Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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»Ich bin nach der sechsten Klasse von der Schule abgegangen«, sagte Lloyd düster.
»Sobald der Außerordentliche Gerichtshof unser Gesuch endgültig abgelehnt hat, ersuche ich um eine Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof. Ich gehe davon aus, daß das noch am selben Tag abgelehnt wird.«
Devins verstummte und zündete sich eine Zigarette an.
»Und dann?« fragte Lloyd.
»Dann?« fragte Devins, der angesichts von Lloyds anhaltender Begriffsstutzigkeit gelinde überrascht und entnervt aussah. »Na dann wandern Sie in die Todeszelle des Staatsgefängnisses und können sich am guten Essen erfreuen, bis man Ihnen Funken in den Arsch jagt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Lloyd. »Sie wollen mir nur angst machen.«
»Lloyd, die vier Staaten, die den Außerordentlichen Gerichtshof haben, machen das die ganzeZeit. Bis jetzt wurden vierzig Männer und Frauen gemäß dem Markham-Urteil hingerichtet. Das kostet den Steuerzahler ein bißchen für das zusätzliche Gericht, aber soviel auch wieder nicht, da es nur bei Mord ersten Grades in Funktion tritt, der einen winzigen Bruchteil aller Verfahren ausmacht. Außerdem macht es den Steuerzahlern nichts aus, den Geldbeutel für Todesstrafe aufzumachen. Es gefälltihnen.«
Lloyd sah aus, als müßte er gleich kotzen.
»Wie dem auch sei«, sagte Devins, »der Bezirksstaatsanwalt klagt jemande nur gemäß Markhaman, wenn überhaupt kein Zweifel an seiner Schuld besteht. Der Hund muß nicht nur Federn an der Schnauze haben, er muß auch noch im Hühnerhaus erwischt worden sein. Und genau dort sind Sie erwischt worden.«
Lloyd, der sich vor nicht einmal fünfzehn Minuten im Jubel der Jungs des HST gesonnt hatte, sah jetzt einen öden Korridor von neunundfünfzig Tagen hinunter in ein schwarzes Loch.
»Haben Sie Schiß, Sylvester?« fragte Devin fast freundlich. Lloyd mußte sich die Lippen lecken, bevor er antworten konnte.
»Himmel, ja, ich hab' Schiß. Das alles heißt doch, daß ich ein toter Mann bin.«
»Ich will nicht, daß Sie sterben«, sagte Devins. »Aber ich will, dass Sie Angst haben. Wenn Sie grinsend und johlend vor Gericht erscheinen, dann schnallt man Sie auf den Stuhl und drückt auf den Knopf. Dann sind Sie das einundvierzigste Markham-Steak. Aber wenn Sie auf mich hören, kommen wir vielleicht durch. Ich sage nicht daß, ich sage nur vielleicht.«
»Schießen Sie los.«
»Worauf es ankommt, sind die Geschworenen«, sagte Devins.
»Zwölf ganz normale Heinis von der Straße. Ich wünsche mir ein Geschworenengericht mit vielen zweiundvierzigjährigen Damen, die immer noch Puh der Bärauswendig aufsagen können und ihre Kanarienvögel im Garten begraben, das wünsche ich mir. Wenn sie vereidigt werden, werden alle Geschworenen auf die Konsequenzen von Markhamaufmerksam gemacht. Sie fällen kein Todesurteil, das in sechs Monaten oder sechs Jahren vollstreckt wird – oder auch nicht -, wenn sie es schon längst vergessen haben; der Bursche, den sie im Juni verurteilen, harft auf seiner Wolke herum, noch ehe die Rennsaison vorbei ist.«
»Sie haben vielleicht eine Ausdrucksweise.«
Devin achtete nicht auf ihn und fuhr fort: »In manchen Fällen hat allein dieses Wissen ausgereicht, die Geschworenen dazu zu bringen, mit >nicht schuldig< zu stimmen. Vom rechtlichen Standpunkt ist das genau das Gegenteil von dem, was das Hohe Gericht beabsichtigt hat. In manchen Fällen haben Geschworene einen überführten Mörder laufen lassen, weil sie kein so frisches Blut an den Händen haben wollten.« Er nahm ein Blatt Papier zur Hand. »Es wurden zwar vierzig Menschen gemäß Markhamhingerichtet, aber alles in allem wurde die Todesstrafe unter Markham siebzigmalgefordert. Von den dreißig, die nicht hingerichtet worden sind, wurden sechsundzwanzig von den Geschworenen für >nicht schuldig< erklärt. Nur vier Urteile wurden vom Außerordentlichen Gerichtshof aufgehoben, eines in South Carolina, zwei in Florida und eines in Alabama.«
»Nie in Arizona?«
»Nie. Ich habe es Ihnen doch gesagt. Der Kodex des Westens. Diese fünf alten Männer wollen Ihnen den Arsch aufreißen. Wenn wir Sie vor den Geschworenen nicht raushauen können, sind Sie geliefert. Darauf wette ich mit Ihnen neunzig zu eins.«
»Wie viele Angeklagte wurden denn in Arizona unter diesem Gesetz von regulären Geschworenen für nicht schuldig befunden?«
»Zwei von vierzehn.«
»Auch ein beschissenes Verhältnis.«
Devins lächelte sein wölfisches Lächeln. »Ich sollte nicht unerwähnt lassen«, sagte er, »daß einer der beiden von keinem Geringeren als meiner Wenigkeit verteidigt worden ist. Er war so schuldig wie die Sünde, Lloyd, genau wie Sie. Richter Pechert hat den zehn Frauen und zwei Männern zwanzig Minuten lang die Hölle heiß gemacht. Ich dachte schon, er würde einen Herzschlag bekommen.«
»Wenn ich nicht schuldig gesprochen werde, können sie mich doch nicht noch einmal anklagen, oder?«
»Auf gar keinen Fall.«
»Also alles oder nichts.«
»Ja.«
»Mann«, sagte Lloyd und wischte sich die Stirn.
»Solange Sie die Situation begreifen«, sagt Devins, »und wissen, wo wir stehen müssen, kommen wir vielleicht durch.«
»Ich begreif sie schon. Aber sie gefällt mir nicht.«
»Sie wären auch verrückt, wenn sie Ihnen gefallen würde.« Devins faltete die Hände und stützte sich darauf. »Also. Sie haben mir und der Polizei gesagt, daß Sie, äh...« Er griff nach dem Stapel neben der Aktentasche und blätterte ihn durch. »Aha. Da haben wir's ja.
>Ich hab' keinen nicht umgebracht. Poke hat sie alle abgemurkst. Das war seine Idee, nicht meine. Poke war verrückt wie eine Bettwanze, und es war, schätze ich, ein Segen für die Welt, daß er abserviert worden ist.<«
»Ja, das stimmt. Na und?« fragte Lloyd.
»Nur eins«, sagte Devins gemütlich. »Das bedeutet, Sie hatten Angst vor Poke Freeman. Hatten Sie Angst vor ihm?«
»Na ja, nicht so richtig...«
»Sie hatten sogar Angst um Ihr Leben.«
»Ich glaube nicht, daß...«
»Todesangst. Glauben Sie's, Sylvester. Sie haben sich fast in die Hosen geschissen.«
Lloyd sah den Anwalt stirnrunzelnd an. Es war das Stirnrunzeln eines Kindes, das ein guter Schüler sein möchte, aber größte Schwierigkeiten hat, die Lektion zu begreifen.
»Lassen Sie sich nicht von mir beeinflussen, Lloyd«, sagt Devins.
»Das will ich nicht. Sie glauben vielleicht, ich deute an, daß Poke fast ununterbrochen highwar...«
»War er! Wir beide!«
»Nein. Sie nicht, aber er. Und wenn er highwar, hat er durchgedreht...«
»Mann, da ist wohl was dran.« In den Sälen von Lloyds Erinnerungen johlte Poke Freemann fröhlich Hüah! Hüah!und erschoß die Frau im Laden in Burrack.
»Und er hat Sie ein paarmal mit der Waffe bedroht...«
»Nein, nicht einmal...«
»O doch. Sie hatten das nur eine Weile vergessen. Er hat sogar einmal gedroht, Sie zu erschießen, wenn Sie sein Spiel nicht mitmachen.«
»Nun, ich hatte eine Waffe...«
»Ich glaube«, sagte Devins und sah ihn stechend an, »wenn Sie sich ganz angestrengt erinnern, fällt Ihnen wieder ein, daß Poke gesagt hat, Ihre Waffe sei mit Platzpatronen geladen. Können Sie sich daran erinnern?«
»Jetzt, wo Sie es sagen...«
»Und keiner war überraschter als Sie, als plötzlich echte Kugeln herauskamen, richtig?«
»Klar«, sagte Lloyd. Er nickte heftig. »Ich hätt' beinah' 'nen Blutsturz bekommen.«
»Sie wollten diese Waffe gerade auf Poke Freeman richten, als Ihnen jemand die Arbeit abgenommen hat.«
Lloyd sah seinen Anwalt mit aufkeimender Hoffnung an.
»Mr. Devins«, sagte er zutiefst aufrichtig, »ganz genauso ist die Scheiße abgelaufen.«
Etwas später an diesem Morgen saß er im Hof, sah einem Softballspiel zu und grübelte über alles nach, was Devins ihm gesagt hatte, als ein großer, kräftiger Mithäftling namens Mather zu ihm kam und ihn am Kragen hochzog. Mathers Kopf war kahlgeschoren, à la Telly Savalas, und die Glatze glänzte freundlich in der heißen Wüstenluft.
»Moment mal«, sagte Lloyd. »Mein Anwalt hat meine Zähne gezählt. Siebzehn. Wenn du also...«
»Ja, weiß ich von Shockley«, sagte Mathers. »Deshalb hat er mir gesagt, ich soll...«
Mathers rammte Lloyd das Knie zwischen die Beine, und entsetzliche Schmerzen rasten durch Lloyds Körper, so lähmend, daß Lloyd nicht einmal schreien konnte. Er brach zu einem zuckenden, strampelnden Bündel zusammen und hielt sich die Hoden, die zerquetscht zu sein schienen. Die Welt war ein einziger roter Nebel des Schmerzes.
Irgendwann – er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war – konnte er aufblicken. Mathers sah ihn immer noch an, und sein Kahlkopf glänzte immer noch. Die Wärter sahen betont anderswohin. Lloyd stöhnte und wand sich, Tränen quollen ihm aus den Augen, er hatte eine rotglühende Kugel im Unterleib.
»Das war nicht persönlich gemeint«, sagte Mathers aufrichtig. »Rein geschäftlich, klar? Ehrlich, ich hoffe, daß du einigermaßen glimpflich davonkommst. Das Markham-Gesetz ist Scheiße.«
Dann schlenderte er davon, und Lloyd sah den Türwärter am anderen Ende des Hofs auf einer Rampe in der Ladezone stehen. Er hatte die Daumen in den Sam-Browne-Gürtel gehakt und grinste Lloyd an. Als er merkte, daß er Lloyds ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, zeigte er ihm mit den Mittelfingern beider Hände den Vogel. Mathers spazierte zu ihm hinüber, und der Türwärter warf ihm eine Packung Tareytons zu. Mathers steckte sie in die Brusttasche, salutierte lässig und verschwand. Lloyd lag mit an die Brust gezogenen Knien da und hielt sich den schmerzenden Leib. Devins Worte gingen ihm durch den Kopf: Das Leben ist hart, Lloyd.
Wie wahr.
25
Nick Andros schob einen der Vorhänge zur Seite und blickte hinaus auf die Straße. Von hier, aus dem ersten Stock im Haus des verstorbenen John Baker, sah man links die ganze Innenstadt von Shoyo, und rechts die Route 63, die aus der Stadt hinausführte. Die Main Street war völlig verlassen. Ein elend aussehender Hund sass mitten auf der Straße, ließ den Kopf hängen; seine Flanken blähten sich, weißer Schaum tropfte ihm aus dem Maul auf das in der Hitze flimmernde Pflaster. Einen halben Block weiter lag ein anderer Hund in der Gosse – tot.
Die Frau hinter ihm stöhnte laut und kehlig, aber Nick hörte sie nicht. Er zog den Vorhang wieder zu, rieb sich einen Moment die Augen und ging dann zu der Frau, die aufgewacht war. Jane Baker war in mehrere Decken eingemummt, denn vor ein paar Stunden hatte sie plötzlich angefangen zu frieren. Jetzt lief ihr Schweiß in Strömen übers Gesicht, und sie hatte die Decken weggestrampelt – Nick stellte verlegen fest, daß sie das dünne Nachthemd stellenweise so durchgeschwitzt hatte, daß es durchsichtig war. Aber sie sah ihn nicht, und er bezweifelte, ob die Tatsache, daß sie halbnackt war, in diesem Stadium überhaupt noch eine Rolle spielte. Sie lag im Sterben.
»Johnny, bring die Schüssel, ich glaube, ich muß mich übergeben!« rief sie.
Er holte die Schüssel unter dem Bett hervor und stellte sie ihr hin, aber die Frau strampelte und stieß sie mit einem hohlen Poltern, das er auch nicht hören konnte, auf den Fußboden. Er hob sie auf, hielt sie fest und sah die Frau an.
»Johnny!« kreischte sie. »Ich kann mein Nähkästchen nicht finden!
Es steht nicht im Schrank!«
Er schenkte ihr aus dem Krug auf dem Nachttisch ein Glas Wasser ein und hielt es ihr an die Lippen, aber sie schlug wieder um sich und hätte es ihm fast aus der Hand geschlagen. Er stellte es in ihre Reichweite, bis sie sich beruhigt hatte.
Seine Stummheit war ihm noch nie so bitter bewußt gewesen wie in den letzten zwei Tagen. Am Dreiundzwanzigsten, als Nick hier ins Haus gekommen war, war der Methodistenpfarrer Braceman bei ihr gewesen. Er las ihr im Wohnzimmer aus der Bibel vor, aber er wirkte nervös und schien nicht schnell genug wieder gehen zu können. Nick konnte sich denken, warum. Das Fieber gab ihr ein rosiges, mädchenhaftes Aussehen, das nicht zu ihrem schmerzlichen Verlust paßte. Vielleicht hatte der Pfarrer geglaubt, sie wolle ihn anmachen, aber wahrscheinlicher war, daß er seine Familie zusammenrufen und möglichst schnell über Land verschwinden wollte. In einer kleinen Stadt verbreiten sich Neuigkeiten rasch, und auch andere hatten schon beschlossen, Shoyo zu verlassen.
Seit Braceman vor etwa achtundvierzig Stunden das Wohnzimmer der Bakers verlassen hatte, war alles zu einem Alptraum geworden. Mrs. Baker ging es schlechter, so viel schlechter, daß Nick befürchtet hatte, sie würde vor Sonnenuntergang sterben.
Um so schlimmer, daß er nicht bei ihr bleiben konnte. Er mußte ja immer wieder zum Truck Stop hinunter, um seinen drei Gefangenen etwas zu essen zu besorgen, aber Vince Hogan hatte nicht essen können. Er lag im Delirium. Mike Childress und Billy Warner wollten raus, aber Nick brachte es nicht über sich, sie freizulassen. Nicht aus Angst; er glaubte nicht, daß sie Zeit damit vergeuden würden, ihn zusammenzuschlagen, um sich zu rächen; sie würden, wie die anderen, so schnell wie möglich aus Shoyo verschwinden wollen. Aber er hatte die Verantwortung. Er hatte einem Mann sein Wort gegeben, der jetzt tot war. Und früher oder später würde die State Patrol die Dinge in die Hand nehmen und die Gefangenen abholen.
In der untersten Schublade von Bakers Schreibtisch fand er den ins Halfter gerollten Fünfundvierziger. Nach einem Augenblick des Nachdenkens schnallte er sich die Waffe um. Als er nach unten schaute und den Holzgriff des schweren Colts an seiner mageren Hüfte sah, kam er sich lächerlich vor – aber das Gewicht war beruhigend.
Am Nachmittag des Dreiundzwanzigsten hatte er Vinces Zellentür aufgeschlossen und ihm provisorische Eispackungen auf Brust, Stirn und Hals gelegt. Vince hatte die Augen aufgeschlagen und Nick so elend und flehentlich angesehen, daß Nick gewünscht hatte, er könnte etwas sagen – wie er es zwei Tage später bei Mrs. Baker wünschte -, irgend etwas, um den Mann mit ein paar Worten zu trösten. Es wird schon wieder gut oder ich glaube, das Fieber läßt bald nachhätte schon gereicht.
Die ganze Zeit, während er sich um Vince kümmerte, schrien Billy und Mike ihn an. Solange er sich über den kranken Mann beugte, war das egal, aber jedesmal wenn er hochsah, blickte er in ihre ängstlichen Gesichter, und ihre Lippen formten Worte, die stets auf dasselbe hinausliefen: Bitte, laß uns raus. Nick hielt sich wachsam von ihnen fern. Er war noch nicht erwachsen, aber alt genug zu wissen, daß Panik Männer gefährlich machte.
Am Nachmittag war er auf fast leeren Straßen hin– und hergewandert und hatte immer damit gerechnet, Vince Hogan an einem oder Mrs. Baker am anderen Ende tot vorzufinden. Er hielt nach Dr. Soames'
Auto Ausschau, sah es aber nicht. An diesem Nachmittag hatten einige Geschäfte noch geöffnet gehabt, auch die Texaco-Tankstelle, aber er war mehr und mehr davon überzeugt, daß die Stadt sich zusehends entvölkerte. Die Leute schlichen auf Holzfällerpfaden durch die Wälder oder wateten vielleicht sogar den Shoyo Stream hinauf, der durch Smackover floß und schließlich in der Stadt Mount Holly herauskam. Nach Einbruch der Dunkelheit würden noch mehr Leute die Stadt verlassen, dachte Nick.
Die Sonne war gerade untergegangen, als er das Haus der Bakers erreichte, wo Jane zitternd im Bademantel in der Küche umherschlurfte und Tee aufbrühte. Sie schaute Nick dankbar an, als er hereinkam, und er sah, daß sie kein Fieber mehr hatte.
»Ich möchte Ihnen danken, daß Sie auf mich aufgepaßt haben«, sagte sie ruhig. »Es geht mir schon viel besser. Möchten Sie eine Tasse Tee?« Und dann brach sie in Tränen aus.
Er ging zu ihr, denn er hatte Angst, sie könnte das Bewußtsein verlieren.
Sie hielt sich an seinen Armen fest und legte den Kopf an seine Schulter, ihr dunkles Haar fiel über den hellblauen Morgenmantel.
»Johnny«, sagte sie in der dunklen Küche. »Oh, mein armer Johnny.«
Wenn ich nur sprechen könnte, dachte Nick unglücklich. Aber er konnte sie nur festhalten und durch die Küche zu einem Stuhl am Tisch führen.
»Der Tee...«
Nick deutete auf sich und half ihr, sich zu setzen.
»Ja, gut«, sagte sie. »Es geht mir wirklich besser. Viel besser. Es ist nur, daß... daß...« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Nick machte ihnen heißen Tee und brachte ihn an den Tisch. Eine Weile tranken sie schweigend. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen, wie ein Kind. Schließlich stellte sie sie ab und sagte: »Wie viele in der Stadt haben es, Nick?«
»Das weiß ich nicht mehr«, schrieb Nick. »Es ist ziemlich schlimm.«
»Hast du den Doktor gesehen?«
»Seit heute morgen nicht mehr.«
»Am wird sich völlig verausgaben, wenn er nicht aufpaßt«, sagte sie.
»Er wird doch vorsichtig sein, oder, Nick? Sich nicht völlig verausgaben?«
Nick nickte und versuchte zu lächeln.
»Was ist mit-Johns Gefangenen? Hat die Patrol sie schon abgeholt?«
»Nein«, schrieb Nick. »Hogan ist sehr krank. Ich tue, was ich kann. Die anderen wollen, daß ich sie rauslasse, bevor Hogan sie ansteckt.«
»Laß sie nicht raus!« sagte sie energisch. »Ich hoffe, daß du nicht mal im Traum daran denkst.«
»Nein«, schrieb Nick und fügte nach einem Augenblick hinzu: »Sie sollten wieder ins Bett gehen. Sie brauchen Ruhe.«
Sie lächelte ihn an, und als sie den Kopf bewegte, sah er die dunklen Flecken unter ihrem Kinn – und fragte sich unbehaglich, ob sie wirklich schon übern Berg war.
»Ja. Ich werde rund um die Uhr schlafen. Irgendwie kommt es mir unrecht vor zu schlafen, wo John tot ist... ich kann kaum glauben, daß er tot ist, weißt du. Ich stolpere immer wieder über den Gedanken, wie über etwas, das ich nicht aufgeräumt habe.« Er nahm ihre Hand und drückte sie. Sie lächelte müde. »Vielleicht findet sich mit der Zeit etwas anderes, wofür es sich zu leben lohnt. Hast du schon das Abendessen für deine Gefangenen geholt, Nick?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Das solltest du aber. Warum nimmst du nicht Johns Auto?«
»Ich kann nicht fahren«, schrieb Nick. »Trotzdem danke. Ich werde zum Truck Stop laufen. Es ist nicht weit, und morgen sehe ich nach Ihnen, wenn es recht ist.«
»Ja«, sagte sie. »Gut.«
Er stand auf und deutete streng auf die Teetasse.
»Jeden Tropfen«, versprach sie.
Er war schon halb aus der Tür, als er ihre zögernde Berührung am Arm spürte.
»John...«, sagte sie, brach ab und zwang sich, weiterzusprechen.
»Ich hoffe, sie... haben ihn in die Leichenhalle nach Curtis gebracht. Von dort aus haben Johns und meine Familie immer ihre Toten bestattet. Glauben Sie, daß man ihn dort hingebracht hat?«
Nick nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie fing wieder an zu schluchzen.
Als er sich an diesem Abend von ihr verabschiedet hatte, ging er direkt zum Truck Stop. Ein Schild GESCHLOSSEN hing schief im Fenster. Er war um das Haus herum zum Wohnwagen gegangen, aber da war ebenfalls alles dunkel gewesen. Unter diesen Umständen hielt er einen kleinen Einbruch für gerechtfertigt; das Geld in Sheriff Bakers Kasse würde reichen, den Schaden zu ersetzen.
Er schlug die Scheibe am Türgriff des Restaurants ein und ging hinein. Selbst bei eingeschalteter Beleuchtung war es unheimlich hier drin; die Musikbox war dunkel und tot, niemand stand am Billardtisch oder den Videospielen, die Nischen waren leer, die Hocker nicht besetzt. Der Grill war mit der Haube abgedeckt. Nick ging nach hinten und briet auf dem Gasherd ein paar Hamburger, die er in eine Plastiktüte tat. Dazu eine Flasche Milch und einen halben Apfelkuchen, der unter einer Plastikglocke auf dem Tresen stand. Dann ging er wieder ins Gefängnis, nachdem er einen Zettel auf den Tresen gelegt hatte, wer hier eingedrungen war und warum.
Vince Hogan war tot. Er lag zwischen schmelzendem Eis und nassen Handtüchern auf dem Boden seiner Zelle. Er hatte im Todeskampf die Hände an den Hals gelegt, als hätte er sich gegen einen unsichtbaren Würger gewehrt. Seine Fingerspitzen waren blutig. Fliegen ließen sich auf ihm nieder und summten wieder davon. Sein Hals war so schwarz und geschwollen wie ein Luftballon, den ein übermütiges Kind bis zum Zerplatzen aufgepumpt hatte.
»Läßt du uns jetztraus?« fragte Mike Childress. »Er ist tot, du verdammter Taubstummer, bist du nun zufrieden? Ist das deine Rache? Und ihn hat's jetzt auch erwischt.« Er deutete auf Billy Warner.
Billy Warners Gesicht war entsetzt. Er hatte hektische rote Flecken auf Hals und Wangen; die Ärmel seines Baumwollhemds, an denen er sich oft die Nase abgewischt hatte, waren rotzverkrustet und steif.
»Das ist eine Lüüge!« sang er hysterisch. »Eine Lüge, eine Lüge, eine gott-ver-damm-te Lüüge! Das ist eine Lü...« Er fing plötzlich an zu niesen, so heftig, daß er sich zusammenkrümmte und eine volle Ladung Speichel und Schleim ve rsprühte.
»Siehst du?« fragte Mike. »Bist du jetzt zufrieden, du verdammter taubstummer Schwachkopf? Laß mich raus! Ihn kannst du behalten, wenn du willst, aber mich nicht. Das ist Mord. Nichts anderes, kaltblütiger Mord!«
Nick schüttelte den Kopf, und Mike bekam einen Wutanfall. Er warf sich gegen das Gitter seiner Zelle, verletzte sich das Gesicht und schlug sich die Knöchel beider Hände blutig. Er sah Nick mit aufquellenden Augen an, während er sich nochmals die Stirn aufschlug.
Nick wartete, bis Mike sich ausgetobt hatte, dann schob er mit dem Besenstiel das Essen unter der Tür durch. Billy Warner glotzte seinen Teller einen Augenblick stumpfsinnig an, dann fing er an zu essen.
Mike warf sein Glas Milch gegen die Gitterstäbe. Es zerplatzte, die Milch spritzte in alle Richtungen. Er warf seine beiden Hamburger gegen die mit Sprüchen gezierte hintere Wand der Zelle. Einer blieb in einem Flecken Senf, Ketchup und Tunke kleben, der auf groteske Weise fröhlich aussah, wie ein Gemälde von Jackson Pollock. Er stampfte auf seinem Stück Apfelkuchen herum und zermatschte es. Apfelstücke flogen überallhin. Der weiße Plastikteller zersplitterte.
»Ich bin im Hungerstreik!« brüllte er. »Im verdammten Hungerstreik!
Ich esse nichts! Eher wirst du mir den Pimmel lutschen, bevor ich runterwürge, was du angeschleppt hast, du gottverdammtes taubstummes, schwachsinniges Arschloch. Du wirst...«
Nick wandte sich ab, und sofort trat Stille ein. Er ging ins Büro zurück und wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte Angst. Wenn er Auto fahren könnte, hätte er die beiden selbst nach Camden gebracht. Aber er konnte nicht fahren. Und er mußte auch an Vince denken. Er konnte ihn nicht einfach als Futter für die Fliegen liegenlassen. Vom Büro gingen zwei Türen ab. Hinter der einen befand sich ein Kleiderschrank. Hinter der anderen führte eine Treppe hinab. Nick ging hinunter und sah, daß es da eine Kombination von Keller und Lagerraum gab. Hier unten war es kühl. Es würde reichen, wenigstens eine Zeitlang.
Er ging wieder nach oben. Mike saß auf dem Fußboden und sammelte verdrossen zerquetschte Apfelstücke auf, die er abwischte und aß. Er sah Nick nicht an.
Nick nahm die Leiche in die Arme und versuchte, sie hochzuheben. Der widerliche Gestank, der von dem Leichnam ausging, veranlaßte seinen Magen, Handstand und Purzelbaum zu machen. Vince war zu schwer für ihn. Er betrachtete die Leiche einen Augenblick hilflos und merkte, daß die beiden anderen jetzt an den Zellentüren standen und mit einem Ausdruck grausiger Faszination zusahen. Nick konnte sich vorstellen, was sie dachten. Vince war einer von ihnen gewesen, vielleicht ein Windbeutel, aber trotzdem ihr Kumpel. Er war gestorben wie eine Ratte in der Falle, an einer fürchterlichen Krankheit, die sie nicht verstanden. Nick fragte sich an diesem Tag nicht zum ersten Mal, wann er anfangen würde zu niesen und Fieber und diese seltsamen Schwellungen am Hals zu bekommen. Er packte Vince Hogans fleischige Unterarme und schleifte ihn aus der Zelle. Wegen des Gewichts auf den Schultern war Vinces Gesicht ihm zugewandt, und er schien Nick anzustarren und ihn wortlos zu bitten, er solle doch vorsichtig sein und ihn nicht zu sehr schütteln.
Nick brauchte zehn Minuten, den Leichnam des kräftigen Mannes die steile Treppe hinunterzuschaffen. Keuchend legte Nick ihn auf den Beton unter den Neonleuchten und bedeckte ihn rasch mit einer abgewetzten Armeedecke von der Pritsche in seiner Zelle. Dann versuchte er zu schlafen, aber der Schlaf kam erst in den frühen Morgenstunden, als der 13. Juni schon zum 14. geworden war, zu gestern. Seine Träume waren immer sehr lebhaft gewesen, und manchmal hatte er Angst vor ihnen. Er hatte selten ausgesprochene Alpträume gehabt, aber in letzter Zeit waren sie immer geheimnisvoller geworden, und er hatte das Gefühl, dass nichts darin war, was es zu sein schien, und daß die normale Welt sich in einen Ort verwandelt hatte, wo Babys hinter geschlossenen Fensterläden geopfert wurden und in verschlossenen Kellerräumen unablässig riesige schwarze Maschinen dröhnten.
Und hinzu kam natürlich seine ureigene Angst – eines Tages selbst damit aufzuwachen.
Er schlief dann doch ein wenig und hatte einen Traum, den er jüngst schon einmal gehabt hatte: das Maisfeld, der Geruch von warmen, wachsenden Dingen, das Gefühl, daß etwas – oder jemand – sehr Gutes und Schützendes in der Nähe war. Ein Gefühl, zu Hausezu sein. Aber dieses Gefühl verwandelte sich in kaltes Entsetzen, als er merkte, daß etwas in dem Mais hockte und ihn beobachtete. Er dachte: Mama, es sind Wiesel im Hühnerstall!, und er wachte im Licht des frühen Morgens auf, am ganzen Körper schweißbedeckt.
Er setzte Kaffeewasser auf und sah nach seinen beiden Gefangenen.
Mike Childress war in Tränen aufgelöst. Hinter ihm klebte der Hamburger mit seinem Leim allmählich trocknender Zutaten noch immer an der Wand.
»Bist du jetzt zufrieden? Ich hab' es auch. Hast du dir das gewünscht? Ist das deine Rache? Hör mal, wie ich atme. Klingt wie 'n alter Güterzug, der sich 'nen Berg rauf quält!«
Nicks erste Sorge war Billy Warner gewesen, der im Koma auf seiner Pritsche lag. Sein Hals war geschwollen und schwarz, die Brust hob und senkte sich krampfartig.
Nick eilte ins Büro zurück, sah zum Telefon und fegte es in einem Ansturm von Wut und Schuldgefühlen vom Tisch auf den Fußboden, wo es sinnlos am Ende seiner Schnur liegenblieb. Er schaltete die Heizplatte aus und lief die Straße hinunter zum Haus der Bakers. Er läutete scheinbar eine Stunde, bis Jane, im Morgenmantel, endlich erschien. Der Fieberschweiß stand ihr wieder im Gesicht. Sie war nicht im Delirium, aber sie sprach langsam und undeutlich und hatte Blasen an den Lippen.
»Nick, kommen Sie rein. Was ist denn?«
»Hogan ist gestern abend gestorben. Ich glaube, Billy Warner stirbt auch. Er ist sehr krank. Haben Sie Dr. Soames gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf, zitterte in der leichten Zugluft, nieste und schwankte ein wenig. Nick legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu einem Stuhl. Er schrieb: »Können Sie für mich seine Praxis anrufen?«
»Ja, natürlich. Bringen Sie mir das Telefon, Nick. Ich scheine... in der Nacht einen Rückfall gehabt zu haben.«
Er brachte ihr das Telefon, und sie wählte Soames' Nummer. Nachdem sie den Hörer über eine halbe Minute ans Ohr gehalten hatte, wußte er, daß niemand antworten würde.
Sie versuchte es in seiner Wohnung, dann bei seiner Sprechstundenhilfe. Keine Antwort.
»Ich versuch's bei der State Patrol«, sagte sie, aber nachdem sie eine einzige Ziffer gewählt hatte, legte sie den Hörer wieder auf die Gabel. »Ich glaube, Ferngespräche kann man immer noch nicht führen. Wenn ich die Eins gewählt habe, macht es immer nur tut -tuttut.« Sie lächelte blaß und weinte wieder hilflos. »Armer Nick«, sagte sie. »Und ich arme Frau. Wir sind alle so arm. Können Sie mir nach oben helfen? Ich fühle mich so schwach und kann kaum atmen. Ich glaube, ich werde bald bei John sein.« Er sah sie an und wünschte sich, er könnte sprechen. »Ich werde mich hinlegen, wenn Sie mir helfen.«
Er half ihr die Treppe hinauf und schrieb: »Ich komme wieder.«
»Danke, Nick. Sie sind ein guter Junge...« Sie war schon im Begriff einzuschlafen.
Nick verließ das Haus, blieb auf dem Gehweg stehen und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Wenn er Auto fahren könnte, könnte er etwas unternehmen. Aber so...
Er sah ein Kinderfahrrad auf dem Rasen eines Hauses auf der anderen Straßenseite liegen. Er ging hinüber, betrachtete das Haus, vor dem es lag, dessen Rollos heruntergelassen waren (wie bei den Häusern in seinen Träumen), schließlich klopfte er an die Tür.
Niemand kam aufmachen, obwohl er mehrmals klopfte. Er ging wieder zu dem Fahrrad. Es war klein, aber nicht so klein, dass er nicht damit fahren konnte, sofern es ihn nicht störte, daß seine Knie an die Handgriffe stießen. Er würde albern aussehen, gewiß, aber er war nicht sicher, ob überhaupt noch jemand in Shoyo war, der ihn sehen konnte... und selbst wenn, glaubte er nicht, daß vielen zum Lachen zumute sein würde.
Er stieg auf das Fahrrad und radelte unbeholfen die Main Street entlang, am Gefängnis vorbei, dann auf der Route 63 nach Osten, dorthin, wo Joe Rackman die Soldaten gesehen hatte, die sich als Straßenarbeiter tarnten. Wenn sie tatsächlich Soldaten und noch da waren, würde Nick sie darum bitten, sich um Billy Warner und Mike Childress zu kümmern. Das heißt, wenn Billy noch lebte. Wenn die Männer Shoyo unter Quarantäne gestellt hatten, dann war Shoyos Krankheit sicher ihre Schuld.
Er brauchte eine Stunde, um zu der Baustelle zu radeln, das Fahrrad schlingerte trunken über den Mittelstreifen hin und her, und seine Knie stießen mit monotoner Regelmäßigkeit gegen die Handgriffe. Aber als er dort ankam, waren die Soldaten, Straßenarbeiter oder was auch immer sie waren, verschwunden. Ein paar Warnlichter standen noch da, manche blinkten auch noch. Und zwei orangefarbene Sägeböcke. Die Straße war aufgerissen, aber Nick glaubte, daß sie trotzdem passierbar war, wenn man auf die Stoßdämpfer seines Autos nicht allzuviel Rücksicht nahm.
Er erblickte aus dem Augenwinkel ein schwarzes, waberndes Etwas, gleichzeitig erhob sich ein leichter Wind, nur eine schwache Sommerbrise, aber ausreichend, daß sie den schweren, ekelerregenden Geruch von Verwesung zu ihm trug. Das schwarze, sich bewegende Etwas war eine Wolke Fliegen, die sich ständig neu formierten. Er schob das Fahrrad zum Straßengraben auf der anderen Seite. Dort lagen die Leichen von vier Männern neben einem funkelnden neuen Abwasserrohr. Ihre Gesichter und geschwollenen Hälse waren schwarz. Nick wußte nicht, ob sie Soldaten waren oder nicht, und er ging nicht näher hin. Du mußt dich einfach umdrehen und weggehen, sagte er sich. Du brauchst keine Angst zu haben, sie sind tot, und Tote können einem nichts tun. Aber als er zwanzig Meter vom Graben entfernt war, rannte er schon, und dann radelte er von Panik erfüllt nach Shoyo zurück. Am Stadtrand fuhr er über einen Stein und machte eine Bruchlandung mit dem Rad, Er flog über die Lenkstange, schlug sich den Kopf an und schürfte sich die Hände auf. Trotzdem verweilte er nur einen Augenblick mitten auf der Straße, am ganzen Körper zitternd.