmvorführer gearbeitet«, sagte Stu. »Ich hoffe, ich habe nicht vergessen, wie man diese verdammten Filmrollen austauscht.«
»Whow«, sagte Tom wieder.
Stu stieg über das Wirrwarr von Kabeln und Anschlüssen hinweg, mit denen Projektor und Generator verbunden waren, ging in die Elektrozentrale und zog kräftig an der Starterschnur. Der kleine Benzinmotor des Generators begann zu tuckern. Stu schloß die Tür zur Elektrozentrale so weit hinter sich, wie es wegen der Kabelstränge möglich war, um das Geräusch des Motors zu dämpfen und knipste dann die Lampen im Versammlungsraum aus. Fünf Minuten später saßen er und Tom Seite an Seite und verfolgten, wie Sylvester Stallone in Rambo IV: The Fire-FightHunderte von Drogenhändlern ins Jenseits beförderte. Der DolbySound dröhnte aus den sechzehn Lautsprechern des Versammlungsraums im Conventional Center; manchmal war das Spektakel dermaßen laut, daß sie die Dialoge (was an Dialogen stattfand) kaum mehr verstehen konnten... aber als der Film zu Ende war, hatte die Vorführung ihnen beiden gefallen.
Jetzt, wo er über diese Geschichte nachdachte, lächelte Stu. Jemand, der es nicht besser wußte, hätte ihn als dämlich bezeichnet – denn hätte Stu einen Videorecorder an einen sehr viel kleineren Generator angeschlossen, was möglich gewesen wäre, hätten sie sich auf diese Weise Hunderte von Filmen ansehen können, wahrscheinlich sogar drüben im Holiday Inn. Aber ein Film auf der Leinwand war etwas anderes als auf einem Fernsehbildschirm, war es immer schon gewesen; jedenfalls nach seiner Ansicht. Außerdem ging es eigentlich auch gar nicht darum. Es ging schlicht und einfach darum, daß er und Tom jede Menge Zeit totzuschlagen hatten... und an manchen Tagen wollte die Zeit einfach nicht sterben.
Wie dem auch sei, einer der Filme war eine Neufassung des letzten Disney-Zeichentrickfilms Oliver and Company, der nie auf Videokassette erschienen war. Tom sah sich den Streifen wieder und wieder an, lachte wie ein Kind über die Eskapaden von Oliver und dem Artful Dodger und Fagin, der im Film auf einem Schleppkahn in New York wohnte und auf einem gestohlenen Flugzeugsitz zu schlafen pflegte.
Zusätzlich zu seinem Filmprojekt hatte Stu Modellautos zusammengebaut, mehr als zwanzig Stück, unter anderem einen Rolls-Royce aus 240 Einzelteilen, die vor der Supergrippe 65 Dollar gekostet hatten. Tom hatte aus Papiermache, Gips und diversen Lebensmittelfarben eine seltsame, aber irgendwie ansprechende Landschaft modelliert, die den halben Fußboden eines Tagungsraums im Holiday Inn ausfüllte. Er nannte sein Werk Mondbasis Alpha. O ja, sie hatten sich beschäftigt, aber...
Was du jetzt denkst, ist verrückt.
Er bewegte sein Bein. Es war in besserer Verfassung, als er je zu hoffen gewagt hatte. Zum Teil verdankte er das dem Fitnessraum des Holiday Inn und seinen Übungsgeräten. Das Bein war noch ein wenig steif und schmerzte gelegentlich, aber er konnte ohne Krücken gehen, wenn auch humpelnd. Sie konnten es langsam angehen lassen. Er war sicher, daß er Tom beibringen konnte, eines dieser Schneemobile zu fahren, die hier fast jeder Einwohner in der Garage stehen hatte. Zwanzig Meilen am Tag konnte man mit diesen Dingern wohl schaffen. Zeltbahn, dicke Schlafsäcke und jede Menge gefriergetrocknetes Lebensmittelkonzentrat konnte man sich einpacken...
Sicher. Und wenn am Vail-Paß eine Lawine auf uns zukommt, winken wir ihr mit einer Packung gefriergetrockneter Karotten, und sie wendet sich angewidert ab und geht uns aus dem Weg. Es ist verrückt!
Er löschte das Licht. Aber es dauerte lange, bis er einschlief. Beim Frühstück sagte er: »Tom, möchtest du gern nach Boulder zurück?« »Fran sehen? Und Dick und Sandy? Meine Fresse, nichts auf der Welt möcht' ich lieber als das! Glaubst du, daß sie mein kleines Haus weggegeben haben?«
»Nein, bestimmt nicht. Ich meine: Wäre es dir ein Risiko wert?« Tom sah ihn verwirrt an, und Stu wollte gerade die Frage noch einmal einfacher stellen, als Tom sagte: »Meine Fresse, alles ist ein Risiko, oder nicht?« Und damit war es entschieden. Sie verließen Grand Junction am letzten Novembertag.
Das Schneemobilfahren brauchte er Tom nicht beizubringen. Stu fand eine Monster-Maschine in einem Schuppen des Colorado Highway Department unweit des Holiday Inn. Das Gefährt hatte einen superstarken Motor, eine Verkleidung, um den Wind abzuhalten, und, was das wichtigste war, viel Platz für Gepäck. Es war früher offensichtlich zum Transport von Rettungsgeräten benutzt worden. Hinten war ein großer offener Raum, in dem ein Hund von Kojaks Größe bequem untergebracht werden konnte. Was sie sonst noch brauchten, besorgten sie sich aus den vielen Sport– und Freizeitgeschäften am Ort. Dabei gab es kaum Schwierigkeiten, obwohl die Supergrippe am Sommeranfang zugeschlagen hatte. Sie nahmen leichte Zeltbahnen und leichte Schlafsäcke mit, ebenso ein Paar Langlaufskier (obschon allein der Gedanke, Tom die Grundkenntnisse des Skilanglaufs beibringen zu müssen, Stu das Blut in den Adern gefrieren ließ), einen großen Coleman-Gaskocher, Lampen, Gasflaschen, Ersatzbatterien, Nahrungskonzentrate und ein Garand-Gewehr mit Zielfernrohr.
Am ersten Tag um zwei Uhr mittags wußte Stu, daß seine Angst, sie könnten einschneien und verhungern, grundlos gewesen war. Der Wald wimmelte förmlich von Wild. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Später am Nachmittag schoß er ein Stück Rotwild. Das erste seit seiner Schulzeit. Damals hatte er die Schule geschwänzt, um mit seinem Onkel Dale auf die Jagd zu gehen. Das Tier, das sie geschossen hatten, war eine magere Ricke gewesen, und ihr Fleisch hatte stark nach Wild und ziemlich bitter geschmeckt, weil sie zuviel Nesseln gefressen hatte, wie Onkel Dale sagte. Das Tier, das Stu heute erlegt hatte, war ein schöner, schwerer Bock mit breiter Brust. Aber schließlich, dachte Stu, als er das Tier mit einem großen Messer ausweidete, hat der Winter gerade erst angefangen, und Mutter Natur hat ihre eigene Art, mit Übervölkerungsproblemen fertig zu werden.
Tom suchte Holz und schichtete es auf, während Stu den Bock, so gut er konnte, zerlegte. Als er das geschafft hatte, war es schon seit drei Stunden dunkel, die Ärmel seines Mantels waren steif und klebrig von Blut, und sein Bein sang das »Ave Maria«. Das Reh, das sein Onkel Dale geschossen hatte, war damals von einem alten Mann namens Schoey aus der Decke geschlagen, ausgeweidet und zerlegt worden. Dieser Mann hatte in einer baufälligen Hütte am Stadtrand von Braintree gewohnt und hatte für seine Arbeit drei Dollar und zehn Pfund vom bitteren Fleisch bekommen.
»Schade, daß der alte Schoey heute abend nicht hier ist«, seufzte Stu.
»Wer?« fragte Tom, der fast eingeschlummert war.
»Ach nichts, Tom. Ich führe Selbstgespräche.«
Die Arbeit hatte sich gelohnt. Das Wildbret war zart und schmeckte vorzüglich. Als sie sich satt gegessen hatten, kochte Stu noch ungefähr dreißig Pfund Fleisch und verstaute es am anderen Morgen in einem der kleinen Gepäckträger des Schneemobils. An diesem ersten Tag hatten sie nur sechzehn Meilen zurückgelegt.
In dieser Nacht war der Traum anders. Stu war wieder im Entbindungszimmer. Überall sah er Blut. Die Ärmel seines weißen Kittels waren steif und klebrig davon. Aber dieses Mal war es kein Tierblut, sondern Frans Blut. Die Kittel, die George und Laurie trugen, waren genauso blutgetränkt wie das Laken, mit dem Frannie zugedeckt war. Und sie schrie.
Es kommt, keuchte George. Seine Zeit ist endlich gekommen. Frannie, es will geboren werden. Pressen! PRESSEN!
Und es kam, es kam in einem letzten Schauer von Blut. George ergriff das Kind bei den Hüften, denn es war mit den Füßen zuerst gekommen...
Laurie fing an zu kreischen. Die Geräte aus rostfreiem Stahl waren vollgespritzt mit -
Denn es war ein Wolf mit einem teuflisch grinsenden menschlichen Gesicht, seinemGesicht, es war Flagg, er war wieder da, er war nicht tot, noch nicht, er war noch auf der Welt, Frannie hatte Randall Flagg geboren -
Stu erwachte von seinem eigenen Stöhnen. Hatte er geschrien? Tom schlief fest. Er hatte sich so tief in seinen Schlafsack verkrochen, daß nur noch sein blonder Haarschopf zu sehen war. Kojak lag zusammengerollt neben Stu. Es war alles in Ordnung. Es war nur ein Traum gewesen...
Und dann stieg ein Heulen in die Nacht, erhob sich wie der silberne Klang verzweifelten Grauens... das Heulen eines Wolfes, oder vielleicht der Schrei einer Mörderseele.
Kojak hob den Kopf.
Stu überlief eine Gänsehaut die Arme, die Oberschenkel, die Leisten.
Das Heulen kam nicht wieder.
Stu schlief wieder ein. Am Morgen packten sie auf und fuhren weiter. Tom machte Stu darauf aufmerksam, daß die Eingeweide des Rehbocks verschwunden waren. Wo sie gelegen hatten, war nur noch ein Durcheinander von Fußspuren, und die Farbe des Blutes im Schnee war zu einem trüben Rosa verblaßt... aber das war alles.
Das Wetter blieb fünf Tage lang gut, und sie erreichten Rifle. Als sie am nächsten Morgen aufwachten, kündigte sich ein Blizzard an. Stu sagte, sie müßten hier das Ende des Sturms abwarten, und so richteten sie sich in einem Motel des Ortes ein. Tom hielt die Eingangstüren auf, und Stu fuhr das Schneemobil direkt in die Empfangshalle. Und obwohl der schöne Teppichboden ziemlich darunter litt, fand Stu, daß das Schneemobil hier bestens untergebracht sei.
Es schneite drei Tage lang. Als sie am Morgen des 10. Dezember aufbrachen, schien die Sonne hell vom Himmel, und die Temperatur war auf knapp über Null Grad angestiegen. Der Schnee lag jetzt so hoch, daß es Schwierigkeiten machte, den Verlauf der 1-70 zu finden. Aber das war nicht Stus größte Sorge an diesem hellen, warmen und sonnigen Tag. Am späten Nachmittag, als die blauen Schatten länger wurden, fuhr Stu langsamer und stellte schließlich den Motor ab. Er schwieg, den Kopf schräg gelegt, und schien mit seinem ganzen Körper zu lauschen.
»Was ist, Stu? Was...« Dann hörte Tom es auch. Ein leises, tiefes Grollen zu ihrer Linken über ihnen. Es schwoll zu einem lauten Donnern an, raste an ihnen vorbei wie ein Schnellzug und verstummte allmählich.
»Stu?« fragte Tom ängstlich.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er und dachte: Ich mach' mir schon genug Sorgen, daß es für uns beide reicht.
Das milde Wetter hielt sich, und am 13. Dezember waren sie nahe Shoshone, und der Weg in Richtung Rockies stieg immer noch an. Der höchste Punkt, den sie erreichen würden, bevor es wieder bergab ging, war der Loveland-Paß.