Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Die nächsten anderthalb Stunden an diesem Morgen, gestern morgen, klopfte Nick an Türen und drückte auf Klingelknöpfe. Irgend jemand mußte gesund sein, sagte er sich. Er selbst fühlte sich gut, und er konnte sicher nicht der einzige sein. Es mußte jemanden geben, einen Mann oder eine Frau oder vielleicht einen Teenager mit einem Anfängerführerschein, und er oder sie würde sagen: Ja, klar doch. Bringen wir sie nach Camden. Wir nehmen den Kombi.Oder Ähnliches.
Aber sein Klopfen oder Klingeln wurde nur etwa ein dutzendmal beantwortet. Die Türen öffneten sich so weit, wie die Kette es zuließ, und ein krankes, aber hoffnungsvolles Gesicht erschien im Spalt, sah Nick, und die Hoffnung erstarb. Der Kopf machte eine verneinende Bewegung, dann wurde die Tür wieder zugemacht. Wenn Nick sprechen könnte, hätte er den Leuten gesagt: Wenn ihr gehen könnt, könnt ihr auch fahren. Wenn ihr meine Gefangenen nach Camden bringt, kommt ihr selbst dorthin, und da ist ein Krankenhaus. Dort wird man euch gesundpflegen. Aber er konnte nicht sprechen. Einige fragten ihn, ob er Dr. Soames gesehen hatte. Ein Mann riß im Fieberwahn die Tür seines kleinen Ranchhauses weit auf, stürzte nur in Unterhosen auf die Veranda und versuchte, Nick zu packen. Er sagte, er wolle tun, »was ich schon in Houston mit dir hätte tun sollen«. Er hielt Nick für jemand namens Jenner. Er torkelte auf der Veranda hinter Nick her wie ein Zombie in einem drittklassigen Horrorfilm. Seine Genitalien waren schrecklich geschwollen; seine Unterhose sah aus, als hätte jemand eine Honigmelone hineingesteckt. Schließlich fiel er krachend auf die Veranda, und Nick beobachtete ihn mit Herzklopfen vom Rasen aus. Der Mann schüttelte müde die Faust und kroch ins Haus zurück, ohne die Tür zu schließen.
Aber die meisten Häuser waren dunkel und geheimnisvoll, und zuletzt konnte er nicht mehr. Das traumgleiche Gefühl des Geheimnisvollen überkam ihn, und es wurde unmöglich, den Gedanken abzuschütteln, daß er an Gräber klopfte, daß er klopfte, um die Toten zu wecken, und die Toten früher oder später antworten würden. Es half nicht viel, sich zu vergegenwärtigen, daß die meisten Häuser leerstanden, ihre Bewohner nach Camden oder El Dorado oder Texarkana geflohen waren.
Er ging zum Haus der Bakers zurück. Jane Baker schlief fest, ihre Stirn war kühl. Aber diesmal hatte er nicht mehr so viel Hoffnung. Es war Mittag. Nick ging zum Truck Stop zurück und spürte jetzt, dass er in der Nacht wenig geschlafen hatte. Sein ganzer Körper schmerzte vom Sturz mit dem Rad. Bakers Fünfundvierziger schlug ihm gegen die Hüfte. Im Truck Stop machte er zwei Dosen Suppe heiß und füllte sie in Thermosflaschen. Die Milch im Kühlschrank schien noch gut zu sein, daher nahm er auch davon eine Flasche. Billy Warner war tot, und als Mike Nick sah, kicherte er hysterisch und deutete mit dem Finger auf ihn: »Zwei sind weg und einer übrig!
Zwei sind weg und einer übrig! Du bekommst deine Rache, stimmt's? Stimmt's?«
Nick schob vorsichtig mit dem Besenstiel die Thermosflasche mit Suppe unter der Tür durch, dann ein großes Glas Milch. Mike trank die Suppe in kleinen Schlucken direkt aus der Thermosflasche. Nick nahm seine eigene Thermosflasche und setzte sich im Flur hin. Er würde Billy nach unten schaffen, aber zuerst mußte er etwas essen. Er hatte Hunger. Während er seine Suppe trank, sah er Mike nachdenklich an.
»Willst du wissen, wie es mir geht?« fragte Mike.
Nick nickte.
»Genauso wie heute morgen, als du weggegangen bist. Ich muß ein Pfund Rotz ausgehustet haben.« Er sah Nick hoffnungsvoll an.
»Meine Mutter hat immer gesagt, wenn man so viel Rotz aushustet, wird es besser. Vielleicht habe ich es nicht so schlimm, hm? Hältst du das für möglich?«
Nick zuckte die Achseln. Alles war möglich.
»Ich hab' eine Konstitution wie ein Messingadler«, sagte Mike. »Ich glaube, es ist nichts. Ich glaube, ich überstehe es. Hör zu, Mann, lass mich raus. Bitte. Ich flehe dich an, verdammt.«
Nick dachte darüber nach.
»Herrgott, du hast doch die Waffe. Ich will nichts von dir. Ich will nur raus aus der Stadt. Aber erst will ich nach meiner Frau sehen...«
Nick deutete auf Mikes linke Hand, an der kein Ring steckte.
»Ja, wir sind geschieden, aber sie ist immer noch in der Stadt, draußen an der Ridge Road. Ich möchte gern nach ihr sehen. Was meinst du, Mann?« Mike fing an zu weinen. »Gib mir eine Chance. Laß mich nicht in diesem Rattenloch eingesperrt.«
Nick stand langsam auf, ging ins Büro und öffnete die Schublade. Die Schlüssebwaren da. Die Logik des Mannes war unerbittlich. Es war sinnlos zu glauben, daß jemand kommen und sie aus dieser schrecklichen Lage befreien würde. Er nahm die Schlüssel und ging zurück. Er hielt denjenigen hoch, den Big John Baker ihm gezeigt hatte, den mit dem weißen Band. Er warf ihn Mike Childress durch die Gitterstäbe zu.
»Danke«, stammelte Mike. »Oh, danke. Es tut mir leid, daß wir dich zusammengeschlagen haben, ich schwöre bei Gott, es war Rays Idee, Vince und ich haben noch versucht, ihm das auszureden, aber wenn Ray trinkt, dreht er durch...« Er rasselte mit dem Schlüssel im Schloß. Nick trat ein paar Schritte zurück, die Hand am Griff des Revolvers.
Die Zellentür ging auf, Mike kam heraus. »Das hab' ich ernst gemeint«, sagte er. »Ich will nur raus aus der Stadt.« Er schob sich an Nick vorbei, ein Grinsen umspielte seine Lippen. Dann schoß er durch die Tür zwischen dem kleinen Zellentrakt und dem Büro. Nick lief hinterher und sah noch, wie Mike die Bürotür von außen zumachte.
Nick ging nach draußen. Mike stand am Bordstein, stützte sich mit der Hand auf eine Parkuhr und blickte die verlassene Straße entlang.
»Mein Gott«, flüsterte er und sah Nick mit fassungslosem Gesicht an. »Alles? Alles?«
Nick nickte, die Hand immer noch am Griff der Waffe. Mike wollte etwas sagen, aber es wurde ein Hustenanfall daraus. Er hielt sich die Hand vor den Mund, dann wischte er sich die Lippen ab.
»Ich zieh' Leine«, sagte er. »Wenn du schlau bist, machst du das auch, Stummer. Das ist wie der Schwarze Tod oder so was.«
Nick zuckte die Achseln, und Mike machte sich auf den Weg. Er ging immer schneller, bis er fast rannte. Nick beobachtete ihn, bis er nicht mehr zu sehen war, und ging dann wieder hinein. Er sah Mike nie wieder. Ihm war leichter ums Herz, und er war plötzlich sicher, dass er richtig gehandelt hatte. Er legte sich auf die Pritsche und schlief fast sofort ein.
Er schlief den ganzen Nachmittag auf der Koje ohne Wolldecken, wachte verschwitzt auf und fühlte sich ein wenig besser. Über den Hügeln tobten Gewitter – er konnte den Donner nicht hören, sah aber die blauweißen Gabeln der Blitze, die sich in die Hügel bohrten -, aber bis nach Shoyo war an diesem Abend nichts vorgedrungen. Nach Anbrach der Dämmerung ging er auf der Main Street zu Paulie's Radio und TV und unternahm noch einen seiner schuldbewußten Raubzüge. Er legte einen Zettel neben die Registrierkasse und schleppte einen tragbaren Sony-Fernseher ins Gefängnis. Er machte ihn an und schaltete einen Kanal nach dem anderen durch. Der örtliche Sender der CBS strahlte nur eine Mitteilung aus: SCHWIERIGKEITEN MIT DEM UKW-RELAIS BITTE BLEIBEN SIE AUF EMPFANG! Die ABC zeigte I Love Lucy, und NBC brachte die Wiederholung einer Folge aus der laufenden Serie um ein selbstbewußtes junges Mädchen, das unbedingt Mechanikerin beim Stock-Car-Rennen werden wollte. Texarkana, ein unabhängiger Sender, der hauptsächlich alte Filme, Quizsendungen und religiöse Heuler Marke Jack Van Impe zeigte, hatte abgeschaltet.
Nick machte den Fernseher aus, ging zum Truck Stop und bereitete Suppe und Sandwiches für zwei Personen. Es hatte für ihn etwas Unheimliches an sich, daß alle Straßenlampen noch angingen, die sich inmitten von weißen Lichtpfützen in beide Richtungen der Main Street erstreckten. Auf dem Weg zu Jane Bakers Haus kam eine Meute von etwa drei oder vier Hunden auf ihn zu, offenbar ausgehungert und gefräßig, weil sie rochen, was er im Korb hatte. Nick zog den Fünfundvierziger, aber er brachte es nicht übers Herz abzudrücken, bis einer der Hunde versuchte, ihn zu beißen. Er feuerte, und die Kugel schlug fünf Schritte entfernt vom Beton ab und hinterließ einen silbernen Bleistreifen. Er hörte den Knall nicht, aber er spürte das dumpfe Pochen der Vibration. Die Hunde stoben auseinander und liefen weg.
Jane schlief, ihre Stirn und Wangen waren heiß, ihr Atem ging schwer und langsam. Nick fand, sie sah ganz verfallen aus. Er nahm einen kalten Waschlappen und wischte ihr das Gesicht ab. Er stellte ihr das Essen auf den Nachttisch, ging nach unten ins Wohnzimmer und schaltete Bakers großes Farbfernsehgerät an.
CBS sendete die ganze Nacht nicht. NBC sendete das reguläre Programm, aber das Bild des örtlichen Senders der ABC verschwamm immer wieder, manchmal war nur Schnee auf dem Bildschirm, dann plötzlich war das Bild wieder klar. Über den ABCKanal kamen nur Wiederholungen, als sei die Verbindung zur Sendezentrale abgeschnitten. Das war unwichtig. Nick wartete auf die Nachrichten.
Als sie kamen, war er völlig verblüfft. Zuerst wurde über die »SuperGrippe-Epidemie« berichtet, wie man es jetzt nannte, aber die Nachrichtensprecher beider Sender sagten, man sei im Begriff, sie unter Kontrolle zu bringen. Das Seuchenkontrollzentrum in Atlanta habe einen Impfstoff entwickelt, Anfang nächster Woche könne man sich vom Arzt eine Spritze geben lassen. Besorgniserregend sei die Krankheit in New York, San Francisco, Los Angeles und London ausgebrochen, aber sie habe überall eingedämmt werden können. In einigen Gebieten, fuhr der Sprecher fort, hätten öffentliche Versammlungen vorläufig gestrichen werden müssen.
In Shoyo, dachte Nick, war die ganze Stadt gestrichen worden. Wer hielt hier wen zum Narren?
Der Nachrichtensprecher schloß mit der Meldung, in den Ballungsgebieten unterliege der Reiseverkehr gewissen Beschränkungen, die aber aufgehoben werden sollten, sobald der neue Impfstoff allgemein zur Verfügung stand. Dann meldete der Sprecher einen Flugzeugabsturz in Michigan und verlas die Kommentare einiger Kongreßabgeordneter zu der die Bürgerrechte der Homosexuellen betreffenden Entscheidung des Obersten Bundesgerichts.
Nick schaltete das Gerät aus und ging auf die Veranda der Bakers. Er setzte sich auf die Hollywoodschaukel. Die Schaukelbewegung wirkte beruhigend auf ihn, und das Quietschen der rostigen Stellen, die John Baker immer wieder zu ölen vergessen hatte, konnte er nicht hören. Er beobachtete Glühwürmchen, die unregelmäßige Lichtmuster in die Dunkelheit zeichneten. Blitze fuhren durch die Wolken am Horizont, so daß sie aussahen, als hätten sie ihre eigenen Glühwürmchen, wahre Ungeheuer von Glühwürmchen, so groß wie Dinosaurier. Die Nacht war stickig und schwül.
Weil das Fernsehen für Nick lediglich ein visuelles Medium war, hatte er bei der Nachrichtensendung einiges bemerkt, was anderen vielleicht nicht aufgefallen wäre. Man hatte keine Filmausschnitte gezeigt, keinen einzigen. Man hatte keine Baseballergebnisse gebracht, vielleicht weil keine Baseballspiele stattgefunden hatten. Einen vagen Wetterbericht, und die Karte der Hoch– und Tiefdruckgebiete war ausgeblieben. Es war, als hätte das Meteorologische Bundesamt den Laden dichtgemacht. Nick vermutete, daß das tatsächlich der Fall war.
Beide Nachrichtensprecher hatten nervös und aufgeregt gewirkt. Einer war offensichtlich erkältet, er hatte einmal ins Mikrophon gehustet und sich anschließend entschuldigt. Beide Sprecher hatten vor der Kamera ständig nach rechts und links gesehen... als wäre jemand bei ihnen im Studio, der darauf achtete, daß sie nichts falsch machten.
Das war am Abend des 24. Juni; er schlief unruhig auf der vorderen Veranda der Bakers, und seine Träume waren sehr schlimm. Und jetzt, am Nachmittag des folgenden Tages, sah er Jane Baker sterben, diese wunderbare Frau... und er konnte ihr kein tröstendes Wort sagen.
Sie zupfte an seiner Hand. Nick betrachtete ihr blasses, erschöpftes Gesicht. Die Haut war jetzt trocken, der Schweiß verdunstet, was ihm allerdings weder Trost noch Zuversicht spendete. Sie starb. Er kannte die Anzeichen inzwischen.
»Nick«, sagte sie lächelnd. Sie nahm eine seiner Hände zwischen die ihren. »Ich möchte Ihnen nochmals danken. Niemand will ganz alleine sterben, oder?«
Er schüttelte heftig den Kopf, und sie begriff, daß er damit ihrer Bemerkung nicht zustimmte, sondern nachdrücklich widersprach.
»Doch, ich sterbe«, entgegnete sie. »Machen Sie sich nichts draus.
Dort im Schrank hängt ein Kleid, Nick. Ein weißes. Sie erkennen es an...« Ein Hustenanfall unterbrach sie. »... an den Spitzen. Das habe ich im Zug getragen, als wir in die Flitterwochen gefahren sind. Es paßt mir noch... jedenfalls hat es gepaßt. Inzwischen dürfte es mir etwas zu groß sein, weil ich abgenommen habe, aber das macht nichts. Es war immer mein Lieblingskleid. John und ich waren am Lake Ponchetrain. Das waren die beiden glücklichsten Wochen meines Lebens. John hat mich immer glücklich gemacht. Denken Sie an das Kleid, Nick? Ich möchte darin begraben werden. Es ist Ihnen doch nicht peinlich, mich... mich anzuziehen, oder?«
Er schluckte heftig, schüttelte den Kopf und sah auf die Tagesdecke. Sie schien seine Mischung aus Traurigkeit und Unbehagen zu spüren, denn sie erwähnte das Kleid nicht noch einmal. Statt dessen sprach sie von anderen Dingen – heiter, fast kokett. Sie hatte an der High School einen Vortragswettbewerb gewonnen und war daraufhin zum staatlichen Wettbewerb von Arkansas geschickt worden, und dort war ihr der knappe Slip heruntergerutscht und um die Knöchel liegengeblieben, als sie gerade den brausenden Höhepunkt von Shirley Jacksons »Die Teufelsbraut« erreicht hatte. Sie erzählte von ihrer Schwester, die als Mitglied einer Missionarsgruppe der Baptisten Vietnam besucht hatte und nicht mit einem oder zwei Adoptivkindern zurückgekommen war, sondern gleich mit dreien. Von einem Campingausflug, den sie und John vor drei Jahren gemacht hatten, und wie ein wütender Elch in Hitze sie auf einen Baum gejagt und den ganzen Tag da oben festgehalten hatte.
»Wir saßen auf dem Ast und haben geturtelt«, sagte sie schläfrig, »wie ein paar High-School-Kids auf dem Balkon. Meine Güte, war er in einem Zustand, als wir wieder runter konnten... Er... wir... haben uns geliebt... so sehr geliebt... Liebe sorgt dafür, daß die Welt sich dreht, das war immer meine Meinung... nur die Liebe ermöglicht es Männern und Frauen, in einer Welt aufrecht zu stehen, in der die Schwerkraft sie immer nach unten zieht... niederdrücken will... damit sie kriechen... wir haben... uns so sehr geliebt...«
Sie döste ein und schlief, bis er sie wieder weckte, indem er den Vorhang zurückzog oder vielleicht nur auf eine quietschende Diele trat; sie war im Delirium.
» John!« schrie sie jetzt mit verschleimter Stimme. » O John, ich kapier' diese elende Lenkradschaltung nie! John, du mußt mir helfen! Du mußt...«
Ihre Worte verstummten in einem langen, rasselnden Keuchen, das er zwar nicht hören konnte, aber trotzdem spürte. Ein dünnes Rinnsal dunkelroten Blutes floß ihr aus einem Nasenloch. Sie fiel aufs Kissen zurück, ihr Kopf schnappte einmal, zweimal, dreimal hin und her, als hätte sie eine lebenswichtige Entscheidung getroffen und die Antwort war nein.
Dann lag sie still.
Nick legte die Hand schüchtern auf ihren Hals, die Innenseite des Handgelenks zwischen die Brüste. Nichts. Sie war tot. Die Uhr auf dem Nachttisch tickte gewichtig, aber keiner der beiden hörte sie. Er legte einen Moment den Kopf auf die Knie und weinte auf die ihm eigene stumme Weise. Du kannst nicht mehr machen als die Tränen kurz rauslassen,hatte Rudy einmal zu ihm gesagt, aber in einer Seifenopernwelt macht sich das gut.
Er wußte, was als nächstes kam, wollte es aber nicht tun. Es war nicht fair, schrie ein Teil von ihm. Es war nicht seine Sache. Aber da sonst niemand da war – möglicherweise im Umkreis von Meilen nicht -, mußte er es wohl oder übel erledigen. Entweder das, oder er mußte sie hier liegen und verwesen lassen, und das brachte er nicht fertig. Sie war freundlich zu ihm gewesen, und er hatte nicht viele Menschen getroffen, von denen er das sagen konnte, ob krank oder gesund. Er sollte wohl besser gleich damit anfangen. Je länger er hier saß und nichts tat, desto mehr würde ihm vor der Aufgabe grauen. Er wußte, wo das Bestattungsinstitut Curtis war – drei Blocks weiter, einen Block westlich. Und draußen war es sicher heiß.
Er zwang sich, aufzustehen und zum Schrank zu gehen, und er hoffte, das weiße Flitterwochenkleid wäre nur Teil ihres Deliriums gewesen. Aber es war da. Es war durch die Jahre etwas vergilbt, aber er erkannte es trotzdem. An den Spitzen. Er holte es heraus und legte es auf die Bank am Fußende des Bettes. Er betrachtete das Kleid, betrachtete die Frau und dachte: Heute wird es ihr mehr als nur etwas zu groß sein. Die Krankheit, was auch immer sie sein mochte, war grausamer zu ihr gewesen, als sie geahnt hatte... aber das ist wohl besser so.
Er ging widerstrebend zu ihr und zog ihr das Nachthemd aus. Als sie nackt vor ihm lag, verschwand das Grauen, und er empfand nur Mitleid – ein Mitleid, das so tief in ihm saß, daß es schmerzte und er wieder zu weinen anfing, während er ihren Leichnam wusch und ankleidete, so wie sie auf dem Weg zum Lake Ponchetrain gekleidet gewesen war. Und als sie angezogen war wie an diesem besagten Tag, nahm er sie auf die Arme und trug sie in Spitzen, oh, in Spitzen, zum Bestattungsinstitut; er trug sie wie ein Bräutigam, der seine Braut auf den Armen über eine endlose Schwelle trug.
26
Eine Studentenvereinigung, möglicherweise die Students for a Democratic Society oder die Young Maoists, hatte in der Nacht vom 25. auf den 2.6. Juni emsig an der Druckerpresse gearbeitet. Am nächsten Morgen waren überall auf dem Campus der University of Kentucky in Louisville folgende Plakate angeklebt:
ACHTUNG! ACHTUNG! ACHTUNG! ACHTUNG!
IHR WERDET BELOGEN! DIE REGIERUNG BELÜGT EUCH ALLE! DIE PRESSE, DIE SICH IN DEN HÄNDEN DER PARAMILITÄRISCHEN POLIZEI BEFINDET, BELÜGT EUCH! DIE VERWALTUNG DIESER UNIVERSITÄT BELÜGT EUCH, EBENSO DIE ÄRZTESCHAFT – AUF BEFEHL DER REGIERUNG!
ES GIBT KEINEN IMPFSTOFF GEGEN DIE SUPERGRIPPE
DIE SUPERGRIPPE IST KEINE ERNSTE KRANKHEIT, SIE IST EINE TÖDLICHE KRANKHEIT
DIE ANSTECKUNGSGEFAHR LIEGT MÖGLICHERWEISE ÜBER 75%
DIE SUPERGRIPPE WURDE VON DEN PARAMILITÄRISCHEN KRÄFTEN DER USA ENTWICKELT UND DURCH EINEN UNFALL FREIGESETZT
DIE PARAMILITÄRISCHEN POLIZEITRUPPEN DER USA HABEN NUN DIE ABSICHT, IHREN MÖRDERISCHEN UNFALL ZU VERTUSCHEN, AUCH WENN ES BEDEUTET, DASS 75% DER BEVÖLKERUNG STERBEN WERDEN!
GRÜSSE AN ALLE REVOLUTIONÄREN KRÄFTE! DIE ZEIT FÜR UNSEREN KAMPF IST GEKOMMEN! VEREINT EUCH, KÄMPFT, SIEGT!
GENERALVERSAMMLUNG UM 19.00 UHR IN DER SPORTHALLE! STREIK! STREIK! STREIK! STREIK! STREIK! STREIK!
Was sich bei WBZ-TV in Boston zutrug, war am Abend zuvor von drei Nachrichtensprechern und sechs Technikern geplant worden, die alle im Studio 6 arbeiteten. Fünf der Männer spielten regelmäßig zusammen Poker, sechs der neun waren bereits krank. Sie glaubten, daß sie nichts mehr zu verlieren hatten. Sie sammelten fast ein Dutzend Handfeuerwaffen. Bob Palmer, der die Morgennachrichten verlas, schaffte sie in einer Fliegertasche, in der er normalerweise seine Kugelschreiber und Notizblöcke transportierte, nach oben. Die gesamte Senderanlage war, hatte man ihnen mitgeteilt, von der Nationalgarde abgeriegelt worden, aber Palmer hatte George Dickerson am Abend zuvor gesagt, es wären die ersten Nationalgardisten über fünfzig, die er jemals gesehen hatte. Um 9.01 Uhr, als Palmer gerade angefangen hatte, eine Beschwichtigungsmeldung zu verlesen, die ihm zehn Minuten vorher ein Uffz der Armee gegeben hatte, fand der Coup statt. Die neun Männer brachten den Fernsehsender in ihre Gewalt. Die Soldaten, die keinen Widerstand von den verweichlichten Zivilisten erwartet hatten, welche Unglücksbotschaften normalerweise nur auf große Entfernungen verkündeten, waren vollkommen überrascht und wurden entwaffnet. Weiteres Senderpersonal beteiligte sich spontan an der Rebellion, räumte den gesamten sechsten Stock und verbarrikadierte sämtliche Türen. Die Fahrstühle wurden in den sechsten Stock gerufen, ehe die Soldaten im Erdgeschoß richtig begriffen, was los war. Drei Soldaten versuchten, die östliche Feuerleiter heraufzukommen, aber ein Hausmeister namens Charles Yorkin, der mit einem Armeekarabiner bewaffnet war, gab einen Warnschuß über ihre Köpfe hinweg ab. Das war der einzige Schuß, der abgefeuert wurde.
Zuschauer im Bereich des Senders WBZ-TV erlebten mit, wie Bob Palmer die Nachrichten mitten im Satz unterbrach, und hörten ihn sagen: »Okay, jetzt!« Gedämpfte Laute hinter der Kamera. Als sie aufhörten, sahen Tausende bestürzte Fernsehzuschauer, daß Bob Palmer jetzt eine Maschinenpistole in der Hand hielt. Eine heisere Stimme schrie jubilierend im Off: »Wir haben sie, Bob!
Wir haben die Drecksäcke! Wir haben sie alle!«
»Okay, gute Arbeit«, sagte Palmer. Dann blickte er wieder in die Kamera. »Mitbürger von Boston und Amerikaner in unserem Sendegebiet. Soeben ist in diesem Studio etwas Ernstes und ungeheuer Wichtiges geschehen, und ich bin froh, daß es hier in Boston, der Wiege der amerikanischen Unabhängigkeit, zuerst geschehen ist. Die letzten sieben Tage wurde dieser Sender von Männern bewacht, die sich als Nationalgardisten ausgaben. Bewaffnete Männer in Armeeuniformen standen neben unseren Kameramännern, in unseren Regiekabinen, neben den Fernschreibern. Wurden die Nachrichten gefälscht? Ich muß leider zugeben, daß es so ist. Man hat mir die Texte gegeben und mich praktisch buchstäblich mit einem Revolver am Kopf gezwungen, sie zu verlesen. Was ich Ihnen vorgelesen habe, hat mit der sogenannten >Supergrippe< zu tun, und es war alles von A bis Z erlogen.«
Auf der Schaltkonsole flackerten Lichter auf. Innerhalb von fünfzehn Minuten waren alle Lichter an.
»Unsere Kameraleute haben Aufnahmen gemacht, die entweder beschlagnahmt oder vorsätzlich vernichtet wurden. Die Artikel unserer Reporter sind verschwunden. Aber wir haben Filmaufnahmen, meine Damen und Herren, und wir haben Korrespondenten hier im Studio – keine professionellen Reporter, sondern Augenzeugen der größten Katastrophe, die jemals über unser Land hereingebrochen ist... und diese Worte verwende ich nicht leichtfertig. Wir werden Ihnen jetzt einen Teil des Filmmaterials zeigen. Alles wurde heimlich aufgenommen, die Bildqualität ist teilweise schlecht. Aber wir, die wir soeben unseren eigenen Fernsehsender befreit haben, sind der Meinung, Sie sehen genug. Vielleicht mehr, als Sie je sehen wollten.«
Er blickte auf, nahm ein Taschentuch aus dem Sportblazer und schneuzte sich. Zuschauer mit guten Farbfernsehern konnten erkennen, daß Palmers Gesicht gerötet und fiebrig aussah.
»Wenn du bereit bist, George, Film ab.«
Palmers Gesicht wurde durch Bilder aus dem General Hospital von Boston ersetzt. Die Stationen waren überfüllt. Patienten lagen auf den Böden. Die Flure waren gedrängt voll, Krankenschwestern, von denen viele sichtlich selbst krank waren, eilten hin und her, manche weinten hysterisch, andere schienen bis fast zum Koma unter Schock zu stehen.
Aufnahmen von Soldaten, die mit gezückten Waffen an Straßenecken standen. Aufnahmen von Gebäuden, in die eingebrochen worden war.
Bob Palmer erschien wieder. »Wenn Sie Kinder haben, meine Damen und Herren, dann geben wir Ihnen jetzt den Rat, sie aus dem Zimmer zu schicken.«
Die körnige Aufnahme eines Lastwagens, eines großen, olivfarbenen Armeelastwagens, der auf einen Pier im Charles River fuhr. Darunter schwankte unruhig eine mit Segeltuchplanen bedeckte Barke. Zwei Soldaten, denen Gasmasken ein fremdartiges, bedrohliches Aussehen verliehen, sprangen aus dem Führerhaus des Lastwagens. Das Bild wackelte, dann wurde es wieder ruhig, als sie die Plane am Heck des Lastwagens hochzogen. Sie sprangen hinein und warfen Leichen von der Ladefläche auf den Boden: Frauen, alte Männer, Kinder, Polizisten, Krankenschwestern; eine grausige Sturzflut, die nicht aufzuhören schien. Im Verlauf des Filmausschnitts wurde deutlich, daß die Soldaten sie mit Mistgabeln hinauswarfen. Palmer sendete zwei Stunden lang weiter. Mit zunehmend heiserer Stimme verlas er Meldungen, Berichte und interviewte andere Mitglieder seines Teams. Es ging so lange, bis jemand im Erdgeschoß dahinterkam, daß man nicht den sechsten Stock zurückerobern mußte, um der Sache ein Ende zu machen. Um 11.16 Uhr wurde der Sender von WBZ mit zwanzig Pfund Plastiksprengstoff endgültig lahmgelegt.
Palmer und die anderen im sechsten Stock wurden allesamt wegen Hochverrats an der Regierung der Vereinigten Staaten hingerichtet.
Es handelte sich um eine wöchentliche Kleinstadtzeitung in West Virginia mit Namen Durbin Call-Clarion, die von einem Anwalt im Ruhestand namens James D. Hogliss herausgegeben wurde und deren Auflage immer gut war, weil Hogliss Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre nachdrücklich für das Recht der Minenarbeiter, sich zu organisieren, eingetreten war und weil seine Anti-Establishment-Leitartikel immer voller Zündstoff waren, Marschflugkörper, die er gegen Regierungshandlanger auf allen Ebenen abfeuerte, von den städtischen bis zu den Bundesbehörden. Hogliss hatte eine Anzahl regelmäßiger Zeitungsausträger, aber an diesem klaren Sommermorgen fuhr er die Zeitung persönlich mit seinem 1948er Cadillac aus, dessen breite Weißwandreifen durch die Straßen von Durbin flüsterten ... und diese Straßen waren beängstigend verlassen. Die Zeitungen stapelten sich auf den Sitzen des Cadillacs und im Kofferraum. Es war nicht der übliche Erscheinungstag des Call-Clarion, aber die Zeitung bestand ohnedies nur aus einem einzigen, groß gesetzten Blatt in schwarzer Umrandung. Ganz oben stand das Wort EXTRA -AUSGABE, und es war die erste Extraausgabe, die Hogliss seit 1980 herausbrachte, als die Ladybird-Mine explodiert war und vierzig Minenarbeiter für alle Zeiten unter Felsmassen begraben hatte.
Die Schlagzeile lautete: REGIERUNGSTRUPPEN VERSUCHEN, SEUCHENAUSBRUCH ZU VERTUSCHEN!
Darunter: »Sondermeldung für den Call-Clarionvon James D. Hogliss.«
Und darunter: »Unserem Reporter wurde aus zuverlässiger Quelle mitgeteilt, daß die Grippeepidemie (die hier in West Virginia manchmal Röchelkrankheit oder Schleimtod genannt wird) in Wirklichkeit eine von der Regierung gezüchtete tödliche Mutation des normalen Grippevirus ist, die zur biologischen Kriegführung dienen sollte und damit in krassem Widerspruch zur revidierten Genfer Konvention steht, welche Repräsentanten der Vereinigten Staaten vor sieben Jahren unterzeichnet haben. Der Informant, ein jetzt in Wheeling stationierter Offizier der Armee, erklärte außerdem, dass Versprechungen eines in Kürze zur Verfügung stehenden Impfstoffs schamlose Lügen seien. Unserem Informaten zufolge wurde noch kein Impfstoff entwickelt.
Mitbürger, dies ist mehr als eine Katastrophe oder Tragödie, es bedeutet das Ende jeglichen Vertrauens in unsere Regierung. Sollten wir uns dies tatsächlich selbst eingebrockt haben, dann...«
Hogliss war krank und sehr schwach. Er schien beim Abfassen des Artikels seine letzten Kraftreserven verbraucht zu haben. Sie waren aus ihm in die Worte geflossen und nicht wieder ersetzt worden.
Seine Bronchien waren verschleimt, und selbst beim normalen Atmen war ihm zumute, als würde er bergauf laufen. Dennoch ging er methodisch vor, fuhr von Haus zu Haus und hinterließ eine Sonderausgabe, ohne überhaupt zu wissen, ob die Häuser noch bewohnt waren, und wenn, ob die Bewohner noch genügend Kraft hatten, herauszukommen und sich seine Mitteilung zu holen. Schließlich kam er zum westlichen Stadtteil, dem Elendsviertel mit seinen Hütten und Wohnwagen und dem stechenden Geruch von Desinfektionsmitteln. Jetzt hatte er nur noch den Kofferraum mit Zeitungen, den er offenließ, so daß die Klappe auf und ab wippte, wenn er über Straßenunebenheiten fuhr. Er versuchte, mit beängstigenden Kopfschmerzen fertig zu werden, und vor seinen Augen verschwamm immer wieder die Umgebung.
Als er das letzte Haus versorgt hatte, eine halbverfallene Hütte nahe Rack's Crossing, der Stadtgrenze, hatte er immer noch ein Bündel mit etwa fünfundzwanzig Zeitungen. Er schnitt mit seinem alten Taschenmesser die Schnur durch, mit der sie zusammengebunden waren, und ließ sie vom Wind dorthin wehen, wohin es dem Wind gefiel, wobei er an seinen Informanten dachte, einen Major mit dunklen, gequälten Augen, der erst vor drei Monaten von einem streng geheimen >Probjekt Blau< in Kalifornien abkommandiert worden war. Der Major hatte Sicherheitsaufsicht im Außenbereich gehabt, und er fingerte ständig an der Pistole an der Hüfte herum, während er Hogliss alles erzählte, was er wußte. Hogliss dachte, es würde nicht mehr lange dauern, bis der Major von der Waffe Gebrauch machen würde, wenn er es nicht schon getan hatte. Er kletterte wieder hinter das Lenkrad seines Cadillac, das einzige Auto, das er je besessen hatte, seit er siebenundzwanzig Jahre alt gewesen war, und stellte fest, daß er zu müde war, um in die Stadt zurückzufahren. Daher lehnte er sich schläfrig zurück, lauschte dem Rasseln in der Brust und sah zu, wie der Wind seine Extraausgabe träge die Straße entlang Richtung Rack's Crossing wehte. Manche Zeitungen waren in den Zweigen von Bäumen hängengeblieben und sahen aus wie seltsame Früchte. Er konnte das Rauschen und Blubbern des Durbin Stream in der Nähe hören, wo er als Junge geangelt hatte. Heute gab es nat ürlich keine Fische mehr darin – dafür hatten die Kohlefirmen gesorgt -, aber das Geräusch war immer noch beruhigend. Er machte die Augen zu, schlief ein und starb anderthalb Stunden später.
Die Los Angeles Timesdruckte nur 26000 Exemplare ihrer aus einer Seite bestehenden Sonderausgabe, bis die diensthabenden Offiziere herausfanden, daß es sich nicht um eine Werbebeilage handelte, wie es geheißen hatte. Die Strafe war rasch und blutig. Offizielle Verlautbarungen des FBI verkündeten, daß »radikale Revolutionäre«, die alterprobten Buhmänner, einen Bombenanschlag auf das Büro der L. A. Times verübt hatten, bei dem achtundzwanzig Mitarbeiter ums Leben gekommen waren. Das FBI mußte nicht erklären, wie die achtundzwanzig Mitarbeiter bei der Explosion sämtlich eine Kugel in den Kopf bekommen konnten, denn die Opfer wurden zusammen mit Tausenden anderen, Opfer der Epidemie, im Meer versenkt.