Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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»Ich muß nach Hause«, sagte er. »Tut mir leid. Damit mußt du allein fertig werden, Nadine.« Damit mußt du allein fertig werden, waren das nicht die Worte, die er in der einen oder anderen Form den Leuten sein ganzes Leben lang gesagt hatte? Warum mußten sie gerade jetzt hervorkommen, wo er doch im Recht war, ihn quälen und an sich selbst zweifeln lassen?
»Schlaf mit mir«, sagte sie und legte ihm die Arme um den Hals. Sie preßte den Körper an seinen, und er merkte an der Gelöstheit, Wärme und Straffheit, daß sie tatsächlich nur das Kleid anhatte. Splitternackt, dachte er, und dieser Gedanke erregte ihn auf nachtschwarze Weise.
»Das ist schön, ich kann dich spüren«, sagte sie und bewegte sich an ihm – seitwärts, auf– und abwärts, was eine köstliche Spannung bewirkte. »Schlaf mit mir, dann ist es zu Ende. Dann bin ich in Sicherheit. In Sicherheit.«
Er griff nach oben und wußte später nicht mehr, wie er es geschafft hatte, wo er doch mit drei raschen Bewegungen und einem Stoß in ihren warmen Leib hätte eindringen können, wie sie es wollte, aber irgendwie griff er nach oben und löste ihre Hände und stieß sie so heftig von sich, daß sie stolperte und fast gestürzt wäre. Sie stöhnte leise.
»Larry, wenn du wüßtest...«
»Ich weiß es nicht. Warum versuchst du nicht, es mir zu erzählen, anstatt... mich zu vergewaltigen?«
»Vergewaltigen!« wiederholte sie und lachte schrill. »Oh, das ist aber komisch! Was redest du da! Ich! Dich vergewaltigen! O Larry!«
»Was du von mir willst, hättest du haben können. Du hättest es letzte Woche haben können oder die Woche davor. Vor zwei Wochen habe ich dich sogar darum gebeten. Ich wollte, daß du es bekommst.«
»Das war zu früh«, flüsterte sie.
»Und jetzt ist es zu spät«, sagte er und verabscheute den brutalen Klang seiner Stimme, aber er hatte sie nicht unter Kontrolle. Er zitterte noch vor Begierde, wie sollte er anders klingen? »Was machst du jetzt, hm?«
»Schon gut. Lebwohl, Larry.«
Sie wandte sich ab. In diesem Augenblick war sie mehr als Nadine, die sich für immer von ihm abwandte. Sie war die Oralhygienikerin. Sie war Yvonne, mit der er in L. A. eine gemeinsame Wohnung gehabt hatte – sie war ihm auf die Nerven gegangen, und er hatte einfach die Wanderstiefel angezogen und ihr die Wohnung überlassen. Sie war Rita Blakemoor.
Am schlimmsten, sie war seine Mutter.
»Nadine?«
Sie drehte sich nicht um. Sie war ein dunkler Schatten, der sich nur von anderen dunklen Schatten unterschied, als sie die Straße überquerte. Dann verschwand sie ganz vor dem schwarzen Hintergrund der Berge. Er rief noch einmal ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Die Art, wie sie von ihm weggegangen war, wie sie mit jenem schwarzen Hintergrund verschmolzen war, hatte etwas Entsetzliches.
Er stand mit geballten Fäusten vor King Sooper's und hatte trotz der nächtlichen Kühle Schweißperlen auf der Stirn. Alle Gespenster aus seiner Vergangenheit waren bei ihm, und er wußte endlich, welchen Preis man dafür zahlen muß, daß man kein netter Kerl ist, daß man sich nie über seine Motivation klar ist, daß man Kränkung und Hilfe immer nur grob gegeneinander abwägt, daß man nie den sauren Geschmack des Zweifels im Mund los wird und...
Er riß den Kopf hoch. Seine Augen wurden so groß, daß sie fast aus den Höhlen zu quellen schienen. Der Wind wehte wieder stärker und heulte laut in einer Einfahrt, und weiter weg glaubte er Schritte zu hören, die in die Nacht wanderten, abgewetzte Absätze irgendwo in den Vorgebirgen, die ihm der kalte Hauch dieser frühmorgendlichen Brise zutrug.
Schmutzige Absätze, die den Weg ins Grab des Westens tappten.
Lucy hörte ihn hereinkommen, und ihr Herz klopfte wie rasend. Sie versuchte, es zu beruhigen; wahrscheinlich kam er nur, um seine Sachen zu holen, aber es wurde nicht langsamer. Er hat sich für mich entschieden, war der Gedanke, den ihr Herz ihr ins Hirn hämmerte wie mit einem Dampfhammer. Er hat sich für mich entschieden...
Trotz ihrer Aufregung und Hoffnung, die sie nicht kontrollieren konnte, lag sie starr auf dem Rücken im Bett und sah nur zur Decke. Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt, als sie meinte, daß der einzige Fehler von ihr und von Mädchen wie ihrer Freundin Joline der war, daß sie zuviel Bedürfnis nach Liebe in sich hatten. Aber sie war immer treu gewesen. Sie war keine Betrügerin. Sie hatte ihren Mann niemals betrogen, und sie hatte Larry niemals betrogen, und wenn sie in den Jahren, bevor sie sie kennengelernt hatte, nicht gerade eine Nonne gewesen war... das war Vergangenheit. Man konnte das, was man getan hatte, nicht einfach wieder nehmen und zurechtbiegen. Diese Macht hatten vielleicht die Götter, aber nicht Männer und Frauen, und das war wahrscheinlich gut so. Wäre es anders, würden die Menschen höchstwahrscheinlich an Altersschwäche sterben und immer noch versuchen, ihre Jugend neu zu schreiben.
Wenn man wußte, daß diese Vergangenheit unerreichbar fern war, konnte man vielleicht verzeihen.
Tränen stahlen sich ihre Wangen hinab.
Die Tür ging klickend auf, und sie sah ihn darin, nur als Umriß.
»Lucy? Bist du noch wach?«
»Ja.«
»Kann ich die Lampe anmachen?«
»Wenn du willst.«
Sie hörte das leise Zischen von Gas, dann ging das Licht an, zu einem Flämmchen heruntergedreht, und machte ihn sichtbar. Er sah blaß und erschüttert aus.
»Ich muß dir etwas sagen.«
»Nein, mußt du nicht. Komm einfach ins Bett.«
»Ich muß es sagen. Ich...« Er drückte die Hand auf die Stirn und fuhr sich durchs Haar.
»Larry?« Sie setzte sich auf. »Alles in Ordnung?«
Er redete, als hätte er sie nicht gehört, und er redete, ohne sie anzusehen. »Ich liebe dich. Wenn du mich willst, bekommst du mich. Aber ich weiß nicht, ob du viel bekommst. Ich werde nie deine beste Wahl sein, Lucy.«
»Das Risiko nehme ich auf mich. Komm ins Bett.«
Das machte er. Und sie machten es. Und als es vorbei war, sagte sie ihm, daß sie ihn liebte, weiß Gott, und es schien zu sein, was er hören wollte, hören mußte, aber sie glaubte, er schlief lange nicht ein. Einmal wurde sie in der Nacht wach (vielleicht hatte sie es nur geträumt) und glaubte, Larry am Fenster stehen zu sehen, wo er nach draußen sah und den Kopf schräg hielt, als lauschte er, und Licht und Schatten machten sein Gesicht zu einer ausgezehrten Maske. Aber bei Tageslicht war sie sicher, daß es ein Traum gewesen sein mußte; bei Tageslicht schien er wieder der alte zu sein.
Nur drei Tage später erfuhren sie von Ralph Brentner, daß Nadine zu Harold Lauder gezogen war. Darauf wurde Larrys Gesicht verkniffen, aber nur einen Augenblick. Und wenn sie sich selbst dafür mißfiel, Ralph Brentners Neuigkeit ließ sie aufatmen. Es schien vorbei zu sein.
Nachdem sie mit Larry gesprochen hatte, ging sie nur kurz nach Hause. Sie schloß auf, ging ins Wohnzimmer und zündete die Lampe an. Diese hoch erhoben, ging sie in den hinteren Teil des Hauses und blieb einen Augenblick stehen, um in das Zimmer des Jungen zu leuchten. Sie wollte wissen, ob sie Larry die Wahrheit gesagt hatte. Hatte sie.
Leo lag nur in Unterhosen auf dem zerwühlten Laken... aber die Schnittwunden und Kratzer waren verblaßt, in den meisten Fällen ganz verschwunden, und die Rundumbräune, die er gehabt hatte, weil er praktisch dauernd nackt herumgelaufen war, war auch verschwunden. Aber es war mehr als das, dachte sie. Etwas in seinem Gesicht hatte sich verändert – sie konnte die Veränderung sehen, obwohl er schlief. Der Ausdruck stummer, begieriger Wildheit war daraus verschwunden. Er war nicht mehr Joe. Dies war nur ein Junge, der nach einem geschäftigen Tag schlief.
Sie dachte an die Nacht, als sie fast am Schlafen gewesen und aufgewacht war und festgestellt hatte, daß er nicht mehr neben ihr lag. Das war in North Berwick, Maine, gewesen – nun einen halben Kontinent entfernt. Sie war ihm zu dem Haus gefolgt, wo Larry auf der Veranda geschlafen hatte. Larry drinnen schlafend, Joe draußen wartend, das Messer voll stummer Wildheit gezückt, und lediglich das dünne Fliegengitter dazwischen. Sie hatte ihn gezwungen, mit ihr zu kommen.
Haß brandete in Nadine auf, schlug Funken wie Stahl auf Feuerstein. Die Coleman-Lampe bebte in ihrer Hand und ließ wilde Schatten springen und tanzen. Sie hätte ihn gewähren lassen sollen! Sie hätte Joe selbst die Tür aufhalten, ihn hineinlassen sollen, um zu stechen und zu zerfetzen und zu schneiden und zu schlitzen und zu töten. Sie hätte...
Der Junge rollte sich herum und stöhnte leise, als würde er aufwachen. Seine Hände zuckten hoch und schlugen durch die Luft, als wollte er im Traum ein schwarzes Phantom abwehren. Nadine zog sich zurück; sie spürte heftigen Pulsschlag in den Schläfen. Es war immer noch etwas Seltsames in dem Jungen, und ihr gefiel nicht, wie er sich gerade bewegt hatte, als hätte er ihre Gedanken erraten.
Sie mußte weitermachen. Sie mußte sich beeilen. Sie ging in ihr Zimmer. Auf dem Boden lag ein Teppich. Ein schmales Einzelbett – das Bett einer alten Jungfer. Mehr nicht. Nicht einmal ein Bild. Das Zimmer hatte überhaupt keine Individualität. Sie machte die Schranktür auf und wühlte hinter den aufgehängten Kleidern. Sie war jetzt auf den Knien und schwitzte. Sie nahm einen bunten Karton heraus, den ein Bild lachender Menschen zierte, die ein Party-Spiel machten. Ein Party-Spiel, das mindestens dreitausend Jahre alt war. Sie hatte das Spiritistenbrett in einem Scherzartikelladen in der Innenstadt gefunden, aber im Haus hatte sie es nicht anzuwenden gewagt, weil der Junge hier war. Sie hatte überhaupt noch nicht gewagt, es anzuwenden... bis jetzt. Etwas hatte sie getrieben, den Laden zu betreten, und als sie das Brett in seiner bunten Verpackung sah, war ein schrecklicher Kampf in ihrem Innern entbrannt – die Psychologen nennen so einen Kampf Aversion/Kompulsion. Sie hatte damals wie heute geschwitzt und zweierlei gleichzeitig gewollt: aus dem Geschäft fliehen, ohne zurückzusehen, und den Karton nehmen, den gräßlich fröhlichen Karton, und ihn nach Hause tragen. Der zweite Wunsch machte ihr mehr Angst, denn er schien gar nicht ihr Wunsch zu sein. Schließlich hatte sie den Karton mitgenommen.
Das war vier Tage her. Der Zwang war jede Nacht stärker geworden, bis sie heute nacht, halb wahnsinnig vor Ängsten, die sie nicht begriff, in ihrem blaugrauen Kleid, unter dem sie nichts anhatte, zu Larry gegangen war. Sie hatte diesen Ängsten ein für allemal ein Ende machen wollen. Als sie auf der Veranda darauf gewartet hatte, daß die beiden von der Versammlung zurückkamen, war sie überzeugt gewesen, endlich das Richtige zu tun. Sie hatte dieses Gefühl in sich gehabt, dieses leicht trunkene, beschwingte Gefühl, das sie nicht mehr gekannt, seit jener Junge sie damals durch das taufeuchte Gras verfolgt hatte. Nur würde der Junge sie diesmal fangen. Sie würde sich fangen lassen. Das wäre das Ende.
Aber als er sie gefangen hatte, hatte er sie nicht gewollt.
Nadine stand auf, hielt den Karton vor die Brust und machte die Lampe aus. Er hatte sie abgewiesen, und hieß es nicht, daß die Hölle keine Schrecken kennt...? Eine abgewiesene Frau mochte sich leicht mit dem Teufel verbünden... oder seinem Henker.
Sie holte rasch noch die große Taschenlampe vom Tisch im Flur. Hinten im Haus schrie der Junge im Schlaf; sie erstarrte einen Moment, ihre Haare sträubten sich. Dann verließ sie das Haus.
Ihre Vespa stand am Bordstein, die Vespa, mit der sie vor ein paar Tagen zu Harold Lauders Haus gefahren war. Warum war sie dorthin gegangen? Seit sie nach Boulder gekommen war, hatte sie kaum ein Dutzend Worte mit Harold gewechselt. Aber in ihrer Verwirrung wegen des Spiritistenbretts und in ihrer Angst vor den Träumen, die sie immer noch hatte, obwohl sie alle anderen nicht mehr quälten, schien ihr, als müßte sie unbedingt mit Harold sprechen. Auch vor diesem Impuls hatte sie Angst gehabt, erinnerte sie sich, während sie den Zündschlüssel der Vespa ins Schloß steckte. Wie der plötzliche Drang, das Spiritistenbrett zu nehmen ( Verblüffen Sie Ihre Freunde! Verschönern Sie Ihre Parties! stand auf dem Karton), schien auch das ein Einfall gewesen zu sein, der nicht aus ihr selbst kam. Möglicherweise sein Einfall. Aber als sie sich gefügt hatte und zu Harold gegangen war, war er nicht dagewesen. Das Haus war abgeschlossen, das einzige abgeschlossene Haus, das ihr in Boulder aufgefallen war, die Jalousien heruntergezogen. Das hatte ihr irgendwie gefallen, und sie war einen Augenblick bitter enttäuscht gewesen, daß Harold nicht da war. Wenn ja, hätte er sie einlassen und die Tür hinter ihr abschließen können. Sie hätten ins Wohnzimmer gehen können, reden, oder miteinander schlafen oder unaussprechliche Dinge miteinander machen, und niemand hätte es erfahren.
Harolds Haus war ein geheimes Plätzchen.
»Was geschieht nur mit mir?« flüsterte sie der Dunkelheit zu, aber die Dunkelheit hatte keine Antwort für sie. Sie startete die Vespa, und das gleichmäßige rülpsende Knattern des Motors schien die Nacht zu entweihen. Sie legte den Gang ein und fuhr davon. Nach Westen.
Als ihr während der Fahrt die kühle Nachtluft übers Gesicht strich, fühlte sie sich endlich besser. Blas die Spinnweben fort, Nachtwind. Du weißt es, nicht wahr? Wenn es keine Alternativen mehr gibt, was macht man dann? Man nimmt die Alternative, die übrigbleibt. Man wählt das Abenteuer, das einem bestimmt ist, wie dunkel es auch immer sei. Man überläßt Larry diese kleine dumme Schlampe mit ihren engen Hosen, ihrem einsilbigen Vokabular und mit ihrem Filmillustriertenverstand. Man entfremdet sich von ihnen. Man riskiert... was es zu riskieren gibt.
Im Licht des kleinen Scheinwerfers der Vespa rollte die Straße unter ihr weg. Als die Straße anstieg, mußte sie in den zweiten Gang zurückschalten; sie war in der Baseline Road, die zum schwarzen Berg hinaufführte. Sollten sie doch ihre Versammlungen abhalten!
Sie kümmerten sich darum, den Strom wieder anzuschalten; ihr Geliebter kümmerte sich um die Welt.
Der Motor der Vespa ächzte und keuchte, aber irgendwie lief er weiter. Eine schreckliche, aber doch sexy Angst packte sie; der vibrierende Sattel des Motorrollers machte sie da unten ganz heiss ( du bist ja geil, Nadine, dachte sie in einer schrillen guten Laune, schlimm, schlimm, SCHLIMM.) Rechts von ihr fiel das Gelände steil ab. Dort unten lauerte der Tod. Und dort oben? Sie würde es feststellen. Es war zu spät umzukehren, und allein dieser Gedanke gab ihr ein paradoxes und herrliches Gefühl der Freiheit.
Eine Stunde später war sie im Sunrise Amphitheater – aber der Sonnenaufgang war noch drei oder mehr Stunden entfernt. Das Amphitheater lag dicht unter dem Gipfel des Flagstaff Mountain, und fast alle Einwohner der Freien Zone hatten schon kurz nach ihrer Ankunft in Boulder einen Ausflug zum Campingplatz auf dem Gipfel gemacht. An klaren Tagen – und in Boulder waren wenigstens im Sommer die Tage meistens klar – konnte man Boulder und die I-25 sehen, die in südlicher Richtung nach Denver führte, und weiter in den Dunst, wo zweihundert Meilen entfernt New Mexico lag. Im Osten war das flache Land, das sich bis Nebraska erstreckte; näher lag der Boulder Canyon, ein tiefer Einschnitt in den Ausläufern der Berge, wo Pinien und Fichten wuchsen. In vergangenen Sommern waren Segelflugzeuge wie Vögel mit den Aufwinden über dem Sunrise Amphitheater geschwebt.
Jetzt sah Nadine nur, was sie im Schein ihrer Taschenlampe erkennen konnte, die sie in der Nähe des Steilhangs auf einen Picknicktisch gelegt hatte. Daneben lag ein großer Zeichenblock, in dem sie ein leeres Blatt aufgeschlagen hatte, und darauf stand wie eine große Spinne das dreieckige Brett. Aus seinem Bauch ragte wie der Stachel einer Spinne ein Bleistift, der leicht das Papier berührte. Nadine war in einem fiebrigen Zustand, der halb Euphorie und halb Entsetzen war. Als sie mit der tapfer schnurrenden Vespa, die gewiss nicht für Bergfahrten gedacht war, hierhergefahren war, hatte sie etwas Ähnliches gespürt wie Harold damals in Nederland. Sie spürte ihn. Aber während Harold es auf eine präzise und technologische Weise empfunden hatte, als ein Stück Eisen, welches von einem Magneten angezogen wurde, als einen Sog, empfand Nadine es als mystische Erfahrung, als Grenzüberschreitung. Es war, als wären diese Berge, in deren Vorgebirge sie sich erst befand, ein Niemandsland zwischen zwei Einflußsphären – Flagg im Westen, die alte Frau im Osten. Und hier wirkte die Magie nach beiden Seiten, mischte sich zu einem Gebräu, das weder Gott noch dem Satan gehörte, aber völlig heidnisch war. Sie kam sich vor wie in einer Geisterstätte.
Und das Spiritistenbrett...
Sie hatte den bunten Karton mit der Aufschrift MADE IN TAIWAN achtlos weggeworfen; mochte der Wind ihn sich holen. Das Brett selbst bestand nur aus einer schäbigen Holzfaser– oder Preßspanplatte. Aber das spielte keine Rolle. Es war ein Werkzeug, das sie nur einmal benutzen würde – nur einmal zu benutzen wagte -, und selbst ein schlecht hergestelltes Werkzeug kann seinem Zweck dienen: eine Tür aufbrechen, ein Fenster schließen, einen Namen schreiben.
Ihr fiel die Aufschrift auf dem Karton wieder ein: Verblüffen Sie Ihre Freunde! Verschönern Sie Ihre Parties!
Wie hieß noch der Song, den Larry manchmal während der Fahrt auf dem Sitz seiner Honda geplärrt hatte? Hello, Central, what's the matter with your line? I want to talk to...
Mit wem sprechen? Aber das war ja gerade die Frage. Sie dachte zurück, wie sie das Spiritistenbrett im College ausprobiert hatte. Das war über zwölf Jahre her... aber es hätte auch erst gestern sein können. Sie war nach oben gegangen, um jemand im dritten Stock des Wohnheims, ein Mädchen namens Kachel Timms, nach den Hausaufgaben in einer Arbeitsgemeinschaft zu fragen, die sie beide besuchten. Der Saal war voller Mädchen, mindestens sechs oder acht, die kicherten und lachten. Nadine wußte noch, sie hatte gedacht, daß sie sich benahmen, als wären sie von etwas high, als hätten sie etwas geraucht, womöglich sogar gedrückt.
»Aufhören!« sagte Rachel, die selbst kicherte. »Wie könnt ihr erwarten, daß die Geister sich melden, wenn ihr euch alle wie alberne Gänse benehmt?«
Die Vorstellung kichernder Gänse erschien ihnen überaus komisch, daher hallte eine Weile eine neuerliche weibliche Lachsalve durch den Saal. Das Spiritistenbrett hatte damals wie heute ausgesehen, eine dreieckige Spinne auf drei Stummelbeinen, ein Bleistift, der nach unten zeigte. Während sie kicherten, nahm Nadine eines der überformatigen Blätter des Zeichenblocks und las die »Botschaften von der Astralebene« durch, die schon eingetroffen waren.
Tommy sagt, du hast schon wieder diese Erdbeerdusche benützt.
Mutter sagt, es geht ihr gut.
Chunga! Chunga!
John sagt, du furzt nicht soviel, wenn du keine BOHNEN aus der MENSA mehr ißt!!!!!
Andere, ebenso alberne.
Mittlerweile war das Kichern so weit abgeklungen, daß sie von vorne anfangen konnten. Drei Mädchen saßen auf einem Bett; jede hatte eine Fingerspitze auf einer anderen Seite des Bretts. Einen Moment passierte gar nichts. Dann zitterte das Brett.
»Das warst du, Sandy!« sagte Rachel vorwurfsvoll.
»Nein!«
»Pssst!«
Das Brett bewegte sich wieder, und die Mädchen verstummten. Es bewegte sich, hielt inne, bewegte sich wieder. Es machte den Buchstaben V.
»Vau...«, sagte das Mädchen namens Sandy.
»Vau weia, kann ich da nur sagen«, sagte eine andere, worauf sie wieder zu kichern anfingen.
» Pssst!« sagte Rachel streng.
Der Bleistift bewegte sich schneller, schrieb die Buchstaben A, T, E und R.
»Vater mein, ich bin dein«, sagte ein Mädchen namens Patty sooder-so und kicherte. »Das muß mein Vater sein, er ist an einem Herzanfall gestorben, als ich drei war.«
»Es schreibt noch mehr«, sagte Sandy.
S, A, G, T, buchstabierte das Brett langwierig.
»Was geht hier vor?« flüsterte Nadine einem großen Mädchen mit Pferdegesicht zu, das sie nicht kannte. Das Mädchen mit dem Pferdegesicht hatte die Hände in den Taschen und sah alles mit einem mißbilligenden Gesichtsausdruck an.
»Ein paar Mädchen spielen mit etwas, das sie nicht verstehen«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht. » Das geht vor.« Sie flüsterte noch leiser.
»VATER SAGT PATTY«, las Sandy vor. »Es ist tatsächlich dein alter Herr, Pats.«
Neuerliches Kichern.
Das Mädchen mit dem Pferdegesicht hatte eine Brille auf. Jetzt nahm es die Hände aus den Taschen des Overalls, den es trug, und zog damit die Brille ab. Es polierte sie und erklärte Nadine weiter im Flüsterton: »Das Spiritistenbrett ist ein Werkzeug, das von Hellsehern und Medien benützt wird. Kinästheologen...«
»Was für -ologen?«
»Wissenschaftler, die Bewegung studieren, und das Zusammenwirken von Muskeln und Nerven.«
»Oh.«
»Sie behaupten, daß der Bleistift eigentlich auf winzigste Muskelbewegungen reagiert und dabei mehr vom unterbewußten als vom bewußten Verstand gelenkt wird. Selbstverständlich behaupten Hellseher und Medien, daß Wesenheiten aus der Geisterwelt den Bleistift bewegen...«
Die Mädchen, die sich um das Brett drängten, stießen wieder eine hysterische Kichersalve aus. Nadine sah über die Schulter des Mädchens mit dem Pferdegesicht und sah, daß die Nachricht nun lautete: »VATER SAGT PATTY SOLLTE NICHT MEHR.«
»... so oft aufs Klo gehen«, schlug eines der Mädchen aus dem Zuschauerkreis vor, worauf sie wieder lachten.
»Wie auch immer, sie albern nur damit herum«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht und schniefte mißbilligend. »Das ist sehr unklug. Medien und Wissenschaftler sind sich darin einig, dass automatisches Schreiben gefährlich sein kann.«
»Glaubst du, die Geister sind heute nacht nicht wohlgesonnen?« fragte Nadine leichthin.
»Vielleicht sind die Geister nie wohlgesonnen«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht und sah sie stechend an. »Oder man bekommt eine Botschaft aus dem Unterbewußtsein, auf die man überhaupt nicht vorbereitet war. Es gibt nachweisliche Fälle, bei denen das automatische Schreiben völlig außer Kontrolle geraten ist, weißt du. Leute sind verrückt geworden.«
»Ach, das ist aber weit hergeholt. Es ist doch nur ein Spiel.«
»Aus Spiel wird manchmal Ernst.«
Die lauteste Kichersalve bis dahin unterband die Bemerkung des Mädchens mit dem Pferdegesicht, bevor Nadine antworten konnte. Das Mädchen namens Patty So-oder-so war vom Bett gefallen und lag auf dem Boden, hielt sich den Bauch und lachte und kickte schwach mit den Beinen. Die vollständige Botschaft lautete: VATER SAGT PATTY SOLLTE NICHT MEHR MIT LEONARD KATZ ZUM UBOOT-RENNEN GEHEN.
» Du warst das!« sagte Patty zu Sandy, als sie sich endlich wieder aufrichtete.
»Nein, Patty! Ehrlich!«
»Es war dein Vater! Aus dem Jenseits. Von drüben!« sagte ein anderes Mädchen mit einer Boris-Karloff-Stimme, die Nadine ziemlich gelungen fand. »Vergiß nicht, daß er dich sieht, wenn du das nächste Mal auf dem Rücksitz von Leonard Katz' Dodge die Hosen ausziehst.«
Eine erneute Lachsalve folgte dieser Ermahnung. Als sie abgeklungen war, ging Nadine nach vorne und zupfte Kachel am Arm. Sie wollte nach den Hausaufgaben fragen und wieder gehen.
»Nadine!« rief Kachel. Ihre Augen funkelten fröhlich. Ihre Wangen waren rosa erblüht. »Setz dich, mal sehen, ob die Geister eine Nachricht für dich haben!«
»Nein, wirklich nicht, ich bin nur wegen der Hausaufgaben gekommen ...«
»Ach, pups doch auf die Hausaufgaben! Das ist wichtig, Nadine! Es ist toll! Du mußt es versuchen. Hier, setz dich neben mich. Janey, du nimmst die andere Seite.«
Janey setzte sich gegenüber von Nadine hin, und nach wiederholtem Drängen von Kachel Timms legte Nadine acht Finger ihrer Hände sacht auf das Brett. Aus irgendeinem Grund sah Nadine über die Schulter zu dem Mädchen mit dem Pferdegesicht. Sie schüttelte einmal nachdrücklich den Kopf in Nadines Richtung, und das Neonlicht von oben spiegelte sich in ihren Brillengläsern und verwandelte ihre Augen in ein Paar greller weißer Lichtblitze. Da hatte sie einen Anflug von Angst empfunden, fiel ihr jetzt wieder ein, während sie auf ein anderes Brett im Licht einer SechsBatterien-Taschenlampe sah, aber ihre Bemerkung zu dem Mädchen mit dem Pferdegesicht war ihr wieder eingefallen – es war nur ein Spiel, um Himmels willen, und was konnte inmitten einer Gruppe kichernder Mädchen denn schon Schreckliches passieren? Nadine konnte sich keine ungünstigere Atmosphäre für Geister, böse oder andere, vorstellen.
»Alles ruhig«, befahl Kachel. »Geister, habt ihr eine Botschaft für unsere Schwester und Musterschülern! Nadine Cross?«
Das Brett bewegte sich nicht. Nadine verspürte gelinde Verlegenheit.
»Lene-meene-kurze-Beene«, sagte das Mädchen, das Boris Karloff nachgeahmt hatte, mit einer gleichermaßen erfolgreichen BullwinkleMooseStimme. »Die Geister sprechen gleich«
Erneutes Kichern.
» Pssst!« befahl Kachel.
Nadine entschied, wenn die beiden anderen Mädchen nicht bald anfingen, das Brett zu bewegen, damit es die alberne Botschaft schrieb, die sie für sie hatten, würde sie es selbst machen – es herumrücken, damit es etwas Kurzes und Dummes buchstabierte, beispielsweise BUH!, damit sie die Hausaufgaben bekommen und gehen konnte.
Als sie gerade versuchen wollte, das zu machen, bewegte sich der Bleistift heftig unter ihren Fingern. Der Bleistift hinterließ einen dunklen diagonalen Riß auf der frischen Seite.
»He! Nicht grob werden, Geister«, sagte Kachel mit vage nervöser Stimme. »Warst du das, Nadine?«
»Nein.«
»Janey.«
»Hm -hmm. Ehrlich.«
Das Brett zuckte wieder, so daß ihre Finger beinahe abrutschten, und raste in die linke obere Ecke des Papiers.
»Puh«, sagte Nadine. »Habt ihr gespürt...«
Sie spürten es, alle, obwohl weder Kachel noch Jane Fargood später mit ihr darüber sprechen wollten. Nach diesem Abend war sie auch in keinem Zimmer der beiden Mädchen mehr besonders gern gesehen gewesen. Danach war es, als hätten sie beide etwas Angst gehabt, ihr zu nahe zu kommen.
Plötzlich fing das Brett an, unter ihren Fingern zu vibrieren; es war, als würde man den Kühler eines Autos im Leerlauf anfassen. Die Vibration war konstant und beängstigend. So eine Bewegung konnte kein Mensch in aller Heimlichkeit erzeugen.
Die Mädchen waren still geworden. Sie hatten alle einen eigentümlichen Gesichtsausdruck, den Gesichtsausdruck von Menschen, die an einer Seance teilgenommen haben, bei der etwas unerwartet Echtes passiert ist – wenn der Tisch sich bewegt, wenn unsichtbare Knöchel an die Wand klopfen, wenn rauchgraues Ektoplasma aus den Nasenlöchern des Mediums quillt. Es ist ein blasser, abwartender Gesichtsausdruck, halb wird gewünscht, das Angefangene möge aufhören, halb, es soll weitergehen. Es ist ein Ausdruck grausiger, verwirrter Aufregung... und mit diesem speziellen Ausdruck sieht das menschliche Gesicht dem Totenschädel, der einen halben Zentimeter unter der Haut verborgen ist, am ähnlichsten.
»Aufhören!« rief das Mädchen mit dem Pferdegesicht plötzlich. »Hört sofort auf, sonst werdet ihr es bereuen!«
Und Jane Fargood schrie mit panischer Stimme: » Ich kann die Finger nicht wegnehmen!«
Jemand stieß einen kurzen unterdrückten Schrei aus. Im selben Augenblick wurde Nadine bewußt, daß ihre Finger auch an dem Brett festklebten. Die Armmuskeln wölbten sich vor Anstrengung, die Fingerspitzen von dem Brett wegzuziehen, aber sie blieben, wo sie waren.
»Also gut, der Spaß ist vorbei«, sagte Kachel mit gepreßter, furchtsamer Stimme. »Wer...«
Und plötzlich fing der Bleistift an zu schreiben.
Er bewegte sich blitzschnell, zog ihre Finger mit sich, zerrte ruckartig ihre Arme herum, was komisch gewirkt hätte, wären da nicht die hilflosen, gequälten Mienen auf den Gesichtern aller drei Mädchen gewesen. Nadine dachte später, es war, als hätten ihre Arme in einer Trainingsmaschine festgesteckt. Die vorherigen Botschaften waren mit steifen, krakeligen Buchstaben geschrieben gewesen – Botschaften, die aussahen, als hätte ein Siebenjähriger sie verfaßt. Diese Buchstaben waren ebenmäßig und nachdrücklich... große, schräge Großbuchstaben, die über das weiße Papier verliefen. Sie hatten etwas Übermütiges und Teuflisches.
NADINE, NADINE, NADINE, schrieb der wirbelnde Bleistift. WIE ICH NADINE LIEBE DASS SIE MEIN IST LIEBE MEINE NADINE MEINE KÖNIGIN WENN DU WENN DU WENN DU REIN FÜR MICH BIST WENN DU UNBERÜHRT FÜR MICH BIST WENN DU WENN DU TOT FÜR MICH BIST TOT DU BIST
Der Bleistift zuckte, raste und fing weiter unten wieder an.
DU BIST TOT WIE DIE ANDEREN DU BIST IM BUCH DER TOTEN ZUSAMMEN MIT DEN ANDEREN NADINE IST TOT WIE SIE NADINE VERFAULT WIE SIE WENN SIE NICHT
Er hörte auf. Pulsierte. Nadine dachte, hoffte – oh, hoffte so sehr -, daß es vorbei wäre, aber dann raste er an den Rand des Papiers und fing noch einmal an. Jane kreischte kläglich. Die Gesichter der anderen Mädchen waren erschrockene weiße Os des Staunens und der Fassungslosigkeit.
DIE WELT DIE WELT BALD IST DIE WELT TOT UND WIR WIR WIR NADINE NADINE ICH ICH ICH WIR WIR SIND WIR SIND WIR
Jetzt schienen die Buchstaben über die Seite zu schreien:
WIR SIND IM HAUS DER TOTEN NADINE
Das letzte Wort heulte in zentimetergroßen Buchstaben über das Papier, dann rutschte der Bleistift vom Brett und ließ dabei eine lange Graphitspur wie einen Schrei zurück. Er fiel auf den Boden und zerbrach in zwei Hälften.
Es folgte ein Augenblick erschrockenen, reglosen Schweigens, dann fing Jane Fargood schrill und hysterisch zu weinen an. Es hatte damit geendet, daß die Herbergsmutter nach oben gekommen war und nach dem Rechten gesehen hatte, fiel Nadine wieder ein, und sie hatte schon die Krankenstation wegen Jane anrufen wollen, als das Mädchen sich endlich wieder zusammenreißen konnte. Rachel Timms hatte die ganze Zeit über blaß und stumm auf dem Bett gesessen. Als die Herbergsmutter und die meisten anderen Mädchen (auch das Mädchen mit dem Pferdegesicht, das zweifellos der Überzeugung war, daß eine Prophetin im eigenen Land nichts gilt) gegangen waren, fragte sie Nadine mit tonloser, seltsamer Stimme: »Wer war es, Nadine?«
»Ich weiß nicht«, hatte Nadine aufrichtig geantwortet. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt. Damals nicht.
»Du hast die Handschrift nicht erkannt?«
»Nein.«
»Nun, vielleicht nimmst du einfach diese Botschaft... diese Botschaft aus dem Jenseits... und gehst auf dein Zimmer.«
»Du hast mich aufgefordert, mich dazuzusetzen!« fuhr Nadine sie an. »Woher sollte ich wissen, daß so... so etwas passieren würde? Ich habe mitgemacht, weil ich nicht unhöflich sein wollte, Herrgott noch mal!«