Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Immer wieder hörten sie das tiefe Grollen der Lawinen. Manchmal weit weg. Manchmal ganz nah. Am zwölften war eine Lawine hinter ihnen zu Tal gegangen und hatte die Spur des Schneemobils, das dort vor einer halben Stunde vorbeigezogen war, unter Tonnen von Pappschnee begraben. Stu fürchtete jeden Tag mehr, daß die Vibrationswellen, die der Motor des Schneemobils produzierte, sie letzten Endes umbringen würden, indem sie eine Lawine auslösten, die sie schon zehn Meter tief begraben hätte, bevor sie wußten, was ihnen geschah. Der weiße Tod. Aber jetzt konnten sie nichts tun, als Tempo zu machen und das Beste zu hoffen.
Als dann die Temperatur sank und die Lawinengefahr etwas nachließ, gab es wieder einen Sturm, der sie am Weiterfahren hinderte. Nach zwei Tagen schaufelten sie sich frei und machten sich erneut auf den Weg... und nachts heulten die Wölfe. Manchmal klang ihr Geheul weit entfernt, aber manchmal war es so nah, dass man glauben konnte, sie stünden direkt vo r dem Zelt. Dann erhob sich Kojak und ließ – angespannt wie eine Stahlfeder – ein tiefes Grollen hören. Aber die Temperaturen blieben tief und die Häufigkeit der Lawinen ließ nach, wenngleich am Achtzehnten wieder eine in unmittelbarer Nähe an ihnen vorüberfegte.
Am 22. Dezember, unweit der Stadt Avon, verlor Stu die Orientierung und kam mit dem Schneemobil vom Highway ab. Für ein paar Sekunden fuhren sie im gewohnten Zehn-Meilen-Tempo weiter, ruhig und sicher, wirbelten Wolken von Schnee hinter sich auf. Tom hatte Stu gerade auf die unter ihnen liegende Stadt aufmerksam gemacht, die mit ihrem weißen Kirchturm und den hohen, jungfräulichen Schneewehen, die bis zu den Dachvorsprüngen der Häuser reichten, still und idyllisch dalag wie auf einem Postkartenfoto. Im nächsten Augenblick senkte sich die Motorhaube des Schneemobils steil nach vorn.
»Verdammte Scheiße...«, sagte Stu, und mehr zu sagen reichte die Zeit nicht.
Das Schneemobil kippte noch steiler ab. Stu riß den Gashebel zurück, aber es war zu spät. Er und Tom hatten das seltsame Gefühl der Schwerelosigkeit, jenes Gefühl, das man verspürt, wenn man von einem Sprungbrett in die Höhe getragen wird und den Scheitelpunkt erreicht, an dem Schwerkraft und Sprungenergie sich die Waage halten. Sie wurden kopfüber aus dem Schneemobil geschleudert. Stu verlor Tom und Kojak aus den Augen. Kalter Schnee drang ihm in die Nase. Als er den Mund öffnete, um zu schreien, rutschte ihm eine eiskalte Portion in den Hals; im nächsten Moment fegte der Schnee über den Rücken seines Mantels hinweg. Taumelnd, rollend, sich überschlagend, rutschte er einen steilen Hang hinunter, bis eine tiefe weiße Schneedecke seinen Sturz beendete.
Stu kämpfte sich wie ein Schwimmer in die Höhe, atmete keuchend die glutheiße Luft. Seine Kehle war wie vereist.
»Tom!« rief er, den Schnee unter sich festtretend. Verrückt, aber er konnte von hier aus genau jene Stelle erkennen, an der sie vom Highway abgekommen waren, wobei sie ihre eigene kleine Lawine ausgelöst hatten. Das Heck des Schneemobils ragte etwa fünfzehn Meter tiefer am Hang aus dem Schnee. Es sah aus wie eine orangefarbene Boje. Seltsam, wie sehr man der Metaphorik von Wasser und Weite verhaftet war... und, verdammt noch mal, sass Tom noch im Sitz und ertrank?
»Tom! Tommy!«
Kojak brach durch die Schneeoberfläche. Er sah aus, als wäre er von Kopf bis Schwanz mit Puderzucker bestäubt worden. Er wühlte sich in Richtung Stu durch den Schnee.
»Kojak!« brüllte Stu. »Such Tom! Such Tom!«
Kojak bellte und versuchte, sich wieder in Gegenrichtung voranzukämpfen. Er hielt auf eine zerwühlte Stelle am verschneiten Hang zu und bellte wieder. Schwankend, stürzend, Schnee schluckend erreichte schließlich auch Stu diese Stelle. Er wühlte in der weißen Masse herum. Seine behandschuhte Rechte bekam Toms Jacke zu fassen, und Stu zerrte mit aller Kraft daran, zog Tom hervor. Tom würgte und keuchte, und beide stürzten erschöpft auf den Rücken und blieben liegen. Tom begann zu wimmern.
»Meine Kehle! So heiß! Heiß! Meine Fresse, ach du meine Fresse...«
»Ist die Kälte, Tom. Das geht vorbei.«
»Tom wäre fast ersti...«
»Jetzt ist alles in Ordnung, Tom. Jetzt wird alles wieder gut.«
Sie blieben liegen, bis sie halbwegs zu Atem gekommen waren. Dann legte Stu Tom den Arm um die Schultern, um den großen Kerl zu beruhigen, das Zittern zu stillen. Ein Stück entfernt ging mit dumpfem Rumoren, das bedrohlich anschwoll und dann allmählich verklang, eine weitere Lawine nieder.
Sie brauchten den Rest dieses Tages, um die dreiviertel Meile zwischen dem Unfallort und der Stadt Avon zurückzulegen. Es gab keine Möglichkeit, das Schneemobil oder einen der Ausrüstungsgegenstände zu bergen, die daran festgezurrt waren; der Hang war einfach zu steil und zu gefährlich. Das Schneemobil würde mindestens bis zum Frühjahr bleiben, wo es war – vielleicht auch für immer, so, wie die Dinge jetzt lagen.
Sie erreichten die Stadt eine halbe Stunde nach Einbruch der Dämmerung. Es war zu kalt und zu windig, als daß sie irgend etwas anderes hätten unternehmen können, als ein Feuer zu entfachen, um einen halbwegs warmen Platz für die Nacht zu haben. Ihr Schlaf war traumlos – der Schlaf der völligen Erschöpfung. Am folgenden Morgen beschäftigten sie sich damit, sich neu auszurüsten. In der Kleinstadt Avon war dies eine weit schwierigere Aufgabe als seinerzeit in Grand Junction. Wieder erwog Stu die Möglichkeit, einfach hier zu bleiben und zu überwintern. Hätte er Tom gesagt, dies sei das richtige – Tom hätte erst gar keine Fragen gestellt. Zu deutlich hatte die gestrige Lektion gelehrt, was Leuten passieren kann, die ihr Glück herausfordern. Aber letztendlich verwarf Stu den Gedanken, in Avon zu bleiben. Das Baby würde, wenn alles gutging, Anfang Januar geboren werden. Er wollte an Ort und Stelle sein, wenn es zur Welt kam. Er wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß mit dem Baby alles in Ordnung war. Am Ende von Avons kurzer Hauptstraße stießen sie auf eine JohnDeere-Niederlassung, und in der Werkstatt hinter dem Ausstellungsraum fanden sie zwei gebrauchte Deere -Schneemobile. Keines von beiden war zwar annähernd so leistungsstark wie die Maschine des Highway Department, die Stu von der Straße gelenkt hatte, aber eine der beiden hatte eine besonders breite Spurweite, und Stu glaubte, daß sie ihren Zweck erfüllen würde. Nahrungskonzentrate fanden sie nicht, also mußten sie sich wieder auf Konserven verlegen. Die zweite Tageshälfte verbrachten sie damit, Häuser auf der Suche nach Campingausrüstungen zu durchstöbern, eine Arbeit, die keinem von beiden schmeckte. Überall fanden sich Opfer der Seuche; Leichen, die sich in verweste, grotesk deformierte Schaustücke einer Eishöhle verwandelt hatten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fanden sie das meiste von dem, was sie den Tag über vergeblich gesucht hatten, in einer großen Ferienpension in unmittelbarer Nähe der Hauptstraße. Bevor die Supergrippe zugeschlagen hatte, war die Pension offensichtlich bis auf den letzten Platz von jungen Leuten belegt gewesen – jener Sorte junger Leute, die nach Colorado kamen, um all die Dinge zu tun, die John Denver zu besingen pflegte. Allerdings fand Tom in einem versteckten Winkel unter der Treppe eine große grüne PlastikAbfalltüte, die mit einer Spielart von »Rocky Mountain High« gefüllt war, die eine durchschlagende Wirkung haben mußte.
»Was ist das? Ist es Tabak, Stu?«
Stu grinste. »Na ja, das haben vermutlich so einige andere Leute auch gedacht. Es ist Narrenkraut, Tom. Leg's dorthin zurück, wo du's gefunden hast.«
Sie beluden sorgfältig das Schneemobil, verstauten die Konserven, schnürten neue Schlafsäcke und Zeltbahnen an das Fahrzeug. Inzwischen leuchteten die ersten Sterne auf, und sie beschlossen, noch eine weitere Nacht in Avon zu verbringen.
Während sie langsam über den verharschten Schnee zum Haus fuhren, in dem sie ihr Quartier aufgeschlagen hatten, kam Stu eine ziemlich verblüffende Erkenntnis: morgen war Heiligabend. Es erschien ihm unglaublich, daß die Zeit so schnell vergangen war, aber ein Blick auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr bestätigte dies. Sie hatten Grand Junction vor mehr als drei Wochen verlassen. Als sie das Haus erreichten, sagte Stu: »Geh du schon mal mit Kojak rein und mach ein Feuer an. Ich habe noch eine kleine Besorgung zu machen.«
»Was ist es denn, Stu?«
»Na ja, es soll eine Überraschung sein«, sagte Stu.
»Überraschung? Werde ich erfahren, was es ist?«
»Ja.«
»Wann?« Toms Augen leuchteten auf.
»In ein paar Tagen.«
»Ein paar Tage kann Tom Cullen nicht auf eine Überraschung warten, meine Fresse, nein.«
»Tom Cullen wird's aber müssen«, sagte Stu grinsend. »In einer Stunde bin ich zurück.«
»Tja... okay.«
Es dauerte länger als anderthalb Stunden, bis Stu genau das gefunden hatte, was er suchte. Nach seiner Rückkehr versuchte Tom ihn auszuquetschen, aber Stu hielt den Mund, und als sie sich schließlich zur Ruhe begaben, hatte Tom die Geschichte bereits völlig vergessen.
Als sie in der Dunkelheit lagen, sagte Stu: »Ich wette, jetzt wünschst du dir, wir wären in Grand Junction geblieben, was?«
»Meine Fresse, nein«, antwortete Tom schläfrig. »Ich möchte so schnell ich kann zu meinem kleinen Haus zurück, nichts weiter. Ich hoffe nur, wir kommen nicht noch mal von der Straße ab und fallen in den Schnee. Tom Cullen wäre fast erstickt!«
»Wir müssen einfach langsamer fahren und uns mehr Mühe geben«, sagte Stu und verschwieg wohlweislich, was wahrscheinlich mit ihnen passierte, fallses noch einmal passierte... zu Fuß konnten sie dann keinen Zufluchtsort mehr erreichen.
»Wann glaubst du, kommen wir an, Stu?«
»Es wird noch ein Weilchen dauern, alter Quälgeist. Aber wir werden ankommen. Und ich glaube, jetzt sollten wir besser schlafen, nicht wahr?«
»Glaub' ich auch.«
Stu löschte das Licht.
In dieser Nacht träumte er, daß Frannie und ihr gräßliches Wolfskind bei der Geburt gestorben seien. Aus weiter Ferne hörte er George Richardson sagen: Es ist die Grippe. Wegen der Grippe wird es keine Babys mehr geben. Schwangerschaft ist Tod, wegen der Grippe. Ein Huhn in jeden Topf und ein Wolf in jede Gebärmutter. Wegen der Grippe. Wir sind erledigt. Die ganze Menschheit ist erledigt. Wegen der Grippe.
Und von irgendwoher, sehr viel näher, schloß sich an diese Worte das heulende Gelächter des dunklen Mannes an.
Am Heiligen Abend begann eine Zeit des schnellen, ungestörten Vorankommens, die fast bis zum Neuen Jahr andauern sollte. Die Schneedecke war in der Kälte verharscht. Der Wind wirbelte Wolken von Eiskristallen darüber hinweg und häufte sie zu kleinen, pulverigen, fischgrätenartigen Dünen auf, die das John-DeereSchneemobil mühelos durchschnitt. Stu und Tom trugen Sonnenbrillen zum Schutz gegen Schneeblindheit.
Heiligabend kampierten sie nach ihrer ersten Tagesetappe vierundzwanzig Meilen östlich von Avon, in der Nähe von Silverstone. Sie hatten jetzt den Zugang zum Loveland-Paß erreicht, und der verstopfte, begrabene Eisenhower Tunnel lag irgendwo im Osten tief unter ihnen. Während sie warteten, bis ihr Abendessen aufgewärmt war, machte Stu eine überraschende Entdeckung. Als er, um sich die Zeit zu vertreiben, mit einer Axt die verharschte Schneedecke aufschlug und mit der Hand den pulvrigen Schnee darunter hervorwühlte, ertastete er genau an der Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, in Armestiefe eine glatte Metalloberfläche. Fast hätte er Tom auf seine Entdeckung aufmerksam gemacht, doch er ließ es bleiben. Es war ein höchst unbehaglicher Gedanke, daß sie weniger als einen halben Meter über einer Stelle lagerten, unter der sich ein Fahrzeugstau befand... weniger als einen halben Meter über Gott weiß wie vielen Leichen.
Als Tom am Morgen des Fünfundzwanzigsten um halb sieben erwachte, war Stu schon auf und machte Frühstück. Das war erstaunlich, denn sonst erwachte Tom immer zuerst. Über dem Feuer hing ein Topf mit Campbell's Gemüsesuppe, der gerade anfing zu brodeln. Kojak beobachtete den Topf mit großer Begeisterung.
»Guten Morgen, Stu«, sagte Tom, zog sich die Jacke zu und kroch aus seinem Schlafsack.
»Morgen«, antwortete Stu beiläufig. »Und ein frohes Weihnachtsfest.«
»Weihnachtsfest?« Tom sah ihn an und vergaß ganz, daß er so dringend pinkeln mußte. » Weihnachten?« sagte er noch einmal.
»Weihnachtsmorgen.« Er zeigte mit dem Daumen zu einer Stelle links von Tom. »Was Besseres konnte ich nicht auftreiben.«
In der Schneekruste steckte die etwa sechzig Zentimeter hohe Spitze einer Tanne. Sie war mit kleinen silberglänzenden Eiszapfen geschmückt. Stu hatte sie im Hinterzimmer des Avon Five and Ten gefunden.
»Ein Baum«, flüsterte Tom ehrfurchtsvoll. »Und Geschenke. Das sind doch Geschenke, nicht wahr, Stu?«
Im Schnee unter dem Baum lagen drei Pakete, alle in hellblaues Seidenpapier mit silbernen Hochzeitsglocken eingewickelt – Weihnachtspapier hatte er im Five and Ten nicht gefunden, nicht einmal im Hinterzimmer.
»Ganz richtig, das sind Geschenke. Für dich. Ich nehme an, sie sind vom Weihnachtsmann.«
Tom sah Stu böse an. »Tom Cullen weiß, daß es keinen Weihnachtsmann gibt! Meine Fresse, nein! Sie sind von dir!« Er sah jetzt bekümmert aus. »Und ich hab' überhaupt nichts für dich! Ich hab' es vergessen... ich wußte nicht, daß Weihnachten ist... ich bin dumm! Dumm!« Er ballte die Faust und schlug sich vor die Stirn. Er war den Tränen nahe.
Stu hockte sich neben ihn in den Schnee. »Tom«, sagte er. »Du hast mir dein Weihnachtsgeschenk doch schon vorher gegeben.«
»Nein, Sir, hab' ich nicht. Hab' ich vergessen. Tom Cullen ist ein Dummkopf. M-O-N-D, und das buchstabiert man Dummkopf.«
»Bist du nicht. Du hast mir das allerschönste Weihnachtsgeschenk gemacht. Ich lebe noch. Und das habe ich dir zu verdanken.«
Tom sah ihn verständnislos an.
»Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst, hätte ich an dem unterspülten Straßenstück westlich von Green River sterben müssen. Und wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich im Utah Hotel an Lungenentzündung oder Grippe oder was es auch immer war sterben müssen. Ich weiß nicht, wie du die richtigen Pillen gefunden hast... ob es Nick war oder Gott oder ganz einfach Glück, aber du hast sie gefunden. Du bist ja verrückt, dich einen Dummkopf zu nennen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich dieses Weihnachtsfest nie erlebt. Ich bin tief in deiner Schuld.«
»Ach, das ist doch nicht dasselbe«, sagte Tom, aber er strahlte über das ganze Gesicht.
»Es ist dasselbe«, sagte Stu ernst.
»Aber...«
»Komm, mach deine Geschenke auf. Schau nach, was er dir gebracht hat. Ich habe doch mitten in der Nacht seinen Schlitten gehört. Ich denke, bis zum Nordpol ist die Grippe nicht gekommen.«
»Du hast ihn gehört?« Tom sah Stu mißtrauisch an, um zu sehen, ob er ihn auch nicht anschwindelte.
»Irgend etwas habe ich gehört.«
Tom nahm das erste Paket und wickelte es sorgfältig aus – ein batteriebetriebener kleiner Spielautomat, von der Art, wie ihn sich die meisten Kinder schon im vergangenen Jahr zu Weihnachten gewünscht hatten. Er war in eine Plastikfolie eingeschweißt. Toms Augen leuchteten, als er ihn sah.
»Schalt ihn an«, sagte Stu.
»Nein, ich will erst sehen, was ich sonst noch gekriegt habe.«
Es war ein Sweatshirt mit einem völlig erschöpften Skiläufer auf krummen Skiern, der sich auf seine Skistöcke stützt.
»Darunter steht ICH WAR AUF DEM LOVELAND PASS«, erklärte Stu. »So weit sind wir zwar noch nicht, aber ich glaube, wir werden's schaffen.«
Tom zog sofort seinen Parka aus, streifte das Sweatshirt über und zog den Parka wieder an.
»Toll! Wirklich toll, Stu!«
Das letzte Paket war das kleinste. Es enthielt einen schlichten Silberanhänger an einer feinen Gliederkette aus Silber. Tom kam die Figur vor wie eine liegende Acht. Er hielt sie hoch und betrachtete sie erstaunt.
»Was ist das, Stu?«
»Es ist ein griechisches Symbol. Das weiß ich noch aus irgendeiner Fernsehsendung. Es bedeutet Unendlichkeit, Tom. Immer und ewig.« Er streckte den Arm nach Tom aus und nahm die Hand, die die Figur hielt. »Ich glaube, wir werden Boulder erreichen, Tommy. Ich glaube, das war uns von Anfang an bestimmt. Ich möchte gern, daß du es trägst, wenn es dir nichts ausmacht. Und wenn du irgendwann etwas brauchst und nicht weißt, wen du fragen sollst, dann schau dieses Symbol an und denk an Stuart Redman. Okay?«
»Unendlichkeit«, sagte Tom und drehte die Figur in der Hand.
»Immer und ewig.«
Er hängte sich die Kette um den Hals.
»Ich werde daran denken«, sagte er. »Tom Cullen wird daran denken.«
»Scheiße! Das hätte ich doch fast vergessen!« Stu griff in seinen Schlafsack und holte noch ein Paket hervor. »Frohes Weihnachtsfest, Kojak! Ich will es mal für dich aufmachen.« Er entfernte das Papier, und ein Karton HartzMountain-Hundekuchen kam zum Vorschein. Er warf eine Handvoll in den Schnee, und Kojak verschlang sie mit Heißhunger. Dann stellte er sich vor Stu und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
»Später gibt's mehr«, sagte Stu. »Lerne endlich Manieren, bei allem, was du tust, wie der alte Glatzkopf gesagt... gesagt hätte.« Er merkte, wie seine Stimme brüchig wurde und ihm Tränen in die Augen traten. Plötzlich vermißte er Glen, vermißte Larry, vermißte Ralph mit seinem Federhut. Plötzlich vermißte er sie alle, sie alle, die gestorben waren, vermißte sie schrecklich. Mutter Abagail hatte gesagt, sie würden durch Ströme von Blut waten, bis alles vorüber sei, und sie hatte recht gehabt. In seinem Herzen verfluchte und segnete Stuart Redman sie gleichzeitig.
»Stu? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, Tommy, alles klar.« Plötzlich umarmte er Tom heftig, und Tom erwiderte die Umarmung. »Frohe Weihnachten, du alter Klotz.«
Zögernd sagte Tom: »Darf ich noch singen, bevor wir gehen?«
»Gern, wenn du möchtest.« Stu erwartete »Jingle B ells« oder »Frosty the Snowman« und eine Kinderstimme, die zaghaft und falsch sang. Aber was kam, waren Teile aus »The First Noel«, die Tom mit einer überraschend klaren Tenorstimme sang.
» The first Noel«, klang Toms Stimme über die weiße Einöde und kam als schönes Echo zurück, » the angels did say... was to certain poor shepherds in fields as they lay ...In fields ...as they... lay keeping their sheep... on a cold winter's night that was so deep...«
Stu fiel in Toms Gesang ein. Seine Stimme war nicht so gut wie Toms, aber trotzdem klang ihr gemeinsamer Gesang angenehm, und die schöne alte Hymne stieg in die tiefe Kathedralenstille des Weihnachtsmorgens auf:
» Noel, Noel, Noel, Noel... Christ is born in Israel...«
»Das ist die einzige Strophe, die ich noch weiß«, sagte Tom ein wenig schuldbewußt, als ihre Stimmen verhallten.
»Es war schön«, sagte Stu. Er war wieder den Tränen nahe. Viel fehlte nicht, und er hätte geweint, aber das hätte Tom aus der Fassung gebracht. Stu drängte die Tränen zurück.
»Wir sollten langsam aufbrechen. Es bleibt um diese Jahreszeit nicht so lange hell.«
»Ja.« Er sah Stu an, der sich am Fahrzeug zu schaffen machte. »So ein schönes Weihnachten habe ich noch nie erlebt, Stu.«
»Das freut mich, Tommy.«
Und wenig später waren sie wieder unterwegs und fuhren unter der hellen kalten Weihnachtssonne nach Osten zu den Bergen hinauf.
In dieser Nacht kampierten sie am Loveland-Paß in der Nähe des höchsten Punktes, fast 3500 Meter über dem Meeresspiegel. Während die drei gemeinsam gut geschützt schliefen, sanken die Temperaturen auf etwa sechs Grad unter Null. Kalt wie die Klinge eines Küchenmessers fegte der Wind über den Loveland-Paß. Im Sternenglanz der Winternacht heulten unter den hohen Schatten der Felsen die Wölfe. Nach Osten und Westen hin schien die Welt unter ihnen eine einzige Gruft zu sein.
Früh am nächsten Morgen, noch vor dem ersten Licht, weckte Kojak sie mit seinem Gebell. Mit dem Gewehr in der Hand kroch Stu nach draußen.
Zum ersten Mal kamen die Wölfe in Sicht. Sie waren aus den Schluchten gekommen und bildeten fast einen Ring um ihr Lager. Sie heulten nicht, sondern starrten nur stumm herüber. Ihre Augen hatten einen tiefgrünen Schimmer, und die Tiere schienen herzlos zu grinsen.
Stu gab wahllos sechs Schüsse ab, und sie zerstreuten sich. Einer fuhr hoch und sank als Bündel in sich zusammen. Kojak lief hin und beschnüffelte den Kadaver. Dann urinierte er darauf.
»Die Wölfe sind seineGeschöpfe. Und sie werden es immer sein.«
Tom schien noch halb zu schlafen. Seine Augen blickten schläfrig und verträumt. Stu wurde plötzlich klar, daß Tom wieder in jenen unheimlichen, tranceähnlichen Zustand verfallen war.
»Tom... ist er tot? Weißt du das?«
»Er stirbt nie«, sagte Tom. »Er ist in den Wölfen, meine Fresse, ja.
Den Krähen. Den Klapperschlangen. Er ist der Schatten einer Eule um Mitternacht und der Skorpion am hellen Mittag. Er hängt mit dem Kopf nach unten bei den Fledermäusen, und er ist blind wie sie.«
»Wird er zurückkommen?« fragte Stu drängend. Er fühlte sich eiskalt.
Tom antwortete nicht.
»Tommy...«
»Tom schläft. Er ist gegangen, den Elefanten zu sehen.«
Draußen erschien ein kalter weißer Streifen am Himmel und schob sich hinter der gezackten Öde der Berggipfel langsam höher.
»Ja. Sie warten. Sie warten. Sie warten auf Nachricht. Sie warten auf den Frühling. Alles in Boulder ist ruhig.«
»Kannst du Frannie sehen?«
Toms Miene hellte sich auf. »Frannie, ja. Sie ist dick. Ich glaube, sie kriegt ein Kind. Sie wohnt bei Lucy Swann. Lucy kriegt auch ein Kind. Aber Frannie kriegt ihres zuerst. Außer...« Toms Miene verfinsterte sich wieder.
»Tom? Außer was?«
»Das Baby...«
» Was ist mit dem Baby?«
Tom sah sich verwirrt um. »Haben wir nicht Wölfe geschossen? Bin ich eingeschlafen, Stu?«
Stu zwang sich zu einem Lächeln. »Ein wenig, Tom.«
»Ich habe von einem Elefanten geträumt. Komisch, was?«
»Ja.« Was ist mit dem Baby? Was ist mit Fran?
Er begann den Verdacht zu hegen, daß sie zu spät kommen würden; daß was immer Tom gesehen hatte, geschehen würde, bevor sie ankamen.
Drei Tage vor Neujahr war mit dem guten Wetter Schluß, und sie mußten in der kleinen Stadt Kittredge bleiben. Sie waren Boulder jetzt schon so nahe, daß diese weitere Verzögerung für sie eine bittere Enttäuschung war – selbst Kojak schien aufgeregt und ruhelos zu sein.
»Können wir bald weiterfahren, Stu?« fragte Tom hoffnungsvoll.
»Ich weiß es nicht«, sagte Stu. »Ich hoffe. Hätten wir nur zwei Tage länger schönes Wetter gehabt, hätte es gereicht, glaub' ich. Verdammt!« Er seufzte, zuckte die Achseln. »Na ja, vielleicht sind es nur Schneeschauer.«
Aber es waren keine Schneeschauer, wie sich herausstellte. Es war der stärkste Sturm des Winters. Fünf Tage hielt der Schneefall an, und es bildeten sich Verwehungen, die an manchen Stellen drei, ja bis zu vier Meter hoch waren. Als sie sich am zweiten Januar ins Freie gruben, war die Sonne so klein und trübe wie eine angelaufene Kupfermünze, und die Landschaft hatte sich in eine endlose weiße Wüste verwandelt, in der keine markanten Punkte mehr zu erkennen waren. Der größte Teil des kleinen Einkaufs viertels der Stadt war zwar nicht vom Schnee begraben, aber unzugänglich. Der Wind hatte die Schneewehen und Schneedünen zu bizarren, gekrümmten Gebilden geformt. Sie hätten sich ebensogut auf einem anderen Planeten befinden können.
Als das Wetter aufklart e, ging es langsamer voran als je zuvor. War es vorher nur lästig gewesen, ständig die Straße suchen zu müssen, so war es jetzt ein ernsthaftes Problem. Wiederholt blieb das Schneemobil stecken, und sie mußten es freischaufeln. Und am zweiten Tag des Jahres 1991 begann wieder das Güterzuggerumpel der Lawinen.
Am vierten Januar erreichten sie die Stelle, wo die US 16 von der Interstate abzweigt und nach Golden führt, und obwohl keiner von ihnen es wußte – es hatte keine Träume oder Vorahnungen gegeben -, war dies der Tag, an dem Frannie Goldsmith' Wehen begannen.
»Okay«, sagte Stu, als sie an der Abzweigung anhielten. »Jetzt haben wir wenigstens keine Mühe mehr, die Straße zu finden. Sie ist aus dem soliden Fels herausgesprengt worden. Wir hatten allerdings verdammtes Glück, die Abzweigung zu finden.«
Auf der Straße zu bleiben war leicht, aber durch den Tunnel zu kommen war schwer. Manchmal mußten sie die Überreste von Lawinen beseitigen. Und auf der blanken Straße in den Tunneln brüllte und knatterte das Schneemobil gequält.
Schlimmer noch, es war unheimlich in den Tunneln – was ihnen sowohl Larry als auch der Mülleimermann hätte sagen können. Sie waren schwarz wie Grubenschächte, von dem schmalen Lichtkegel des Schneemobils abgesehen, denn beide Ausgänge waren meistens von Schnee verschüttet. In den Tunneln fühlte man sich wie in einen dunklen Kühlschrank eingesperrt. Es ging quälend langsam voran, und die Ausfahrt am anderen Ende zu schaffen, erforderte einigen technischen Einsatz. Stu hatte Angst davor, auf einen Tunnel zu stoßen, der unpassierbar war, ganz gleich, welche Mühe sie sich auch gaben, die Wagen, die in den Tunnels steckengeblieben waren, aus dem Weg zu schieben oder zu heben. Denn wenn das passierte, wären sie gezwungen, umzukehren und wieder die Interstate zu befahren. Und das würde bedeuten, daß sie mindestens eine Woche Zeit verlören. Das Schneemobil einfach stehenzulassen, kam nicht in Frage – dies wäre einer qualvollen Methode des Selbstmords gleichgekommen.
Und dabei war Boulder nahe, so nahe.
Am siebten Januar, zwei Stunden nachdem sie sich aus einem weiteren Tunnel herausgewühlt hatten, stand Tom hinten im Schneemobil auf und zeigte nach vorn. »Was ist das, Stu?«
Stu war müde und mißmutig, nicht voll auf der Höhe. Die Träume kamen nicht mehr, aber auf perverse Weise war das noch beängstigender, als wenn sie kamen. »Steh während der Fahrt nicht dauernd auf, Tom. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Am Ende fällst du hinten runter und kopfüber in den Schnee und...«
»Ja, aber was ist es? Es sieht wie eine Brücke aus. Haben wir denn irgendwo einen Fluß gesehen, Stu?«
Stu schaute hin, nahm das Gas weg und hielt an.
»Was ist es?« fragte Tom besorgt.
»Die Überführung«, murmelte Stu. »Ich... ich kann es einfach nicht glauben...«
»Überführung? Überführung?«
Stu drehte sich um und packte Tom bei den Schultern. »Die Überführung bei Golden, Tom! Das ist die 119 da oben, Route 119!
Die Straße nach Boulder! Wir sind nur noch zwanzig Meilen von der Stadt entfernt. Vielleicht noch weniger.«
Endlich begriff Tom. Sein Unterkiefer klappte herunter, und er machte ein so komisches Gesicht, daß Stu laut lachen mußte. Er klopfte Tom auf die Schulter. Nicht einmal der dumpfe Schmerz in seinem Bein störte ihn mehr.
»Sind wir wirklich fast zu Hause, Stu?«
»Ja, ja, jaaaaa!«
Sie faßten sich an den Händen und tanzten unbeholfen im Schnee herum. Sie bewarfen sich mit dem Zeug. Kojak schaute erstaunt zu... aber nach einer Weile sprang er ebenso ausgelassen im Schnee herum, bellend und schwanzwedelnd.
Sie übernachteten in Golden und stießen am frühen Morgen auf die 119 in Richtung Boulder. Keiner von ihnen hatte in der letzten Nacht gut geschlafen. Eine solche Vorfreude hatte Stu in seinem ganzen Leben noch nicht empfunden ... aber in diese Vorfreude mischte sich die quälende Sorge um Frannie und das Baby.
Etwa um ein Uhr nachmittags verringerte sich die Geschwindigkeit des Schneemobils plötzlich, und dann bewegte es sich nur noch ruckweise vorwärts. Stu stellte den Motor ab und griff nach dem Reservekanister, der in Kojaks kleiner Kabine hing. »Oh, verdammt!« sagte er, als er spürte, wie leicht das Ding war.
»Was ist denn los, Stu?«
Als sie sich am zweiten Januar ins freie gruben, war die Sonne so klein und trübe wie eine angelaufene Kupfermünze, und die Landschaft hatte sich in eine endlose weiße Wüste verwandelt, in der keine markanten Punkte mehr zu erkennen waren.
»Ich! Ich bin los. Ich wußte, daß dieser verdammte Kanister leer war, und ich hab' vergessen, ihn wieder zu füllen. Ich war so verdammt aufgeregt. Wie gefällt dir diese Dummheit?«
»Wir haben keinen Sprit mehr?«
Stu warf den leeren Kanister weg. »Worauf du dich verlassen kannst. Wie konnte ich nur so dämlich sein?«
»Wahrscheinlich hast du an Frannie gedacht. Und was machen wir nun, Stu?«
»Wir gehen oder versuchen es wenigstens. Du mußt deinen Schlafsack mitnehmen. Wir teilen die Konserven unter uns auf. Das Schutzzelt müssen wir hierlassen. Es tut mir leid, Tom. Das Ganze war mein Fehler.«
»Ist schon in Ordnung, Stu. Was ist mit den Planen?«
»Ich glaube, die lassen wir besser hier, alter Junge.«
An diesem Tag erreichten sie Boulder nicht mehr. Statt dessen kampierten sie im Freien. Als es dämmerte, machten sie halt. Das Waten durch den Pulverschnee hatte sie sehr angestrengt und sie, obwohl er so leicht schien, buchstäblich zum Kriechgang verurteilt. An diesem Abend hatten sie kein Feuer. Es lag kein Holz herum, und sie waren zu erschöpft, welches auszugraben. Um sie herum riesige Schneewehen. Auch als es schon völlig dunkel war, erkannte Stu noch keinen Lichtschein am Horizont, wie sehr er auch danach Ausschau hielt.
Sie aßen kalt zu Abend, und anschließend verschwand Tom ohne jedes weitere Wort sofort in seinem Schlafsack. Stu war ebenfalls müde, und sein Bein schmerzte entsetzlich. Ich kann noch von Glück sagen, wenn ich mir das Bein nicht endgültig versaut hab', dachte Stu.
Aber morgen abend würden sie in Boulder sein, in richtigen Betten schlafen ... ein verlockender, tröstlicher Gedanke. Als er in seinen Schlafsack kroch, stieg eine beunruhigende Vorstellung in ihm auf: Sie erreichen endlich Boulder, und Boulder war leer – so leer, wie Grand Junction gewesen war und Avon und Kittredge. Leere Häuser, leere Läden, Gebäude, die Dächer unter der Schneelast eingebrochen. Die Straßen unter Schneewehen erstickt. Kein Geräusch. Nur das Tropfen, wenn bei einem der winterlichen Wärmeeinbrüche der Schnee schamhaft schmilzt. Und die waren in Boulder nicht so selten – Stu hatte mal gelesen, daß dort im Winter die Temperaturen plötzlich auf zwanzig Grad ansteigen konnten. Aber alle würden verschwunden sein, wie die Leute, von denen man träumt, verschwunden sind, wenn man aufwacht. Weil es in der ganzen Welt niemanden mehr gab außer Stu Redman und Tom Cullen.
Es war ein verrückter Gedanke, aber er konnte ihn nicht abschütteln. Er kroch aus seinem Schlafsack und schaute nach Norden und hoffte, den schwachen Lichtschein am Horizont zu sehen, den man immer sieht, wenn in der Nähe viele Menschen wohnen. Er müßte doch irgend etwaserkennen können. Er versuchte, sich daran zu erinnern, welche Bevölkerungszahl Glen für den Winter angenommen hatte, wenn der Schnee das Reisen unmöglich machte. Aber er kriegte die Zahl nicht mehr zusammen. Achttausend? Hatte Glen diese Zahl genannt? Achttausend Menschen waren nicht viel; mit starkem Lichtschein war bei einer solchen Einwohnerzahl nicht zu rechnen, selbst bei voller Beleuchtung in den Häusern und auf den Straßen.