Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Oben im Schlafzimmer fand er ein Dutzend weiße Plastiksäcke randvoll mit weißem Pulver. Sie waren im Wassertank der Toilette, einem altbekannten Versteck. Richie sah sie krank vor Verlangen an und dachte am Rande, daß Allie alle richtigen Leute bestochen haben mußte, wenn er es sich leisten konnte, so eine Ladung in einem blöden Toilettentank zu lassen. Der Stoff hätte einem einzigen wahrscheinlich sechzehn Jahrhunderte gereicht.
Er nahm einen Beutel mit ins Schlafzimmer und riß ihn auf der Steppdecke auf. Seine Hände zitterten, als er das Besteck herausnahm und aufkochte. Er kam nicht auf die Idee, sich zu fragen, ob der Stoff verschnitten war. Auf der Straße war die größte Dosis, die Richie sich je verpaßt hatte, zwölf Prozent pur gewesen, und daraufhin hatte er so tief geschlafen, daß es fast schon ein Koma gewesen war. Er hatte nicht einmal genickt. Einfach zackbumm, und weg war er, out of the blue and into the black. Er stach sich die Nadel oberhalb des Ellbogens rein und drückte den Stöpsel. Der Stoff war fast sechsundneunzig Prozent rein. Er knallte in seine Blutbahn wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug, und Richie fiel auf den Heroinbeutel und bestäubte sich das Hemd damit. Sechs Minuten später war er tot.
Kein großer Verlust.
39
Lloyd Henreid kniete auf dem Boden. Er summte und grinste. Hin und wieder vergaß er, was er gesummt hatte, dann verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht, und er schluchzte ein kleines bißchen, aber dann vergaß er, daß er geweint hatte, und summte weiter. Das Lied, das er summte, hieß »Camptown Races«. Ab und zu summte und schluchzte er nicht, sondern flüsterte »Duu-dah, duu-dah«. Abgesehen vom Summen, dem Schluchzen, dem gelegentlichen Duu-dah und dem leisen Scharren des Pritschenbeins, mit dem sich Lloyd zu schaffen machte, herrschte völlige Stille im Zellentrakt. Er versuchte, Trasks Leiche umzudrehen, damit er ein Bein erreichen konnte. Bitte, Herr Ober, bringen Sie mir noch etwas Krautsalat und noch ein Bein.
Lloyd sah aus wie ein Mann, den man auf eine radikale Diät gesetzt hatte. Der Gefängnis-Overall hing an seinem Körper wie ein schlaffes Segel. Die letzte Mahlzeit, die im Zellentrakt serviert wurde, war das Frühstück vor acht Tagen gewesen. Lloyds Haut spannte straff über dem Gesicht, jeder Knochen war darunter zu erkennen. Seine Augen waren hell und glänzend. Er hatte die Lippen von den Zähnen zurückgezogen. Sein Kopf wirkte seltsam gescheckt, weil ihm die Haare allmählich büschelweise ausfielen. Er sah aus wie ein Wahnsinniger.
»Duu-dah, duu-dah«, flüsterte Lloyd und angelte mit dem Pritschenbein. Es war einmal, da hatte er nicht gewußt, warum er sich die Finger kaputtmachte, um das verdammte Ding abzuschrauben. Es war einmal, da hatte er zu wissen geglaubt, was Hunger heißt. Aber verglichen mit dem, was er jetzt erlebte, war der Hunger von damals lediglich ein etwas kräftigerer Appetit gewesen.
» Ride around all night... ride around all day...duu-dah...«
Das Pritschenbein hakte sich in Trasks Hosenaufschlag fest und rutschte wieder ab. Lloyd senkte den Kopf und schluchzte wie ein Kind. Hinter ihm, achtlos in die Ecke geschmissen, lag das Skelett der Ratte, die er vor fünf Tagen, am 2.9. Juni, in Trasks Zelle totgeschlagen hatte. Der lange rosa Schwanz der Ratte hing noch am Skelett. Lloyd hatte wiederholt versucht, auch den Schwanz zu essen, aber er war zu zäh. Fast alles Wasser in der Kloschüssel war verschwunden, obwohl er versucht hatte, es möglichst lange aufzubewahren. In der Zelle stank es nach Urin; er hatte in den Korridor gepinkelt, um seinen Wasservorrat nicht zu verderben. Den Darm hatte er – was einleuchtete, wenn man die radikal zurückgeschraubten Standards seiner Diät berücksichtigte – nicht entleeren müssen.
Er hatte die Lebensmittel, die er sich zurückgelegt hatte, zu schnell verschlungen. Das war ihm jetzt klar. Er hatte gedacht, daß jemand kommen würde. Er hatte nicht glauben können...
Er wollte Trask nicht essen. Die Vorstellung, Trask zu essen, war schrecklich. Gestern abend war es ihm gelungen, mit dem Pantoffel eine Kakerlake zu fangen, und er hatte sie lebendig gegessen; wie verrückt war sie in seinem Mund herumgewuselt, bis er sie halb durchgebissen hatte. Sie hatte nicht einmal schlecht geschmeckt, viel köstlicher als die Ratte. Nein, er wollte Trask nicht essen. Er wollte kein Kannibale sein. Es war wie mit der Ratte. Er wollte Trask in Reichweite haben... für alle Fälle. Nur für alle Fälle. Er hatte einmal gehört, daß ein Mensch es lange ohne Nahrung aushaken konnte, wenn er nur Wasser hatte.
( nicht viel Wasser aber darüber will ich jetzt nicht nachdenken nicht jetzt nein nicht jetzt)
Er wollte nicht sterben. Er wollte nicht verhungern. Er war zu sehr von Haß erfüllt.
Dieser Haß hatte sich in den letzten drei Tagen ganz allmählich in ihm aufgestaut und war mit dem Hunger gewachsen. Wenn sein Kaninchen, das schon so lange tot war, hätte denken können, hätte es ihn genauso gehaßt (er schlief jetzt viel, und dabei träumte er immer wieder von seinem Kaninchen mit aufgeblähtem Körper, mattem, verfilztem Fell, wimmelnden Maden in den Augen und, am schlimmsten, blutigen Pfoten: Wenn er aufwachte, betrachtete er seine eigenen Finger, von grausiger Faszination erfüllt). Lloyds Hass war um ein einfaches bildliches Konzept herum geronnen, und dieses Konzept war der SCHLÜSSEL.
Er war eingesperrt. Früher einmal war ihm das gerecht vorgekommen. Er war einer von den bösen Jungs. Kein wirklichböser Junge. Der wirklich böse Junge war Poke gewesen. Ohne Poke hätte er sich höchstens kleinen Scheißdreck geleistet. Trotzdem gebührte ihm natürlich eine Mitschuld. Der schöne George in Vegas und die drei Insassen des weißen Continental – da war er dabeigewesen, und wahrscheinlich traf ihn ein Teil der Schuld. Er schätzte, daß er seinen Sturz verdient hatte und eine gewisse Zeit absitzen mußte. Nicht, daß man sich dazu freiwillig meldete, aber wenn sie einen kalt erwischten, servierten sie einem die Chose, und man schluckte sie eben. Wie er seinem Anwalt gesagt hatte, seiner Meinung nach verdiente er schätzungsweise zwanzig für seinen Anteil an der »Amokfahrt durch drei Staaten«. Aber nicht den elektrischen Stuhl. Himmel, nein. Der Gedanke, daß Lloyd Henreid einen zappelnden Abgang machte, war... war verrückt. Aber sie hatten den SCHLÜSSEL, darum ging es. Sie konnten einen einsperren und mit einem machen, was sie wollten.
Während der letzten drei Tage hatte Lloyd vage die symbolhafte magische Bedeutung des SCHLÜSSELS begriffen. Der SCHLÜSSEL war die Belohnung dafür, daß man die Regeln beachtete. Beachtete man sie nicht, wurde man eingesperrt. Es war nicht anders als bei der Gehen-Sie-in-das-Gefängnis-Karte beim Monopoly. Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie nicht 200 Dollar ein. Und mit dem SCHLÜSSEL waren Vorrechte verbunden. Sie konnten dir zehn Jahre deines Lebens stehlen, oder zwanzig, oder vierzig. Sie konnten Leute wie Mathers beauftragen, dich zusammenzuschlagen. Sie konnten dir sogar auf dem elektrischen Stuhl das Leben nehmen.
Aber den SCHLÜSSEL zu haben, gab ihnen nicht das Recht, wegzugehen und dich im Kittchen verhungern zu lassen. Es gab ihnen nicht das Recht, dich zu zwingen, eine tote Ratte zu essen oder zu versuchen, die trockene Füllung deiner Matratze zu verspeisen. Es gab ihnen nicht das Recht, dich in einer Lage zurückzulassen, wo du vielleicht den Mann aus der Zelle nebenan aufessen mußtest, um am Leben zu bleiben (das heißt, wenn du ihn zu packen kriegst – duu-dah, duu-dah).
Es gab gewisse Dinge, die machte man einfach nicht mit Menschen. Auch mit dem SCHLÜSSEL konnte man nur bis hierher gehen und nicht weiter. Sie hatten ihn hier zurückgelassen, damit er eines grausamen Todes starb, dabei hätten sie ihn rauslassen können. Er war kein tollwütiger Killer, der den ersten Menschen abservierte, den er sah, auch wenn die Zeitungen das behauptet hatten. Bevor er Poke kennengelernt hatte, hatte er nur kleine Sachen begangen. Deshalb haßte er, und der Haß befahl ihm zu leben... oder es wenigstens zu versuchen. Eine Zeitlang schien ihm, als wären der Haß und der Lebenswille etwas Nutzloses, weil alle, die den SCHLÜSSEL hatten, Opfer der Grippe geworden waren. An ihnen konnte er sich nicht mehr rächen. Dann, ganz allmählich, als der Hunger immer schlimmer wurde, überkam es ihn, daß die Grippe sie nicht umbringen würde. Sie würde nur Verlierer wie ihn umbringen. Sie würde Mathers umbringen, aber nicht diesen Scheißwärter, der Mathers auf ihn angesetzt hatte, denn der Wärter hatte den SCHLÜSSEL.
Sie würde den Gouverneur oder den Gefängnisdirektor nicht umbringen – der Wärter, der gesagt hatte, der Gefängnisdirektor sei krank, war offensichtlich ein dreckiger Lügner. Sie würde die Polizisten nicht umbringen, auch nicht die Sheriffs oder die FBI-Agenten. Die Grippe würde den Leuten, die den SCHLÜSSEL hatten, nichts anhaben. Aber Lloyd würde es ihnen zeigen. Wenn er hier lebend rauskam, würde er es ihnen sogar gewaltig zeigen.
Das Pritschenbein verfing sich wieder in Trasks Hosenaufschlag.
»Komm schon«, flüsterte Lloyd. »Komm. Komm rüber... schon... Camptown ladies sing this song... all du-dah day.«
Trasks Leichnam rutschte langsam, steif, über den Boden seiner Zelle. Geduldiger und geschickter als Lloyd Trask hatte noch nie ein Angler eine Makrele eingeholt. Einmal riß der Stoff von Trasks Hose, und Lloyd mußte an einer anderen Stelle einhaken. Aber schließlich war der Fuß nahe genug, daß Lloyd durch die Gitterstäbe greifen und ihn packen konnte... wenn er wollte.
»Ist nicht persönlich gemeint«, flüsterte er Trask zu. Er berührte Trasks Bein. Er streichelte es. »Ist nicht persönlich gemeint, ich werde dich nicht essen, alter Junge. Nur, wenn es sein muß.«
Er war sich nicht bewußt, daß ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
Lloyd hörte jemanden im aschfahlen Widerschein der Dämmerung, zuerst war das Geräusch so weit entfernt und so seltsam – das Klirren von Metall auf Metall -, daß er glaubte, er würde es träumen. Wachen und Schlafen waren mittlerweile fast gleiche Zustände für ihn; er überschritt die Grenze zwischen ihnen, fast ohne es zu merken.
Aber dann kam die Stimme, und er fuhr kerzengerade von der Pritsche hoch, seine Augen glänzten riesig, weiß und unstet in dem abgemagerten Gesicht. Die Stimme drang von Gott weiß wie weit entfernt aus dem Verwaltungsflügel herunter und dann die Treppe herab durch die Flure, welche die Besuchszimmer mit dem zentralen Zellenblock verbanden, wo Lloyd war. Sie dröhnte heiter immer weiter durch die doppelt verriegelten Türen und drang schließlich an Lloyds Ohren:
»Hoooo-hoooo! Jemand da?«
Und seltsam, Lloyds erster Gedanke war: Nicht antworten. Vielleicht geht er wieder.
» Jemand da? Zum ersten, zum zweiten?... Okay, ich muß weiter, bin dabei, mir den Staub von Phoenix von den Stiefeln zu schütteln...«
Das riß Lloyd aus seiner Lethargie. Er katapultierte sich von der Pritsche, packte das Pritschenbein und schlug wie wild gegen die Gitterstäbe; die Vibrationen pflanzten sich durch das Metall fort und brachten die Knochen seiner geballten Faust zum Erzittern.
» Nein!« schrie er. » Nein! Gehen Sie nicht weg! Bitte gehen Sie nicht weg!«
Die Stimme (inzwischen näher) kam von der Treppe zwischen der Verwaltung und diesem Zellentrakt: »Wir haben dich zum Fressen gern, so lieben wir dich... und, oh, da hört sich jemand so... hungrig an.« Dem folgte ein träges Lachen.
Lloyd ließ das Pritschenbein fallen und umklammerte die Gitterstäbe der Zellentür mit beiden Händen. Jetzt konnte er die Schritte hinten im Schatten hören, sie kamen gleichmäßig den Korridor herauf, der zum Zellentrakt führte. Lloyd hätte vor Erleichterung in Tränen ausbrechen mögen, schließlich war er gerettet... aber er empfand keine Freude, sondern Angst im Herzen, ein wachsendes Grauen, das den Wunsch in ihm weckte, er wäre lieber still geblieben. Still geblieben? Großer Gott! Was konnte schlimmer sein, als zu verhungern?
Beim Stichwort »verhungern« mußte er an Trask denken. Trask lag auf dem Rücken im aschfahlen Widerschein der Dämmerung; ein Bein ragte steif in Lloyds Zelle, und an der Wadenregion (der fleischigen Region) dieses Beins hatte eine sichtbare Veränderung stattgefunden. Dort waren Spuren von Zähnen zu sehen. Lloyd wußte, wer dort abgebissen hatte, aber er konnte sich nur noch ganz vage erinnern, Filet de Trask gegessen zu haben. Dennoch war er von übermächtigen Empfindungen des Ekels, der Schuld und des Grauens erfüllt. Er hastete zu den Gitterstäben und schob Trasks Bein wieder in dessen Zelle. Dann sah er über die Schulter, vergewisserte sich, daß der Besitzer der Stimme noch nicht zu sehen war, griff hinüber und zog, das Gesicht gegen die Gitterstäbe gepreßt, Trasks Hosenbein herunter, um zu verbergen, was er getan hatte.
Natürlich bestand kein Grund zur Eile, denn die massiven Türen am Ende des Zellentrakts waren zu, und da der Strom ausgefallen war, funktionierte der automatische Türöffner nicht. Sein Retter würde zurückgehen und den SCHLÜSSEL suchen müssen. Er würde...
Lloyd grunzte, als der Elektromotor, der die Tür öffnete, surrend zum Leben erwachte. Die Stille im Zellentrakt machte das Geräusch noch lauter, nachdem das altbekannte Klick-bumm! ertönte, mit dem das Schloß aufging.
Dann kamen die Schritte stetig den Flur des HS-Trakts entlang. Nachdem er Trask aufgeräumt hatte, war Lloyd wieder zu seiner Zellentür gegangen; jetzt wich er unwillkürlich zwei Schritte zurück. Er richtete den Blick auf den Boden draußen und sah als erstes ein Paar staubige Cowboystiefel mit spitzen Zehen und abgelaufenen Absätzen, und sein erster Gedanke war: Poke hatte auch so ein Paar gehabt.
Die Stiefel blieben vor seiner Zelle stehen.
Langsam hob er den Blick, sah die verblichenen Jeans über den Stiefeln, den Ledergürtel mit der Messingschnalle (verschiedene astrologische Symbole in zwei konzentrischen Kreisen), die Jeansjacke mit einem Button auf jeder Brusttasche – ein Smiley-Gesicht auf der einen, ein totes Schwein und die Worte GESTERN SCHWEIN – HEUTE SCHINKEN auf der anderen.
In dem Augenblick, als Lloyd widerstrebend in Flaggs dunkles, gerötetes Gesicht sah, schrie Flagg »Buuuh!« Der kurze Laut schwebte durch den toten Zellenblock und kam rasch wieder zurück. Lloyd kreischte, stolperte über seine eigenen Füße, stürzte und fing an zu weinen.
»Schon gut«, beruhigte ihn Flagg. »He, Mann, schon gut. Alles in bester Ordnung.«
Lloyd schluchzte: »Können Sie mich rauslassen? Bitte, lassen Sie mich raus. Ich will nicht wie mein Kaninchen sein, so will ich nicht enden, das ist nicht fair, wenn Poke nicht gewesen wäre, hätte ich nur kleine Sachen abgezogen, bitte, lassen Sie mich raus, Mister, ich mache alles.«
»Armer Kerl. Du siehst aus wie Reklame für einen Sommerurlaub in Dachau.«
Obwohl Flaggs Stimme mitfühlend klang, wagte Lloyd nicht, höher als bis zu den Knien des Fremden zu sehen. Wenn er noch einmal in dieses Gesicht blickte, würde er sterben. Es war das Gesicht eines Teufels.
»Bitte-«, murmelte Lloyd. »Bitte, lassen Sie mich raus. Ich verhungere.«
»Wie lange sitzt du in diesem Scheißhaus, mein Freund?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lloyd und massierte sich die Augen mit den dünnen Fingern. »Ziemlich lange.«
»Wie kommt es, daß du noch nicht tot bist?«
»Ich wußte, was kommen würde«, sagte Lloyd zu den Beinen in den Bluejeans und raffte die letzten Fetzen seiner Verschlagenheit um sich. »Ich habe etwas Verpflegung weggelegt. Deshalb.«
»Hast nicht zufällig ein Stück von dem netten jungen Mann in der Zelle nebenan gemampft, oder?«
»Was?« krächzte Lloyd. »Was? Nein! Um Himmels willen! Wofür halten Sie mich? Mister, Mister, bitte...«
»Sein linkes Bein sieht dünner aus als das rechte. Nur aus dem Grund hab' ich gefragt, guter Freund.«
»Davon weiß ich nichts«, flüsterte Lloyd. Er zitterte am ganzen Körper.
»Und was ist mit Bruder Ratte? Hat er geschmeckt?«
Lloyd schlug die Hände vors Gesicht und sagte nichts.
»Wie heißt du?«
Lloyd versuchte, es zu sagen, brachte aber nur ein Stöhnen heraus.
»Wie heißt du, Soldat?«
»Lloyd Henreid.« Er überlegte krampfhaft, was er als nächtes sagen sollte, aber sein Verstand war ein chaotisches Durcheinander. Er hatte Angst gehabt, als sein Anwalt ihm sagte, daß er vielleicht auf den elektrischen Stuhl müßte, aber nicht solche Angst. Solche Angst hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehabt. »Alles war Pokes Idee!« schrie er. »Poke müßte hier sein, nicht ich.«
»Sieh mich an, Lloyd.«
»Nein«, flüsterte Lloyd. Er rollte wild mit den Augen.
»Warum nicht?«
»Weil...«
»Nur weiter.«
»Weil ich nicht glaube, daß Sie wirklich existieren«, flüsterte Lloyd.
»Und wenn Sie wirklich existieren... Mister, wenn Sie wirklich existieren, dann sind Sie der Teufel.«
»Sieh mich an, Lloyd.«
Hilflos richtete Lloyd den Blick auf das schwarze, grinsende Gesicht, das zwischen einer Kreuzung der Gitterstäbe hing. Die rechte Hand hielt etwas neben dem rechten Auge hoch. Als er es sah, wurde Lloyd heiß und kalt zugleich. Es sah aus wie ein schwarzer Stein, so schwarz, daß er fast harzig oder pechig wirkte. In der Mitte war eine rote Stelle, die Lloyd wie ein schreckliches blutiges und halb offenes Auge vorkam, das ihn anstarrte. Dann drehte Flagg es zwischen den Fingern hin und her. Jetzt war es das Auge, dann der Schlüssel. Er sang: »She brought me coffee... she brought me tea... she brought me... damn near everything... but the workhouse key. Nur nicht den Schlüssel, Lloyd, richtig?«
»Ja«, sagte Lloyd heiser. Er ließ den kleinen schwarzen Stein nicht aus den Augen. Flagg ließ ihn von einem Finger zum ändern wandern wie ein Zauberer, der einen Trick vorführt.
»Du bist gewiß ein Mann, der den Wert eines guten Schlüssels zu schätzen weiß«, sagte der Mann. Der schwarze Stein verschwand in seiner geballten Faust und tauchte plötzlich in der andren Hand wieder auf, wo er aufs neue von einem Finger zum andern wanderte.
»Davon bin ich überzeugt. Ein Schlüssel ist dazu da, Türen zu öffnen. Gibt es etwas Wichtigeres im Leben, als Türen zu öffnen, Lloyd?«
»Mister, ich habe schrecklichen Hunger...«
»Logisch«, sagte der Mann. Sein Gesichtsausdruck wurde besorgt, aber so übertrieben besorgt, daß es grotesk wirkte. »Mein Gott, eine Ratte ist doch nichts zu essen! Weißt du, was ich heute gegessen habe? Ein wunderbares Roastbeef-Sandwich, englisch, auf Wiener Brot, mit ein paar Zwiebeln und Guldens süßem Senf. Hört sich das gut an?«
Lloyd nickte, Tränen flössen aus seinen fiebrig glänzenden Augen.
»Dazu Pommes und eine Schokoladenmilch und als Nachtisch... herrje, ich quäle dich, was? Jemand müßte mich auspeitschen, das müßte man, ja. Tut mir leid. Ich laß dich sofort raus, und dann besorgen wir was zu essen, okay?«
Lloyd war so verblüfft, daß er nicht einmal nicken konnte. Er war zu dem Ergebnis gekommen, daß der Mann mit dem Schlüssel wirklich ein Teufel war, vielleicht sogar nur ein Trugbild, und daß das Trugbild vor seiner Zelle stehen würde, bis Lloyd tot umfiel, und dabei munter über Gott und Jesus und Guldens süßen Senf plaudern und den seltsamen Stein verschwinden und wieder zum Vorschein kommen lassen würde. Aber jetzt schien das Mitleid im Gesicht des Mannes echt zu sein, und er hörte sich an, als wäre er wirklich empört über sich selbst. Der schwarze Stein verschwand wieder in seiner geballten Faust. Und als die Faust sich wieder öffnete, sahen Lloyds erstaunte Augen einen flachen silbernen Schlüssel mit reich verziertem Griff in der Hand des Fremden.
»O – du – mein – Gott!«
»Gefällt dir das?« fragte der dunkle Mann erfreut. »Den Trick habe ich von einem Mädchen in einem Massagesalon in Secaucus, New Jersey, gelernt, Lloyd. Secaucus, Heimat der größten Schweinefarmen der Welt.«
Er beugte sich vor und steckte den Schlüssel ins Schloß von Lloyds Zelle. Und das war seltsam, denn wenn Lloyd seinem Gedächtnis trauen durfte (das im Augenblick nicht sehr gut war), hatten diese Zellen gar keine Schlüssellöcher, sondern wurden elektronisch geöffnet und geschlossen. Aber er zweifelte nicht daran, daß der Silberschlüssel funktionieren würde.
Als sich der Schlüssel schon drehte, hielt Flagg plötzlich inne, sah Lloyd mit einem listigen Grinsen an, und Verzweiflung kam wieder über Lloyd. Es war also doch nur ein Trick.
»Habe ich mich überhaupt vorgestellt? Mein Name ist Flagg, mit zwei g. Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits«, krächzte Lloyd.
»Und ich denke, bevor ich diese Zelle öffne und wir essen gehen, sollte eines klar sein, Lloyd.«
»Natürlich«, krächzte Lloyd und fing wieder an zu weinen.
»Du sollst meine rechte Hand werden, Lloyd. Ich werde dich dem heiligen Petrus gleichstellen. Wenn ich diese Tür geöffnet habe, werde ich dir den Schlüssel zum Königreich in die Hand geben.
Tolles Geschäft, was?«
»Ja «, flüsterte Lloyd und bekam wieder Angst. Es war jetzt fast ganz dunkel. Flagg war wenig mehr als eine dunkle Gestalt, aber seine Augen waren noch deutlich zu sehen. Sie schienen in der Dunkelheit zu glühen wie die Augen eines Luchses, eins links von der Gitterstange, die im Schließkasten endete, und eins rechts davon. Lloyd empfand Entsetzen, aber gleichzeitig noch etwas anderes: eine Art religiöse Ekstase. Freude. Die Freude, auserwähltzu sein. Das Gefühl, daß er etwas erreicht hatte... etwas.
»Du möchtest gern mit den Leuten abrechnen, die dich hier eingesperrt haben, richtig?«
»Junge, und wie«, sagte Lloyd und vergaß seine Angst einen Augenblick. Sie wurde von einer ausgehungerten, zügellosen Wut aufgesogen.
»Und nicht nur mit den Leuten, sondern mit allen, die so etwas fertigbringen«, fügte Flagg hinzu. »Es ist ein bestimmter Typ Mensch, richtig? Für einen bestimmten Typ Mensch ist ein Mann wie du nur Dreck. Denn sie sind ganz oben. Für sie haben Leute wie du überhaupt kein Recht zu leben.«
»Stimmt genau«, sagte Lloyd. Sein großer Hunger hatte sich plötzlich in eine andere Art Hunger verwandelt. Er hatte sich so verwandelt, wie sich der schwarze Stein in einen silbernen Schlüssel verwandelt hatte. Dieser Mann hatte all seine vielschichtigen Empfindungen in ein paar Sätzen ausgedrückt. Er wollte nicht nur mit der Torwache abrechnen – Da ist ja unser Klugscheißer, wie geht's denn, Klugscheißer, wieder was Vorlautes zu sagen?-, weil der Torwärter nicht der war, den er suchte. Die Torwache hatte zwar den SCHLÜSSEL gehabt, richtig, aber die Torwache hatte den SCHLÜSSEL nicht gemacht. Jemand hatte ihn ihr gegeben. Der Direktor, vermutete Lloyd, aber auch der Direktor hatte den SCHLÜSSEL nicht gemacht. Lloyd wollte die Macher und Schmiede finden. Sie waren bestimmt immun gegen die Grippe, und er mußte mit ihnen abrechnen. O ja, und wieer abrechnen mußte.
»Weißt du, was in der Bibel über solche Menschen steht?« fragte Flagg leise. »Dort steht, wer sich erhöht, der soll erniedrigt werden, und Hochmut kommt vor dem Fall. Und weißt du, was über Menschen wie dich darin steht, Lloyd? Es steht geschrieben, selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Und es steht geschrieben, selig sind, die da geistig arm sind, denn sie werden Gott schauen.«
Lloyd nickte. Nickte und weinte. Einen Augenblick schien es, als hätte sich eine lodernde Korona um Flaggs Kopf gebildet, ein so grelles Licht, daß es Lloyds Augen zu Schlacke verbrennen würde, wenn er es zu lange ansah. Dann war es weg, als wäre es nie da gewesen, und es konnte auch nicht dagewesen sein, denn Lloyd hatte nicht einmal seine Nachtsicht verloren.
»Du bist nicht besonders hell im Kopf«, sagte Flagg, »aber du bist der erste. Und ich habe das Gefühl, du wirst sehr loyal sein. Du und ich, Lloyd, wir werden es weit bringen. Es herrschen gute Zeiten für Menschen wie uns. Alles ist für uns bereit. Ich brauche nur dein Wort.«
»W-Wort?«
»Daß wir zusammenhalten, du und ich. Keine Weigerung. Auf Posten wird nicht geschlafen. Sehr bald werden andere kommen – sie sind schon auf dem Weg nach Westen -, aber im Augenblick gibt es nur uns. Ich gebe dir den Schlüssel, wenn du mir dein Versprechen gibst.«
»Ich gebe Ihnen... mein Versprechen«, sagte Lloyd, und die Worte schienen in der Luft zu hängen und seltsam zu vibrieren. Er lauschte den Vibrationen mit geneigtem Kopf und sah die Worte fast vor sich; sie glühten so dunkel, wie sich das Nordlicht in den Augen eines Toten widerspiegelt.
Dann vergaß er die Worte, als die Zuhaltungen innerhalb des Schließkastens klickten. Im nächsten Moment fiel Flagg das Schloss vor die Füße, leichter Rauch stieg davon auf.
»Du bist frei, Lloyd. Komm raus.«
Ungläubig und zögernd berührte Lloyd die Stäbe, als könnten sie ihn verbrennen; und wirklich, sie schienen warm zu sein. Aber als er schob, glitt die Tür leicht und geräuschlos zurück. Er sah seinem Erlöser in die flammenden Augen.
Etwas wurde ihm in die Hand gedrückt. Der Schlüssel.
»Er gehört jetzt dir, Lloyd.«
»Mir?«
Flagg packte Lloyds Finger und drückte sie zu... und Lloyd spürte, wie der Schlüssel sich in seiner Hand bewegte, sich veränderte. Er stieß einen heiseren Schrei aus und machte die Hand auf. Der Schlüssel war verschwunden, er hielt den schwarzen Stein mit dem roten Fleck in der Hand. Er hielt ihn erstaunt hoch und drehte ihn so und so. Mal sah der rote Fleck wie ein Schlüssel aus, mal wie ein Schädel, dann wieder wie ein blutiges, halb geschlossenes Auge.
»Mir«, antwortete Lloyd sich selbst. Diesmal schloß er die Hand ohne Hilfe und hielt den Stein verbissen fest.
»Wollen wir uns ein Abendessen besorgen?« fragte Flagg. »Wir müssen heute nacht noch weit fahren.«
»Abendessen«, sagte Lloyd. »Okay.«
»Es gibt viel zu tun«, sagte Flagg heiter. »Und wir werden uns sehr beeilen.« Sie gingen an den toten Männern in den Zellen vorbei, gemeinsam zur Treppe. Als Lloyd vor Schwäche stolperte, ergriff Flagg seinen Arm über dem Ellenbogen und stützte ihn. Lloyd wandte sich ihm zu, und sein Blick in dieses grinsende Gesicht verriet mehr als Dankbarkeit. Er sah Flagg mit so etwas wie Liebe an.