Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Ralphs Plakate, die die Versammlung am 18. August ankündigten, hingen überall in Boulder. Es gab erregte Diskussionen, bei denen es hauptsächlich um die guten und schlechten Eigenschaften der sieben Mitglieder des Ad-hoc-Komitees ging.
Mutter Abagail ging erschöpft zu Bett, bevor das Licht des Tages erloschen war. Den ganzen Tag war der Strom der Besucher, die alle ihre Meinung wissen wollten, nicht abgerissen. Sie räumte ein, daß sie die für das Komitee benannten Personen für eine gute Auswahl hielt. Die meisten Leute wollten besorgt wissen, ob sie in einem ständigen Komitee mitarbeiten wollte, sollte während der Versammlung eins gewählt werden. Sie erwiderte, daß das ein wenig zu ermüdend sein würde, sie jedoch ein Komitee aus gewählten Repräsentant en jederzeit nach Kräften unterstützen wolle, falls man ihre Unterstützung wollte. Immer wieder versicherten ihr die Leute, daß ein ständiges Komitee, das auf ihre Hilfe keinen Wert legte, sofort abgesetzt werden würde, komplett. Mutter Abagail ging müde, aber zufrieden zu Bett.
Wie Nick Andros an diesem Abend. Innerhalb eines einzigen Tages war die Freie Zone mittels eines handbetriebenen Matritzenkopierers und eines einzigen damit bedruckten Plakats von einer Ansammlung Flüchtlinge zu einem Wahlvolk geworden. Das gefiel den Leuten; sie hatten das Gefühl, nach einer langen Periode des freien Falls endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Am Nachmittag hatte Ralph ihn zum Kraftwerk gefahren. Ralph, Stu und er hatten für übermorgen ein vorbereitendes Treffen bei Stu und Frannie verabredet. So hätten die sieben noch zwei Tage Zeit, die Ansichten der Leute anzuhören.
Nick lächelte und legte die Hände an die nutzlosen Ohren.
»Lippenlesen ist noch besser«, sagte Stu. »Weißt du, Nick, ich glaube, wir machen mit den durchgeschmorten Motoren Fortschritte. Dieser Brad Kitchner arbeitet wie der Teufel. Wenn wir zehn wie ihn hätten, würde die ganze Stadt bis zum ersten September wieder perfekt funktionieren.«
Nick machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, und sie gingen gemeinsam hinein.
An diesem Nachmittag gingen Larry Underwood und Leo Rockway durch die Arapahoe Street nach Westen zu Harolds Haus. Larry trug den Rucksack, den er durch das ganze Land geschleppt hatte, aber heute abend waren nur die Flasche Wein und ein halbes Dutzend Paydays darin.
Lucy war mit einer Gruppe von sechs Leuten unterwegs, die zwei Abschleppwagen genommen hatten und anfingen, in und um Boulder die liegengebliebenen Wagen von den Straßen zu räumen. Das Problem war, sie arbeiteten auf sich allein gestellt – es war eine sporadische Operation, die nur gemacht wurde, wenn genügend Leute Lust hatten, sich zusammenzutun und anzufangen. Ziellose Bienen, keine fleißigen Bienen, dachte Larry und betrachtete ein Plakat mit der Überschrift MASSENVERSAMMLUNG, das an einen Telegrafenmast genagelt war. Vielleicht war das die Lösung. Verdammt, die Leute hier wollten arbeiten; sie brauchten nur jemanden, der alles koordinierte und ihnen sagte, was sie tun sollten. Er glaubte, am allermeisten wollten sie die Spuren dessen tilgen, was im Frühsommer hier passiert war (konnte es tatsächlich schon Spätsommer sein?), wie man mit einem Schwamm schlimme Wörter von einer Tafel wischte. Vielleicht können wir es nicht von einem Ende Amerikas zum anderen, dachte Larry, aber hier in Boulder sollten wir es schaffen, bevor Schnee fällt, wenn Mutter Natur mitspielt.
Er drehte sich um, als er Glas klirren hörte. Leo hatte einen großen Stein aus einem Steingarten durch das Fenster eines alten Ford geworfen. Auf einem Aufkleber an der hinteren Stoßstange des Ford stand: ES MACHT SPASS ÜBER'N PASS – GOLD CREEK CANYON.
»Nicht, Joe.«
»Ich bin Leo.«
»Leo«, verbesserte er sich. »Mach das nicht.«
»Warum nicht?« fragte Leo unschuldig, und Larry fiel lange keine zufriedenstellende Antwort ein.
»Weil es sich häßlich anhört«, sagte er schließlich.
»Oh. Okay.«
Sie gingen weiter. Larry steckte die Hände in die Taschen. Leo folgte seinem Beispiel. Larry trat nach einer Bierdose. Leo machte einen Schlenker, um einen Stein wegzutreten. Larry pfiff eine Melodie. Leo versuchte ein flüsterndes, schnaufendes Geräusch als Begleitung. Larry strich dem Jungen durchs Haar, und Leo sah mit seinen seltsamen Chinesenaugen zu ihm auf und grinste. Larry dachte: H errgott, ich habe mich in den Jungen verliebt. Wahnsinn.
Sie kamen zu dem Park, den Frannie erwähnt hatte; gegenüber sahen sie ein grünes Haus mit weißen Fensterläden. Auf dem Betonpfad, der zur Haustür führte, stand eine Schubkarre mit Ziegelsteinen, daneben ein Abfalleimer mit Do-it-yourselfZementmischung, in die man nur noch Wasser kippen mußte. Daneben hockte mit dem Rücken zu ihnen ein breitschultriger Typ, der das Hemd ausgezogen und auf dem Rücken noch Spuren eines schlimmen Sonnenbrands hatte. In einer Hand hatte er eine Maurerkelle. Er war damit beschäftigt, eine flache geschwungene Begrenzung um ein Blumenbeet zu machen.
Larry dachte an Frans Worte: Er hat sich verändert... ich weiß nicht, wie und warum... und manchmal glaube ich zu seinem Vorteil... und manchmal habe ich Angst.
Dann trat er vor und sagte, wie er es sich auf seiner langen Reise durch das Land vorgenommen hatte: »Harold Lauder, vermute ich?«
Harold fuhr überrascht hoch, dann drehte er sich mit einem Ziegel in der einen und der Kelle, von der noch Mörtel tropfte und die er wie eine Waffe hochhielt, in der anderen Hand um und stand auf. Aus dem Augenwinkel meinte Larry zu sehen, wie Leo zurückzuckte. Sein erster Gedanke war, klar, Harold sah nicht aus wie er ihn sich vorgestellt hatte. Sein zweiter Gedanke galt der Kelle. Mein Gott, will er mir mit dem Ding eins überziehen?Harolds Gesicht war verkniffen, die Augen schmal und dunkel. Das Haar fiel als verklebte Locke in die schweißbedeckte Stirn. Seine Lippen waren zusammengepreßt und fast weiß.
Und dann trat eine so plötzliche und vollkommene Verwandlung ein, daß Larry später kaum glauben konnte, dieses verkniffene Gesicht gesehen zu haben, das Gesicht eines Mannes, dem man eher zutrauen würde, daß er jemanden im Keller lebendig einmauert, als eine Begrenzung um ein Blumenbeet zu ziehen.
Er lächelte, ein breites und argloses Grinsen, das tiefe Grübchen an beiden Mundwinkeln bildete. Der drohende Glanz verschwand aus seinen Augen (sie waren flaschengrün, und wie konnten so klare und fleckenlose Augen bedrohlich, sogar finster gewirkt haben?). Er stiess die Mörtelkelle in den Beton – flatsch-, wischte sich die Hände an den Jeans ab und kam mit ausgestreckter Hand näher. Larry dachte: Mein Gott, er ist ein Kind, jünger als ich. Wenn er schon achtzehn ist, fresse ich die Kerzen von seinem letzten Geburtstagskuchen.
»Ich glaube, ich kenne dich nicht«, sagte Harold und grinste beim Händeschütteln. Er hatte einen festen Griff. Larrys Hand wurde genau dreimal auf und ab bewegt und dann losgelassen. Es erinnerte Larry daran, wie er einmal George Bush die Hand geschüttelt hatte, als der alte Buschklopfer für das Präsidentenamt kandidiert hatte. Das war bei einer politischen Versammlung gewesen, welche er auf den Rat seiner Mutter hin besucht hatte, die ihm vor vielen Jahren gesagt hatte: Wenn du dir das Kino nicht leisten kannst, geh in den Zoo. Wenn du dir den Zoo nicht leisten kannst, geh zu einer politischen Versammlung.
Aber Harolds Grinsen war ansteckend, und Larry grinste auch. Kind oder nicht, Händedruck eines Politikers oder nicht, sein Grinsen schien echt zu sein, und nach der ganzen Zeit, nach allen PaydayPackungen, sah er Harold Lauder jetzt leibhaftig vor sich.
»Nein, du kennst mich nicht«, sagte Larry. »Aber ich dich.«
»Tatsächlich?« rief Harold, und sein Grinsen eskalierte. Wenn es noch breiter wird, dachte Larry amüsiert, würden die Mundwinkel am Hinterkopf zusammentreffen und die oberen zwei Drittel seines Kopfes einfach herunterfallen.
»Ich bin dir von Maine aus durch das ganze Land gefolgt«, sagte Larry.
»Na so was! Echt?«
»Echt.« Larry nahm den Rucksack von den Schultern. »Hier, ich hab' dir was mitgebracht.« Er holte die Flasche Bordeaux heraus und gab sie Harold.
»Das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte Harold und betrachtete erstaunt die Flasche. »1947?«
»Ein guter Jahrgang«, sagte Larry. »Und das hier.«
Er gab Harold fast ein halbes Dutzend Payday -Riegel in die andere Hand. Einer glitt ihm durch die Finger und fiel ins Gras. Harold bückte sich, um ihn aufzuheben, und dabei sah Larry wieder flüchtig den anderen Gesichtsausdruck.
Harold kam lächelnd wieder hoch. »Woher hast du das gewußt?«
»Ich bin deinen Zeichen gefolgt... und deinen Payday-Packungen.«
»Ich werd' verrückt. Komm ins Haus. Wir müssen ein großes Palaver veranstalten, wie mein Dad so gern gesagt hat. Trinkt der Junge eine Cola?«
»Sicher. Leo, möchtest du...«
Er drehte sich um, aber Leo stand nicht mehr neben ihm. Er war ganz zur Straße zurückgelaufen und betrachtete einige Risse im Pflaster, als wären sie von großem Interesse für ihn.
»He, Leo! Willst du 'ne Cola?«
Leo murmelte etwas, das Larry nicht hören konnte.
»Sprich lauter!« sagte er gereizt. »Wozu hat Gott dir eine Stimme gegeben? Ich habe gefragt, ob du eine Cola willst.«
Kaum hörbar sagte Leo: »Ich glaube, ich gehe zu Nadine-Mom zurück.«
»Warum das denn? Wir sind eben erst angekommen!«
»Ich will zurück!« sagte Leo und sah vom Pflaster auf. Die Sonne blitzte zu hell in Leos Augen, und Larry dachte: Um Gottes willen, was soll das? Er weint ja fast.
»Moment mal«, sagte er zu Harold.
»Klar«, sagte Harold. »Kinder sind manchmal schüchtern. War ich auch.«
Larry ging zu Leo hinüber und kauerte sich nieder, so daß sie Auge in Auge waren. »Was ist los, Junge?«
»Ich will einfach zurück«, sagte Leo, ohne ihn anzusehen. »Ich will zu Nadine-Mom.«
»Aber du...« Er schwieg hilflos.
»Ich will zurück.« Er sah Larry kurz an. Sein Blick flackerte über Larrys Schulter zu Harold, der mitten auf dem Rasen stand. Dann wieder auf das Pflaster. »Bitte.«
»Magst du Harold nicht?«
»Ich weiß nicht... doch... ich will nur zurück.«
Larry seufzte. »Findest du denn den Weg?«
»Klar.«
»Okay. Aber ich wünsche mir, du würdest mit reinkommen und eine Cola trinken. Ich habe mich schon lange darauf gefreut, Harold kennenzulernen. Das weißt du doch, oder?«
»Ja-a.«
»Und wir könnten zusammen nach Hause gehen.«
»Ich gehe nicht in das Haus«, zischte Leo, und einen Moment war er wieder Joe mit leer und wild blickenden Augen.
»Okay«, sagte Larry hastig. Er stand auf. »Geh aber gleich nach Hause. Ich werde nachhören. Treib dich nicht auf der Straße rum.«
»Mach' ich.« Und plötzlich stieß Leo heiser flüsternd hervor: »Warum kommst du nicht mit? Gleich jetzt? Wir gehen zusammen. Bitte, Larry. Okay ?«
»Mein Gott, Leo, wa...«
»Vergiß es«, sagte Leo. Und bevor Larry etwas sagen konnte, war Leo schon davongelaufen. Larry blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Er wandte sich mit einem besorgten Stirnrunzeln Harold zu.
»Das macht nichts«, sagte Harold. »Kinder sind manchmal komisch.«
»Er auf jeden Fall, aber er hat wohl ein Recht dazu. Er hat viel durchgemacht.«
»Jede Wette«, sagte Harold, und einen Augenblick empfand Larry Mißtrauen und spürte, daß Harolds rasche Sympathie für einen Jungen, den er nie gesehen hatte, so falsch war wie Eipulver.
»Na, komm rein«, sagte Harold. »Du bist sozusagen mein erster Besuch. Frannie und Stu sind ein paarmal hier gewesen, aber die zählen kaum.« Sein Grinsen wurde ein Lächeln, ein etwas trauriges Lächeln, und Larry empfand plötzlich Mitleid mit dem Jungen – denn er war wirklich noch ein Junge. Er war einsam, und hier stand Larry, derselbe alte Larry, der nie ein gutes Wort für jemanden hatte, und beurteilte ihn aufgrund von heißer Luft. Das war nicht gerecht. Er mußte aufhören, so verdammt mißtrauisch zu sein.
»Gern«, sagte er.
Das Wohnzimmer war klein, aber gemütlich. »Wenn ich Zeit habe, stelle ich ein paar neue Möbel rein«, sagte Harold. »Moderne. Chrom und Leder. Scheiß auf die Kosten. Ich habe Master-Card.«
Larry lachte herzlich.
»Im Keller sind ein paar gute Gläser, die hol' ich. Ich glaube, ich verzichte auf die Schokoriegel, wenn es dir nichts ausmacht – ich lass die Süßigkeiten sein und versuche abzunehmen, aber den Wein müssen wir probieren, immerhin ist es ein besonderer Anlaß. Du bist uns durch ganz Maine gefolgt und hast dich nach meinen – unseren – Zeichen gerichtet. Echt stark. Davon mußt du mir erzählen. Nimm derweil den grünen Sessel. Er ist das kleinste Übel.«
Während dieses Wortschwalls hatte Larry einen letzten zweifelnden Gedanken: Er redet sogar wie ein Politiker – aalglatt und schnell und gewieft.
Harold ging, und Larry setzte sich in den grünen Sessel. Er hörte eine Tür und Harold mit schweren Schritten die Kellertreppe hinuntergehen. Er sah sich um. Nein, keines der großen Wohnzimmer der Welt, aber mit einem Zottelteppich und ein paar neuen Möbeln könnte es was werden. Das beste war der schöne Kamin. Wunderbare Handarbeit, sorgfältig ausgeführt. Aber ein Stein hatte sich gelockert. Es kam Larry vor, als wäre er herausgefallen und etwas nachlässig wieder eingesetzt worden. Es so zu lassen wäre, als würde man ein Teil aus dem Puzzle lassen oder ein Bild schief an die Wand hängen.
Er stand auf und nahm den Stein aus dem Kamin. Harold machte sich immer noch im Keller zu schaffen. Larry wollte den Stein gerade wieder einsetzen, als er unten in der Öffnung ein Buch sah, dessen Deckel leicht eingestaubt war, aber nicht so sehr, daß man das goldgeprägte Wort nicht lesen konnte: HAUPTBUCH.
Er schämte sich etwas, als hätte er absichtlich herumgeschnüffelt, und setzte rasch den Stein wieder ein, als Harolds Schritte wieder die Treppe heraufkamen. Diesmal saß er perfekt, und als Harold das Zimmer betrat, in jeder Hand ein Weinglas, saß Larry schon wieder in dem grünen Sessel.
»Ich mußte sie unten im Spülbecken auswaschen«, sagte Harold.
»Sie waren ein wenig staubig.«
»Die sehen gut aus«, sagte Larry. »Hör mal, ich kann nicht beschwören, daß der Bordeaux nicht umgekippt ist. Vielleicht ist er schon Essig.«
»Wer nicht wagt«, sagte Harold grinsend, »der nicht gewinnt.«
Sein Grinsen machte Larry Unbehagen, er mußte an das Hauptbuch denken – gehörte es Harold, oder hatte es dem früheren Besitzer des Hauses gehört? Und wenn es Harolds Buch war, was in aller Welt könnte er hineingeschrieben haben?
Sie köpften die Flasche Bordeaux und fanden zu ihrer gemeinsamen Freude heraus, daß der Wein hervorragend war. Nach einer halben Stunde waren sie beide angenehm beschwipst, Harold ein wenig mehr als Larry. Aber Harolds Grinsen war geblieben, sogar noch breiter als vorher.
Der Wein hatte Larry ein wenig die Zunge gelöst, als er sagte:
»Diese Plakate. Die große Versammlung am achtzehnten August. Wieso bist du nicht in diesem Komitee, Harold? Jemand wie du wäre doch die logische Wahl.«
Harolds Lächeln wurde riesig, strahlend. »Nun, ich bin noch ziemlich jung. Wahrscheinlich halten sie mich für zu unerfahren.«
»Ich finde, das ist eine Schande.« Fand er das wirklich? Das Grinsen. Der so plötzlich verschwundene finstere Ausdruck von Mißtrauen. Fand er das wirklich? Er war nicht sicher.
»Nun, wer weiß, was die Zukunft bringt«, sagte Harold und grinste breit. »Jeder Hund hat seinen Tag.«
Gegen fünf Uhr ging Larry. Der Abschied von Harold war freundlich; Harold schüttelte ihm die Hand, grinste und bat ihn, öfter zu kommen. Aber Larry wurde das Gefühl nicht los, daß es Harold scheißegal war, ob er je wiederkam.
Langsam ging er den Betonpfad zur Straße hinunter, drehte sich um und wollte winken, aber Harold war schon wieder reingegangen. Die Tür war geschlossen. Im Haus war es kühl gewesen, weil die Jalousien heruntergelassen waren, und das hatte er als angenehm empfunden, aber als er jetzt wieder draußen stand, fiel ihm ein, dass er in Boulder noch nie in einem Haus gewesen war, bei dem die Jalousien heruntergelassen waren. Natürlich gab es viele Häuser mit heruntergelassenen Jalousien. Das waren die Häuser der Toten. Als sie krank wurden, hatten sie die Vorhänge vor der Welt zugezogen. Sie hatten sie zugezogen und waren im Verborgenen gestorben, wie ein Tier, wenn seine Stunde gekommen ist. Die Lebenden – vielleicht in der unbewußten Erkenntnis, daß es einen Tod gibt -, machten Jalousien und Vorhänge weit auf.
Er hatte leichte Kopfschmerzen von dem Wein und versuchte sich einzureden, daß die Kopfschmerzen daher kamen, daß sie Teil eines kleineren Katers waren, die gerechte Strafe dafür, daß er guten Wein gekippt hatte wie billigen Muskateller. Aber das traf es nicht genau – nein, ganz und gar nicht. Er sah die Straße hinauf und hinunter und dachte: Gott sei Dank für unsere Scheuklappen. Gott sei Dank für die selektive Wahrnehmung. Denn ohne sie könnten wir alle Figuren in einer Geschichte von Lovecraft sein.
Seine Gedanken wurden wirr. Er war plötzlich überzeugt davon, dass Harold ihn hinter den heruntergelassenen Rollos beobachtete, seine Hände sich zum Griff eines Würgers schlössen und öffneten, sein Grinsen in eine Grimasse des Hasses verwandelt worden war... jeder Hund hat seinen Tag. Gleichzeitig erinnerte er sich an die Nacht in Bennington, wo er im Musikpavillon geschlafen hatte und mit dem schrecklichen Gefühl aufgewacht war, es war jemand da... und wie er dann gehört (oder nur geträumt?) hatte, wie staubige Absätze nach Westen stapften.
Hör auf. Hör auf, dich verrückt zu machen.
Hügel der blutigen Stiefel, assoziierte sein Verstand frei. Herrgott, hör doch auf, wenn ich nur nie über die Toten nachgedacht hätte, die Toten hinter den heruntergelassenen Jalousien und zugezogenen Vorhängen und undurchsichtigen Rollos, im Dunkeln, so wie im Tunnel, im Lincoln Tunnel, Himmel, wenn sie alle anfingen, sich zu bewegen, sich zu regen, lieber Gott, laß das doch...
Und plötzlich fiel ihm ein Ausflug mit seiner Mutter in den Bronx -Zoo ein, als er noch klein gewesen war. Sie waren ins Affenhaus gegangen, und der Geruch dort hatte ihn wie ein Schlag getroffen, eine Faust, die nicht nur auf seine Nase schlug, sondern hinein. Er hatte sich umgedreht, um hinauszustürmen, aber seine Mutter hatte ihn aufgehalten.
Einfach normal atmen, Larry,hatte sie gesagt. In fünf Minuten merkst du den schlimmen Geruch gar nicht mehr.
Und so war er geblieben, obwohl er ihr nicht geglaubt hatte, hatte einfach gekämpft, nicht zu kotzen (schon im Alter von sieben hatte er Kotzen mehr gehaßt als alles andere), und wie sich herausstellte, hatte sie recht gehabt. Als er das nächste Mal wieder auf die Uhr sah, stellte er fest, daß sie schon eine halbe Stunde im Affenhaus waren, und verstand nicht, warum die Damen, die durch die Tür kamen, plötzlich die Hände vor die Nasen schlugen und angeekelt dreinsahen. Das hatte er seiner Mutter gesagt, und Alice Underwood hatte gelacht.
Oh, es riecht immer noch schlimm. Nur für dich nicht. Wie kommt das, Mommy?
Das weiß ich nicht. Aber das kann jeder. Und jetzt sag dir einfach:
>Ich rieche jetzt, wie das Affenhaus WIRKLICH riecht<, und hol dann tief Luft.
Das tat er, und der Gestank war da, der Gestank war sogar noch schlimmer als zuvor, beim Eintreten, Hot Dogs und Kirschkuchen kamen wieder nach oben, er stürzte zur Tür und an die frische Luft und es gelang ihm gerade noch, alles unten zu behalten.
Das ist selektive Wahrnehmung, dachte er jetzt, und sie wußte, was es war. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, hörte er die Stimme seiner Mutter im Geiste: Sag dir einfach: >Ich rieche jetzt, wie Boulder WIRKLICH riecht.<Und er roches – einfach so, er roch es.
Er roch, was hinter den geschlossenen Türen und heruntergelassenen Rollos und zugezogenen Vorhängen war, er roch die langsame Verwesung, die auch in diesem Ort hier stattfand, der fast verlassen gestorben war.
Er ging schneller, rannte nicht, kam dem aber immer näher und näher, er roch den fruchtigen, vollen Gestank, den er – und alle anderen – nicht mehr bewußt wahrnahmen, weil er überall war, weil er alles war, weil er ihre Gedanken färbte und weil man die Rollos nicht herunterließ, nicht einmal beim Liebesakt, denn die Toten liegen hinter heruntergelassenen Rollos und die Lebenden wollen bei allem die Welt sehen.
Alles wollte ihm hochkommen, heute nicht Hot Dogs und Kirschkuchen, sondern Wein und Payday -Riegel. Denn dies war ein Affenhaus, aus dem er niemals herauskommen konnte, wenn er nicht auf eine Insel zog, wo niemand je gelebt hatte, und obwohl er das Kotzen immer noch mehr als alles andere haßte, mußte er jetzt...
»Larry? Alles klar?«
Er war dermaßen verblüfft, daß ein kurzer Laut aus seinem Hals drang – » Yik!« – und er zusammenzuckte. Es war Leo, der etwa drei Blocks von Harolds Haus entfernt auf dem Bordstein saß. Er hatte einen Tischtennisball und ließ ihn auf dem Gehweg auf und ab hüpfen.
»Was machst du hier?« fragte Larry. Sein Herzschlag wurde langsam wieder normal.
»Ich wollte mit dir nach Hause gehen«, sagte Leo schüchtern, »aber ich wollte nicht zu dem Mann in das Haus.«
»Warum nicht?« fragte Larry. Er setzte sich neben Leo auf den Bordstein.
Leo zuckte die Achseln und widmete sich wieder seinem Tischtennisball. Dieser prallte immer wieder mit einem leisen KlackKlack auf das Pflaster und in Leos Hand zurück.
»Ich weiß nicht.«
»Leo?«
»Was?«
»Es ist sehr wichtig für mich. Denn ich mag Harold... und mag ihn auch wieder nicht. Ich bin geteilter Meinung über ihn. Warst du schon mal geteilter Meinung über jemand?«
»Ich habe nur eine Meinung über ihn.« Klack-Klack.
»Welche?«
»Angst«, sagte Leo. »Können wir nach Hause zu Nadine-Mom und Lucy-Mom gehen?«
»Klar.«
Schweigend gingen sie die Arapahoe Street hinunter; Leo ließ den Tischtennisball hüpfen und fing ihn geschickt wieder auf.
»Tut mir leid, daß du so lange warten mußtest«, sagte Larry.
»Ach, macht nichts.«
»Nein, wirklich, wenn ich das gewußt hätte, wäre ich früher gekommen.«
»Ich hatte ja was zu tun. Ich hab' das auf einem Rasen gefunden. Es ist ein Pong-Ping-Ball.«
»Ping-Pong«, korrigierte Larry automatisch. »Was meinst du, warum läßt Harold seine Jalousien herunter?«
»Damit keiner reinsehen kann«, sagte Leo. »Dann kann er was Heimliches tun. Es ist wie bei den toten Leuten, nicht?« Klack-Klack. Sie gingen weiter und bogen Ecke Broadway nach Süden ab. Jetzt sahen sie Leute auf der Straße: Frauen, die sich die Kleider in den Schaufenstern ansahen; einen Mann, der eine Hacke bei sich hatte; einen Mann, der sich ein Angelgerät in einem Sportartikelgeschäft hinter einer zerbrochenen Schaufensterscheibe ansah. Larry sah Dick Vollman aus seiner Gruppe in eine andere Richtung radeln. Er winkte Larry und Leo zu. Die beiden winkten zurück.
»Was Heimliches«, dachte Larry laut, ohne daß er den Jungen weiter ausfragen wollte.
»Vielleicht betet er zu dem dunklen Mann«, sagte Leo nebenbei, und Larry fuhr zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Leo bemerkte es nicht. Er schlug den Ball jetzt auf das Pflaster und fing ihn, wenn er von der Wand abprallte, an der sie gerade vorbeigingen... Klack-plopp.
» Meinst du wirklich ?« fragte Larry und bemühte sich, gleichgültig zu klingen.
»Ich weiß nicht. Aber er ist nicht wie wir. Er lacht viel. Aber ich glaube, in ihm sind Würmer, die ihn zum Lachen bringen. Große weiße Würmer, die sein Gehirn fressen. Wie Maden.«
»Joe... ich meine, Leo...«
Leos Augen, dunkel, distanziert und chinesisch, strahlten plötzlich. Er lächelte. »Da ist Dayna. Die mag ich. He, Dayna!« rief er und winkte. »Hast du 'n Kaugummi?«
Dayna, die gerade das Kettenrad in ihrem spindeldürren Zehngangrad ölte, drehte sich um und lächelte. Sie griff in die Tasche ihrer Bluse und fächerte fünf Streifen Juicy Fruit wie Pokerkarten auf. Mit einem fröhlichen Lachen rannte Leo zu ihr hinüber, daß seine langen Haare flogen; er hielt den Tischtennisball fest in der Hand, und Larry sah ihm nach. Diese Vorstellung von weißen Maden hinter Harolds Lächeln... woher hatte Joe ( nein, Leo, er heißt Leo, glaube ich wenigstens) nur diese komplizierte – und entsetzliche – Idee ? Der Junge war in einer Art Halbtrance gewesen. Und er war nicht der einzige; wie oft hatte Larry in den wenigen Tagen Leute plötzlich auf der Straße stehenbleiben, eine Weile ins Leere starren und dann weitergehen sehen? Alles hatte sich verändert. Die Bandbreite der Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen schien größer geworden zu sein.
Es war beängstigend.
Larry setzte sich in Bewegung und ging zu Dayna und Leo hinüber, die damit beschäftigt waren, den Kaugummi untereinander aufzuteilen.
An diesem Nachmittag fand Stu Frannie auf dem kleinen Hof hinter dem Haus beim Wäschewaschen. Sie hatte eine flache Wanne mit Wasser gefüllt, fast ein halbes Paket Tide hinzugetan und mit einem Besenstiel so lange gerührt, bis eine trübe Brühe entstanden war. Sie wußte nicht, ob sie es richtig gemacht hatte, aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie zu Mutter Abagail ging und ihre Unwissenheit eingestand. Sie warf die Wäsche in das Wasser, sprang wild entschlossen in die Wanne und fing an zu stampfen wie ein sizilianischer Traubentreter. Ihr neues Modell Maytag 5000, dachte sie. Die neue zwei-Fuß-Umwälzmethode, ideal für Ihre Buntwäsche und Feinwäsche und...
Als sie sich umdrehte, sah sie ihren Mann in der Hintertür stehen und amüsiert zusehen. Ein wenig außer Atem hörte Frannie auf.
»Ha-ha, sehr komisch. Wie lange stehst du schon da, Klugscheißer?« »Ein paar Minuten. Wie nennst du das übrigens? Den Paarungstanz der wilden Waldente?«
»Noch mal: ha-ha.« Sie sah ihn kühl an. »Noch so ein dummer Witz, und du kannst heute nacht auf der Couch schlafen, oder mit deinem Freund Glen Bateman auf dem Flagstaff.« »Hör zu, ich wollte nicht...«
»Es ist auch Ihre Wäsche, Mr. Stuart Redman. Sie mögen einer der Gründerväter sein, aber Sie hinterlassen dennoch gelegentlich Bremsspuren in Ihren Unterhosen.«
Stu grinste, das Grinsen wurde breiter, schließlich fing er an zu lachen. »Das war deutlich, Liebling.«
»Im Moment ist mir auch nicht nach Höflichkeiten zumute.«
»Gut, komm einen Augenblick raus. Ich muß mit dir reden.«
Sie war froh, obwohl sie sich die Füße waschen mußte, bevor sie wieder in die Wanne stieg. Ihr Herz klopfte, aber nicht fröhlich, sondern überfordert wie eine getreue Maschine, die von jemand ohne gesunden Menschenverstand mißbraucht wird. Wenn es meine Ur-Ur-Großmutter so machen mußte, dachte sie, dann hatte sie vielleicht ein Anrecht auf das Zimmer, das schließlich der kostbare Salon ihrer Mutter wurde. Vielleicht hat sie es als Gefahrenzulage betrachtet oder so.
Sie betrachtete entmutigt Füße und Waden. Immer noch klebte ein grauer Film Seifenschaum daran. Sie wischte ihn mißfällig ab.
»Wenn meine Frau mit der Hand gewaschen hat«, sagte Stu, »hat sie immer ein... wie nennt man das noch? Ein Waschbrett, glaube ich, genommen. Soweit ich weiß, muß meine Mutter ungefähr drei gehabt haben.«
»Das weiß ich«, sagte Frannie gereizt. »June Brinkmeyer und ich haben ganz Boulder abgeklappert, um eins aufzutreiben. Wir haben kein einziges gefunden. Die Technologie hat zugeschlagen.«
Er lächelte wieder.
Frannie stemmte die Hände in die Hüften. »Willst du mich verarschen, Stuart Redman?«
»Nein. Aber ich glaube, ich weiß, wo ich dir ein Waschbrett besorgen kann. Und June, wenn sie eins haben will.«
»Wo?«
»Das muß ich erst noch sehen.« Sein Lächeln verschwand, er legte die Arme um sie und drückte seine Stirn an ihre. »Weißt du, ich finde es lieb von dir, daß du meine Wäsche wäschst«, sagte er, »und ich weiß, daß eine schwangere Frau besser als ihr Mann abschätzen kann, was sie tun und lassen sollte. Aber, Frannie, warum die Arbeit?«
» Warum?« Sie sah ihn perplex an. »Was willst du anziehen? Willst du in schmutziger Wäsche rumlaufen?«
»Frannie, die Läden sind voll von Kleidung, und ich habe eine gängige Größe.«
»Was? Die alten Sachen wegwerfen, nur weil sie schmutzigsind?«
Er zuckte unbehaglich die Achseln.
»Kommt nicht in Frage, hm-hm«, sagte sie. »Das ist die alte Denkweise, Stu. Wie die Schachteln, in denen die Big Macs waren, oder Einwegflaschen. Damit sollten wir nicht neu anfangen.«
Er küßte sie leicht. » Okay. Aber am nächsten Waschtag bin ich dran, hörst du?«
»Klar.« Sie lächelte listig. »Und wie lange gilt das? Bis ich entbunden habe?«
»Bis der Strom wieder eingeschaltet ist«, sagte Stu. »Dann besorge ich dir die größte, schönste Waschmaschine, die du je gesehen hast, und schließe sie eigenhändig an.«
»Angebot angenommen.« Sie küßte ihn, er erwiderte den Kuß, und seine kräftigen Hände fuhren rastlos durch ihr Haar. Davon wurde ihr warm (nein, heiß, warum so zimperlich, ich bin heiß, ich werde immer heiß, wenn er das macht), ihre Brustwarzen stellten sich auf, die Hitze breitete sich bis in den Unterleib aus.
»Hör lieber auf«, sagte sie außer Atem, »es sei denn, du willst mehr als mit mir reden.«
»Wir können ja später reden.«
»Die Wäsche...«
»Einweichen ist gut für den tiefen Schmutz«, sagte er ernsthaft. Sie fing an zu lachen, und er verschloß ihr den Mund mit einem Kuß. Als er sie aufhob, auf die Füße stellte und ins Haus führte, spürte sie die Wärme der Sonne auf den Schultern und dachte: Ist es schon jemals so heiß gewesen? War die Sonne schon jemals so stark? Die ganzen Pickel an meinem Rücken sind weg. Ob es an der ultravioletten Strahlung liegt? Oder an der Höhenluft? Ist es hier jeden Sommer so? Ist es immer so heiß?
Und dann machte er etwas mit ihr, schon auf der Treppe machte er es, machte sie nackt, machte sie heiß, liebte sie.
»Nein, du setzt dich«, sagte er.
»Aber...«
»Das ist mein Ernst, Frannie.«
»Stuart, die Wäsche quillt auf oder so. Ich habe ein halbes Paket Tide reingetan ...«
»Mach dir keine Sorgen.«
Sie setzte sich unter dem Vordach auf einen Liegestuhl. Nachdem sie wieder heruntergekommen waren, hatte er zwei draußen hingestellt.
Stu zog Schuhe und Socken aus und krempelte die Hosenbeine bis über die Knie hoch. Als er in die Wanne stieg und anfing, bierernst auf der Wäsche herumzustampfen, fing sie an zu kichern. Stu sah hinüber und sagte: »Willst du die Nacht auf der Couch verbringen?«
»Nein, Stuart«, sagte sie mit gespielter Reue, und dann fing sie wieder an zu kichern... bis ihr die Tränen die Wangen herabliefen und die kleinen Muskeln in ihrem Bauch sich weich wie Gummi anfühlten. Als sie sich wieder in der Gewalt hatte, sagte sie: »Zum dritten und letzten Mal, worüber wolltest du mit mir sprechen?«