Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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»Wissen Sie was? Ich habe heute morgen einen Typen getroffen, der sagte, er wolle ins Yankee Stadion gehen und auf dem Schlagmal wi... masturbieren.« Er merkte, daß er wieder rot wurde.
»Da muß er ja entsetzlich lange laufen«, sagte sie. »Warum haben Sie ihm nicht etwas Näheres vorgeschlagen?« Sie seufzte, und der Seufzer ging in ein Zittern über. Dann machte sie die Handtasche auf, nahm eines dieser Tablettenfläschchen heraus und warf sich eine Gel-Kapsel in den Mund.
»Was ist das?« fragte Larry.
»Vitamin E«, sagte sie mit einem glitzernden falschen Lächeln. Der Muskel an ihrem Hals zuckte noch ein– oder zweimal, dann hörte er wieder auf. Sie wurde wieder gelassen.
»In den Bars ist kein Mensch«, sagte Larry plötzlich. »Ich war bei Pat's an der Forty-third, und es war völlig leer. Es gibt da eine große Mahagoni-Bar, und ich ging dahinter und schenkte mir ein Wasserglas Johnny Walker ein. Dann mochte ich dort nicht mehr bleiben. Ich ließ das Glas auf der Bar stehen.und ging raus.«
Sie seufzten beide im Chor.
»Sie sind angenehme Gesellschaft«, sagte sie. »Ich mag Sie sehr. Und ich bin froh, daß Sie nicht verrückt sind.«
»Danke, Mrs. Blakemoor.« Er war überrascht und erfreut.
»Rita. Ich heiße Rita.«
»Okay.«
»Haben Sie Hunger, Larry?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Vielleicht würden Sie die Dame zum Essen ausführen.«
»Es wäre mir ein Vernügen.«
Sie stand auf und bot ihm mit einem etwas herablassenden Lächeln den Arm. Als er sich bei ihr einhakte, roch er ihr Duftkissen, das bei ihm tröstliche und beunruhigend erwachsene, ja, alte Assoziationen wachrief. So ein Duftkissen hatte seine Mutter immer bei sich gehabt, wenn sie mit ihm ins Kino gegangen war.
Aber er vergaß es gleich wieder, während sie aus dem Park hinaus und die Fifth Avenue entlanggingen, weg von dem toten Affen, dem Monster-Schreier und der verderbenden Süßigkeit, die ewig in der öffentlichen Toilette an der Transverse Number One saß. Sie plapperte unaufhörlich, und später konnte er sich an nichts von dem erinnern, was sie geplappert hatte (doch, an eines: Sie hatte immer davon geträumt, sagte sie, mit einem gutaussehenden jungen Mann die Fifth Avenue entlangzugehen, einem jungen Mann, der ihr Sohn hätte sein können, es aber nicht war), aber er dachte später oft an diesen Spaziergang, besonders, als sie langsam auseinanderfiel wie ein schlampig gefertigtes Spielzeug. An ihr schönes Lächeln, ihr leichtes zynisches und lässiges Geplapper und das leise Rascheln ihrer Hosen.
Sie gingen in ein Steak-House, und Larry kochte, zwar ein wenig ungeschickt, aber sie applaudierte bei jedem Gang: Steak, Pommes Frites, Instant-Kaffee und Erdbeerrhabarbertorte.
28
Im Kühlschrank stand eine Erdbeertorte. Sie war mit Folie Marke Saran Wrap bedeckt, und nachdem Frannie die Torte eine Weile mit stumpfen, nachdenklichen Augen betrachtet hatte, nahm sie sie heraus. Sie stellte sie auf den Tisch und schnitt ein Stück ab. Eine Erdbeere fiel leise klatschend auf den Tisch, als sie das Stück Torte auf einen kleinen Teller legen wollte. Sie hob die Beere auf und ass sie. Sie wischte den kleinen Saftfleck auf dem Tisch mit dem Putzlappen weg. Sie zog das Saran Wrap über den Rest der Torte und stellte sie wieder in den Kühlschrank.
Als sie sich umdrehte, um ihre Torte zu holen, fiel ihr Blick auf das Messergestell neben den Wandschränken. Ihr Vater hatte es gebastelt. Es hatte zwei Magnetschienen. Daran hingen die Messer mit den Klingen nach unten. Die Sonne des frühen Nachmittags spiegelte sich auf ihnen. Sie sah die Messer lange an, starr, dumpf und etwas neugierig, ohne die Augen abzuwenden, während sie mit den Händen unablässig die Falten der Schürze knetete, die sie sich um die Hüften gebunden hatte.
Endlich, etwa fünfzehn Minuten später, fiel ihr ein, daß sie sich eben mit etwas beschäftigt hatte. Womit? Ohne jeden Grund fiel ihr eine Bibelstelle ein, eine Spruchweisheit: Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht.Sie grübelte darüber nach. Splitter? Balken? Was für ein Balken? Ein Dachbalken?
Ein Dachbalken? Ein Lichtbalken? Mondschein? Sonnenschein? New York hatte einmal einen Bürgermeister namens Abe Beam gehabt, ganz zu schweigen von einem Lied, das sie in der Bibelstunde gelernt hatte – »I'll be a Sunbeam for Him.«
– den Splitter im Auge deines Bruders-
Aber es war kein Auge, es war ein Kuchen. Sie drehte sich um und sah, daß eine Fliege über ihre Torte krabbelte. Sie verscheuchte sie mit einer Handbewegung. »Bye-bye, Mr. Fly. Hast nichts zu suchen auf Frannies Kuchen.«
Sie betrachtete das Stück Torte sehr lange. Sie wußte, daß ihre Mutter und ihr Vater beide tot waren. Ihre Mutter war im Krankenhans in Sanford gestorben, und ihr Vater, in dessen Werkstatt sie sich als Mädchen so wohlgefühlt hatte, lag in seinem Zimmer wie immer und lebte nimmer. Warum kamen ihr die Gedanken immer in Reimen? Sie kamen und gingen in häßlichen Silben und Reimen, wie jene idiotischen Verse, die man, einmal gehört, nie wieder vergißt: jung gefreit, nie gereut...
Sie kam plötzlich wieder zu sich, eine Art Schrecken durchfuhr sie. Ein heißer Gestank hing im Zimmer. Etwas brannte an. Frannie drehte ruckartig den Kopf und sah eine Friteuse mit Pommes frites in Öl, die sie auf den Herd gestellt und vergessen hatte. Eine stinkende Rauchwolke wallte zur Decke auf. Fett spritzte böse zischend aus der Pfanne; die Spritzer, die auf dem Brenner landeten, flammten kurz auf und erloschen, als würde ein unsichtbarer Butanbrenner von unsichtbarer Hand angezündet. Der Boden des Topfes war schwarz.
Sie griff nach dem Pfannenstiel und zog die Hände japsend zurück. Zu heiß zum Anfassen. Sie nahm ein Geschirrtuch, schlug es um den Stiel und trug das Utensil, das wie ein Drache zischte, zur Hintertür hinaus. Auf der obersten Stufe der Veranda stellte sie es ab. Sie roch Geißblatt und hörte die Bienen summen, nahm aber kaum Notiz davon. Für einen Augenblick wurden die dicken, dämmenden Decken, die ihre Gefühlsreaktionen die zurückliegenden vier Tage eingehüllt hatten, aufgerissen, und sie hatte wahrhaftig Angst. Angst? Nein – sie war im Stadium des Entsetzens, nur einen kleinen Schritt von der Panik entfernt.
Sie konnte sich erinnern, wie sie die Kartoffeln geschält und in Wesson Oil gelegt hatte, um sie zu fritieren. Jetzt konnte sie sich daran erinnern. Aber eine Zeitlang hatte sie... puh! Sie hatte es einfach vergessen gehabt.
Sie stand auf der Veranda, hielt das Geschirrtuch noch in einer Hand und versuchte sich zu erinnern, woran sie genau gedacht hatte, nachdem sie die Pommes auf den Herd gestellt hatte. Es schien sehr wichtig zu sein.
Nun, zuerst hatte sie gedacht, daß eine Mahlzeit, die nur aus Pommes bestand, nicht besonders nahrhaft war. Der zweite Gedanke: Wenn das McDonalds an der Route 1i noch aufgehabt hätte, hätte sie nicht selbst kochen müssen und obendrein noch einen Burger essen können. Einfach mit dem Auto zum Mitnahmefenster fahren. Sie hätte einen Viertelpfünder und eine große Portion Fritten geholt, die in der hellroten Pappverpackung. Drinnen Fettflecken am Karton. Zweifellos ungesund, aber tröstlich. Und außerdem – schwangere Frauen haben seltsame Gelüste. Das führte sie zum nächsten Glied der Kette. Gedanken an seltsame Gelüste hatten zu Gedanken an die Erdbeertorte geführt, die zitternd im Kühlschrank harrte. Plötzlich war ihr gewesen, als wollte sie ein Stück dieser Erdbeertorte mehr als alles andere auf der Welt. Also hatte sie sich ein Stück geholt, aber dabei hatte sie das Messerregal gesehen, das ihr Vater für ihre Mutter gemacht hatte (Mrs. Edmonton, die Frau des Arztes, war so neidisch auf das Regal gewesen, daß Peter ihr vor zwei Jahren auch eins zu Weihnachten gebastelt hatte), und dann hatte ihr Verstand einfach einen... Kurzschluß gehabt. Splitter... Balken... Fliegen.
»Mein Gott«, sagte sie in den leeren Hof und den ungejäteten Garten ihres Vaters. Sie setzte sich, schlug die Schürze vors Gesicht und weinte.
Als die Tränen getrocknet waren, schien es ihr ein wenig besser zu gehen.. . aber sie hatte immer noch Angst. Verliere ich den Verstand? fragte sie sich. Läuft es so ab, ist es so, wenn man einen Nervenzusammenbruch hat, oder wie immer man es nennen will? Seit ihr Vater gestern abend um halb neun gestorben war, schien ihre Fähigkeit, sich auf etwas zu konzentrieren, im Eimer zu sein. Sie vergaß Dinge, die sie gerade erledigte, ihre Gedanken schweiften verträumt ab, und manchmal saß sie einfach nur da, dachte an überhaupt nichts und bekam von der Welt nicht mehr mit als ein Blumenkohlkopf.
Als ihr Vater gestorben war, saß sie lange Zeit an seinem Bett. Schließlich ging sie nach unten und schaltete den Fernseher ein. Ohne besonderen Grund; es schien einfach eine gute Idee zu sein. Der einzige Sender, der etwas ausstrahlte, war CBS in Portland, WGAN, und da schienen sie eine irre Hinrichtungssendung auszustrahlen. Ein Neger, der wie der schlimmste Alptraum afrikanischer Kopfjäger aussah, den ein Ku-Klux-Klaner haben konnte, tat so, als würde er mit einer Pistole weiße Männer erschießen, während andere Männer im Publikum applaudierten. Das mußte natürlich gestellt sein – so etwas zeigten sie nicht im Fernsehen, wenn es echt war -, aber es hatte nicht ausgesehen, als wäre es gestellt. Es erinnerte sie auf makabre Weise an Alice im Wunderland, aber es war nicht die Rote Königin, die »Runter mit ihrem Kopf!« schrie, sondern... was? Wer? Der schwarze Prinz, vermutete sie. Nicht, daß der Kerl im Lendenschurz wie Prince ausgesehen hätte.
Später im Verlauf der Sendung (wieviel später konnte sie nicht sagen), brachen andere Männer in das Studio ein, und es kam zu einer Schießerei, die noch realistischer inszeniert war als die Hinrichtungen. Sie sah Männer, die von großkalibrigen Waffen beinahe geköpft wurden, sie wurden rückwärts geschleudert, Blut spritzte im fröhlichen Rhythmus des Pulses aus ihren zerfetzten Hälsen. Sie dachte in ihrer zusammenhanglosen Art daran, sie hätten ab und zu einen Zwischentitel einblenden sollen, der Eltern ermahnte, die Kinder ins Bett zu bringen oder den Sender zu wechseln. Sie erinnerte sich, sie hatte auch gedacht, daß WGAN die Sendelizenz trotz allem entzogen bekommen konnte. Es war ja wirklicheine schrecklich brutale Sendung.
Als die Kamera nach oben kippte und nur noch die Studioscheinwerfer zeigte, die von der Decke herabhingen, schaltete sie ab, legte sich aufs Sofa und sah zur Decke ihres Zimmers empor. Dort war sie dann eingeschlafen, und heute morgen war sie halb davon überzeugt gewesen, daß sie die ganze Sendung geträumt hatte. Und genau das war im Grunde genommen der springende Punkt: Alles wirkte plötzlich wie ein Alptraum voller Urängste. Mit dem Tod ihrer Mutter hatte es angefangen; der Tod ihres Vaters hatte nur verstärkt, was bereits dagewesen war. Wie in Alice wurde alles einfach immer seltsamer und seltsamer.
Es war eine Sondersitzung des Stadtrats einberufen worden, die ihr Vater besucht hatte, obwohl er da schon krank gewesen war. Frannie, die sich unwirklich und wie unter Drogen vorgekommen war – aber körperlich nicht anders als sonst -, hatte ihn begleitet. Das Rathaus war überfüllt gewesen, viel überfüllter als bei den Versammlungen Ende Februar und Anfang März. Es wurde viel gehustet und geniest und in Taschentücher geschneuzt. Die Anwesenden waren ängstlich und scheinbar darauf aus, beim geringsten Grund Wutausbrüche zu bekommen. Sie sprachen mit lauten, heiseren Stimmen. Sie standen auf. Sie drohten mit den Fäusten. Sie lamentierten. Viele – und nicht nur Frauen – hatten geweint.
Anlaß war die Entscheidung gewesen, die Stadt vollkommen abzuriegeln. Niemand durfte hinein. Einwohner durften die Stadt zwar verlassen, mußten sich aber darüber im klaren sein, daß sie nicht zurückkommen konnten. Die Zufahrtssraßen von und zur Stadt – allen voran die US 1 – sollten mit Autos verbarrikadiert werden (nach einem brüllenden Wortwechsel, der über eine halbe Stunde andauerte, bekam der städtische Fuhrpark diese Aufgabe zugewiesen), Freiwillige sollten an drei Straßensperren mit Schrotflinten Wache stehen. Wer versuchen wollte, auf der US 1 nach Norden oder Süden zu fahren, sollte nach Norden über Wells und nach Süden über York umgeleitet werden, wo er auf die Interstate 95 gelangen und damit Ogunquit umfahren konnte. Wenn trotzdem jemand durchwollte, sollten die Waffen sprechen. Erschießen? fragte jemand. Jede Wette, antworteten mehrere andere.
Eine kleine, etwa zwanzig Personen starke Gruppe sprach sich dafür aus, daß die bereits Erkrankten sofort aus der Stadt geschafft werden sollten. Sie wurden mit überwältigender Mehrheit überstimmt, denn am Abend des 24., als die Versammlung abgehalten wurde, hatten alle in der Stadt, die nicht selbst krank waren, Verwandte oder Freunde, die es waren. Viele glaubten den Nachrichten, in denen mitgeteilt wurde, daß in Kürze ein Impfstoff zur Verfügung stehen würde. Wie, argumentierten sie, sollte man einander je wieder in die Augen sehen können, wenn sich alles nur als ernst, aber vorübergehend entpuppte und man die Eigenen ausgesetzt hatte wie Parias?
Daraufhin wurde vorgeschlagen, man sollte alle kranken Sommergästeausweisen.
Die Sommergäste, ein gewaltiges Kontingent, wiesen darauf hin, dass sie jahrelang die Schulen, Straßen, Obdachlosen und öffentlichen Strande der Stadt mit ihren Steuern unterstützt hatten, die sie für ihre Sommerhäuser bezahlten. Geschäfte, die von Mitte September bis Mitte Juni unter dem Existenzminimum wirtschafteten, konnten sich nur mit Hilfe ihrer Sommerdollars über Wasser halten. Wenn man sie derart ungerecht behandelte, konnten sich die Bewohner von Ogunquit darauf verlassen, daß sie nie wiederkehren würden. Dann konnten die Bewohner wieder Hummer und Venusmuscheln fischen und Miesmuscheln aus dem Dreck buddeln, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Vorschlag, die Sommergäste aus der Stadt zu weisen, wurde mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Bis Mitternacht wurden die Barrikaden errichtet, bei Einbruch der nächsten Morgendämmerung, am Morgen des 25., war auf ein paar Leute an den Barrikaden das Feuer eröffnet worden; die meisten wurden nur verwundet, aber drei oder vier wurden getötet. Es handelte sich fast ausschließlich um Menschen, die aus Boston kamen und panisch und blind vor Angst nach Norden flohen. Ein paar von ihnen ließen sich bereitwillig nach York zur Mautstraße umleiten, andere waren so von Sinnen, daß sie nicht kapierten und versuchten, die Barrikaden zu rammen oder über die Böschung um sie herumzufahren. Man wurde mit ihnen fertig.
Aber am selben Abend waren fast alle Männer an den Barrikaden selbst krank, glühten vor Fieber und mußten ständig die Schrotflinten zwischen die Beine stellen, damit sie sich die Nasen schneuzen konnten. Ein paar, zum Beispiel Freddy Delancey und Curtis Beauchamp, fielen einfach bewußtlos um und wurden später ins Notlazarett im Rathaus gefahren, wo sie starben.
Gestern morgen hatte sich Frannies Vater, der sich gegen die Barrikaden ausgesprochen hatte, ins Bett gelegt, und Frannie blieb zu Hause und versorgte ihn. Er duldete nicht, daß sie ihn ins Krankenhaus brachte. Wenn er schon sterben mußte, sagte er Frannie, dann hier zu Hause, abgeschieden und mit Anstand. Am Nachmittag war der Verkehr fast völlig zum Erliegen gekommen. Gus Dismore, der Parkwächter am öffentlichen Strand, sagte, seiner Schätzung nach waren so viele Autos auf den Straßen liegengeblieben, daß nicht einmal mehr geübte Fahrer (oder Fahrerinnen) durchkommen konnten, was ganz gut war, denn am Nachmittag des 25. konnten nicht einmal mehr drei Dutzend Männer Wache stehen. Gus, dem es bis gestern ausgezeichnet gegangen war, hatte selbst eine laufende Nase bekommen. Der einzige in der ganzen Stadt, außer ihr selbst, dem es noch einwandfrei zu gehen schien, war Amy Lauders sechzehnjähriger Bruder Harold. Amy selbst war kurz vor der ersten Stadtversammlung gestorben, ihr Hochzeitskleid hing noch ungetragen im Schrank.
Fran war heute nicht weggewesen, und seit Gus gestern nachmittag bei ihr gewesen war, hatte sie niemanden mehr gesehen. Heute morgen hatte sie ein paarmal Motoren gehört, und einmal ganz in der Nähe die Doppelexplosion einer Schrotflinte, aber das war alles. Die anhaltende, ununterbrochene Stille verstärkte das Gefühl des Unwirklichen noch.
Und jetzt waren viele Fragen zu bedenken. Fliegen... Augen... Kuchen. Frannie stellte fest, daß sie dem Kühlschrank lauschte. Der verfügte über eine automatische Eiswürfelmaschine, und etwa alle zwanzig, Sekunden ertönte im Innern ein kaltes Poltern, wenn ein neuer Eiswürfel ausgeworfen wurde.
Sie blieb fast eine Stunde vor ihrem Teller sitzen, immer noch mit diesem dumpfen, halb fragenden Gesichtsausdruck. Ganz allmählich kam ihr ein anderer Gedanke – eigentlich zwei Gedanken, die zusammenzuhängen und doch nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Waren sie vielleicht verbundene Teile eines größeren Gedankens? Sie dachte darüber nach, hörte aber trotzdem mit einem Ohr zu, wie Würfel aus der Eiswürfelmaschine des Kühlschranks polterten. Der erste Gedanke war, daß ihr Vater nicht mehr lebte; er war zu Hause gestorben, und so hätte er es gewollt. Der zweite Gedanke hatte mit diesem Tag zu tun. Es war ein herrlicher Sommertag, makellos; wegen solcher Tage kamen die Touristen an die Küste von Maine. Man kommt nicht zum Schwimmen her, denn dafür ist das Wasser eigentlich nie warm genug; man kommt, um sich von solchen Tagen verzaubern zu lassen.
Die Sonne schien hell, und Franny konnte das Thermometer lesen, das draußen vor dem hinteren Küchenfenster hing. Die Quecksilbersäule zeigte knapp unter siebenundzwanzig Grad an. Es war ein wunderschöner Tag, und ihr Vater war tot. Gab es einen anderen Zusammenhang außer dem offensichtlichen Tränendrüsendrücker?
Sie dachte stirnrunzelnd darüber nach, ihre Augen waren verwirrt und apathisch. Ihre Gedanken kreisten um das Problem und schweiften dann ab zu anderen Dingen. Aber sie kamen immer wieder darauf zurück.
Es war ein schöner warmer Tag, und ihr Vater war tot. Das machte ihr plötzlich alles bewußt, und sie machte die Augen zu, als sei sie geschlagen worden.
Gleichzeitig zuckten ihre Hände unwillkürlich auf der Tischdecke und zerrten den Teller auf den Fußboden. Er zersplitterte wie eine Bombe, und Franny schrie und fuhr sich mit den Händen an die Wangen, die unter ihren Fingern Falten bildeten. Die unbestimmte, apathische Ferne verschwand aus ihren Augen, die plötzlich hart und fest blickten. Es war, als hätte man ihr eine kräftige Ohrfeige gegeben oder eine offene Ammoniakflasche unter die Nase gehalten.
Man kann eine Leiche nicht im Haus behalten. Nicht im Hochsommer.
Die Apathie kam wieder zurück und nahm dem Gedanken die Konturen. Das ganze Ausmaß des Entsetzens wurde verschwommen, gedämpft. Sie lauschte wieder dem leisen Klirren und Fallen der Eiswürfel...
Sie kämpfte dagegen an. Sie sprang auf, ging zur Spüle, drehte das kalte Wasser voll auf und spritzte sich aus hohlen Händen ins Gesicht, ein angenehmer Schock für ihre leicht verschwitzte Haut. Sie konnte ihre Gedanken abschweifen lassen, soviel sie wollte, aber zuerst mußte dieses Problem gelöst werden. Sie konnte ihn nicht einfach dort oben im Bett liegenlassen, wenn der Juni in den Juli überging. Das wäre zu sehr wie die Geschichte von Faulkner, die in allen College-Lesebüchern zu finden war, »Eine Rose für Emily«. Die Stadtväter hatten nicht gewußt, um was es sich bei dem entsetzlichen Gestank handelte, aber nach einer Weile war er verschwunden. Er... er...
»Nein!« schrie sie laut in die sonnige Küche hinein. Sie lief hin und her und dachte darüber nach. Ihr erster Gedanke galt dem örtlichen Bestattungsunternehmer. Aber wer würde... würde...
»Hör auf, dich davor zu drücken!« schrie sie wütend in die leere Küche. »Wer wird ihn begraben?«
Und beim Klang ihrer eigenen Stimme fiel ihr auch die Antwort ein. Es war völlig klar. Sie natürlich. Wer sonst? Sie selbst.
Es war zwei Uhr dreißig nachmittags, als sie ein Auto in die Einfahrt einbiegen hörte, dessen starker Motor bei niedriger Drehzahl selbstgefällig schnurrte. Frannie stellte den Spaten an den Rand der Grube – sie hob sie im Garten zwischen Tomaten und Salat aus – und drehte sich ein wenig ängstlich um.
Das Auto war ein brandneuer Cadillac Coupe de Ville, flaschengrün, und heraus stieg der fette sechzehnjährige Harold Lauder. Frannie empfand sofort Widerwillen. Sie mochte Harold nicht und kannte auch keinen, der ihn mochte, einschließlich seiner verstorbenen Schwester Amy. Wahrscheinlich hatte seine Mutter ihn gemocht. Frannie nahm voll müder Ironie zur Kenntnis, daß der einzige Mensch, der sich außer ihr noch in Ogunquit aufhielt, ausgerechnet einer der wenigen sein mußte, die sie nicht ausstehen konnte. Harold gab das literarische Magazin der High School von Ogunquit heraus und schrieb seltsame Kurzgeschichten, die im Präsens oder vom Standpunkt der zweiten Person aus geschrieben waren, oder beides.
Du kommst den Korridor des Deliriums entlang, zwängst dich mit der Schulter durch die gesplitterte Tür und siehst dir die Stars der Rennbahn an– das war Harolds Stil.
»Er wichst sich in die Unterhosen«, hatte Amy Fran einmal im Vertrauen erzählt. »Eklig, was? Wichst sich in die Unterhosen und trägt dasselbe Paar so lange, bis sie von alleine stehen.«
Harold hatte schwarzes, fettiges Haar. Er war ziemlich groß, ungefähr ein Meter fünfundachtzig, aber er wog fast hundertzwanzig Kilo. Er trug gern spitze Cowboystiefel und einen breiten Ledergürtel, den er ständig hochzog, weil seine Wampe um einiges dicker war als sein Hinterquartier, dazu geblümte Hemden, die sich um ihn bauschten wie Stagsegel. Frannie war es gleichgültig, wie oft er wichste, wieviel er wog und ob er in dieser Woche Wright Morris oder Hubert Selby jr. imitierte. Aber wenn sie ihn sah, fühlte sie sich immer unbehaglich und leicht angeekelt, als ob sie fast telepathisch spürte, daß jeder Gedanke, den Harold hatte, leicht mit Schleim überzogen war. Sie glaubte nicht, daß Harold gefährlich werden könnte, nicht einmal in dieser Situation, aber er würde wahrscheinlich genauso unangenehm sein wie immer, vielleicht noch unangenehmer.
Er hatte sie nicht gesehen. Er sah am Haus empor. »Jemand da?« schrie er. Dann griff er durch das Fenster in den Cadillac und drückte auf die Hupe. Das Geräusch zerrte an Frannies Nerven. Sie hätte sich ruhig verhalten, aber wenn Harold sich umdrehte, um wieder ins Auto einzusteigen, mußte er die Grube sehen, auf deren Rand sie saß. Einen Augenblick war sie versucht, tiefer in den Garten zu kriechen, um sich zwischen Erbsen und Bohnen hinzulegen und darauf zu warten, bis er die Geduld verlor und wieder wegfuhr. Hör auf, sagte sie sich, hör doch auf. Er ist schließlich auch nur ein Mensch.
»Hier, Harold«, rief sie.
Harold zuckte zusammen, seine fetten Hinterbacken wackelten in der engen Hose. Offensichtlich hatte er nur einen Versuch gemacht und gar nicht damit gerechnet, jemanden anzutreffen. Er drehte sich um, und Fran ging zum Rand des Gartens, strich sich über die Beine und fand sich resigniert damit ab, daß sie nur Turnhosen und ein Oberteil anhatte und angestarrt werden würde. Harolds Augen krochen förmlich über sie, während er ihr entgegenkam.
»Schau an, Fran«, sagte er glücklich.
»Hi, Harold.«
»Ich hab' gehört, daß du dieser schrecklichen Krankheit erfolgreich getrotzt hast, darum war hier mein erster Halt. Ich klappere die Stadt ab.« Er lächelte und entblößte Zähne, die bestenfalls eine flüchtige Beziehung mit einer Zahnbürste haben konnten.
»Ich war sehr traurig, als ich das mit Amy gehört habe, Harold. Sind deine Mutter und dein Vater...«
»Leider ja«, sagte Harold. Er ließ den Kopf einen Augenblick hängen, dann riß er ihn so ruckartig hoch, daß die verklebten Haare flogen. »Aber das Leben geht weiter, oder?«
»Glaub' schon«, sagte Fran müde. Sein Blick war wieder auf ihre Brüste gerichtet und tanzte dort, und sie wünschte sich einen Pullover.
»Wie gefällt dir mein Auto?«
»Gehört Mr. Brannigan, nicht?« Roy Brannigan war ein hiesiger Immobilienmakler.
» Gehörte«, sagte Harold gleichgültig. »Ich war immer der Meinung, wer in diesen mageren Zeiten so ein vorsintflutliches Monster fährt, müßte am nächsten Sunoco-Schild aufgehängt werden, aber das ist jetzt alles anders geworden. Weniger Leute heißt mehr Benzin.«
Benzin, dachte Fran benommen, er hat tatsächlich Benzin gesagt.
»Mehr von allem«, fügte Harold hinzu. Seine Augen bekamen ein verstohlenes Funkeln, während er ihren Nabel studierte, ihr wieder ins Gesicht sah, dann zu den Turnhosen hinunter und wieder in ihr Gesicht. Sein Lächeln war fröhlich und unbehaglich zugleich.
»Harold, wenn du mich bitte entschuldigen würdest...«
»Was in aller Welt kannst du zu tun haben, mein Kind?«
Das Gefühl des Unwirklichen kam wieder, und sie fragte sich, wieviel das menschliche Gehirn aushaken konnte, bevor es zerriß wie ein überdehntes Gummiband. Meine Eltern sind tot, das kann ich ertragen. Eine seltsame Krankheit scheint sich über das ganze Land verbreitet zu haben, möglicherweise über die ganze Welt, und mäht die Gerechten und die Ungerechten gleichermaßen hinweg – das kann ich ertragen. Ich hebe in dem Garten, in dem mein Vater noch vor einer Woche Unkraut gejätet hat, eine Grube aus, und wenn sie tief genug ist, werde ich ihn hineinlegen – ich glaube, auch das kann ich ertragen. Aber Harold Lauder in Roy Brannigans Cadillac? Harold Lauder, der mich mit den Augen auszieht und mich »mein Kind« nennt? Das weiß ich nicht, lieber Gott. Das weiß ich einfach nicht.
»Harold«, sagte sie geduldig. »Ich bin nicht dein Kind. Ich bin fünf Jahre älter als du. Es ist biologisch unmöglich, daß ich dein Kind bin.«
»Nur eine Redewendung«, sagte er und blinzelte angesichts ihrer beherrschten Wut. »Was ist das eigentlich? Dieses Loch?«
»Ein Grab. Für meinen Vater.«
»Oh«, sagte Harold Lauder mit leiser, unbehaglicher Stimme.
»Ich will einen Schluck Wasser trinken, bevor ich weitermache. Um ehrlich zu sein, Harold, es wäre mir lieber, wenn du gleich wieder gehen würdest. Ich bin außer mir.«
»Das kann ich verstehen«, sagte er steif. »Aber Fran... im Garten?«
Sie war zum Haus gegangen, aber jetzt drehte sie sich wütend zu ihm um. »Was würdest du denn vorschlagen? Soll ich ihn in einen Sarg legen und zum Friedhof schleppen? Wozu, in Gottes Namen? Er hat seinen Garten geliebt. Und was kümmert dich das überhaupt? Was geht es dich an?«
Sie fing an zu weinen. Sie drehte sich um und lief in die Küche, wobei sie fast gegen die vordere Stoßstange des Cadillacs gestoßen wäre. Sie wußte, Harold würde ihre wogenden Pobacken anstarren und das Material für die Pornofilme speichern, die dauernd in seinem Kopf liefen, und das machte sie wütender, trauriger und weinerlicher denn je.
Die Küchentür fiel krachend hinter ihr ins Schloß. Sie ging zur Spüle und trank drei Gläser kaltes Wasser. Zu schnell. Eine Silbernadel des Schmerzes bohrte sich in ihre Stirn. Ihr überrumpelter Magen krampfte sich zusammen, sie hielt den Kopf einen Moment über das Emaillebecken, kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und wartete, ob sie sich übergeben mußte. Nach einem Augenblick meldete ihr Magen, daß er das kalte Wasser akzeptieren würde, wenn auch nur probeweise.
»Fran?« Die Stimme war tief und zögernd.
Sie drehte sich um und sah Harold mit an den Seiten schlaff herabhängenden Händen vor der Tür stehen. Er sah besorgt und unglücklich aus, und plötzlich tat er Fran leid. Harold Lauder, der in Roy Brannigans Cadillac durch die traurige, verlassene Stadt kreuzte, Harold Lauder, der sich wahrscheinlich noch nie in seinem Leben mit einem Mädchen verabredet hatte und dabei noch so tat, als würde er damit seine Verachtung für alles Weltliche ausdrücken. Verabredungen, Mädchen, Freunde, alles. Ihn selbst wahrscheinlich eingeschlossen.
»Harold, es tut mir leid.«
»Nein, ich hatte kein Recht, etwas zu sagen. Hör zu, wenn du willst, helfe ich dir.«
»Danke, aber ich mache es lieber allein. Es ist...«
»Es ist etwas Persönliches. Natürlich, das verstehe ich.«
Sie hätte sich einen Pullover aus dem Küchenschrank nehmen können, aber er hätte natürlich gewußt, warum, und sie wollte ihn nicht wieder in Verlegenheit bringen. Harold gab sich größte Mühe, ein guter Junge zu sein – was für ihn ungefähr so sein mußte, als würde er versuchen, eine fremde Sprache zu sprechen. Sie ging wieder auf die Veranda hinaus, und einen Augenblick standen sie nur da, sahen in den Garten und in das Loch, um dessen Ränder Erde aufgeworfen war. Der Nachmittag summte feierlich um sie herum, so als wäre überhaupt nichts geschehen.
»Was machst du jetzt?« fragte sie Harold.
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Weißt du...« Seine Stimme verlor sich.
»Was?«
»Es ist schwer zu sagen. Ich gehöre nicht zu den beliebtesten Leuten in diesem Fleckchen von Neu England. Ich bezweifle, ob man mir im Stadtpark ein Denkmal errichten würde, selbst wenn ich ein berühmter Schriftsteller geworden wäre, wie ich einmal gehofft habe. Offen gesagt, ich glaube, ich bin ein alter Mann mit einem Bart bis zur Gürtelschnalle, bevor es wieder einen berühmten Schriftsteller geben wird.«
Sie sagte nichts; sah ihn nur an.
»Also!« rief Harold, und sein Körper ruckte, als sei das Wort aus ihm explodiert. »Also ich kann nur staunen, wie unfair das alles ist. Es ist so unfair, daß man es, finde ich jedenfalls, geradezu monströs nennen muß und es mir leichter fällt zu glauben, daß es den Burschen in unserer Zitadelle der Gelehrsamkeit endlich gelungen ist, mich in den Wahnsinn zu treiben.«
Er schob sich die Brille auf der Nase hoch, und sie bemerkte voll Mitgefühl, wie schlimm seine Akne wirklich war. Ob ihm nie jemand gesagt hatte, fragte sie sich, daß Seife und Wasser das Problem wenigstens teilweise lösen würden? Oder waren sie alle zu sehr damit beschäftigt gewesen, die hübsche kleine Amy zu beobachten, wie sie mit einem phänomenalen Durchschnitt ihr Studium an der University of Maine absolvierte und unter tausend Studenten ihrer Klasse bei der Abschlußprüfung den dreiundzwanzigsten Platz erreichte? Die hübsche Amy, die so gescheit und lebhaft war, während Harold einem nur auf die Nerven ging.