Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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»Nicht für eine Million würde ich noch mal reingehen«, sagte sie.
»In ein paar Jahren wirst du Geldscheine als Klopapier benutzen«, sagte er. » Please Don't Squeeze the Greenbacks.«
»Aber bist du sicher...«
»Daß es nicht nur New York war?« Er zeigte mit dem Finger. »Sieh dir das an.«
Die Gebührenhäuschen waren leer. Das mittlere stand in einem Haufen von Glassplittern. Die nach Westen führenden Fahrspuren dahinter waren leer, aber die östlicher Richtung, in den Tunnel und die Stadt, die sie gerade verlassen hatten, waren von stummem Verkehr verstopft. Auf der Standspur lagen Leichen, von ein paar Möwen bewacht, wirr durcheinander.
»Gütiger Gott«, sagte sie mit schwacher Stimme.
»Es wollten ebenso viele Leute aus New York rein wie raus. Ich weiss überhaupt nicht, warum sie sich die Mühe gemacht und den Tunnel auf der Jersey-Seite versperrt haben. Wahrscheinlich wußten sie auch nicht warum. Irgendwer hat eine gute Idee gehabt, Arbeitsbeschaffung...«
Aber sie hatte sich auf die Straße gesetzt und weinte.
»Nicht weinen«, sagte er und kniete sich neben sie. Die Erlebnisse im Tunnel waren noch zu frisch, als daß er jetzt wütend auf sie sein konnte. »Alles ist gut, Rita.«
»Was denn?« schluchzte sie. »Was? Sag mir nur eines.«
»Jedenfalls sind wir draußen. Das ist schon mal was. Und wir haben frische Luft. New Jersey hat noch nie so gut gerochen.«
Das brachte ihm ein zaghaftes Lächeln ein. Larry untersuchte die Kratzer, die die Fliesensplitter ihr an Wangen und Schläfe gerissen hatten.
»Wir sollten uns einen Drugstore suchen und Jod auf die Schnitte tun«, sagte er. »Kannst du wieder gehen?«
»Ja.« Sie sah ihn so leutselig dankbar an, daß er sich unbehaglich fühlte. »Und ich besorge neue Schuhe. Turnschuhe. Ich werde tun, was du mir sagst, Larry. Das will ich.«
»Ich habe dich angeschrien, weil ich aufgeregt war«, sagte er leise. Er strich ihr das Haar zurück und küßte einen Kratzer über dem rechten Auge. »So ein schlechter Kerl bin ich gar nicht«, sagte er.
»Verlaß mich nur nicht.«
Er half ihr auf die Füße und legte ihr einen Arm um die Hüften. Dann gingen sie langsam an den Kassenhäuschen vorbei und ließen New York hinter sich, jenseits des Flusses, zurück.
36
Im Zentrum von Ogunquit lag ein kleiner Park mit einer Kanone aus dem Bürgerkrieg und einem Gefallenenehrenmal, und als Gus Dinsmore gestorben war, war Frannie Goldsmith dorthin gegangen und hatte sich an den Ententeich gesetzt, müßig Steine ins Wasser geworfen und die Wellenkreise beobachtet, die sich im stillen Wasser ausbreiteten, bis sie die Seerosenblätter am Ufer erreichten und sich in einen Wirrwarr von Linien auflösten.
Vorgestern hatte sie Gus ins Haus der Greens unten am Strand gebracht, weil sie gefürchtet hatte, wenn sie noch länger warteten, würde Gus nicht mehr gehen können und sein »letztes Hemd«, ein grausamer und doch angemessener Ausdruck ihrer Vorfahren, in seinem heißen, engen Kabuff beim Parkplatz des öffentlichen Strands tragen müssen.
Sie hatte gedacht, Gus würde in dieser Nacht sterben. Er hatte hohes Fieber gehabt und war im Delirium gewesen, war zweimal aus dem Bett gefallen und einmal sogar in Mr. Greens Schlafzimmer herumgetorkelt, hatte Sachen umgestoßen, war auf die Knie gestürzt und wieder aufgestanden. Er rief nach Leuten, die nicht da waren, antwortete ihnen und betrachtete sie mit Gefühlen, die von Ausgelassenheit bis Entsetzen reichten, bis Fran überzeugt war, Gus' imaginäre Gesprächspartner wären real und sie das Phantom. Sie hatte Gus angefleht, wieder ins Bett zu gehen, aber für Gus war sie gar nicht da. Sie mußte ihm immer wieder aus dem Weg gehen; wenn nicht, hätte er sie umgestoßen und wäre über sie hinweggetrampelt.
Schließlich war er aufs Bett gefallen und von seinem tobenden Delirium in eine keuchende, kurzatmige Bewußtlosigkeit gefallen, die Fran als das letzte Koma betrachtete. Aber als sie am nächsten Morgen nach ihm sah, saß Gus im Bett und las ein Westerntaschenbuch, das er auf einem Regal gefunden hatte. Er war des Dankes voll, daß sie sich um ihn kümmerte, und gab seiner aufrichtigen Hoffnung Ausdruck, daß er vergangene Nacht nichts gesagt und getan hatte, das sie in Verlegenheit brachte. Als sie gesagt hatte, daß dem nicht so war, hatte sich Gus zweifelnd in den Trümmern des Schlafzimmers umgesehen und ihr gesagt, daß es auf jeden Fall schön von ihr war, das zu sagen. Sie machte Suppe, die er mit Heißhunger aß, und als er sich beschwerte, wie schwer es sei, ohne Brille zu lesen (seine ,war zerbrochen worden, als er vergangene Woche seine Wache an der Barrikade am Südende der Stadt gehalten hatte), hatte sie das Taschenbuch – trotz seiner schwachen Proteste – in die Hand genommen und ihm vier Kapitel des Westerns von dieser Frau, die im Norden wohnte, in Haven, vorgelesen. Rimfire Christmas war der Titel. Sheriff John Stoner hatte, schien es, gewisse Probleme mit den Tunichtguten der Stadt Roaring Rock, Wyoming, und schlimmer – er fand einfach nichts, was er seiner reizenden jungen Frau zu Weihnachten schenken konnte.
Fran war optimistischer weggegangen und hatte gedacht, daß sich Gus vielleicht erholen würde. Aber letzte Nacht war es wieder schlimmer gewesen, und Viertel vor acht heute morgen war er gestorben; erst eineinhalb Stunden war das her. Am Ende war er vernünftig gewesen, aber ohne zu begreifen, wie ernst sein Zustand war. Er hatte ihr sehnsüchtig gesagt, daß er gerne ein Eis haben würde, wie sein Daddy ihm und seinen Brüdern immer am vierten Juli und am Labor Day gekauft hatte, wenn der Jahrmarkt nach Bangor kam. Aber da war in Ogunquit schon der Strom ausgefallen – er war, wollte man den elektrischen Uhren glauben, am 28. Juni exakt um 9:17 Uhr ausgegangen -, und es gab kein Eis mehr. Sie hatte sich überlegt, ob jemand in der Stadt nicht vielleicht einen Dieselgenerator mit Notstromaggregat hatte, an das ein Kühlschrank angeschlossen war, und hatte sich sogar schon überlegt, ob sie Harold Lauder aufspüren und fragen sollte, aber dann machte Gus seine letzten, keuchenden, hoffnungslosen Atemzüge. Es dauerte vier oder fünf Minuten, während sie mit einer Hand seinen Kopf hoch– und ihm mit der anderen ein Tuch unter die Nase hielt, um die zähflüssigen Schleimabsonderungen aufzufangen. Dann war es vorbei.
Frannie hatte ein sauberes Laken über ihn gebreitet und ihn auf dem Bett des alten Jake Green mit Blick aufs Meer liegenlassen. Dann war sie in den Park gegangen, und seitdem saß sie hier, ließ Steine über den See hüpfen und dachte an nichts. Aber ihr war unterbewußt klar, daß es eine gute Art war, an nichts zu denken; es war nicht die seltsame Apathie, die sie am Tag nach dem Tod ihres Vaters wie ein Leichentuch eingehüllt hatte. Seitdem hatte sie immer mehr zu sich selbst zurückgefunden. In Nathans Blumengeschäft hatte sie einen Rosenstock geholt und am Fußende von Peters Grab eingepflanzt. Sie war überzeugt, daß er gut Wurzeln schlagen würde, wie ihr Vater gesagt hätte. Nachdem sie Gus' Tod miterlebt hatte, war es eine Art Erholung für sie, eine Zeitlang an nichts zu denken. Anders als das Vorspiel des Wahnsinns, das sie zuvor durchgemacht hatte. Das war gewesen, als wäre sie durch einen stinkenden grauen Tunnel voller Gestalten gegangen, die sie mehr fühlte als sah; es war ein Tunnel, durch den sie nie wieder gehen wollte.
Aber sie würde sich nun bald Gedanken machen müssen, was als nächstes zu tun war, und diese Gedanken mußten Harold Lauder mit einschließen. Nicht nur, weil sie und Harold die einzigen Menschen in dieser Gegend waren, sondern auch weil sie keine Ahnung hatte, was aus Harold werden sollte, wenn niemand auf ihn aufpaßte. Sie war gewiß nicht der praktischste Mensch auf der Welt, aber da nur sie hier war, mußte das genügen. Sie mochte ihn immer noch nicht besonders, aber er hatte wenigstens versucht, taktvoll zu sein, und es hatte sich herausgestellt, daß auch er einen gewissen Anstand besaß. Eine ganze Menge sogar, auf seine verschrobene Art. Seit er sie vor vier Tagen aufgesucht hatte, hatte Harold sie in Ruhe gelassen; offenbar respektierte er den Wunsch, um ihre Eltern zu trauern. Aber sie hatte ihn von Zeit zu Zeit gesehen, wenn er mit Roy Brannigans Cadillac ziellos von einem Ort zum ändern fuhr. Und zweimal, als der Wind günstig stand, hatte sie das Klappern seiner Schreibmaschine hören können – die Tatsache, daß es so still war, daß sie diesen Laut hören konnte, obwohl das Haus der Lauders fast eineinhalb Meilen entfernt lag, betonte, daß das Geschehene wirklich war. Es amüsierte sie ein wenig, daß Harold sich zwar einen Cadillac besorgt, aber nicht daran gedacht hatte, seine mechanische Schreibmaschine durch einen dieser leise summenden elektronischen Torpedos zu ersetzen.
Nicht, daß es ihm jetzt etwas genützt hätte, dachte sie, als sie aufstand und sich den Hosenboden abklopfte. Eis und elektronische Schreibmaschinen gehörten der Vergangenheit an. Das stimmte sie nostalgisch und traurig, und sie fragte sich wieder tief bestürzt, wie so eine Katastrophe innerhalb weniger Wochen hatte eintreten können.
Ganz gleich, was Harold sagte, es mußte noch andere Menschen geben.
Wenn das Regierungssystem vorübergehend zusammengebrochen war, mußten sie einfach die verstreuten anderen finden und es neu aufbauen. Es kam ihr nicht in den Sinn zu fragen, warum Regierung – »Autorität« – so unverzichtbar erschien, und ebensowenig fragte sie sich, warum sie sich automatisch für Harold verantwortlich fühlte. Es war einfach so. Eine gewisse Ordnung war notwendig.
Sie verließ den Park und ging langsam die Main Street hinunter zum Haus der Lauders. Der Tag war schon warm, aber eine frische Brise wehte vom Meer. Sie hatte plötzlich Lust, zum Strand zu gehen, ein Stück Tang zu suchen und daran zu knabbern.
» Mein Gott, du bist widerlich «, sagte sie laut. Natürlich war sie nicht widerlich; sie war nur schwanger. Das war es. Nächste Woche würde es ein Bermudazwiebel-Sandwich sein. Mit Sahnemeerrettich. Einen Block von Harolds Haus entfernt blieb sie an der Ecke stehen und war erstaunt, wie lange sie nicht mehr an ihren »heiklen Zustand« gedacht hatte. Vorher war ihr der Gedanke ich-binschwanger aus den seltsamsten Anlässen gekommen, wie ein Schlamassel, den sie vergessen hatte wegzuräumen: Ich muß mein blaues Kleid noch vor Freitag zur Reinigung bringen (in ein paar Monaten kann ich es in den Schrank hängen, denn ich-bin-schwanger); ich denke, ich werde jetzt duschen (in ein paar Monaten wird es aussehen, als wäre ein Wal in der Duschkabine, denn ich-bin-schwanger); ich müßte einen Ölwechsel machen lassen, bevor die Kolben aus den Zylindern fallen, oder was weiß ich (und ich frage mich, was Johnny drunten bei Citgo wohl sagen würde, wenn er wüßte, ich-bin-schwanger). Aber vielleicht hatte sie sich inzwischen an den Gedanken gewöhnt. Schließlich war sie schon im dritten Monat, fast ein Drittel des Weges.
Zum ersten Mal fragte sie sich unbehaglich, wer ihr wohl helfen würde, das Baby zu bekommen.
Hinter dem Haus der Lauders ertönte das konstante, ratschende Klickklickklickklickeines mechanischen Rasenmähers, und als Frannie um die Ecke bog, sah sie etwas so Komisches, daß nur ihre Überraschung sie daran hinderte, laut loszulachen. Harold, der nur eine enge und knappe blaue Badehose trug, mähte den Rasen. Seine weiße Haut glänzte von Schweiß; die langen Haare wippten ihm gegen den Hals (um Harold Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Er schien sie in nicht allzu ferner Vergangenheit gewaschen zu haben). Die Fettwülste über dem Hosenbund und unter den Schenkelbünden hüpften wild auf und ab. Seine Füße waren bis an die Knöchel grün vom gemähten Gras. Sein Rücken war gerötet, aber sie konnte nicht sagen, ob vor Anstrengung oder leichtem Sonnenbrand.
Aber Harold mähte nicht nur; er rannte. Der hintere Rasen der Lauders fiel sanft zu einer malerischen, verfallenen Steinmauer hin ab, in der Mitte stand ein achteckiges Gartenhaus. Sie und Amy hatten dort ihre »Teeparties« abgehalten, als sie noch kleine Mädchen waren, fiel Frannie mit einem unerwartet schmerzlichen Anflug von Nostalgie ein – damals, als sie noch über das Ende von Charlotte's Web weinen oder verliebt über Chuckie Mayo seufzen konnten, den süßesten Jungen der Schule. Der Rasen der Lauders war so grün und friedlich, daß er irgendwie englisch wirkte, aber jetzt war ein Derwisch in blauer Badehose in diese ländliche Idylle eingedrungen. Sie konnte Harold in einer Weise keuchen hören, die beängstigend war, während er die nordöstliche Ecke bearbeitete, wo der Garten durch eine Reihe von Maulbeerbäumen vom Grundstück der Wilsons getrennt war. Über den T-Griff des Rasenmähers gebeugt, lief Harold den Rasen hinunter. Die Klingen sirrten. Eine grüne Grasfontäne spritzte empor und überzog Harolds Beine. Er hatte den Rasen etwa halb gemäht, übrig blieb ein verschwindendes Viereck mit dem Gartenhaus in der Mitte. Er fuhr am Fuße des Hügels um die Ecke, wurde einen Augenblick von dem Gartenhaus verdeckt und kam wieder zum Vorschein, über die Maschine gebeugt wie ein Formel-Eins-Rennfahrer. Als er halb oben war, sah er sie. Im gleichen Augenblick sagte Frannie schüchtern: »Harold?« Und sie sah, daß er weinte.
»Heh?« sagte – oder vielmehr quiekte – Harold. Sie hatte ihn aus seiner privaten Welt geschreckt und fürchtete, daß er nach der Anstrengung und dem plötzlichen Schreck einen Herzinfarkt bekommen könnte.
Dann lief er zum Haus, seine Füße kickten das Gras hoch, und sie nahm nebenbei dessen frischen Geruch in der Sommerluft wahr. Sie ging ihm einen Schritt nach. »Harold, was ist denn?«
Dann sprang er die Stufen zur Veranda hoch. Die Hintertür ging auf, Harold lief ins Haus, und die Tür schlug krachend hinter ihm zu. In der Stille, die sich danach herniedersenkte, hörte sie den schrillen Schrei einer Elster, und ein kleines Tier raschelte in den Büschen hinter der Steinmauer. Der Rasenmäher stand (verlassen) an der Grenze zwischen gemähtem Gras dahinter und hohem Gras davor, ein Stück vom Gartenhaus entfernt, wo sie und Amy einst ihre Brause aus Tassen einer Barbie-Küche getrunken und dabei vornehm die kleinen Finger abgespreizt hatten.
Frannie blieb eine Weile unentschlossen stehen, schließlich ging sie zur Tür und klopfte. Sie bekam keine Antwort, hörte Harold aber drinnen weinen.
»Harold?«
Keine Antwort. Er weinte immer noch.
Sie betrat den hinteren Flur der Lauders, wo es kühl, dunkel und duftend war – Mrs. Lauders Speisekammer lag links vom Flur, und so weit Frannie zurückdenken konnte, hatte es hier hinten immer angenehm nach getrockneten Äpfeln und Zimt gerochen, als warteten Kuchen nur darauf, gebacken zu werden.
»Harold?«
Sie ging durch den Flur in die Küche, dort saß Harold am Tisch. Er hatte die Hände ins Haar gekrallt, die grünen Füße standen auf dem verblichenen Linoleum, das Mrs. Lauder immer so fleckenlos sauber gehalten hatte.
»Harold, was ist denn los?«
»Geh weg!« schrie er unter Tränen. »Geh weg, du magst mich nicht!«
»Doch, ich mag dich. Du bist in Ordnung, Harold. Vielleicht nicht großartig, aber in Ordnung.« Sie machte eine Pause. »Wenn man die Umstände betrachtet, könnte ich momentan sogar sagen, du bist mir einer der liebsten Menschen auf der ganzen Welt.«
Daraufhin schien Harold noch lauter zu weinen.
»Hast du was zu trinken?«
»Brause«, sagte er. Er schniefte, wischte sich die Nase und sagte, ohne vom Tisch aufzusehen: »Sie ist warm.«
»Logisch. Hast du das Wasser von der Standpumpe geholt?« Wie viele kleine Städte hatte auch Ogunquit noch eine öffentliche Pumpe hinter dem Rathaus, die allerdings seit über vierzig Jahren eher eine Antiquität als eine eigentliche Wasserquelle war. Manchmal fotografierten Touristen sie. Das ist die öffentliche Pumpe in der kleinen Küstenstadt, wo wir unseren Urlaub verbracht haben. Ist das nicht kurios?
»Ja, da hab' ich es geholt.«
Sie schenkte jedem ein Glas ein und setzte sich. Wir sollten das im Gartenhaus trinken, dachte sie. Wir könnten beim Trinken die kleinen Finger in die Luft strecken. »Was ist los, Harold?«
Harold lachte seltsam hysterisch und hob zittrig die Brause an die Lippen. Er trank das Glas leer und stellte es ab. »Los? Was könnte denn los sein?«
»Ich meine, ist es etwas Bestimmtes?« Sie kostete die Brause und mußte sich anstrengen, das Gesicht nicht zu verziehen. Harold mußte das Wasser erst vor kurzem geholt haben, es war gar nicht so warm, aber er hatte den Zucker vergessen.
Schließlich sah er zu ihr auf. Sein Gesicht zeigte Tränenspuren, und ihm war immer noch zum Weinen zumute. »Ich brauche meine Mutter«, sagte er schlicht.
»O Harold...«
»Als es passierte, als sie starb, dachte ich noch: >Gar nicht so schlimm.<« Er griff nach seinem Glas und sah sie so verstört an, dass es fast beängstigend war. »Ich weiß, wie schrecklich sich das für dich anhören muß. Aber ich wußte nie, wie ich reagieren würde, wenn sie starben. Ich bin ein sehr sensibler Mensch. Deshalb haben die Schwachsinnigen in diesem Haus des Grauens, das die Stadtväter High School zu nennen beliebten, auch immer auf mir rumgehackt. Ich dachte, ich würde nach ihrem Tod vor Kummer fast verrückt werden oder mich mindestens ein Jahr lang verkriechen... meine innere Sonne, sozusagen, würde... würde... und als es geschah, meine Mutter... Amy... mein Vater... da sagte ich mir: >War ja gar nicht so schlimm.< Ich... sie...« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß sie zusammenzuckte. »Warum kann ich nicht ausdrücken, was ich meine?« schrie er. »Ich konnte immer ausdrücken, was ich meinte! Ein Schriftsteller muß Sprache zurechtschnitzen können, er muß dicht am Empfinden sein. Warum kann ich also nicht ausdrücken, was ich empfinde?«
»Harold, nicht. Ich weiß, was du empfindest.«
Er sah sie verblüfft an. »Du weißt...?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das kannst du nicht wissen.«
»Weißt du noch, als du bei uns warst? Und ich das Grab ausgehoben habe? Ich war halb wahnsinnig. Ich wußte manchmal kaum noch, was ich tat. Als ich versucht habe, mir Bratkartoffeln zu machen, hätte ich fast das Haus angesteckt. Du kannst ruhig den Rasen mähen, wenn es dir dann besser geht. Aber wenn du dazu nur die Badehose anziehst, bekommst du einen Sonnenbrand. Es fängt schon an«, fügte sie mit einem kritischen Blick auf seine Schultern hinzu. Um höflich zu sein, trank sie noch einen Schluck von der scheußlichen Brause.
Er wischte sich mit der Hand über den Mund. »Ich mochte sie nicht einmal so gern«, sagte er, »aber ich dachte, man empfindet trotzdem Kummer. Wenn die Blase voll ist, muß man urinieren. Und wenn nahe Verwandte sterben, muß man trauern.«
Sie nickte, weil sie es seltsam fand, aber passend.
»Meine Mutter hat immer Amy vorgezogen. Amy war ihr Liebling«, betonte er übertrieben und beinahe mitleidig kindisch. »Und vor meinem Vater hat mir gegraut.«
Das leuchtete Fran ein. Brad Lauder war ein großer, muskulöser Mann gewesen, Vorarbeiter der Wollspinnerei in Kennebunk. Es leuchtete ein, daß er nicht wußte, was er von diesem sonderbaren fetten Sohn halten sollte, den seine Lenden hervorgebracht hatten.
»Er nahm mich einmal beiseite«, fuhr Harold fort, »und fragte mich, ob ich ein Schwulenbübchen wäre. Genau den Ausdruck hat er gebraucht. Ich bekam solche Angst, daß ich anfing zu weinen, und er schlug mir ins Gesicht und sagte, wenn ich so ein gottverdammtes Baby wäre, wäre es besser für mich, aus der Stadt zu verschwinden. Und Amy... ich glaube, man kann getrost sagen, daß es Amy scheißegal gewesen wäre. Wenn sie ihre Freundinnen mit nach Hause brachte, war ich nur eine Peinlichkeit. Sie hat mich behandelt wie ein unaufgeräumtes Zimmer.«
Mit Überwindung trank Fran die Brause leer.
»Und als sie gestorben waren und ich nichts dabei empfand, dachte ich zunächst, das war's denn. Wenn man trauert, muß man nicht unbedingt mit den Knien schlottern, sagte ich mir. Aber ich habe mir etwas vorgemacht. Ich habe sie jeden Tag mehr vermißt. Besonders meine Mutter. Wenn ich sie nur noch einmal sehen könnte... sie war oft nicht da, wenn ich sie sehen wollte... brauchte... weil sie sich mit Amy beschäftigte, aber sie war nie gemein zu mir. Und als ich heute morgen wieder daran denken mußte, sagte ich mir: >Ich mähe den Rasen. Dann komme ich auf andere Gedanken.< Aber es klappte nicht. Und ich habe immer schneller und schneller gemäht... als könnte ich davor weglaufen... und ich schätze, da bist du hereingeschneit. Habe ich so verrückt ausgesehen, wie mir zumute war, Fran?«
Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Es ist nicht schlimm, so zu empfinden, Harold.«
»Bist du sicher?« Er sah sie wieder mit diesen großen, kindlichen Augen an.
»Ja.«
»Sind wir Freunde?«
»Ja.«
»Gott sei Dank«, sagte Harold. »Gott sei Dank.« Seine Hand lag schweißfeucht in ihrer, er schien es zu merken und zog sie widerwillig zurück. »Möchtest du noch Brause?« fragte er unterwürfig.
Sie lächelte ihr diplomatischstes Lächeln. »Vielleicht später«, sagte sie.
Sie .veranstalteten ein Picknick im Park: Erdnußbutter– und Marmeladenbrote, Hostess Twinkies und für jeden eine große Flasche Cola. Die Cola schmeckte gut, weil sie sie vorher im Ententeich gekühlt hatten.
»Ich habe mir überlegt, was ich machen könnte«, sagte er. »Willst du den Rest von dem Twinkie nicht mehr?«
»Nein, ich bin satt.«
Ihr Twinkie verschwand mit einem Bissen in Harolds Mund. Seine verspätete Trauer hatte seinen Appetit nicht im geringsten beeinträchtigt, bemerkte Frannie, aber dann schalt sie sich für diesen häßlichen Gedanken.
»Was?«
»Ich habe mir überlegt, nach Vermont zu gehen«, sagte er unsicher.
»Möchtest du mitkommen?«
»Warum Vermont?«
»Dort ist ein Zentrum der Regierung für Seuchen und ansteckende Krankheiten, in einer Stadt namens Stovington. Es ist nicht so gross wie in Atlanta, aber dafür ein ganzes Stück näher. Wenn noch Leute leben, habe ich mir gedacht, und sich mit dieser Grippe beschäftigen, werden viele von ihnen dort sein.«
»Und warum sollten sie nicht auch gestorben sein?«
»Das wäre möglich, das wäre möglich«, sagte Harold leicht pikiert.
»Aber in einem Institut wie Stovington sind sie daran gewöhnt, sich mit ansteckenden Krankheiten zu beschäftigen, und treffen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. Und wenn dort noch gearbeitet wird, könnte ich mir vorstellen, daß sie nach Leuten wie uns suchen. Leuten, die immun sind.«
»Woher weißt du das alles, Harold ?« Sie sah ihn mit unverhohlener Bewunderung an, und Harold wurde rot vor Freude.
»Ich lese viel. Diese Institute sind ja nicht geheim. Was hältst du davon, Fran?«
Sie hielt es für eine ausgezeichnete Idee. Sie entsprach ihrem uneingestandenen Bedürfnis nach Struktur und Autorität. Der Einwand, daß alle in diesen Instituten tot sein könnten, war erledigt. Sie würden nach Stovington fahren, sie würden dort aufgenommen und untersucht werden, und die Untersuchungen würden eine Diskrepanz zwischen ihnen und den Leuten ergeben, die krank geworden und gestorben waren. Sie kam nicht auf den Gedanken, sich zu fragen, was ein Impfstoff jetzt noch nützen sollte.
»Wir müssen uns eine Straßenkarte besorgen und feststellen, wie wir dort hinkommen – möglichst gestern«, sagte sie. Sein Gesicht strahlte. Sie dachte einen Augenblick, daß er sie küssen würde, und in diesem einzigen wunderbaren Augenblick hätte sie es wahrscheinlich gestattet, aber der Augenblick verstrich. Zurückblickend war sie sehr froh darüber.
Auf der Straßenkarte, wo alle Entfernungen auf Fingerlänge reduziert waren, sah es ganz einfach aus. US 1 zur I-95, von der I-95 zur US 302 nach Nordwesten durch die Städte des Seengebiets von Maine, auf derselben Straße durch den Schornstein von New Hampshire, dann nach Vermont. Stovington lag nur dreißig Meilen westlich von Barre und war über die Vermont Route 61 oder die 1-89 zu erreichen.
»Wie weit ist es alles in allem?« fragte Fran. Harold nahm ein Lineal, maß und konsultierte den Maßstab.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte er düster.
»Wie weit? Hundert Meilen?«
»Über dreihundert.«
»Mein Gott«, sagte Fran. »Das ist das Aus für meine Idee. Ich habe einmal gelesen, daß man durch einen Großteil der Neuenglandstaaten an einem einzigen Tag zu Fuß marschieren kann.«
»Das ist ein Trick«, sagte Harold mit seiner schulmeisterlichsten Stimme. »Es ist möglich, innerhalb von vierundzwanzig Stunden durch vier Bundesstaaten zu gehen – Connecticut, Rhode Island, Massachusetts und gerade noch über die Grenze von Vermont -, wenn man es genau richtig macht, aber das ist genau wie das Geduldsspiel mit den beiden ineinanderverschlungenen Nägeln – wenn man es weiß, ist es leicht, wenn nicht, ist es unmöglich.«
»Woher, um alles in der Welt, weißt du das denn?« fragte sie erheitert.
»Aus dem Guinness Buch der Rekorde«, sagte er abfällig. »Auch als Bibel des Lesesaals der High School von Ogunquit bekannt. Ich habe mehr an Fahrräder gedacht. Oder... ich weiß auch nicht... vielleicht Mopeds.«
»Harold«, sagte sie feierlich, »du bist ein Genie.«
Harold hustete und wurde rot, aber er freute sich. »Wir könnten morgen früh mit dem Fahrrad bis Wells kommen. Da ist eine Hondavertretung... kannst du eine Honda fahren, Fran?«
»Das kann ich lernen, wenn wir am Anfang etwas langsamer fahren.«
»Oh, ich glaube, es wäre unklug, schnell zu fahren«, sagte Harold ernst. »Bei unübersichtlichen Kurven kann man nie wissen, ob dahinter nicht drei Wagen zusammengestoßen sind und die Straße blockieren.«
»Nein, das stimmt. Aber bis morgen warten? Warum fahren wir nicht schon heute los?«
»Es ist schon nach zwei«, sagte er. »Wir würden nicht viel weiter als bis nach Wells kommen, und wir müssen uns einigermaßen ausrüsten. Das wäre hier in Ogunquit leichter, weil wir wissen, wo alles ist. Und wir brauchen natürlich Schußwaffen.«
Es war wirklich seltsam. Sobald er das sagte, mußte sie an das Baby denken. »Warum brauchen wir Schußwaffen?«
»Weil es keine Polizei und keine Gerichte mehr gibt und du eine Frau bist, noch dazu eine hübsche, und weil manche Leute... manche Männer... vielleicht keine... keine Gentlemen sind. Deshalb.«
Er wurde so rot, daß es fast ins Purpurne ging.
Er spricht von Vergewaltigung, dachte sie. Vergewaltigung. Aber wie könnte jemand mich vergewaltigen wollen, ich-bin-schwanger. Aber das wußte niemand, nicht einmal Harold. Und selbst wenn sie dem Vergewaltiger sagte: Würden Sie es bitte nicht tun, denn ich-bin-schwanger, konnte sie wirklich in aller Vernunft erwarten, daß der Vergewaltiger sagte: Herrje, Lady, das tut mir leid, dann vergewaltige ich eben ein anderes Mädel?
»Gut«, sagte sie. »Schußwaffen. Aber bis Wells können wir heute trotzdem noch.«
»Ich will hier noch etwas anderes erledigen«, sagte Harold.
Unter dem Dach von Moses Richardsons Scheune war es sengend heiß. Als sie den Heuboden erreichten, lief ihr der Schweiß am Körper herab, aber als sie noch eine Treppe höher gestiegen waren, floß er in Strömen, färbte ihre Bluse dunkel und klebte sie an die Brüste.
»Glaubst du wirklich, daß es nötig ist, Harold?«
»Ich weiß nicht.« Harold trug einen Eimer mit weißer Farbe und einen breiten Pinsel, der noch in der schützenden Zellophanhülle steckte. »Aber die Scheune ist von der US 1 gut zu sehen, und die fahren die meisten, die hier vorbeikommen. Auf jeden Fall kann es nicht schaden.«
»Es schadet aber, wenn du runterfällst und dir die Knochen brichst.«
Sie hatte Kopfschmerzen von der Hitze, die Cola, die sie zu Mittag getrunken hatte, schwappte ihr im Magen herum, daß ihr ganz übel wurde. »Das könnte sogar dein Ende sein.«
»Ich falle nicht«, sagte Harold nervös. Er sah sie an. »Fran, du siehst krank aus.«.
»Das macht die Hitze«, sagte sie schwach.
»Dann geh nach unten, um Gottes willen. Leg dich unter einen Baum. Beobachte die menschliche Fliege bei ihrem todesmutigen Akt an der zehnprozentigen Steilwand des Daches von Moses Richardsons Scheune.«
»Mach keine Witze. Ich halte es immer noch für albern. Und gefährlich.«
»Ja, aber ich werde mich wohler fühlen, wenn ich es tue. Geh nur, Fran.«
Sie dachte: Er tut es für mich.
Schwitzend und voll Angst stand er vor ihr, alte Spinnweben hingen an seinen feisten, nackten Schultern, sein Bauch fiel wie ein Wasserfall über den Gürtel der engen Jeans; er war entschlossen, nichts auszulassen, keinen Fehler zu machen.
Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küßte ihn sacht auf den Mund.
»Sei vorsichtig«, sagte sie und ging dann hastig die Treppe hinunter, während die Cola in ihrem Bauch schwappte, schwipp-schwapp, iiiiiih; sie ging hastig, aber nicht so hastig, daß sie nicht seinen verblüfften und glücklichen Ausdruck gesehen hätte. Sie ging die genagelten Sprossen vom Heuschober zum strohbestreuten Scheunenboden so schnell hinunter, weil sie wußte, daß sie jetzt kotzen mußte, und sie wußte zwar, daß es an Hitze, Coke und dem Baby lag, aber was sollte Harold denken, wenn er es hörte? Sie wollte raus, wo er es nicht hören konnte. Und sie schaffte es. Gerade so.
Um Viertel vor vier kam Harold wieder vom Dach herunter, sein Sonnenbrand jetzt flammend rot, die Arme mit weißer Farbe bespritzt. Während er arbeitete, hatte Fran unruhig in Richardsons Vorgarten unter einer Ulme gelegen, ohne fest einzuschlafen, weil sie jeden Augenblick damit rechnete, das Krachen der Schindeln und Harolds Verzweiflungsschrei zu hören, wenn er achtzehn Meter tief vom Scheunendach auf den harten Boden stürzte. Aber dazu kam es nicht – Gott sei Dank -, und jetzt stand er stolz vor ihr – grasgrüne Füße, weiße Arme, rote Schultern.
»Warum hast du dir die Mühe gemacht und die Farbe mit runtergeschleppt?« fragte sie ihn neugierig.
»Ich wollte sie nicht da oben lassen. Sie könnte sich in der Hitze selbst entzünden, und dann wäre unser Schild weg.« Sie dachte wieder daran, wie entschlossen er war, keine Möglichkeit außer acht zu lassen. Es war fast ein wenig furchteinflößend. Sie sahen beide zum Scheunendach hinauf. Die weiße Farbe glänzte in scharfem Kontrast zu den verbliebenen grünen Schindeln, und die Worte, die er gemalt hatte, erinnerten Fran an die Aufschriften, die man im Süden manchmal auf Scheunendächern sah – JESUS RETTET UNS oder KAUEN SIE RED INDIAN. Harold hatte geschrieben:
SIND NACH STOVINGTON, VT. SEUCHENZENTRUM
US 1 NACH WELLS
INTERSTATE 95 NACH PORTLAND
US 302 NACH BARRE
INTERSTATE 89 NACH STOVINGTON