Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
Жанр:
Ужасы
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»Ja. Ich habe geschlafen, als er es geschrieben hat. Sonst hätte ich es nicht zugelassen.«
»Ich habe mir ein Bild von ihm gemacht«, sagte Larry. »Ich habe ein Paydaypapier auf dem Boden der Scheune in Ogunquit gefunden, und dann die Schnitzerei an dem Balken...«
»Was für eine Schnitzerei?«
Sie merkte, daß Larry sie in der Dunkelheit prüfend ansah, und zog den Morgenmantel fester zu... keine Geste der Keuschheit, denn sie fühlte sich nicht von diesem Mann bedroht, sondern von Nervosität.
»Nur seine Initialen«, sagte Larry beiläufig. »H. E. L. Wenn das alles gewesen wäre, wäre ich jetzt nicht hier. Aber dann, in der Motorradvertretung in Wells...«
»Da waren wir!«
»Das weiß ich. Ich habe gesehen, daß zwei Motorräder verschwunden waren. Was mich noch mehr beeindruckt hat, war, daß Harold Benzin aus dem unterirdischen Tank abgesaugt hatte. Sie müssen ihm geholfen haben, Fran. Ich hätte fast die Finger verloren.«
»Nein, das war gar nicht nötig. Harold hat so lange gesucht, bis er etwas gefunden hat, das er Entlüftungsventil nannte...«
Larry stöhnte und schlug sich an die Stirn. »Das Entlüftungsventil!
Mein Gott! Ich habe nicht mal nachgesehen, wo sie den Tank entlüftet haben! Sie sagen, er hat einfach gesucht... einen Stöpsel rausgezogen... und den Schlauch reingehalten?«
»Nun... ja.«
»Oh, Harold«, sagte Larry in einem Tonfall der Bewunderung, wie sie ihn noch nie gehört hatte, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit Harold Lauder. »Das ist einer seiner Tricks, der mir entgangen ist. Jedenfalls sind wir nach Stovington gefahren. Nadine war so bestürzt, daß sie ohnmächtig wurde.«
»Ich habe geweint«, sagte Fran. »Ich habe geheult, als könnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich hatte gedacht, wenn wir dort sind, würde jemand rauskommen und sagen: >Hi! Treten Sie ein. Entlausung links, Kantine rechts.<« Sie schüttelte den Kopf. »Kommt mir heute so albern vor.«
»Ich war nicht enttäuscht. Der wackere Harold war vor mir dagewesen, hatte sein Schild hinterlassen und war weitergezogen. Ich kam mir wie ein Grünschnabel aus dem Osten vor, der diesem Indianer aus Coopers Pfadfinder folgt.«
Seine Meinung über Harold faszinierte und erstaunte sie. Hatte nicht eigentlich Stu ihre Gruppe angeführt, nachdem sie Vermont verlassen hatten und nach Nebraska aufgebrochen waren? Sie konnte sich wirklich nicht erinnern. Zu der Zeit waren sie alle schon mit den Träumen beschäftigt gewesen. Larry erinnerte sie an Dinge, die sie vergessen... schlimmer, als selbstverständlich betrachtet hatte. Harold hatte sein Leben riskiert, als er die Botschaft auf das Scheunendach malte – sie hatte es für ein sinnloses Risiko gehalten, aber es hatte doch sein Gutes bewirkt. Und Benzin aus dem unterirdischen Tank zu holen... für Larry schien das eine gewaltige Anstrengung gewesen zu sein, aber für Harold etwas ganz Normales. Sie fühlte sich klein und hatte ein schlechtes Gewissen. Sie gingen alle mehr oder weniger davon aus, daß Harold nur ein grinsender Statist war. Aber Harold hatte während der letzten sechs Wochen einige Tricks draufgehabt. War sie so verliebt in Stu gewesen, daß erst dieser Fremde kommen mußte, um ihr einige Wahrheiten über Harold zu erzählen? Die Tatsache, daß Harold vollkommen erwachsen auf sie und Stu reagierte, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, machte das Gefühl nur um so unbehaglicher.
Larry sagte: »Und in Stovington ist wieder ein Schild mit den genauen Straßenbezeichnungen, richtig. Und daneben im Gras liegt wieder eine leere Payday-Packung. Ich hatte das Gefühl, als würde ich nicht zerknickten Zweigen und niedergetretenem Gras folgen, sondern Harolds Payday-Spur. Nun, wir sind nicht die ganze Zeit eurer Route gefolgt. In der Nähe von Gary, Indiana, sind wir nach Norden abgebogen, denn da war ein Großfeuer, das stellenweise noch brannte. Es sah aus, als wäre jeder verdammte Öltank in der Stadt explodiert. Wie auch immer, durch diesen Umweg trafen wir den Richter und machten dann Rast in Hemingford Home – wir wußten, daß sie schon weg war, Sie wissen ja, die Träume, aber wir wollten alle den Ort wenigstens sehen. Den Mais... die Reifenschaukel... Sie verstehen, was ich meine?«
»Ja«, sagte Frannie. »Ja, das verstehe ich.«
»Und ich bin die ganze Zeit fast verrückt geworden und dachte, eine Motorradbande würde uns überfallen, das Wasser würde uns ausgehen oder sonst was.
Meine Mutter hatte ein Buch, sie hatte es von ihrer Großmutter oder so. Auf seinen Spuren, das war der Titel. Und darin standen kurze Geschichten von Leuten, die schreckliche Probleme hatten. Größtenteils ethische Probleme. Und der Mann, der das Buch geschrieben hatte, sagte, um Probleme zu lösen, müßte man sich nur fragen: >Was würde Jesus tun?< Dann würde sich alles klären. Wissen Sie, was ich glaube? Es ist eine Zen-Frage, eigentlich keine Frage, sondern eine Methode, seine Gedanken zu klären, wie Om sagen und seine Nasenspitze betrachten.«
Fran lächelte. Sie wußte, was ihre Mutter zu so etwas gesagt haben würde.
»Und wenn ich so richtig in der Klemme saß, sagte Lucy – das ist mein Mädchen, habe ich das schon erwähnt? -, dann sagte Lucy:
>Los, stell die Frage. <«
»Was würde Jesus tun?« fragte Fran amüsiert.
»Nein, was würde Harold tun«, antwortete Larry ernst. Fran war fast von den Socken. Sie wünschte sich dabeizusein, wenn Larry Harold kennenlernte. Wie, um alles in der Welt, würde er reagieren?
»Wir lagerten eines Nachts auf dem Hof einer Farm und hatten fast kein Wasser mehr. Es gab einen Brunnen, aber wir konnten kein Wasser heraufholen, weil kein Strom da war und die Pumpe nicht funktionierte. Und Joe Leo, Entschuldigung, sein richtiger Name ist Leo -, Leo kam immer wieder zu uns und sagte: >Durst, Larry, schrecklicher Durst.< Ich spürte, wie ich gereizt wurde, und wenn er noch einmal gekommen wäre, hätte ich ihn wahrscheinlich geschlagen. Netter Kerl, hm? Ein verstörtes Kind schlagen! Aber der Mensch kann sich nicht schlagartig ändern. Ich hatte Zeit genug, das selbst festzustellen.«
»Sie haben sie immerhin unversehrt von Maine hierher gebracht«, sagte Frannie. »Bei uns ist einer gestorben. Blinddarmdurchbruch. Stu hat versucht, ihn zu operieren, aber es hat nichts genützt. Alles in allem, Larry, würde ich sagen, Sie haben Ihre Sache ziemlich gut gemacht.«
»Harold und ich waren nicht schlecht«, korrigierte er sie. »Lucy sagte jedenfalls: >Schnell, Larry, stell die Frage.< Also stellte ich sie. Auf dem Hof stand eine Windmühle, mit der Wasser zur Scheune gepumpt wurde. Sie drehte sich ausgezeichnet, aber aus den Hähnen in der Scheune kam auch kein Wasser. Also machte ich den großen Kasten unten an der Windmühle auf und sah, daß die Antriebswelle aus ihrem Loch gesprungen war. Ich setzte sie wieder ein, und bingo! Soviel Wasser, wie wir wollten. Kühl und frisch. Dank Harold.«
»Dank Ihnen. Harold war nicht da, Larry.«
»Nun, in meinen Gedanken war er da. Und jetzt bin ich hier und habe ihm Wein und Schokoriegel gebracht.« Er sah sie von der Seite an. »Wissen Sie, ich hab' irgendwie gedacht, Harold wäre Ihr Mann.«
Sie schüttelte den Kopf und betrachtete die verschränkten Finger.
»Nein. Er... Harold nicht.«
Er sagte lange Zeit nichts, aber sie spürte, daß er sie ansah. Schließlich sagte er: »Okay? Wie habe ich mich geirrt? Wegen Harold?«
Sie stand auf. »Ich sollte wieder reingehen. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Larry. Kommen Sie morgen her, damit Sie Stu kennenlernen. Bringen Sie Ihre Lucy mit, wenn sie Zeit hat.«
»Was ist mit ihm?« beharrte er und stand mit ihr auf.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie belegt. Plötzlich war sie den Tränen nahe. »Sie geben mir das Gefühl, als... als hätte ich Harold ziemlich mies behandelt, und ich weiß nicht... warum oder wie ich es getan habe... kann man mir zum Vorwurf machen, daß ich ihn nicht liebe wie Stu? Ist das etwa meine Schuld?«
»Nein, natürlich nicht.« Larry sah erschrocken drein. »Hören Sie, es tut mir leid. Ich bin einfach hereingeplatzt. Ich gehe.«
»Er hat sich verändert.« platzte Frannie heraus. »Ich weiß nicht wie und warum, und manchmal glaube ich, zu seinem Vorteil... aber ich weiß es nicht... wirklich nicht. Manchmal habe ich Angst.«
»Angst vor Harold?«
Sie antwortete nicht; sah nur auf ihre Füße. Sie dachte, daß sie schon zuviel gesagt hatte.
»Sie wollten mir doch sagen, wie ich dorthin komme«, meinte er leise.
»Ganz einfach. Gehen Sie die Arapahoe geradeaus, bis Sie zu dem kleinen Park kommen... Ebene G. Fine Park, glaube ich. Der Park liegt rechts. Harolds kleines Haus links, genau gegenüber.«
»Gut, danke. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Fran, samt kaputter Vase und allem.«
Sie lächelte, aber es war mechanisch. Die beschwingte gute Stimmung des Abends war dahin.
Larry hob die Weinflasche und schenkte ihr sein schiefes Lächeln.
»Und wenn Sie ihn vor mir treffen... nichts verraten, hm?«
»Klar.«
»Nacht, Frannie.«
Er ging den Weg zurück, den er gekommen war. Sie sah ihm nach, bis er fort war. Dann ging sie nach oben und legte sich zu Stu ins Bett, der immer noch schlief wie ein Murmeltier.
Harold, dachte sie und zog die Decke bis ans Kinn. Wie sollte sie es Larry sagen, der auf seine verlorene Weise so nett zu sein schien (aber waren sie heute nicht alle verloren?), daß Harold Lauder dick und halbwüchsig und selbst verloren war? Sollte sie ihm sagen, dass sie eines noch gar nicht so lange vergangenen Tages den klugen Harold, den spitzfindigen Harold, den Was-würde-Jesus -tun-Harold gefunden hatte, wie er in der Badehose den Rasen mähte und weinte? Sollte sie ihm sagen, daß der manchmal mürrische, häufig ängstliche Harold, der von Ogunquit nach Boulder gekommen war, sich in einen gestandenen Politiker verwandelt hatte, einen Rückenklopfer, einen Hallo-Leute-wir-sehen-uns-Typ, der einen trotzdem mit den ausdruckslosen, kalten Augen eines Gürteltiers ansah?
Sie fürchtete, daß sie heute nacht lange auf den Schlaf warten mußte. Harold hatte sich hoffnungslos in sie verliebt, und sie hatte sich hoffnungslos in Stu Redman verliebt; das Leben war schon hart. Aber wenn ich Harold sehe, bekomme ich eine Gänsehaut. Obwohl es aussieht, als hätte er zehn Pfund abgenommen, und er nicht mehr so viele Pickel hat, bekomme ich eine...
Plötzlich stockte ihr hörbar der Atem; sie stützte sich auf die Ellenbogen und riß die Augen im Dunkeln auf.
Etwas hatte sich in ihr bewegt.
Sie strich mit den Händen über die Wölbung der Leibesmitte. Es war noch zu früh. Es war ihre Einbildung. Aber...
Aber die war es nicht.
Sie legte sich langsam mit klopfendem Herzen zurück. Sie hätte Stu fast geweckt, ließ es dann aber doch sein. Wenn nur er ihr das Baby gemacht hätte, nicht Jess. In diesem Fall hätte sie ihn geweckt und den Augenblick mit ihm geteilt. Beim nächsten Baby. Das hieß, wenn es ein nächstes Baby gab.
Dann kam die Bewegung wieder, so unmerklich, als wäre es eine Blähung gewesen. Aber sie wußte es besser. Es war das Baby. Und das Baby lebte.
»Wie schön«, murmelte sie zu sich und lehnte sich zurück. Larry Underwood und Harold Lauder waren vergessen. Was ihr widerfahren war, seit ihre Mutter krank wurde, war vergessen. Sie wartete, daß es sich wieder bewegte, lauschte nach dem Wesen in ihrem Inneren und schlief darüber ein. Ihr Baby lebte.
Harold saß in einem Sessel auf dem Rasen des kleinen Hauses, das er sich ausgesucht hatte, sah zum Himmel und dachte an einen alten Rock'n'Roll-Song. Er haßte Rock, aber an diesen erinnerte er sich fast Zeile für Zeile, kannte sogar noch den Namen der Gruppe, die ihn gesungen hatte: Cathy Young and the Innocents. Die Leadsängerin, Vokalistin, wie auch immer, hatte eine hohe, schmachtende, rauhe Stimme, die ihn irgendwie gefesselt hatte. Goldkehlchen nannten die DJs sowas. Eine Miß mit Biß. Die Leadsängerin hörte sich an, als wäre sie sechzehn Jahre alt, blaß, blond und unscheinbar. Als würde sie ein Bild ansingen, das fast immer in einer Schublade versteckt lag, ein Bild, das nur spät abends herausgenommen wurde, wenn alle anderen im Haus schliefen. Sie klang hoffnungslos. Das Bild, das sie ansang, hatte sie möglicherweise aus dem High-School -Jahrbuch ihrer großen Schwester ausgeschnitten, das Bild des hiesigen großen Zampano – Kapitän der Footballmannschaft und Vorsitzender des Studentenausschusses. Der große Zampano schob ihn auf irgendeiner abgelegenen Waldlichtung der Anführerin der Cheerleader rein, während dieses unscheinbare Mädchen ohne Brüste und mit einem Pickel im Mundwinkel irgendwo weit entfernt im Vorort sang:
»A thousand stars in the sky... make me realize... you are the one love that I'll adore... tell me you love me... tell me you're mine, all mine...«
Heute abend standen mehr als tausend Sterne am Himmel, aber es waren keine Sterne der Liebenden. Kein sanft leuchtendes Netz der Milchstraße. Hier, eine Meile über dem Meeresspiegel, waren sie grell und grausam wie eine Milliarde Löcher in schwarzem Samt, Löcher von Gottes Spitzhacke. Es waren die Sterne von Hassenden, und weil das so war, fühlte Harold sich berufen, heute nacht etwas auf sie zu wünschen. Sternenglanz, Sternenschein, laß den Wunsch erfüllet sein. Fallt alle tot um.
Er saß stumm mit zurückgelehntem Kopf da, ein düsterer Astronom. Harolds Haar war länger denn je, aber nicht mehr schmutzig und verfilzt und strähnig. Er roch nicht mehr wie ein Furz im Heuhaufen. Und weil er die Süßigkeiten wegließ, gingen sogar die Pickel weg. Und durch die harte Arbeit und das viele Laufen nahm er ab. Er sah ziemlich gut aus. In den vergangenen Wochen war es häufig vorgekommen, daß er an einem Spiegel vorbeiging und verblüfft über die Schulter sah, als hätte er einen völlig Fremden erblickt. Er regte sich im Sessel. Ein Buch lag auf seinem Schoß, ein großer Foliant mit marmoriertem Rücken und Kunstledereinband. Wenn er weg war, versteckte er es hinter einem lockeren Mauerstein im Haus. Wenn jemand das Buch fand, wäre der Traum in Boulder für ihn ausgeträumt. Ein Wort stand in Goldbuchstaben auf dem Umschlag, dieses Wort hieß HAUPTBUCH. Es war das Tagebuch, das er angefangen hatte, nachdem er das von Fran gelesen hatte. Die ersten Seiten waren schon von einem Rand zum anderen mit seiner engen Handschrift bedeckt. Keine Absätze, nur ein solider Schriftblock, eine Absonderung des Hasses wie Eiter aus einem Abszeß. Er hätte nicht gedacht, daß er soviel Haß in sich haben könnte. Man sollte meinen, der Strom müßte mittlerweile ausgetrocknet sein, aber es schien, als hätte er ihn gerade erst angebohrt. Wie in dem alten Witz. Warum war der ganze Boden nach Güsters letzter Schlacht weiß? Weil die Indianer unaufhörlich kamen und kamen und kamen...
Und warum haßte er?
Er richtete sich gerade auf, als wäre die Frage von außen gekommen. Es war eine schwere Frage, außer vielleicht für ein paar Wenige, ein paar Auserwählte. Hatte nicht Einstein gesagt, es würde nur sechs Menschen auf der Welt geben, die die ganze Bedeutung von E= mc² begriffen? Und was war mit der Gleichung in seinem eigenen Kopf? Harolds Relativität? Oh, darüber könnte er zweimal so viele Seiten füllen, wie er bisher geschrieben hatte, und immer obskurer und geheimnisvoller werden, bis er sich schließlich in seinem inneren Räderwerk verlor, ohne auch nur in die Nähe der Hauptfeder zu gelangen. Vielleicht... vergewaltigte er sich selbst. War es das? Jedenfalls dicht dran. Ein obszöner, endloser Akt der Unzucht. Die Indianer kamen und kamen.
Er würde Boulder bald verlassen. Ein Monat oder zwei, mehr nicht. Bis er sich klar war, wie er einige offene Rechnungen begleichen konnte. Dann würde er nach Westen gehen. Und wenn er dort war, würde er den Mund aufmachen und gründlich über die Lage hier auspacken. Er würde ihnen erzählen, was in den öffentlichen Sitzungen los war und, noch wichtiger, in den nichtöffentlichen. Er war sicher, daß man ihn ins Komitee der Freien Zone wählen würde. Sie würden ihn willkommen heißen, und der Mann, der drüben die Macht hatte, würde ihn reichlich belohnen... nicht indem er seinem Haß ein Ende setzte, sondern indem er ihm das perfekte Vehikel dafür gab, einen Haß-Cadillac, ein Angstmobil, lang und dunkel glänzend. Er würde einsteigen und seinen Haß unter sie fahren. Er und Flagg würden diese elende Ansiedlung auseinandertreten wie einen Ameisenhaufen. Aber zuerst würde er mit Redman abrechnen, der ihn belogen und ihm die Frau gestohlen hatte.
Ja, Harold, aber warum haßt du?
Nein; darauf gab es keine zufriedenstellende Antwort, nur eine Art... Zusatzvermerk zum Haß selbst. War es überhaupt eine faire Frage? Er war der Meinung, daß nein. Ebensogut konnte man eine Frau fragen, warum sie ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, eine Stunde oder einen Augenblick, als er daran gedacht hatte, den Haß über Bord zu werfen. Das war gewesen, als er Frannies Tagebuch gelesen und erfahren hatte, dass sie unwiderruflich Stu Redman verfallen war. Diese plötzliche Erkenntnis hatte auf ihn gewirkt wie ein kalter Wasserguß auf eine Schnecke, die zur kleinen Kugel wird statt zum ausgebreiteten, tastenden Organismus. In dieser Stunde oder in diesem Augenblick hatte er gewußt, daß er einfach akzeptieren konnte, was war, und dieses Wissen hatte ihn entzückt und entsetzt zugleich. In dieser Zeitspanne hatte er gewußt, daß er sich in einen anderen Menschen verwandeln konnte, in einen neuen Harold Lauder, der durch das scharfe Skalpell der Supergrippe aus dem alten geklont worden war.
Er begriff deutlicher als die anderen, daß es in der Freien Zone Boulder genau darum ging. Die Leute waren anders, als sie gewesen waren. Die Gesellschaft dieser kleinen Stadt war mit keiner anderen amerikanischen Gesellschaft vor der Seuche vergleichbar. Sie sahen das nicht, weil sie nicht wie er außerhalb der Grenzen standen. Männer und Frauen lebten offensichtlich ohne den Wunsch zusammen, die Institution Ehe wieder einzuführen. Ganze Gruppen lebten in kleinen Untergruppen wie in Kommunen zusammen. Es gab wenig Streit. Die Leute schienen miteinander auszukommen. Und, am seltsamsten, keiner schien die tiefe religiöse Bedeutung der Träume zu erkennen... und der Seuche selbst. Boulder selbst war eine geklonte Gesellschaft, eine Tabula, die so rasa war, daß sie die neugewonnene Schönheit nicht empfanden.
Harold empfand sie, und er haßte sie.
Weit drüben hinter den Bergen war noch eine geklonte Kreatur. Ein Stück der dunklen Bösartigkeit, eine Krebszelle aus dem sterbenden Leib der alten Gesellschaft, ein einsamer Vertreter des Karzinoms, das die alte Gesellschaft bei lebendigem Leibe gefressen hatte. Eine einzige Zelle, die aber schon angefangen hatte, sich zu reproduzieren und weitere wilde Zellen zu erzeugen. Für die Gesellschaft bedeutete das den alten Kampf, das Bemühen des gesunden Gewebes, den bösartigen Eindringling abzuwehren. Aber für jede individuelle Zelle stellte sich die alte, alte Frage, die bis zum Garten Eden zurückreichte – aß man den Apfel oder ließ man es sein? Dort drüben, im Westen, aßen sie bereits Unmengen Apfelkuchen und Apfelkompott. Die Assassinen von Eden waren da, die dunklen Füsiliere.
Und er selbst hatte im Angesicht des Wissens, daß es ihm freistand zu akzeptieren, was war, die neue Chance für eine menschliche Gesellschaft abgelehnt. Sie zu ergreifen, wäre gleichbedeutend mit Selbstmord gewesen. Die Gespenster aller Demütigungen, die er je erlitten hatte, bäumten sich dagegen auf. Seine gemordeten Träume und Ambitionen lebten auf unheimliche Weise wieder auf und fragten, ob er sie wirklich so einfach vergessen konnte. In der neuen Gesellschaft der Freien Zone konnte er nur Harold Lauder sein. Dort drüben aber ein Prinz.
Das Bösartige lockte ihn. Es war ein dunkler Jahrmarkt – Riesenräder mit ausgeschaltetem Licht, die sich über einer schwarzen Landschaft drehten, ein niemals endender Zirkus mit Freaks wie ihm, und im Hauptzelt fraßen die Löwen die Zuschauer. Die mißtönende Musik des Chaos sprach ihn an.
Er schlug sein Tagebuch auf und schrieb im Licht der Sterne mit fester Hand.
16. August 1990 (frühmorgens).
Es heißt, die beiden großen Sünden der Menschheit seien Stolz und Haß. Wirklich? Ich ziehe es vor, beide für große Tugenden zu halten. Auf Haß und Stolz verzichten hieße, sich zugunsten der Welt zu verändern. Edler ist es, wenn ich sie mir zu eigen mache und ihnen freien Lauf lasse, denn dann muß sich die Welt zu meinen Gunsten verändern. Das Leben ist ein großes Abenteuer.
HAROLD EMERY LAUDER
Er schlug das Buch zu. Er ging ins Haus, legte das Buch in sein Loch im Kamin zurück und brachte sorgfältig den Stein wieder an. Er ging ins Bad, stellte die Coleman-Lampe so aufs Waschbecken, daß sie in den Spiegel leuchtete, und übte die nächsten fünfzehn Minuten lang zu lächeln. Er war schon ziemlich gut.