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The Stand. Das letze Gefecht
  • Текст добавлен: 24 сентября 2016, 05:37

Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы


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»Was ist das?« sagte sie und hob ein Stück auf. »Das war vorher nicht da.«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht bastelt Harold an einer Mausefalle.«

Er angelte sich den Karton, der unter dem Tisch stand. Auf dem Deckel hieß es: DELUXE REALISTIC WALKIE-TALKIE SET, BATTERIES NOT INCLUDED. Larry öffnete den Karton, aber das Gewicht hatte ihm schon verraten, daß er leer war.

»Er baut keine Mausefallen, sondern Walkie-talkies«, sagte Fran.

»Nein, dies war kein Bausatz. Diese Dinger kauft man fertig. Vielleicht wollte er es irgendwie umbauen. Das würde Harold ähnlich sehen. Weißt du noch, wie Stu sich über den Walkie-talkie-Empfang geärgert hat, als er und Harold und Ralph Mutter Abagail gesucht haben?«

Sie nickte, aber etwas an diesen Drahtabfällen machte ihr Sorgen. Larry ließ den Karton auf den Boden fallen und machte eine Bemerkung, die er später als den größten Irrtum seines Lebens ansehen sollte. »Ist nicht wichtig«, sagte er. »Gehen wir.«

Sie gingen die Treppe hinauf, aber diesmal war die obere Tür abgeschlossen. Sie sah ihn an, und Larry zuckte die Achseln. »Wir sind soweit gekommen, richtig?«

Fran nickte.

Larry stieß ein paarmal mit der Schulter gegen die Tür, um den Riegel auf der anderen Seite zu prüfen, dann warf er sich kräftig dagegen. Sie hörten ein metallisches Knacken, ein Klirren, und die Tür sprang auf. Larry bückte sich und hob Schrauben und Riegel vom Linoleumfußboden der Küche auf. »Das schraube ich wieder an, und er wird nichts merken. Das heißt, wenn ich einen Schraubenzieher auftreibe.«

»Wozu die Mühe? Er wird das eingeschlagene Fenster sehen.«

»Das stimmt. Aber wenn der Riegel wieder an der Tür ist, wird er... warum lachst du?«

»Bring meinetwegen den Riegel wieder an. Aber wie willst du ihn von der Kellerseite zumachen?«

Er dachte darüber nach und sagte: »Verdammt, wenn ich etwas hasse, dann neunmalkluge Weiber.« Er warf den Riegel auf den Küchentresen. »Sehen wir unter dem Kaminstein nach.«

Sie gingen in das halbdunkle Wohnzimmer, und Fran spürte, wie Angst in ihr hochkroch. Beim letzten Mal hatte Nadine keinen Schlüssel gehabt. Diesmal schon, wenn sie zurückkam. Es wäre ein schlechter Witz, wenn Stus erste Amtshandlung als Marshai darin bestehen sollte, seine eigene Frau wegen Einbruchs festzunehmen.

»Dort drüben, nicht«, sagte Larry und zeigte auf den Kamin.

»Ja. Beeil dich.«

»Die Möglichkeit ist ohnehin groß, daß er es anderswo versteckt hat.« Das hatte Harold auch. Nadine hatte es wieder unter dem losen Kaminstein verstaut. Das wußten Larry und Fran natürlich nicht, aber als Larry den losen Kaminstein weggezogen hatte, lag das Buch in dem Hohlraum darunter, und das Wort HAUPTBUCH glänzte ihnen in goldgeprägten Buchstaben entgegen. Sie sahen es beide an. Plötzlich schien es heißer, stickiger und dunkler in dem Zimmer zu sein.

»Nun«, sagte Larry. »Wollen wir es bewundern oder lesen?«

»Lies du«, sagte Fran. »Ich will es nicht einmal anfassen.«

Larry nahm es aus der Vertiefung und wischte automatisch den weißen Steinstaub vom Einband. Er blätterte es wahllos durch. Es war mit einem Filzstift beschrieben worden, der unter dem kämpferischen Markennamen Hardhead in den Handel gekommen war. Mit ihm hatte Harold mit gedrängter winziger Schrift schreiben können – der Schrift eines äußerst gewissenhaften Mannes, vielleicht eines Besessenen. Es gab keine Absätze. Rechts und links war nur ein winziger Rand, aber dieser Rand war so gleichmäßig und gerade, daß er mit dem Lineal hätte gezogen sein können.

»Ich brauche drei Tage, um das alles zu lesen«, sagte Larry und blätterte zum Anfang des Buches zurück.

»Halt«, sagte Fran und griff über seinen Arm, um ein paar Seiten zurückzublättern. Hier war der gleichmäßig fließende Text durch einige scharf umrandete Stellen unterbrochen. Die umrandeten Stellen schienen jeweils eine Art Motto darzustellen:

Seinem Stern zu folgen bedeutet, sich einer höheren Macht, einer Vorsehung auszuliefern; aber ist es nicht dennoch möglich, dass dieser Akt der Selbstentäußerung den Zugang zu noch größerer Macht erschließt? Dein GOTT, dein TEUFEL hat den Schlüssel zum Leuchtturm; ich habe mich in den letzten zwei Monaten sehr intensiv damit auseinandergesetzt; aber jedem von uns hat er die Verantwortung des NAVIGIERENS selbst überlassen.

HAROLD EMERY LAUDER

»Tut mir leid«, sagte Larry. »Das ist mir zu hoch. Verstehst du das?«

Fran schüttelte langsam den Kopf. »Ich vermute, Harold will damit ausdrücken, daß Gehorchen genauso ehrenhaft ist wie Befehlen. Aber als Sprichwort kann es >Spare in der Zeit, dann hast du in der Not< gewiß nicht verdrängen.«

Larry blättert e noch ein Stück nach vorn und fand vier oder fünf weitere umrandete Maximen, unter denen in Großbuchstaben Harolds Name stand. »Puuuh«, sagte Larry. »Sieh dir das an, Frannie.«

Es heißt, die beiden großen Sünden der Menschen seien Stolz und Haß. Wirklich? Ich ziehe es vor, beide für große Tugenden zu halten. Auf Haß und Stolz zu verzichten hieße, sich zugunsten der Welt zu verändern. Edler ist es, wenn ich sie mir zu eigen mache und ihnen freien Lauf lasse, denn dann muß sich die Welt zu meinen Gunsten verändern. Das Leben ist ein großes Abenteuer.

HAROLD EMERY LAUDER

»Das kann nur ein zutiefst verwirrter Geist geschrieben haben«, sagte Fran. Ihr war kalt.

»Das ist die Denkweise, die uns in diese Lage gebracht hat«, stimmte Larry zu. Er blätterte ganz bis zum Anfang zurück. »Wir verlieren Zeit. Mal sehen, was wir damit anfangen können.«

Keiner von beiden wußte, was sie zu erwarten hatten. Sie hatten nur die umrandeten Stellen gelesen und den einen oder anderen Satz. Harolds überladener Stil (der Schachtelsatz schien mit Harold im Sinn erfunden worden zu sein) sagte ihnen wenig bis gar nichts. Was sie am Anfang des Hauptbuchs lasen, war ein ziemlicher Schock für sie.

Das Tagebuch fing ganz oben auf der ersten rechten Seite an. Diese war ordentlich mit einer eingekreisten 1 gekennzeichnet. Dort war ein Absatz, der einzige Absatz in dem ganzen Buch, soweit Frannie das sagen konnte, von den in Kästchen gesetzten Motti einmal abgesehen. Sie lasen den ersten Satz und hielten dabei das Hauptbuch zwischen sich wie Kinder bei der Chorprobe, und Fran sagte mit leiser, erstickter Stimme »Oh!«, wich zurück und preßte leicht eine Hand auf den Mund.

»Fran, wir müssen das Buch mitnehmen«, sagte Larry.

»Ja...«

»Und es Stu zeigen. Ich weiß nicht, ob Leo recht hat und sie auf der Seite des dunklen Mannes stehen, aber Harold ist in einer gefährlichen Geistesverfassung. Das sieht man.«

»Ja«, sagte sie wieder. Sie fühlte sich schwach, ausgelaugt. So ging das Thema Tagebücher also zu Ende. Es war, als hätte sie es von dem Augenblick an gewußt, als sie den großen, verschmierten Daumenabdruck sah, und sie mußte sich immer wieder sagen, nicht ohnmächtig werden, bloß nicht ohnmächtig werden.

»Fran? Frannie? Alles in Ordnung?«

Larrys Stimme. Von weit her.

Der erste Satz in Harolds Hauptbuch lautete: In diesem herrlichen Sommer nach der Apokalypse wird es mein allergrößtes Vergnügen sein, endlich Mr. Stuart Redman, dieses Arschloch, umzubringen, und, wer weiß, vielleicht sie auch.



»Ralph? Ralph Brentner, bist du zu Hause? Huuu-huuu, jemand daheim?«

Sie stand auf den Eingangsstufen und sah zum Haus. Auf dem Hof standen keine Motorräder, nur ein paar Fahrräder neben dem Haus. Ralph hätte sie gehört, aber sie mußte an den Stummen denken. Den Taubstummen. Man konnte schreien, bis man schwarz wurde, und er würde sich nicht melden, obwohl er vielleicht da war.

Nadine nahm die Einkaufstasche von einer Hand in die andere, griff nach der Tür und stellte fest, sie war nicht abgeschlossen. Sie ging aus dem feinen Nieselregen hinein. Jetzt stand sie in einem kleinen Vorraum. Vier Stufen führten zur Küche hinauf, eine Treppe in den Keller hinunter, wo laut Harold Nick seine Wohnung hatte. Nadine setzte ihr freundlichstes Gesicht auf, ging nach unten und legte sich zurecht, was sie sagen würde, falls er zu Hause sein sollte.

Ich bin gleich reingekommen, weil ich dachte, daß du mein Klopfen nicht hören würdest. Wir möchten gern wissen, ob wir wegen des beschädigten Motors eine Spätschicht einlegen müssen. Hat Brad etwas gesagt?

Unten waren nur zwei Zimmer. Das eine war ein Schlafzimmer, so schlicht wie eine Mönchszelle. Das andere war ein Arbeitszimmer. Dort standen ein Schreibtisch, ein Sessel, ein Papierkorb und ein Bücherregal. Auf der Schreibtischplatte lagen viele lose Zettel, die sie müßig durchsah. Die meisten sagten ihr nicht viel – es waren wohl Nicks Äußerungen während eines Gesprächs ( wahrscheinlich schon, aber sollten wir ihn nicht fragen, ob das auch einfacher geht? stand auf einem). Auf anderen hatte er verschiedene Gedanken notiert. Einige erinnerten sie an die umrandeten Stellen in Harolds Hauptbuch, seine Wegweiser zu einem besseren Leben, wie er sie mit einem sarkastischen Lächeln genannt hatte.

Auf einem stand:  Muß mit Glen über Volkswirtschaft reden. Weiss einer von uns, wie Handel anfängt? Warenknappheit? Ein veränderter Markt? Individuelle Fähigkeiten! Das mag ein Schlüsselwort sein. Was ist, wenn Brad Kitchner plötzlich nicht mehr umsonst arbeiten will? Oder der Doktor? Womit sollten wir ihn bezahlen? Hmmm. Auf einem anderen:  Schutz der Gemeinschaft ist ein zweischneidiges Schwert.

Auf einem anderen:  Immer wenn wir über Recht und Gesetz reden, habe ich Alpträume und denke an Shoyo. Ich sah sie sterben. Ich sah, wie Childress sein Essen durch die Zelle warf. Das Gesetz, das Gesetz, wie machen wir es nur mit dem gottverdammten Gesetz? Todesstrafe. Lustiger Gedanke. Wenn Brad den Strom erst wieder eingeschaltet hat, wie lange wird es dann dauern, bis jemand einen elektrischen Stuhl fordert?

Sie wandte sich von den Zetteln ab – widerwillig. Es war faszinierend, die Papiere eines Mannes durchzusehen, der nur in Schriftzeichen denken konnte (einer ihrer College-Professoren pflegte zu sagen, daß der Denkprozeß ohne Artikulation nie vollständig sein könne), aber sie hatte ihr Ziel hier unten schon fast erreicht. Nick war nicht hier, niemand war hier. Noch länger zu bleiben hieße, das Glück herauszufordern.

Sie ging wieder nach oben. Harold hatte ihr gesagt, daß sie sich wahrscheinlich im Wohnzimmer versammeln würden. Es war ein riesiges, mit einem dicken weinroten Teppich ausgelegtes Zimmer, das von einem freistehenden Kamin beherrscht wurde, dessen Abzug wie eine Felssäule durch die Decke führte. Die Westwand war ein einziges großes Panoramafenster, durch das man eine herrliche Aussicht auf die Flatirons hatte. Sie kam sich den Blicken ausgesetzt wie ein Käfer an der Wand vor. Sie wußte, daß die Außenseite der Thermoplexscheibe isoliert war, so daß man draußen ein Bild wie in einem Spiegel sah, aber der psychologische Eindruck war trotzdem, entblößt zu sein. Sie wollte es schnell hinter sich bringen. An der Südseite des Zimmers fand sie, was sie suchte, einen großen Schrank, den Ralph nicht ausgeräumt hatte. Im Schrank hingen Mäntel, und in der hinteren Ecke lagen Schuhe und Wollsachen und Handschuhe fast einen Meter hoch aufgestapelt.

Rasch nahm sie die Lebensmittel aus der Einkaufstasche. Sie waren nur Tarnung und bildeten nur eine Schicht. Unter den Dosen mit Tomatenpüree und Sardinen stand der Hush-Puppies-Schuhkarton mit Dynamit und Walkie-talkie darin.

»Wird es auch funktionieren, wenn ich den Karton in den Schrank stelle?« hatte sie gefragt. »Wird die zusätzliche Wand die Wucht der Explosion nicht mindern?«

»Nadine«, hatte Harold geantwortet, »wenn das Gerät funktioniert, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dann zerstört es das ganze Haus und die nähere Umgebung. Du mußt es irgendwohin stellen, wo es vor der Sitzung nicht gefunden wird. Ein Schrank wäre gut. Die zusätzliche Wand wird wie Schrapnellsplitter wirken. Ich verlasse mich ganz auf dein Urteil, Liebes. Es wird sein wie in dem alten Märchen vom tapferen Schneiderlein. Sieben auf einen Streich. Nur haben wir es in diesem Fall mit sieben politischen Fliegen zu tun.«

Nadine stellte den Schuhkarton in die Schrankecke und versteckte ihn unter den Sachen. Dann machte sie die Schranktür zu. Da. Fertig. So oder so.

Sie verließ rasch das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen, und versuchte die innere Stimme zu ignorieren, die Stimme, die ihr sagte, sie solle umkehren und die Drähte zwischen den Sprengkapseln und dem Walkie-talkie lösen. Denn war es nicht Wahnsinn, der vor ihr lag, vielleicht weniger als zwei Wochen entfernt? War Wahnsinn nicht die logische Konsequenz?

Sie stellte die Tasche mit den Lebensmitteln auf den Gepäckträger der Vespa und trat den Starter. Und während der ganzen Fahrt sagte die Stimme in ihr:  Du wirst sie doch nicht dort stehen lassen? Du wirst doch die Bombe nicht dort stehen lassen?

In einer Welt, in der schon so viele sterben mußten... 

Sie legte sich in die Kurve, sah abe r kaum, wohin sie fuhr. Tränen nahmen ihr die Sicht.

... ist es die größte Sünde, einem Menschen das Leben zu nehmen. 

In diesem Fall sieben Menschenleben. Nein, mehr, denn das Komitee wollte sich von Angehörigen verschiedener Unterkomitees Bericht erstatten lassen.

An der Ecke Baseline und Broadway hielt sie an und dachte, sie würde umkehren und zurückfahren. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie spürte, wie eine Schwärze sich um ihre Augen legte. Es war, als würde ein dunkler Vorhang langsam zugezogen, der in einer leichten Brise flatterte. Hin und wieder kam ein stärkerer Windstoß, der Vorhang bewegte sich heftiger, und sie sah an seinem Saum ein wenig Licht, einen kleinen Ausschnitt dieser verlassenen Straßenkreuzung.

Aber immer wieder verdeckte der Vorhang ihr die Sicht, bis sie zuletzt ganz darin eingehüllt war. Sie war blind, sie war taub, sie hatte keinen Tastsinn mehr. Die denkende Kreatur, das Nadine-Ego, trieb in einem warmen schwarzen Kokon wie Meerwasser, wie Fruchtwasser.

Und sie spürte, wie er in sie hineinkroch.

Ein Schrei baute sich in ihr auf, aber sie hatte keinen Mund, mit dem sie schreien konnte.

Penetration: Entropie.

Sie wußte nicht, was diese beiden Worte zusammengenommen bedeuteten; sie wußte nur, daß sie richtig waren.

Sie hatte noch niemals so etwas empfunden. Später fielen ihr Vergleiche ein, um es zu beschreiben, aber sie verwarf sie einen nach dem anderen wieder.

Man schwimmt, und plötzlich gerät man mitten im warmen Wasser in eine Stelle, wo es lähmend eiskalt ist.

Man hat Novokain bekommen, und der Zahnarzt zieht einen Zahn. Dieser löst sich schmerzlos aus dem Kiefer. Man spuckt Blut in das weiße Emaillebecken. Man hat ein Loch; man ist ausgehöhlt worden. Man kann die Zunge in das Loch schieben, in dem eine Sekunde vorher ein Teil von einem selbst gelebt hat.

Man betrachtet sein Gesicht im Spiegel. Man betrachtet es lange. Fünf Minuten, zehn, fünfzehn. Ohne zu blinzeln. Man sieht mit einer Art intellektuellem Entsetzen, wie das Gesicht sich verändert, wie das Gesicht von Lon Chaney jr. in einem Werwolf-Film. Man wird sich selbst ein Fremder, ein olivhäutiger Doppelgänger, eine psychotische Vampirin mit blasser Haut und Fischaugen.

Es war eigentlich nichts von diesen Dingen, aber es hatte von allem einen leichten Geschmack.

Der dunkle Mann drang in sie ein,  und er war kalt.

Als Nadine die Augen aufschlug, dachte sie zuerst, sie wäre in der Hölle.

Die Hölle war weiß, These zu des dunklen Mannes Antithese. Sie sah weißes, elfenbeinfarbenes, ausgebleichtes Nichts. Weiß-weißweiß. Es war die weiße Hölle, und sie war überall.

Sie betrachtete das Weiß (es war unmöglich,  hinein zu sehen) fasziniert, gequält, mehrere Minuten lang, bis sie merkte, daß sie den Sattel der Vespa zwischen den Schenkeln spüren konnte und an der Peripherie ihres Sichtfelds eine andere Farbe – grün – auftauchte. Mit einem Ruck riß sie die Augen aus ihrem leeren, starren Blick. Sie sah sich um. Ihr Mund war offen, zitterte; die Augen selbst waren benommen und voller Entsetzen. Der dunkle Mann war in ihr gewesen, Flagg war in ihr gewesen, und als er gekommen war, hatte er sie vom Fenster ihrer fünf Sinne verdrängt, von ihren Verbindungen zur Wirklichkeit. Er hatte sie verscheucht wie ein Mann ein kleines Tier. Und hatte sie hierher gebracht... wohin? Sie sah zum Weiß und stellte fest, daß es die riesige, leere Leinwand eines Autokinos vor dem Hintergrund des verregneten weißen Spätnachmittagshimmels war. Als sie sich umdrehte, sah sie die Snack-Bar. Sie war scheußlich fleischfarben rosa gestrichen. Folgende Worte waren darauf geschrieben: WILLKOMMEN IM HOLIDAY TWIN! LASSEN SIE SICH HEUTE NACHT UNTER DEN STERNEN UNTERHALTEN! Die Dunkelheit hatte sich Ecke Baseline und Broadway über sie gesenkt. Jetzt war sie weit draußen an der 28th Street, fast jenseits der Stadtgrenze nach... Longmont, nicht?

Ein Nachgeschmack von ihm war immer noch in ihr, weit hinten in ihrem Verstand, wie kalter Schleim auf einem Fußboden. Sie war von Pfosten umgeben, Stahlpfosten, gleich Wächtern, jeder einen Meter fünfzig hoch, auf jedem befand sich ein Set Autokinolautsprecher. Unter ihren Füßen war Kies, aber Gras und Löwenzahn wuchsen dazwischen. Sie vermutete, die Geschäfte gingen seit etwa Mitte Juni oder so schlecht im Holiday Twin. Man konnte sagen, daß es für die Unterhaltungsbranche sozusagen ein toter Sommer gewesen war.

»Warum bin ich hier?« flüsterte sie.

Sie redete nur laut, führte Selbstgespräche; sie rechnete nicht mit einer Antwort. Als sie eine Antwort  bekam, entrang sich ihrem Hals ein Entsetzensschrei.

Alle Lautsprecher fielen auf einmal von den Lautsprecherpfosten auf den unkrautüberwucherten Kies. Sie gaben ein lautes, verstärktes PLATSCH! von sich – ein Geräusch, als wäre ein Leichnam auf Kies geplumpst.

»  NADINE«, plärrten die Lautsprecher, und es war seine Stimme, und wie sie da erst schrie! Sie riß die Hände zum Kopf, preßte die Handflächen auf die Ohren, aber sämtliche Lautsprecher ertönten auf einmal; sie konnte sich nicht vor der monströsen Stimme verbergen, die voll beängstigender Fröhlichkeit und grausiger, komischer Lust war.

» NADINE, NADINE; O WIE ICH LIEBE WIE ICH DICH LIEBE NADINE, MEIN SCHOSSTIER, MEIN HÜBSCHES...«

» Hör auf!« kreischte sie zurück und überanstrengte die Stimmbänder mit der Wucht ihres Schreis, aber dennoch war ihre Stimme leise im Vergleich zu diesem gewaltigen Brüllen. Dennoch verstummte seine Stimme einen Augenblick. Es herrschte Schweigen. Die heruntergefallenen Lautsprecher sahen sie vom Kies an wie die Facettenaugen gigantischer Insekten.

Nadine nahm langsam die Hände von den Ohren.

Du bist verrückt geworden, tröstete sie sich.  Das ist alles. Die Belastung des Wartens... und Harolds Spielchen... zuletzt die Bombe verstecken... das alles hat dich wahnsinnig gemacht, Teuerste, und du bist übergeschnappt. Wahrscheinlich ist es so besser.

Aber sie war nicht verrückt geworden, das wußte sie.

Dies war schlimmer, als verrückt zu sein.

Wie um das zu beweisen, ertönten die Lautsprecher nun mit der gestrengen und doch beinahe weinerlichen Stimme eines Rektors, der die Studentenschaft der High School wegen eines gemeinsam begangenen Streiches zurechtweist. » NADINE, SIE WISSEN ES

»Sie wissen es«, wiederholte sie wie ein Papagei. Sie war nicht sicher, wer »sie« waren oder was sie wußten, aber sie war ziemlich sicher, daß es unumkehrbar war.

» DU WARST DUMM. GOTT LIEBT VIELLEICHT DUMMHEIT, ICH NICHT

Die Worte knisterten und rollten in den Spätnachmittag davon. Plötzlich klebte ihre Kleidung an der Haut, das Haar haftete feucht an den blassen Wangen, und sie fing an zu zittern.

Dumm, dachte sie. Dumm, dumm. Ich weiß, was das Wort bedeutet, glaube ich. Es bedeutet Tod.

» SIE WISSEN ALLES... NUR NICHTS VON DEM SCHUHKARTON, DEM DYNAMIT

Lautsprecher. Überall Lautsprecher, die vom weißen Kies zu ihr hochsahen, sie zwischen Löwenzahnblüten ansahen, welche sich wegen des Regens geschlossen hatten.

» GEHT ZUM SUNRISE AMPHITHEATER. BLEIBT DORT BIS MORGEN ABEND. BIS SIE SICH TREFFEN. DANN DARFST DU MIT HAROLD KOMMEN. ZU MIR KOMMEN

Jetzt empfand Nadine eine einfache, strahlende Dankbarkeit. Sie waren dumm gewesen... aber sie hatten auch eine zweite Chance gewährt bekommen. Sie waren so wichtig, daß sein Eingreifen gerechtfertigt war. Und bald, sehr bald, würde sie bei ihm sein... und dann würde sie wahnsinnig werden, da war sie ganz sicher, und dies alles würde keine Rolle mehr spielen.

»Sunrise Amphitheater könnte zu weit sein«, sagte sie. Ihre Stimmbänder waren irgendwie verletzt, sie konnte nur noch krächzen. »Es ist vielleicht zu weit für das...« Für was? Sie überlegte. Oh! O ja! Richtig! »Für das Walkietalkie. Das Signal.«

Keine Antwort.

Die Lautsprecher lagen auf dem Kies und starrten sie an, Hunderte. Sie trat den Kickstarter der Vespa; der Motor erwachte hustend zum Leben. Das Echo ließ sie zusammenzucken. Es hörte sich an wie Gewehrfeuer. Sie wollte weg von diesem schrecklichen Ort, weg von den glotzenden Lautsprechern.

Mußte weg.

Sie kippte das Motorrad zu sehr, als sie um die Einlaßschranke herum fuhr. Auf einer asphaltierten Oberfläche hätte sie es vielleicht halten können, aber die Hinterreifen der Vespa rutschten im Kies unter ihr weg, sie fiel, biß sich die Lippen blutig und schürfte die Wange auf. Sie stand mit aufgerissenen, ängstlichen Augen auf und fuhr weiter. Sie zitterte am ganzen Körper.

Jetzt war sie in der Gasse, wo die Autos zum Kino fuhren, und das Kartenhäuschen, das wie eine kleine Mautkabine aussah, war direkt vor ihr. Sie würde hinausfahren. Sie würde entkommen. Sie verzog dankbar den Mund.

Hinter ihr erwachten Hunderte Lautsprecher auf einmal plärrend zum Leben, und jetzt sang die Stimme, ein gräßlicher, unmelodischer Gesang: » I'LL BE SEEING YOU... IN ALL THE OLD FAMILIAR PLACES... THAT THIS HEART OF MINE EMBRACES... ALL DAU THROOOOO...«

Nadine schrie mit ihrer brüchigen Stimme.

Gewaltiges, monströses Gelächter, dann ein dunkles und steriles Kichern, welches die ganze Erde auszufüllen schien.

» MACH'S GUT, NADINE«, dröhnte die Stimme. » MACH'S GUT, MEINE TEUERSTE, MEINE HERZALLERLIEBSTE

Dann war sie auf der Straße und floh in Richtung Boulder, was die Vespa an Geschwindigkeit hergab, und ließ die körperlose Stimme und die glotzenden Lautsprecher hinter sich... aber sie würde sie auf immer und ewig in ihrem Herzen tragen.



Sie wartete eine Ecke von der Bushaltestelle entfernt auf Harold. Als er sie sah, wurde sein Gesicht starr und verlor alle Farbe.

»Nadine...« flüsterte er. Die Frühstücksdose fiel ihm aus der Hand und schlug klappernd aufs Pflaster.

»Harold«, sagte sie. »Sie wissen es. Wir müssen...«

»Dein  Haar, Nadine, mein Gott, dein  Haar...«

» Hör mir zu

Er schien sich wieder in der Gewalt zu haben. »A-also gut. Was?«

»Sie sind in dein Haus gegangen und haben dein Buch gefunden. Sie haben es mitgenommen.«

Widerstreitende Gefühle in Harolds Gesicht: Wut, Entsetzen, Scham. Ganz langsam verschwanden sie und ein gefrorenes Grinsen erschien in Harolds Gesicht. »Wer? Wer war es?«

»Ich weiß nicht alles, und es spielt auch keine Rolle. Fran Goldsmith war dabei. Das weiß ich genau. Vielleicht Bateman oder Underwood. Keine Ahnung. Aber sie werden dich holen, Harold.«

»Wie kannst du das wissen?« Er packte sie grob an den Schultern und erinnerte sich daran, daß sie das Buch wieder unter den Kaminstein gelegt hatte. Er schüttelte sie wie eine Puppe, aber Nadine sah ihn unerschrocken an. Sie hatte an diesem langen Tag Schlimmerem gegenübergestanden als Harold Lauder. » Du Miststück, wie kannst du das wissen?«

»Er hat es mir gesagt.«

Harold ließ die Hände sinken.

»Flagg?« Ein Flüstern. »Er hat es dir gesagt. Er hat mit dir gesprochen? Und  das ist dabei passiert?« Harolds Grinsen war schauderhaft, das Grinsen des reitenden Sens enmannes.

»Wovon redest du denn?«

Sie standen vor einem Installationsgeschäft. Wieder nahm Harold sie bei den Schultern und drehte ihr Gesicht zum Glas hin. Nadine betrachtete lange ihr Spiegelbild.

Ihr Haar war weiß geworden. Ganz weiß. Es hatte keine einzige schwarze Strähne mehr.

Oh, wie ich liebe, wie ich dich liebe, Nadine.

»Komm«, sagte sie. »Wir müssen die Stadt verlassen.«

»Jetzt?«

»Nach Einbruch der Dunkelheit. Bis dahin verstecken wir uns und besorgen uns die Camping-Ausrüstung, die wir für unterwegs brauchen.«

»Nach Westen?«

»Noch nicht. Nicht vor morgen abend.«

»Vielleicht will ich gar nicht mehr«, flüsterte Harold. Er betrachtete immer noch ihr Haar.

Sie legte seine Hand darauf. »Zu spät, Harold«, sagte sie.


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