Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Jedenfalls fanden wir am Ende des Flurs, der vom Hauptkorridor abzweigte, wo die Fahrstuhlschächte waren, ein Zimmer, dessen Luftschleuse offenstand. Dort lag ein Toter, aber er war kein Patient (die trugen alle weiße Krankenhausschlafanzüge), und er war sicher nicht an der Grippe gestorben. Er lag in einer großen getrockneten Blutlache und sah aus, als hätte er noch im Sterben versucht, aus dem Zimmer zu kriechen. Ein zertrümmerter Stuhl lag dort, und alles war durcheinander, als hätte ein Kampf stattgefunden. Glen sah sich lange um, dann sagte er: »Ich glaube, wir sollten dieses Zimmer Stu gegenüber nicht erwähnen. Ich glaube, er war hier drinnen dem Tod sehr nahe.«
Ich betrachtete den ausgestreckten Leichnam und gruselte mich mehr denn je.
»Was meinen Sie damit?« fragte Harold, und sogar seine Stimme klang gedämpft. Eines der wenigen Male, daß sie sich einmal nicht so anhörte, als würde Harold vor einem aufmerksam lauschenden Auditorium reden.
»Ich glaube, dieser Mann hatte die Absicht, Stuart zu töten«, sagte Glen, »und Stu hat ihn irgendwie überrumpelt.«
»Aber warum?« fragte ich. »Warum wollte man Stu töten, wenn er immun war? Das ist doch Unsinn!«
Er sah mich an, und seine Augen waren furchteinflößend. Sie sahen fast tot aus, wie Fischaugen.
»Das spielt keine Rolle, Fran«, sagte er. »Wie es aussieht, sind Sinn und Zweck hier bedeutungslos gewesen. Diesen Leuten ging es nur noch darum, zu vertuschen – eine Geisteshaltung, die in jedem von uns ist. Diese Menschen hier glaubten so blind und fanatisch an ihre Sache, wie bestimmte religiöse Gruppen an die göttliche Herkunft Jesu. Denn für solche Menschen ist die Notwendigkeit zu vertuschen auch dann noch die einzig wichtige, wenn der Schaden schon eingetreten ist. Ich frage mich, wie viele Immune man in Atlanta und San Francisco und dem Viral Center in Topeka ermordet hat, bevor die Seuche schließlich die Mörder getötet und ihrem Gemetzel ein Ende bereitet hat. Dieses Arschloch da? Ich bin froh, daß er tot ist. Mir tut nur Stu leid, der seinetwegen wahrscheinlich den Rest seines Lebens Alpträume haben wird.«
Und kannst du dir vorstellen, was Glen Bateman dann gemacht hat? Dieser nette Mann, der die schrecklichen Bilder malt? Er ging hin und trat dem Toten ins Gesicht. Harold gab ein gedämpftes Grunzen von sich, als wäre er getreten worden. Dann zog Glen den Fuss wieder zurück.
»Nein!« schreit Harold, aber Glen trat den Toten trotzdem noch einmal. Dann drehte er sich um und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, aber seine Augen hatten wenigstens nicht mehr diesen gräßlichen toten Ausdruck.
»Kommt«, sagt er. »Verschwinden wir. Stu hatte recht. Hier sind alle tot.«
Also gingen wir raus; Stu saß mit dem Rücken am Eisentor in der hohen Mauer, die um das Institut herum verlief, und ich wollte... los doch, Frannie, wenn du deinem Tagebuch nicht alles anvertrauen kannst, wem dann! Ich wollte zu ihm laufen, ihn küssen und ihm sagen, wie ich mich schämte, weil wir ihm nicht geglaubt hatten, mich schämte, weil wir unablässig davon geredet hatten, wie schlimm es uns ergangen war, als die Seuche ausgebrochen war, und Stu hatte kaum etwas gesagt, obwohl er die ganze Zeit gewußt hatte, daß der Mann ihn beinahe umgebracht hätte.
Meine Güte, ich glaube, ich verliebe mich in ihn, ich habe die schwärmerischste Schwärmerei meines Lebens – wenn Harold nicht wäre, ich würde es riskieren!
Jedenfalls (es gibt immer ein jedenfalls, obwohl meine Finger inzwischen so taub sind, daß sie fast abfallen) hat uns Stu da zum ersten Mal gesagt, daß er nach Nebraska will, daß er erfahren möchte, ob sein Traum der Realität entspricht. Er hatte einen störrischen, irgendwie verlegenen Gesichtsausdruck, als wüßte er, daß er sich wieder den altklugen Stuß von Harold anhören mußte, aber Harold war nach unserem Ausflug ins Seuchenzentrum Stovington so mitgenommen, daß er nur pro forma Einwände erhob. Und selbst damit hörte er auf, als Glen auf sehr beiläufige Weise erwähnte, daß er vergangene Nacht auch von der alten Frau geträumt hätte.
»Könnte natürlich deshalb sein, weil Stu uns von seinem Traum erzählt hat«, sagte er, rot im Gesicht, »aber die Ählichkeit war verblüffend.«
Darauf erklärte Harold natürlich, genau das wäre der Grund für den Traum, aber Stu meinte: »Moment mal, Harold – ich hab' eine Idee.«
Seine Idee? Nun, wir sollten alle ein Blatt Papier nehmen und alles aufschreiben, was wir von unseren Träumen der vergangenen Woche noch wußten, und dann sollten wir die Notizen vergleichen. Das war immerhin wissenschaftlich genug, um Harold von weiteren Einwänden abzuhalten.
Nun, ich hatte nur den einen Traum, den ich bereits aufgeschrieben habe. Ich möchte ihn nicht wiederholen. Nur soviel: Ich habe meinem Tagebuch nur das mit meinem Vater anvertraut, aber nicht das mit dem Baby und dem Kleiderbügel, den er immer bei sich hat. Als wir die Zettel verglichen, waren die Ergebnisse recht erstaunlich. Harold, Stu und ich hatten alle von dem »dunklen Mann« geträumt, wie ich ihn nenne. Stu und ich haben ihn als Mann in Mönchskutte gesehen, ohne erkennbare Gesichtszüge – sein Gesicht ist immer im Schatten. Auf Harolds Zettel stand, daß er immer unter einer dunklen Tür stand und ihm winkte »wie ein Zuhälter«. Manchmal konnte er nur seine Schuhe und das Funkeln seiner Augen sehen – »wie die Augen eines Wiesels«, hat er sich ausgedrückt.
Stu und Glen haben fast identische Träume von der alten Frau. Es gibt so viele Übereinstimmungen, daß man sie kaum einzeln aufzählen kann (das ist meine »literarische« Weise zu sagen, dass meine Finger taub sind). Jedenfalls sind sich beide einig, daß sie in Polk County, Nebraska, wohnt, nur den Namen der Stadt bekamen sie nicht zusammen – Stu sagt Hollingford Home, Glen sagt Hemingway Home. Klingt jedenfalls ziemlich ähnlich. Sie scheinen beide der Meinung zu sein, daß sie es finden könnten. (Aufgepaßt, Tagebuch: Ich vermute »Hemingford Home«).
Glen sagte: »Wirklich erstaunlich. Wir scheinen alle ein gemeinsames übersinnliches Erlebnis zu haben.« Harold widersprach natürlich lebhaft, aber es schien, als hätte er eine Menge Stoff zum Nachdenken bekommen. Er stimmte nur auf der Basis zu, daß »wir ja irgendwo hin müßten«. Wir brechen am Morgen auf. Ich bin ängstlich, aufgeregt, vor allem aber glücklich, daß ich das tote Stovington verlassen kann. Und diese alte Frau ist mir allemal lieber als der dunkle Mann.
Zur Erinnerung: »Locker bleiben« heißt nicht aufregen. »Stark« und »klasse« bedeuten, daß etwas gut ist. »Keine Bange« heißt, dass man sich keine Sorgen machen muß. »Einen draufmachen« ist, wenn man es sich gutgehen läßt, und viele Menschen haben TShirts mit der Aufschrift SCHEISSE KOMMT VOR getragen, was sicher so war... und noch so ist. »Läuft wie geschmiert« war ein verbreiteter Ausdruck (ich habe ihn erst dieses Jahr gehört), er bedeutete, daß alles gut lief. »Kammer«, ein alter britischer Ausdruck, war gerade im Begriff, »Bude« oder »Bleibe« als Ausdruck für den Ort, wo man vor der Supergrippe wohnte, zu verdrängen. Es galt als ausgesprochen cool, zu sagen: »Da steh' ich drauf.« Dumm, was? Aber so war das Leben eben.
Es war kurz nach zwölf Uhr mittags.
Perion war erschöpft neben Mark eingeschlafen, den die anderen zwei Stunden vorher vorsichtig in den Schatten getragen hatten. Mal war er bei Bewußtsein, mal nicht; es war für alle Beteiligten angenehmer, wenn er es nicht war. Er hatte den Rest der Nacht den Schmerzen getrotzt, aber nach Tagesanbruch hatte er sich ihnen schließlich ergeben, und wenn er bei Bewußtsein war, ließen seine Schreie einem das Blut in den Adern gefrieren. Alle standen da und sahen sich hilflos an. Niemand wollte etwas essen.
»Es ist der Blinddarm«, sagte Glen. »Ich glaube, daran besteht kein Zweifel mehr.«
»Vielleicht sollten wir versuchen, ihn... nun, zu operieren«, sagte Harold. Er sah Glen an. »Du kannst wohl nicht...«
»Wir würden ihn umbringen«, sagte Glen unumwunden. »Das weißt du, Harold. Selbst wenn wir ihn aufschneiden könnten, ohne daß er verblutet – und das können wir nicht -, könnten wir den Blinddarm nicht vom Dickdarm unterscheiden. Das Zeug da drin hat keine Etiketten, weißt du.«
»Wenn wir nichts unternehmen, bringen wir ihn auch um«, sagte Harold.
»Willst du es versuchen?« fragte Glen ätzend. »Manchmal bin ich nicht sicher, woran ich bei dir bin, Harold.«
»Du bist in der momentanen Situation auch keine nennenswerte Hilfe«, sagte Harold errötend.
»He, kommt schon, hört auf«, sagte Stu. »Was soll das? Wenn ihr sowieso nicht vorhabt, ihn mit einem Taschenmesser aufzuschneiden, dann streitet euch nicht rum.«
» Stu!« Frannie stöhnte es fast.
»Was denn?« fragte er achselzuckend. »Das nächste Krankenhaus ist in Maumee. Dorthin können wir ihn unmöglich bringen. Ich glaube, wir kriegen ihn nicht einmal bis zur Schnellstraße.«
»Du hast natürlich recht«, murmelte Glen und strich sich mit einer Hand über die sandpapierrauhen Wangen. »Bitte entschuldige, Harold. Ich bin so durcheinander. Ich wußte, so etwas könnte passieren – pardon, würde passieren -, aber ich vermute, ich wußte es nur auf akademische Weise. Das hier ist anders, als im Arbeitszimmer zu sitzen und Situationen durchzuspielen. Harold knurrte eine undankbare Erwiderung und stapfte, die Hände tief in den Taschen vergraben, davon. Er sah wie ein mürrischer, zu groß geratener Zehnjähriger aus.
»Warum können wir ihn nicht transportieren?« fragte Fran verzweifelt und sah von Stu zu Glen.
»Weil sein Blinddarm mittlerweile stark angeschwollen sein muß«, sagte Glen. »Wenn er platzt, schüttet er soviel Gift in Marks Körper, daß zehn Menschen daran sterben könnten.«
Stu nickte. »Peritonitis.«
Frannies Gedanken kreisten. Appendicitis? Das war heutzutage gar nichts! Nichts. Wenn man wegen Gallensteinen oder so etwas im Krankenhaus war, nahmen sie den Blinddarm manchmal gleich mit heraus, wenn sie einen schon offen hatten. Sie erinnerte sich an einen Freund aus der Grundschule, einen Jungen namens Charley Biggers, den alle Biggy nannten, der den Blinddarm in den Sommerferien zwischen der fünften und sechsten Klasse herausbekommen hatte. Er war nur zwei oder drei Tage im Krankenhaus gewesen. Den Blinddarm herauszunehmen war rein gar nichts, medizinisch gesehen.
Ebensowenig war es gar nichts, ein Baby zu bekommen, medizinisch gesehen.
»Aber wenn ihr ihn in Ruhe laßt«, sagte sie, »platzt der Blinddarm dann nicht trotzdem?«
Stu und Glen sahen einander unbehaglich an, sagten aber nichts.
»Dann seid ihr wirklich so schlimm wie Harold sagt!« stieß sie wütend hervor. »Ihr müßt etwas unternehmen, auch wenn ihr's mit dem Taschenmesser tut! Ihr müßt!«
»Warum wir?« fragte Glen wütend. »Warum nicht du! Wir haben nicht mal ein medizinisches Lexikon, verdammt noch mal!«
»Aber ihr... er... es kann doch nicht einfach so passieren! Es ist gar nichts, den Blinddarm rauszubekommen!«
»Tja, früher vielleicht nicht, aber heute schon«, sagte Glen, aber da hatte sie sich schon weinend von ihm abgewandt.
Sie kam gegen drei Uhr zurück. Sie schämte sich und wollte sich entschuldigen. Aber weder Stu noch Glen waren im Lager. Harold hockte niedergeschlagen auf einem umgestürzten Baumstamm. Perion saß mit überkreuzten Beinen bei Mark und tupfte ihm das Gesicht mit einem Tuch ab. Sie war blaß, aber gefaßt.
»Frannie!« sagte Harold und strahlte sichtlich.
»Hi, Harold.« Sie ging zu Peri. »Wie geht es ihm?«
»Er schläft«, sagte Perion, aber er schlief nicht; das konnte selbst Fran sehen. Er war bewußtlos.
»Wo sind die anderen hin, Peri? Hast du eine Ahnung?«
Harold antwortete ihr. Er war hinter sie getreten, und Frannie konnte spüren, daß er den Wunsch hatte, ihr Haar zu berühren oder ihr den Arm um die Schultern zu legen. Das wollte sie nicht. Mittlerweile erfüllte Harold sie fast ständig mit Unbehagen.
»Die anderen sind nach Kunkle. Um nach einer Arztpraxis zu suchen.«
»Sie wollen versuchen, ein paar Bücher zu besorgen«, sagte Peri.
»Und ein paar... ein paar Instrumente.« Sie schluckte, kühlte weiter Marks Gesicht, tauchte das Tuch ab und zu in ein Feldbesteck und wrang es aus.
»Es tut uns echt leid«, sagte Harold unbehaglich. »Ich weiß, das hört sich dämlich an, aber es stimmt.«
Peri sah auf und schenkte Harold ein gezwungen-freundliches Lächeln. »Das weiß ich«, sagte sie. »Danke. Niemand trägt die Schuld an Marks Zustand. Es sei denn, es gibt einen Gott. Wenn es einen Gott gibt, dann ist es seine Schuld. Und wenn ich ihn sehe, trete ich ihm dafür in die Eier.«
Sie hatte ein Pferdegesicht und einen stämmigen Bauernkörper. Fran, die bei anderen immer zuerst die positiven und dann erst die negativen Merkmale sah (Harold, beispielsweise, hatte hübsche Hände für einen Jungen), fiel auf, daß Peris kastanienfarbenes Haar fast unvergleichlich war, und die dunklen Indigoaugen blickten klar und intelligent. Sie hatte ihnen erzählt, daß sie Anthropologie an der University of New York – NYU – gelehrt hatte; zudem war sie für verschiedene politische Belange eingetreten, darunter Frauenrecht und Gleichbehandlung für AIDS-Infizierte. Sie war nie verheiratet gewesen. Mark, hatte sie Frannie einmal anvertraut, war besser zu ihr gewesen, als sie es je von einem Mann erwartet hätte. Alle anderen, die sie gekannt hatte, hatten sie entweder links liegen gelassen, oder sie mit anderen Mädchen als »Trampel« oder »Vogelscheuche« über einen Kamm geschoren. Sie gab zu, dass Mark unter normalen Umständen wahrscheinlich zu denjenigen gehört hätte, die sie immer links liegen ließen, aber die Umstände waren nun mal nicht normal. Sie hatten sich in Albany kennengelernt, wo Perion den Sommer bei ihren Eltern verbrachte – am letzten Tag des Juni, und sie hatten beschlossen, aus der Stadt zu verschwinden, bevor die Krankheitserreger sämtlicher Toter an ihnen beiden vollenden konnten, was die Supergrippe nicht geschafft hatte.
Sie waren aufgebrochen und in der nächsten Nacht ein Pärchen geworden, wenn auch mehr aus verzweifelter Einsamkeit als aus Liebe (das war Mädchengeschwätz, und Frannie hatte es nicht einmal in ihr Tagebuch geschrieben). Er war gut zu ihr, erzählte Peri Fran in der leisen, erstaunten Weise aller unscheinbaren Frauen, die einen netten Mann in einer harten Welt gefunden haben. Sie hatte angefangen, ihn zu lieben; jeden Tag hatte sie ihn ein bißchen mehr geliebt.
Und jetzt das.
»Komisch«, sagte sie. »Außer Stu und Harold haben alle hier einen Collegeabschluß, und du hättest sicher einen gemacht, wenn die Dinge ihren normalen Verlauf genommen hätten, Harold.«
»Ja, stimmt«, sagte Harold.
Peri drehte sich wieder zu Mark um und tupfte ihm zärtlich und liebevoll die Stirn. Frannie mußte an eine Farbabbildung in ihrer Familienbibel denken, die drei Frauen zeigte, die Jesus für die Beerdigung vorbereiteten – sie rieben ihn mit Öl und duftenden Krautern ein.
»Frannie hat Englisch studiert, Glen hat Soziologie studiert, Mark hat seinen Doktor in amerikanischer Geschichte gemacht, und du Harold, hast auch Englisch gewählt und wolltest Schriftsteller werden. Wir könnten herumsitzen und hochgeistige Diskussionen führen. Haben wir ja eigentlich auch, oder?«
»Ja«, stimmte Harold zu. Seine normalerweise penetrante Stimme war so leise, daß man sie kaum hören konnte.
»Eine geisteswissenschaftliche Ausbildung lehrt einen, wie man denkt – das habe ich irgendwo gelesen. Die harten Fakten, die man lernt, sind zweitrangig. Das Wesentliche, was man von der Schule mitnimmt, ist die Fähigkeit, sich auf konstruktive Weise zu engagieren.«
»Das ist gut«, sagte Harold. »Gefällt mir.«
Jetzt legte er die Hand auf Frannies Schulter. Sie schüttelte sie nicht ab, doch die Berührung bereitete ihr Unbehagen.
»Nein, es ist nicht gut«, sagte Peri aufbrausend, und Harold nahm vor Überraschung die Hand von Frannies Schulter. Sie fühlte sich augenblicklich erleichtert.
»Nein?« fragte er fast schüchtern.
»Er stirbt!« sagte Peri – nicht laut, sondern wütend und hilflos. »Er stirbt, weil wir alle unsere Zeit damit verplempert haben, uns in Hörsälen und billigen Studentenwohnungen in Universitätsstädten mit Scheiße vollzustopfen. Oh, ich könnte euch von den MidiIndianern auf Neu Guinea erzählen, und Harold könnte uns die literarischen Techniken der jüngeren englischen Dichter erläutern, aber was nützt das alles Mark?«
»Wenn wir jemand von der medizinischen Fakultät hätten...« begann Fran zögernd.
»Ja, wenn. Haben wir aber nicht. Wir haben nicht einmal einen Automechaniker bei uns oder jemanden, der die Landwirtschaftsschule besucht und zumindest einmal gesehen hat, wie ein Tierarzt ein Pferd oder eine Kuh behandelt.« Peri sah die beiden an, und ihre Indigoaugen wurden noch dunkler. »So sehr ich euch mag, ich glaube, momentan würde ich euch alle mit Freuden für Mrs. Goodwrench eintauschen. Ihr habt alle Angst, Mark auch nur zu berühren, obwohl ihr genau wißt, was passiert, wenn ihr es nicht macht. Ich bin genauso – ich schließe mich nicht aus.«
»Jedenfalls sind die beiden...« Fran verstummte. Sie hatte sagen wollen: jedenfalls sind die beiden Männer losgefahren, entschied dann aber, daß das ein unglücklicher Ausdruck wäre, da Harold noch bei ihnen war. »Jedenfalls sind Stu und Glen losgefahren. Das ist doch schon mal was, oder nicht?«
Peri seufzte. »Ja – das ist schon mal was. Aber es war Stus Entscheidung zu fahren, richtig? Er war der einzige, der sich überlegt hat, daß es besser sein könnte, etwas zu versuchen, als nur herumzustehen und die Hände zu ringen.« Sie sah Frannie an. »Hat er dir erzählt, womit er vorher seinen Lebensunterhalt verdient hat?«
»Er hat in einer Fabrik gearbeitet«, antwortete Fran prompt. Sie sah nicht, wie Harolds Miene düster wurde, weil sie diese Information so schnell parat hatte. »Er hat Stromkreise in elektronische Taschenrechner eingebaut. Man könnte vielleicht sagen, daß er Computertechniker war.«
»Ha!« sagte Harold und lachte gallig.
»Er ist der einzige von uns, der versteht, wie man etwas auseinandernimmt«, sagte Peri. »Was er und Mr. Bateman vorhaben, wird Mark ziemlich sicher umbringen, aber es ist besser, wenn er ums Leben kommt, während jemand versucht, ihm zu helfen, als einfach zu sterben, während wir herumstehen und zusehen... als wäre er ein Hund, der auf der Straße überfahren worden ist.«
Darauf wußten weder Harold noch Fran eine Antwort. Sie standen nur neben ihr und betrachteten Marks stilles, regloses Gesicht. Nach einer Weile legte Harold wieder seine schwitzige Hand auf Frannies Schulter. Sie hätte am liebsten geschrien.
Stu und Glen kamen um Viertel vor vier zurück. Sie waren mit einem Motorrad unterwegs gewesen. Jetzt waren die Instrumententasche eines Arztes und mehrere Bücher auf dem Gepäckträger festgeschnallt.
»Wir versuchen es«, sagte Stu nur.
Peri sah auf. Ihr Gesicht war weiß und angespannt, ihre Stimme ruhig. »Ja? Bitte. Es ist unser beider Wunsch«, sagte sie.
»Stu?« sagte Perion.
Es war zehn nach vier. Stu kniete auf einer Gummimatte, die unter dem Baum ausgebreitet worden war. Schweiß floß ihm in Strömen vom Gesicht. Seine Augen waren glänzend und panisch und gequält. Frannie hielt ein Buch aufgeschlagen vor ihn und blätterte zwischen zwei Farbabbildungen hin und her, wenn Stu den Kopf hob und nickte. Neben ihm hielt ein totenblasser Glen Bateman eine Spule dünnes weißes Garn, Zwischen ihnen stand ein offener Kasten mit Instrumenten aus Edelstahl. Der Kasten war blutbespritzt.
»Hier!« rief Stu. Seine Stimme klang plötzlich schrill und hart und aufgeregt. Seine Augen waren zwei winzige Punkte. »Da ist der kleine Dreckskerl! Hier! Genau hier!«
»Stu?« sagte Perion.
»Fran, zeig mir noch mal die andere Abbildung! Schnell! Schnell!«
»Kannst du ihn rausnehmen?« fragte Glen. »Jesus, Ost-Texas, glaubst du wirklich?«
Harold war nicht da. Er hatte die Runde verfrüht und mit einer Hand vor dem Mund verlassen. Seit fünfzehn Minuten stand er in einem kleinen Hain östlich und hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Jetzt drehte sich sein großes, rundes Gesicht voller Hoffnung zu ihnen um.
»Ich weiß nicht«, sagte Stu, »aber es könnte sein. Könnte sein.«
Er betrachtete die Abbildung, die Fran ihm zeigte. Marks Blut reichte ihm bis zu den Ellbogen, wie scharlachrote Abendhandschuhe.
»Stu?« sagte Perion.
»Er ist oben und unten abgeschlossen«, flüsterte Stu. Seine Augen glitzerten aufgeregt. »Der Blinddarm. Eine abgeschlossene kleine Einheit. Er... wisch mir die Stirn ab, Frannie, Herrgott, ich schwitze wie ein Schwein... danke... O Gott, ich will ihn nicht schlimmer zerschnippeln, als ich muß... schließlich sind es seine Eingeweide... aber ich muß, ich muß, verdammte Scheiße.«
»Stu?« sagte Perion.
»Gib mir die Schere, Glen. Nein – nicht die. Die kleinere.«
» Stu.«
Er sah Perion endlich an.
»Du brauc hst sie nicht mehr.« Ihre Stimme war ruhig, leise. »Er ist tot.«
Stu sah sie an, seine zusammengekniffenen Augen wurden langsam groß.
Sie nickte. »Vor fast zwei Minuten. Trotzdem danke. Danke, daß du es versucht hast.«
Stu sah sie lange an. »Bist du sicher?« flüsterte er schließlich. Sie nickte wieder. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Stu wandte sich von ihnen ab, ließ das winzige Skalpell fallen, das er in der Hand gehabt hatte, und schlug die Hände in einer Geste völliger Verzweiflung vors Gesicht. Glen war schon gegangen, ohne sich umzudrehen; er hatte die Schultern wie nach einem schweren Schlag gesenkt.
Frannie legte die Arme um Stu und zog ihn an sich.
»Das war's«, sagte er. Er sagte es immer wieder, mit leiser, tonloser Stimme, die ihr angst machte. »Das war's. Alles aus. Das war's. Das war's.«
»Du hast dein Bestes gegeben«, sagte sie und hielt ihn noch fester, als könnte er davonfliegen.
»Das war's«, sagte er noch einmal und mit dumpfer Endgültigkeit. Frannie hielt ihn in den Armen. Trotz der Gefühle, die sie in den letzten drei Wochen für ihn entwickelt hatte, trotz ihrer »schwärmerischen Schwärmerei« hatte sie keinerlei eindeutige Absichten bekundet. Sie war fast schmerzlich berührt gewesen, ihre Empfindungen nicht zu zeigen. Die Situation mit Harold stand zu sehr auf des Messers Schneide. Und nicht einmal jetzt zeigte sie wirklich, was sie für Stu empfand, nicht rückhaltlos. Sie umarmte ihn nicht wie eine Liebende. Nur wie eine Überlebende, die sich an einen anderen klammert. Das schien Stu zu verstehen. Er hob die Hände von ihren Schultern; dunkle Handabdrücke blieben auf der Khakibluse zurück und zeichneten sie so, als wären sie Komplizen bei einem tragischen Verbrechen. Irgendwo krähte schrill ein Eichelhäher, und in der Nähe fing Perion an zu weinen.
Harold Lauder, der den Unterschied zwischen den Umarmungen Liebender und Überlebender nicht kannte, betrachtete Stu und Frannie mit dämmerndem Mißtrauen und Angst. Nach einem Moment stapfte er wütend ins Unterholz und kam erst lange nach dem Essen zurück.
Am nächsten Morgen wachte sie früh auf. Jemand schüttelte sie. Ich öffne die Augen, und es ist Glen oder Harold, dachte sie schläfrig. Wir machen es wieder durch, immer weiter, bis wir es richtig machen. Wer nicht aus der Geschichte lernt...
Aber es war Stu. Und es war irgendwie schon Tag; eine graue Dämmerung, vom Morgennebel gedämpft wie glänzendes Gold, das durch dünnen Mull schimmert. Die anderen waren reglose, schlafende Gestalten.
»Was ist?« fragte sie und richtete sich auf. »Stimmt was nicht?«
»Ich habe wieder geträumt«, sagte er. »Nicht von der alten Frau, von dem... dem anderen. Dem dunklen Mann. Ich hatte Angst, und darum...«
»Hör auf«, sagte sie, weil ihr sein Gesichtsausdruck Furcht einjagte.
»Komm zur Sache, bitte.«
»Perion. Das Veronal. Sie hat das Veronal aus Glens Rucksack genommen.«
Fran atmete keuchend.
»O Mann«, sagte Stu gebrochen. »Sie ist tot, Frannie. Mein Gott, was für eine verfluchte Schweinerei.«
Sie wollte sprechen, konnte nicht.
»Ich glaube, ich sollte die beiden anderen aufwecken«, sagte Stu geistesabwesend, wandte sich ab, rieb sich die stoppeligen Wangen. Fran konnte sich erinnern, wie sich seine Bartstoppeln an ihren Wangen angefühlt hatten, als sie ihn gestern umarmte. Er drehte sich bestürzt zu ihr um. »Wann hört das endlich auf?«
Sie sagte leise: »Ich glaube, niemals.«
Sie sahen einander in der frühen Dämmerung in die Augen.
Aus Fran Goldsmiths Tagebuch
9. Juli 1990
Heute nacht haben wir unser Lager westlich von Guilderland (NY) aufgeschlagen, nachdem wir endlich den großen Highway, Route 80/90, erreicht hatten. Die Aufregung, daß wir Mark und Perion (findest du nicht auch, daß das ein schöner Name ist? Ich schon) gestern nachmittag getroffen haben, hat sich mehr oder weniger gelegt. Sie sind übereingekommen, sich uns anzuschließen ... sie haben es selbst vorgeschlagen, bevor einer von uns dazu gekommen ist.
Ich bin nicht sicher, ob Harold es angeboten hätte. Du weißt ja, wie er ist. Und er war ziemlich geschockt (Glen auch, glaube ich) wegen der Sachen, die Mark und Perion bei sich hatten, darunter auch halbautomatische Gewehre (zwei). Aber er wollte wohl hauptsächlich nur seine übliche Schau abziehen... er mußte seine Anwesenheit kundtun, du weißt ja.
Ich glaube, ich habe ganze Seiten mit der PSYCHOLOGIE VON HAROLD gefüllt, und wenn du ihn jetzt nicht kennst, wirst du ihn nie kennen. Unter seiner Überheblichkeit und den vollmundigen Worten versteckt sich ein sehr unsicherer kleiner Junge. Er kann nicht begreifen, daß sich alles verändert hat. Ein Teil von ihm – ein ziemlich großer Teil, meine ich – muß weiterhin glauben, daß seine sämtlichen Peiniger von der High School eines schönen Tages aus ihren Gräbern auferstehen und wieder anfangen, Dreck nach ihm zu schleudern oder ihn Wichser-Harry nennen, wie Amy mir einmal verraten hat. Manchmal glaube ich, es wäre besser für ihn gewesen (und für mich auch), wenn wir uns in Ogunquit nicht zusammengetan hätten. Ich gehöre seinem alten Leben an, ich war einmal die beste Freundin seiner Schwester, und so weiter und so weiter. Zusammenfassend könnte man über meine merkwürdige Beziehung zu Harold folgendes sagen: So seltsam es sich anhören mag, nach allem, was ich jetzt weiß, würde ich mich wahrscheinlich mit Harold anfreunden und nicht mit Amy, die immer scharf auf Jungs mit schönen Autos und Kleidern von Sweetie's war und die (Gott vergebe mir, daß ich schlecht von den Toten spreche) ein regelrechter Snob in Ogunquit gewesen ist, wie es nur jemand sein kann, der ständig in der Stadt wohnt. Harold ist auf seine verschrobene Weise irgendwie cool. Das heißt, wenn er nicht seine ganze geistige Energie darauf konzentriert, ein Arschloch zu sein. Aber weißt du, Harold könnte nie glauben, daß ihn jemand mag. Ein Teil von ihm hat soviel darin investiert, grob zu sein. Er ist entschlossen, seine sämtlichen Probleme ohne fremde Hilfe mit in diese nicht ganz so schöne neue Welt zu schleppen. Er hätte sie ebensogut in seinen Rucksack packen können, zusammen mit den Payday-Schokoriegeln, die er so gerne ißt.
O Harold, Herrgott, ich weiß einfach nicht.
Zur Erinnerung: Der Papagei von Gilette. Der wandelnde Kool-Aid Saftkrug, der immer sagte: »Oh... YEAAAAHHH!«
» O.B.-Tampons, von einer Gynäkologin erfunden.« Gegensätzliche All-Stars. Die Nacht der lebenden Toten. Brrr! Das trifft den wahren Kern zu sehr. Ich geb's auf.
14. Juli 1990
Heute beim Essen haben wir uns lange und ernst über diese Träume unterhalten und viel länger gerastet, als wahrscheinlich gut war. Wir sind übrigens gerade nördlich von Batavia, New York. Gestern hat Harold sehr zurückhaltend (für ihn) vorgeschlagen, wir sollten Veronal besorgen und leichte Dosen zu uns nehmen, um festzustellen, ob wir »den Traumzyklus nicht unterbrechen können«, wie er sich ausgedrückt hat. Ich habe dem Vorschlag zugestimmt, damit niemand auf die Idee kommt zu fragen, ob etwas mit mir nicht in Ordnung ist, aber ich werde meine Tabletten nicht nehmen, weil ich nicht weiß, was sie mit dem Einsamen Reiter in mir anstellen werden (ich hoffe, daß er einsam ist; ich weiß nicht, ob ich Zwillinge verkraften würde).
Als der Veronal-Vorschlag angenommen worden war, hatte Mark etwas zu sagen. »Wißt ihr«, sagte er, »über so etwas sollte man sich nicht allzu sehr den Kopf zerbrechen. Demnächst halten wir uns alle für Moses oder Josef und glauben, daß wir Telefonanrufe von Gott bekommen.«
»Der dunkle Mann ruft nicht aus dem Himmel an«, sagt Stu. »Wenn es ein R-Gespräch ist, kommt es wahrscheinlich von viel weiter unten.«
»Das ist Stus Art zu sagen, der olle Pferdefuß ist hinter uns her«, flötet Frannie dazwischen.
»Und diese Erklärung ist so gut wie jede andere«, sagt Glen. Wir sahen ihn alle an. »Na ja«, fuhr er -wie ich den Eindruck hatte -ein wenig defensiv fort, »wenn man es vom theologischen Standpunkt betrachtet, sieht es so aus, als wären wir der Knoten im Seil bei einem Tauziehen zwischen Himmel und Hölle, oder nicht? Wenn irgendwelche Jesuiten die Supergrippe überlebt haben, müssen sie ja höchstwahrscheinlich total ausrasten.«
Darüber hat sich Mark fast schiefgelacht. Ich habe es eigentlich nicht verstanden, aber den Mund gehalten.
»Ich finde, das Ganze ist lächerlich«, warf Harold ein. »Ehe wir uns versehen, seid ihr bei Edgar Cayce und der Seelen-Wanderung.«
Er sprach Cayce Case aus, und als ich ihn verbesserte (man spricht es wie die Anfangsbuchstaben von Kansas City aus – Kay -Si), sah er mich mit einem BÖSEN-HAROLD-BLICK an. Liebes Tagebuch, er gehört nicht zu den Leuten, die einem dankbar sind, wenn man sie auf kleine Fehler aufmerksam macht!
»Wenn etwas eindeutig Paranormales passiert«, sagte Glen, »ist der theologische Erklärungssatz der einzige, der wirklich stichhaltig ist und seine innere Logik behält. Darum gehen das Übersinnliche und die Religion stets Hand in Hand, bis hin zu unseren modernen Geistheilern.«
Harold grollte, aber Glen sprach trotzdem weiter.
»Ich bin der Meinung, daß jeder übersinnlich begabt ist... das ist so tief in uns, daß wir es selbst kaum bemerken. Die Begabung könnte größtenteils präventiv sein, und auch daher bleibt sie weitgehend unbemerkt.«
»Warum?« fragte ich.
»Weil sie ein Negativfaktor ist, Fran. Hat jemand von euch einmal D. L. Stauntons 1958 erschienene Studie über Zug– und Flugzeugunglücke gelesen? Sie wurde ursprünglich in einer soziologischen Fachzeitschrift veröffentlicht, aber die Regenbogenpresse hat sich immer wieder darauf berufen.«