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The Stand. Das letze Gefecht
  • Текст добавлен: 24 сентября 2016, 05:37

Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы


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Brad verließ das Podium, und jemand schrie: »Da hast du verdammt recht!«

Diesmal war der Applaus laut und anhaltend, fast wütend, aber etwas daran gefiel Stu nicht. Er mußte lange mit dem Hammer klopfen, bis er die Versammlung wieder unter Kontrolle hatte.

»Der nächste Punkt der Tagesordnung...«

»Scheiß auf deine Tagesordnung!« schrie eine junge Frau gellend.

»Reden wir über den dunklen Mann! Reden wir über Flagg! Ich sage, das ist schon lange überfällig!«

Zustimmendes Gebrüll. Rufe: »Der Reihe nach!« Mißbilligende Bemerkungen über die Wortwahl der jungen Frau. Getuschel. Stu schlug so fest auf das Pult, daß der Kopf des Hammers abbrach und davonflog. »Dies ist eine Versammlung!« schrie er. »Sie werden Gelegenheit bekommen, über alles zu reden, worüber Sie reden wollen, aber solange ich die Versammlung leite, verlange... ich... ORDNUNG!« Er brüllte das letzte Wort so laut, daß Rückkopplungen wie ein Bumerang durch das Auditorium schrillten, und endlich trat Ruhe ein.

»Als nächstes«, sagte Stu absichtlich leise und ruhig, »möchte ich Ihnen berichten, was sich am Abend des zweiten September in Ralphs Wohnung ereignet hat. Ich denke, das sollte ich selbst tun, da ich der gewählte Ordnungshüter bin.«

Jetzt herrschte zwar Stille, aber diese Stille gefiel Stu ebensowenig wie der Beifall, den Brad am Ende seiner Ausführungen erhalten hatte. Sie beugten sich gespannt und mit begierigen Gesichtern vor. Der Anblick beunruhigte Stu, als hätte sich die Freie Zone in den letzten achtundvierzig Stunden radikal verändert und er wüßte nicht mehr, was sie war. Ihm war wie damals zumute, als er versucht hatte, aus dem Seuchenzentrum in Stovington zu fliehen – eine Fliege, die sich in einem unsichtbaren Spinnennetz gefangen hatte und zappelte. So viele Gesichter, die er nicht kannte, so viele Fremde...

Aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er beschrieb kurz die Ereignisse, die zu der Explosion geführt hatten, verschwieg aber die böse Vorahnung, die Fran in letzter Minute gehabt hatte; in ihrer jetzigen Stimmung mußten sie das nicht auch noch erfahren.

»Gestern vormittag sind Brad, Ralph und ich hinaufgegangen und haben drei Stunden oder so in den Trümmern gestöbert. Wir haben festgestellt, dass eine mit einem Walkie-talkie gekoppelte Dynamitbombe verwendet worden ist. Es sieht so aus, als wäre die Bombe im Wohnzimmerschrank versteckt worden. Bill Scanion und Ted Frampton haben oben am Sunrise Amphitheater ein weiteres Walkie-talkie gefunden, und wir nehmen an, daß die Bombe von dort gezündet wurde. Sie...«

»Nehmen an, im Arsch!« brüllte Ted Frampton aus der dritten Reihe.

»Das waren dieser Lauder und seine kleine Hure!«

Unbehagliches Murmeln lief durch den Saal.

Das sollen die Guten sein? Nick und Sue und Chad und die anderen sind ihnen scheißegal. Sie sind wie ein Lynchmob, sie sind nur daran interessiert, Harold und Nadine zu erwischen und aufzuhängen ...als eine Art Zauber gegen den dunklen Mann.

Zufällig traf sich sein Blick mit dem Glens; Glen zuckte sehr leicht und sehr zynisch die Achseln.

»Wenn noch jemand dazwischenbrüllt, ohne daß ich ihm das Wort erteilt habe, werde ich diese Versammlung schließen und ihr könnt miteinander reden«, sagte Stu. »Dies ist kein Stammtisch. Wohin kommen wir, wenn wir nicht die Regeln beachten?« Ted Frampton starrte ihn wütend an, und Stu starrte zurück. Nach ein paar Augenblicken sah Ted weg.

»Wir verdächtigen Harold Lauder und Nadine Cross. Wir haben gute Gründe, ein paar ziemlich überzeugende Indizien. Aber wir haben keine handfesten Beweise gegen sie, vergeßt das nicht.«

Mürrische Unterhaltungen wurden laut und verstummten.

»Ich habe das nur gesagt, damit folgendes klar ist«, fuhr Stu fort.

»Falls sie wieder in die Zone zurückkommen, wünsche ich, daß sie zu mir gebracht werden. Ich werde sie einsperren, und AI Bundell wird dafür sorgen, daß sie ihren Prozeß bekommen... und ein Prozeß bedeutet, daß sie ihre Gründe vortragen, falls sie welche haben. Wir hier... wir sollten eigentlich die Guten sein. Ich glaube, wir wissen, wo die Bösen sind. Und wenn wir die Guten sind, dann müssen wir uns hier zivilisiert verhalten.«

Er betrachtete sie hoffnungsvoll, sah aber nur Ablehnung. Stuart Redman hatte erlebt, daß zwei seiner besten Freunde in die Luft gesprengt wurden, sagten ihre Augen, und wollte mit den Tätern auch noch Nachsicht üben.

»Wenn es Ihnen hilft, ich glaube, sie waren es«, sagte er. »Aber die Angelegenheit muß korrekt abgewickelt werden. Und ich garantiere Ihnen, daß das geschehen wird.«

Augen sahen ihn stechend an. Über tausend Paare, und in jedem einzelnen erblickte er einen Gedanken:  Was redest du für eine Scheiße. Sie sind weg. Nach Westen gegangen. Du tust so, als würden sie einen zweitägigen Ausflug machen, um die Vögel zu beobachten. Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank einen Schluck, um das trockene Gefühl im Hals loszuwerden. Es schmeckte so fade und abgekocht, daß er angewidert das Gesicht verzog. »Das ist jedenfalls unsere Einstellung«, sagte er lahm. »Als nächstes stellt sich das Problem, das Komitee wieder auf volle Stärke zu bringen. Das machen wir nicht heute abend, aber Sie sollten sich überlegen, wen Sie im Komitee haben wollen...« Eine Hand schnellte unten in die Höhe, und Stu erteilte das Wort. »Nur zu. Aber weisen Sie sich aus, damit alle wissen, wer Sie sind.«

»Ich bin Sheldon Jones«, sagte ein großer Mann im karierten Hemd.

»Warum wählen wir die beiden Neuen nicht gleich heute? Ich nominiere Ted Frampton da drüben.«

»He, das unterstütze ich!« schrie Bill Scanion. »Wunderbar!«

Ted Frampton hob die verschränkten Hände unter spärlichem Applaus über den Kopf, und Stu hatte wieder dieses Gefühl der Verzweiflung.

Sie sollten Nick Andros durch Ted Frampton ersetzen? Es war wie in einem dieser schlechten Witze. Ted hatte sich dem KraftwerksKomitee angeschlossen und dann gemerkt, daß es sich um Arbeit handelte. Dann hatte er sich für das Beerdigungskomitee gemeldet, und das hatte ihm anscheinend besser zugesagt, aber Chad hatte Stu gegenüber erwähnt, daß Ted zu den Leuten gehört, die eine Kaffeepause auf eine Mittagspause und eine Mittagspause auf einen halben Urlaubstag ausdehnen konnten. Er hatte sich gestern rasch der Suche nach Harold und Nadine angeschlossen, wahrscheinlich weil es eine Abwechslung war. Er und Bill Scanion hatten oben am Sunrise durch einen reinen Zufall das Walkie-talkie gefunden (das hatte Ted allerdings ehrlich zugegeben), aber seit diesem Fund hatte er eine Großspurigkeit entwickelt, die Stu überhaupt nicht gefiel.

Wieder trafen Stus und Glens Blicke sich, und in Glens zynischem Gesichtsausdruck, dem hochgezogenen Mundwinkel, konnte Stu erkennen, was Glen dachte:  Vielleicht sollten wir Harold bitten, den da auch zu erledigen.

Ein Wort, das Nixon oft gebraucht hatte, kam Stu plötzlich in den Sinn, und als es ihm einfiel, begriff er die Ursache seiner Verzweiflung und Unsicherheit. Das Wort hieß »Mandat«. Sie hatten kein Mandat mehr. Es war vorgestern abend in Rauch und Flammen aufgegangen.

»Du magst wissen, wen  du willst, Sheldon, aber ich kann mir vorstellen, daß einige andere Leute gern noch Zeit zum Nachdenken möchten. Stellen wir die Frage. Wer wünscht, daß wir die beiden neuen Repräsentanten heute noch wählen, ruft ja.«

Ziemlich viele Jas wurden gebrüllt.

»Und wer noch eine Woche darüber nachdenken will, ruft nein.«

Die Nein-Rufe waren lauter, wenn auch nicht allzu deutlich. Viele beteiligten sich überhaupt nicht an der Abstimmung, als würde das Thema sie gar nicht interessieren.

»Okay«, sagte Stu. »Die nächste Versammlung findet in einer Woche hier im Munzinger Auditorium statt, am elften September, dann werden wir für die beiden leeren Sitze im Komitee die Kandidaten nominieren und wählen.«

Ein ziemlich beschissener Nachruf, Nick. Tut mir leid.

»Dr. Richardson wird Ihnen über Mutter Abagail berichten und über die Leute, die bei der Explosion verletzt wurden. Doc?«

Richardson erhielt eine solide Runde Applaus, als er vortrat und die Brille putzte. Er erzählte ihnen, daß die Explosion neun Menschenleben gefordert hatte. Drei schwebten in Lebensgefahr, zwei waren schwer verletzt und acht auf dem Wege der Besserung.

»Bedenkt man die Wucht der Explosion, kann man sagen, das Glück war mit uns. Und jetzt zu Mutter Abagail.«

Sie beugten sich vor.

»Ich denke, eine allgemeine Auskunft und eine kurze Beschreibung ihres Zustands dürften genügen. Die Auskunft lautet: Ich kann nichts für sie tun.«

Ein Murmeln ging durch die Menge und verstummte. Stu sah Traurigkeit, aber keine Überraschung.

»Einwohner der Zone, die schon vor ihrem Verschwinden hier waren, haben mir erzählt, die Dame behauptet, sie sei hundertacht Jahre alt. Das kann ich nicht nachprüfen, aber ich kann sagen, daß sie das älteste menschliche Wesen ist, das ich je gesehen und behandelt habe. Man hat mir gesagt, daß sie zwei Wochen fort war, und meine Diagnose – nein, meine Vermutung – ist, daß sie während der ganzen Zeit keine zubereitete Nahrung zu sich genommen hat. Sie muß sich von Wurzeln, Kräutern, Gräsern und anderen Dingen ähnlicher Art ernährt haben.« Pause. »Sie hat seit ihrer Rückkehr einmal ein wenig Stuhlgang gehabt. Er enthielt kleine Zweige und Äste.«

»Mein Gott«, murmelte jemand, und es war unmöglich zu sagen, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte.

»Ein Arm weist starke Einwirkungen von Giftsumach auf. Ihre Beine sind von Geschwüren bedeckt, die nässen würden, wenn ihr Zustand nicht so...«

»He, können Sie nicht aufhören?« brüllte Jack Jackson und stand auf. Sein Gesicht war blaß, wütend, elend. »Haben Sie keine verdammte Pietät?«

»Pietät ist nicht mein Anliegen, Jack. Ich berichte lediglich über ihren Zustand. Sie ist komatös, unterernährt, und, wichtiger noch, sehr, sehr alt. Ich vermute, daß sie sterben wird. Wenn es nicht gerade sie wäre, hätte ich das als Gewißheit hingestellt. Aber ich habe – wie Sie alle – von ihr geträumt. Von ihr und einem anderen.«

Wieder das leise Murmeln, wie ein vorüberziehender Windhauch, und Stu spürte, wie sich seine Nackenhärchen erst rührten und dann ins Achtung schnellten.

»Mir erscheinen Träume von so entgegengesetzter Art mystisch«, sagte George. »Die Tatsache, daß wir alle diese Träume hatten, scheint mindestens auf eine telepathische Fähigkeit hinzuweisen. Aber genau wie bei Pietät muß ich bei Parapsychologie und Theologie passen, und das aus einem einzigen Grund: Sie sind nicht mein Fach. Wenn die Frau von Gott ist, mag es ihm gefallen, sie zu heilen. Ich kann es nicht. Allein die Tatsache, daß sie noch lebt, erscheint mir wie ein Wunder. Soweit meine Ausführungen. Irgendwelche Fragen?«

Es gab keine. Sie sahen ihn wie betäubt an; einige weinten unverhohlen.

»Danke«, sagte George und kehrte in einem toten Meer des Schweigens zu seinem Platz zurück.

»Okay«, flüsterte Stu Glen zu. »Du bist dran.«

Glen näherte sich dem Podium ohne Ankündigun g und hielt sich mit zerstreutem Griff daran fest. »Wir haben alles diskutiert, nur nicht den dunklen Mann«, sagte er.

Wieder das Murmeln. Einige Männer und Frauen bekreuzigten sich instinktiv. Eine ältere Frau am linken Gang hielt sich die Hände rasch vor Augen, Mund und Ohren, eine gespenstische Nachahmung von Nick Andres. Dann faltete sie die Hände über der großen schwarzen Handtasche auf dem Schoß.

»Wir haben uns in nichtöffentlichen Sitzungen des Komitees ansatzweise darüber unterhalten«, fuhr Glen in ruhigem Plauderton fort, »und die Frage wurde gestellt, ob wir öffentlich darüber diskutieren sollten. Wir kamen zum Ergebnis, daß eigentlich niemand in der Zone darüber reden wollte, jedenfalls nicht nach den Irrenhaus-Träumen, die wir alle auf dem Weg hierher gehabt haben. Vielleicht war eine Erholungsphase nötig. Jetzt finde ich es an der Zeit, das Thema zur Sprache zu bringen. Sozusagen ihn ans Licht zu zerren. Bei der Polizeiarbeit haben sie ein sinnvolles Hilfsmittel, das Phantombild heißt, mit dessen Hilfe ein Zeichner das Gesicht eines Verbrechers anhand verschiedener Zeugenaussagen gestaltet. In unserem Fall haben wir kein Gesicht, aber eine Reihe Erinnerungen, die zumindest einen groben Umriß unseres Widersachers ergeben. Ich habe mit zahlreichen Leuten darüber gesprochen und würde Ihnen gerne mein eigenes Phantombild präsentieren. Der Name des Mannes scheint Randall Flagg zu sein, aber manche Menschen haben auch die Namen Richard Frye, Robert Freemont und Richard Freemantle mit ihm assoziiert. Die Initialen R. F. könnten eine Bedeutung haben, aber wenn ja, kennt sie niemand in der Freien Zone. Seine Gegenwart erzeugt – zumindest in Träumen-Gefühle von Grauen, Unbehagen, Entsetzen, Schrecken. In allen Fällen wird ein körperliches Gefühl der Kälte mit ihm in Verbindung gebracht.«

Köpfe nickten, das aufgeregte Summen der Unterhaltungen fing wieder an. Stu fand, sie waren wie Jungs, die gerade den Sex entdeckt hatten, ihr Wissen austauschten und aufgeregt feststellten, daß alle Meldungen übereinstimmend vom selben Gerät handelten. Er bedeckte ein leichtes Grinsen mit der Hand und beschloß, sich das für später, für Fran, zu merken.

»Dieser Flagg ist im Westen«, fuhr Glen fort. »Zahlenmäßig gleiche Gruppen haben ihn in Las Vegas, Los Angeles, San Francisco und Portland >gesehen<. Viele – unter ihnen Mutter Abagail – behaupten, daß Flagg Leute kreuzigt, die sich ihm widersetzen. Alle scheinen zu glauben, daß sich eine Konfrontation zwischen diesem Mann und uns anbahnt und Flagg vor nichts zurückschrecken wird, um uns zu vernichten. Und vor nichts zurückschrecken kann vieles heißen. Bewaffnete Streitkräfte. Kernwaffen. Vielleicht... Seuchen.«

»Ich möchte den elenden Dreckskerl schnappen«, schrie Rieh Moffat mit schriller Stimme. »Dem würde ich eine Dosis seiner beknackten Seuche verpassen!«

Befreiendes Gelächter brach los, Rieh bekam Applaus. Glen grinste. Er hatte Richard sein Stichwort und seinen Dialog eine halbe Stunde vor der Versammlung eingetrichtert, und Rieh hatte bewundernswert darauf angesprochen. Stu mußte feststellen, daß der gute alte Platte zumindest mit einem goldrichtig gelegen hatte: Bei großen Versammlungen kam eine Ausbildung in Soziologie häufig blendend zupaß.

»Nun gut, ich habe zusammengefaßt, was ich über ihn weiß«, fuhr er fort. »Mein letzter Beitrag, bevor ich die Diskussion eröffne, ist dies: Ich glaube, Stu hat recht, wenn er meint, daß wir mit Harold und Nadine zivilisiert umgehen müssen, falls wir sie erwischen, aber das halte ich, wie er, für ziemlich unwahrscheinlich. Und ich glaube, wie er, daß sie es auf Flaggs Befehl getan haben.«

Seine Worte tönten laut im Saal.

»Mit diesem Mann müssen wir uns auseinandersetzen. George Richardson hat Ihnen gesagt, Mystizismus ist nicht sein Gebiet. Meins auch nicht. Aber ich sage soviel: Ich glaube, diese sterbende alte Frau verkörpert irgendwie die Kräfte des Guten, so wie Flagg die Kräfte des Bösen verkörpert. Ich glaube, die Kraft, von der sie geleitet wird – was es auch sei -, hat sie benutzt, uns hier zu vereinen. Ich glaube nicht, daß diese Kraft uns jetzt im Stich lassen wird. Vielleicht sollten wir darüber diskutieren und versuchen, ein wenig Licht in diese Alpträume zu bringen. Vielleicht sollten wir uns allmählich entscheiden, was wir seinetwegen unternehmen. Aber er kann im nächsten Frühjahr nicht einfach in diese Zone kommen und sie übernehmen, wenn wir alle auf der Hut sind. Jetzt gebe ich das Wort an Stu zurück, der die Diskussion leiten wird.«

Sein letzter Satz ging in donnerndem Applaus unter, und Glen ging zufrieden an seinen Platz zurück. Er hatte mit einem großen Löffel gerührt... oder sollte man lieber sagen, er hatte sie wie eine Violine gespielt? Spielte eigentlich keine Rolle. Sie waren eher wütend als verängstigt, sie waren bereit für eine Herausforderung (obwohl sie nächsten April vielleicht nicht mehr so begeistert sein würden, wenn sie einen langen Winter gehabt hatten, um sich etwas abzukühlen)... und vor allem waren sie bereit zu reden.

Und sie redeten wirklich, drei Stunden lang. Gegen Mitternacht brachen einige auf, aber nicht viele. Wie Larry schon vermutet hatte, kam nichts Vernünftiges dabei heraus. Es wurden wilde Vorschläge gemacht: ein eigenes Jagdbombergeschwader und/oder Atomwaffenarsenal, ein Gipfeltreffen, eine ausgebildete Mörderschwadron. Aber kaum praktische Vorschläge.

Im Verlauf der letzten Stunde stand einer nach dem anderen auf und gab seinen Traum zum besten, was alle anderen zu faszinieren schien. Stu mußte wieder an die endlosen Diskussionen über Sex denken, an denen er (weitgehend als Zuhörer) als Teenager teilgenommen hatte.

Ihre zunehmende Bereitschaft zu reden erstaunte und rührte Glen, ebenso die spannungsgeladene Atmosphäre, welche das teilnahmslose Desinteresse zu Beginn der Versammlung verdrängt hatte. Eine große, längst überfällige Katharsis fand statt, und auch er mußte an Gespräche über Sex denken, wenn auch auf eine andere Weise. Sie sprechen wie Menschen, dachte er, die die verborgenen Geheimnisse ihrer Schuldgefühle und Unzulänglichkeiten lange Zeit für sich behalten haben, nur um nun herauszufinden, daß alles, wenn es erst einmal ausgesprochen wurde, längst nicht mehr so überlebensgroß war. Als das im Schlaf gesäte innere Entsetzen schließlich in dieser öffentlichen Marathonsitzung geerntet wurde, wurde das Entsetzen besser handhabbar... vi elleicht sogar besiegbar.

Die Versammlung löste sich um halb zwei Uhr morgens auf, und Glen verließ sie mit Stu und fühlte sich zum ersten Mal seit Nicks Tod wieder fröhlich. Er hätte das Gefühl, als hätten sie die ersten schweren Schritte aus sich selbst heraus gemacht, dem Schlachtfeld entgegen, das sie erwartete.

Er verspürte Hoffnung.



Der Strom wurde zur Mittagszeit des 5. September wieder eingeschaltet, wie Brad versprochen hatte.

Die Luftschutzsirene auf dem Dach des Gerichtsgebäudes stimmte ein lautstarkes, wimmerndes Heulen an, lockte eine Menge ängstlicher Menschen auf die Straße, wo sie panisch in den wolkenlosen Himmel sahen, um die Luftwaffe des dunklen Mannes zu erspähen. Manche flohen in ihre Keller und blieben dort, bis Brad einen durchgeschmorten Schalter fand und die Sirene ausschaltete. Dann kamen sie verschämt wieder nach oben.

Strom verursachte ein Feuer in der Willow Street, und ein paar freiwillige Feuerwehrleute rasten hin und löschten. An der Kreuzung Broadway und Walnut explodierte ein Kanaldeckel, flog fast fünfzehn Meter durch die Luft und landete wie ein großer, rostiger Flohhüpfstein auf dem Dach des Oz-Spielzeugladens. An diesem Tag, der in der Zone später Energietag genannt wurde, gab es nur einen tödlichen Unfall. Aus unbekannter Ursache explodierte eine Karosseriewerkstatt draußen in der Pearl Street. Rieh Moffat saß mit einer Flasche Jack Daniels im Schoß in einem Hauseingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite; er wurde von einem Stück Wellblech getroffen und war auf der Stelle tot. Er würde keine Schaufensterscheiben mehr einschlagen. Stu war bei Fran, als die Neonlampen in ihrem Krankenzimmer summten und aufleuchteten. Er sah sie flackern, flackern, flackern, bis sie schließlich das vertraute Licht ausstrahlten. Er konnte den Blick nicht abwenden, bis sie fast drei Minuten lang gebrannt hatten. Als er Frannie wieder ansah, glitzerten Tränen in ihren Augen.

»Fran? Was ist los? Sind es die Schmerzen?«

»Es ist wegen Nick«, sagte sie. »Es ist nicht richtig, daß Nick das nicht mehr erleben kann. Halt mich fest, Stu. Ich will für ihn beten, wenn ich kann. Ich will es wenigstens versuchen.«

Er hielt sie fest, wußte aber nicht, ob sie betete oder nicht. Plötzlich stellte er fest, daß er Nick sehr vermißte und Harold Lauder mehr haßte als je zuvor. Fran hatte recht. Harold hatte nicht nur Nick und Sue umgebracht; er hatte ihnen das Licht gestohlen.

»Psst«, sagte er. »Pssst, Frannie.«

Aber sie weinte noch lange. Als die Tränen schließlich versiegt waren, drückte er auf den Knopf, um das Bett höher zu stellen, und schaltete die Nachtlampe ein, damit sie lesen konnte.



Stu wurde wach gerüttelt; er brauchte lange, bis er zu sich kam. Eine langsame und scheinbar endlose Reihe von Namen und Leuten, die versuchen könnten, ihm den Schlaf zu rauben, zog ihm durch den Kopf. Es war seine Mutter, die ihm befahl, aufzustehen, Feuer zu machen und sich für die Schule zu richten. Es war Manuel, der Rausschmeißer in dem schäbigen kleinen Bordell in Nuevo Laredo, der ihm sagte, seine zwanzig Dollar wären verbraucht und er müßte noch zwanzig zahlen, wenn er die ganze Nacht bleiben wollte. Es war eine Schwester im weißen Overall, die seinen Blutdruck messen und einen Abstrich machen wollte. Es war Frannie.

Es war Randall Flagg.

Der letzte Name riß ihn wach wie ein Guß kaltes Wasser ins Gesicht. Es war keiner davon. Es war Glen Bateman, und neben ihm Kojak.

»Du bist schwer zu wecken, Ost-Texaner«, sagte Glen. »Du schläfst wie ein Murmeltier.« Er war nur ein vager Schatten in der fast völligen Dunkelheit.

»Du hättest für den Anfang einfach mal das Licht einschalten können.«

»Weißt du, das habe ich ganz vergessen.«

Stu schaltete die Lampe an und sah blinzelnd auf den mechanischen Wecker. Es war Viertel vor drei Uhr morgens.

»Was machst du hier, Glen? Ich habe geschlafen, falls du das nicht gemerkt haben solltest.«

Als Stu den Wecker hinstellte, sah er Glen erstmals richtig an. Er sah blaß und verängstigt aus... und alt. Er hatte tiefe Furchen im Gesicht und wirkte hager.

»Was ist los?«

»Mutter Abagail«, sagte Glen leise.

»Tot?«

»Gott behüte, ich wünschte fast, sie wäre es. Sie will uns sehen.«

»Uns beide?«

»Uns fünf. Sie...« Seine Stimme wurde rauh und heiser. »Sie wußte, daß Nick und Susan tot sind, und sie wußte, daß Fran im Krankenhaus ist. Ich weiß nicht wie, aber sie wußte es.«

»Und sie will das Komitee sehen?«

»Was davon übrig ist. Sie liegt im Sterben, und sie sagt, daß sie uns etwas mitzuteilen hat. Aber ich weiß nicht, ob ich es hören will.«



Die Nacht draußen war kalt – nicht nur frisch, sondern kalt. Die Jacke, die Stu aus dem Schrank geholt hatte, tat gut, und er machte den Reißverschluß bis oben zu. Oben stand ein frostiger Mond am Himmel; er mußte an Tom denken, der Anweisung hatte, bei Vollmond zu ihnen zurückzukommen. Dieser Mond war erst kurz nach dem ersten Viertel. Gott allein wußte, wo dieser Mond auf Tom hinuntersah, auf Dayna Jürgens, auf Richter Farris. Gott wußte, er sah auf seltsame Geschehnisse hier unten herab.

»Ich habe Ralph zuerst geweckt«, sagte Glen. »Ich habe ihm gesagt, er soll Frannie aus dem Krankenhaus holen.«

»Wenn der Doktor der Meinung wäre, daß sie aufstehen kann, hätte er sie nach Hause geschickt«, sagte Stu ärgerlich.

»Dies ist ein besonderer Fall, Stu.«

»Für jemanden, der nicht hören will, was die alte Frau zu sagen hat, bist du verdammt erpicht darauf, es ihr recht zu machen.«

»Ich habe Angst, es  nicht zu tun«, sagte Glen.



Der Jeep fuhr zehn Minuten nach drei vor Larrys Haus vor. Es war hell erleuchtet – keine Gaslampen mehr, sondern gutes elektrisches Licht. Auch jede zweite Straßenlaterne brannte, nicht nur hier, sondern überall in der Stadt, und Stu hatte sie während der Fahrt in Glens Jeep immer wieder fasziniert betrachtet. Die letzten nächtlichen Insekten des Sommers flogen kraftlos und träge vor Kälte gegen die Natriumdampfkugeln.

Als sie aus dem Jeep stiegen, bogen Scheinwerfer um die Ecke. Es war Ralphs klappriger alter Lastwagen, und er fuhr bis an den Kühler des Jeeps. Ralph stieg aus, und Stu eilte zur Beifahrerseite, wo Fran saß, mit einem gesteppten Sofakissen im Rücken.

»Hallo, Baby«, sagte er leise.

Sie nahm seine Hand. Ihr Gesicht war eine blasse Scheibe in der Dunkelheit.

»Schlimme Schmerzen?« fragte Stu.

»Es geht. Ich habe ein paar Advil genommen. Aber verlang nicht, daß ich Sprünge mache.«

Er half ihr aus dem Wagen, und Ralph nahm ihren anderen Arm. Beide sahen sie zusammenzucken, als sie vom Auto wegging.

»Soll ich dich tragen?«

»Nicht nötig. Aber leg den Arm um mich, hm?«

»Klar doch.«

»Und mach langsam. Wir Großmütterchen können nicht so schnell.«

Sie gingen mehr schlurfend als gehend hinten um Ralphs Lastwagen herum. Als sie auf dem Gehweg waren, sah Stu, daß Ralph, Glen und Larry in der Tür standen und ihnen entgegensahen. Gegen das Licht sahen sie wie aus schwarzer Pappe ausgeschnittene Gestalten aus.

»Was meinst du, worum geht es?« murmelte Frannie.

Stu schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

Sie gingen den Weg entlang, Frannie jetzt offensichtlich unter Schmerzen, und Ralph half Stu, sie ins Haus zu führen. Larry sah so blaß und bekümmert aus wie Glen. Er trug verblichene Jeans, ein Hemd, das aus der Hose hing und am untersten Knopfloch falsch geknöpft war, sowie teure Mokassins an den bloßen Füßen.

»Es tut mir wahnsinnig leid, daß ich euch wecken mußte«, sagte er.

»Ich bin bei ihr gesessen und ab und zu eing enickt. Wir haben Wache gehalten.«

»Ja. Ich verstehe«, sagte Frannie. Aus irgendwelchem Grund erinnerte der Ausdruck »Wache gehalten« sie an den Salon ihrer Mutter.,, und zwar in einem freundlicheren, versöhnlicheren Licht als je zuvor.

»Lucy war etwa eine Stunde im Bett. Ich bin aus meinem Dösen hochgeschreckt und – Fran, kann ich dir helfen?«

Fran schüttelte den Kopf und lächelte angestrengt. »Nein, ich komme zurecht. Mach weiter.«

»... und sie hat mich angesehen. Sie kann nur flüstern, aber man kann sie deutlich verstehen.« Larry schluckte. Alle fünf standen jetzt im Vorraum. »Sie sagte, der Herr würde sie bei Sonnenaufgang zu sich holen. Aber sie müsse erst noch mit denjenigen von uns reden, die Gott noch nicht geholt hat. Ich habe sie gefragt, was sie meinte, und sie sagte, Gott hätte Nick und Susan geholt. Sie wußte es.« Er stöhnte heiser und fuhr sich mit den Händen durch das lange Haar. Lucy erschien am Ende des Flurs. »Ich habe Kaffee gemacht. Er steht hier, wenn ihr wollt.«

»Danke, Liebes«, sagte Larry.

Lucy sah unsicher aus. »Soll ich mit euch rein? Oder ist es geheim, wie das Komitee?«

Larry sah Stu an, der leise sagte: »Komm nur mit. Ich habe so eine Ahnung, als würden keine großen Enthüllungen mehr kommen.«

Frannies wegen gingen sie langsam durch den Flur zum Schlafzimmer.

»Sie wird es uns sagen«, sagte Ralph plötzlich. »Mutter wird es uns sagen. Kein Grund zur Ungeduld.«

Sie gingen zusammen hinein, und Mutter Abagail sah sie mit ihren hellen, sterbenden Augen an.



Fran wußte um die körperliche Verfassung der alten Frau, aber es war dennoch ein häßlicher Schock. Mutter Abagail bestand nur noch aus einer trockenen Membran von Haut und Sehnen, die die Knochen zusammenhielt. Im Zimmer roch es nicht einmal nach Fäulnis und bevorstehendem Tod; vielmehr herrschte ein trockener Geruch nach Dachboden vor... nein, ein Geruch nach Salon. Die halbe Infusionsnadel ragte aus ihrem Fleisch, weil sie einfach keinen Platz hatte.

Aber die Augen hatten sich nicht verändert. Sie waren sanft und gütig und menschlich. Das war eine Erleichterung, aber dennoch empfand Fran so etwas wie Entsetzen... nicht eigentlich Angst, aber vielleicht etwas Geheiligteres – Ehrfurcht. War es Ehrfurcht? Ein Gefühl des Kommenden. Kein Verhängnis, aber es war, als hinge eine entsetzliche Verantwortung wie ein Stein über ihren Köpfen.

  Der Mensch denkt, Gott lenkt.

»Setz dich, kleines Mädchen«, flüsterte Mutter Abagail. »Du hast Schmerzen.«

Larry führte sie zu einem Sessel, und Fran setzte sich mit einem dünnen, pfeifenden Seufzer der Erleichterung, obwohl sie wußte, selbst das Sitzen würde ihr nach einer Weile Schmerzen bereiten. Mutter Abagail sah sie immer noch mit diesen hellen Augen an. »Du bist schwanger«, flüsterte sie.

»Ja... wie...«

»Pssst...«

Schweigen senkte sich über den Raum, tiefes Schweigen. Fasziniert, hypnotisiert sah Fran die alte Frau an, die zuerst in ihren Träumen und dann in ihrem Leben aufgetaucht war.

»Schau aus dem Fenster, kleines Mädchen.«

Fran wandte den Kopf zum Fenster, wo Larry vor zwei Tagen gestanden und die versammelten Menschen beobachtet hatte. Sie sah keine erdrückende Dunkelheit, sondern ruhiges Licht. Es war nicht der Widerschein des Zimmers; es war das Licht des dämmernden Morgens. Sie sah das schwache, leicht verzerrte Bild eines Kinderzimmers mit karierten Vorhängen. Dort stand ein Kinderbett –  aber es war leer. Dort stand ein Laufstall – leer. Ein Mobile aus hellen Plastikschmetterlingen –  nur vom  Wind bewegt. Grauen legte seine kalten Hände um ihr Herz. Die anderen sahen es ihrem Gesicht an, verstanden es aber nicht; sie sahen nur ein von der Straßenlaterne erhelltes Stück Rasen durch das Fenster.

»Wo ist das Baby?« fragte Fran heiser.

»Stuart ist nicht der Vater des Babys, kleines Mädchen. Aber sein Leben liegt in Stuarts und in Gottes Händen. Der Junge wird vier Väter haben. Wenn Gott ihn überhaupt atmen läßt.«

»Wenn er atmen...«

»Das hat Gott vor meinen Augen verborgen«, flüsterte sie.

Das leere Kinderzimmer war verschwunden. Fran sah nur Dunkelheit. Und jetzt ballte das Grauen die Hände zu Fäusten, und ihr Herz schlug dazwischen.

Mutter Abagail flüsterte: »Der Dämon hat seine Braut gerufen, und er will ihr ein Kind zeugen. Wird er dein Kind leben lassen?«

»Hören Sie auf«, stöhnte Frannie. Sie legte die Hände vors Gesicht. Stille, tiefe Stille lag wie Schnee im Raum. Glen Batemans Gesicht war ein alter trüber Scheinwerfer. Lucy strich mit der rechten Hand unablässig über den Kragen ihres Bademantels. Ralph hielt den Hut in der Hand und zupfte zerstreut an der Feder. Stu sah zu Frannie, konnte aber nicht zu ihr gehen. Jetzt nicht. Er mußte kurz an die Frau bei der Versammlung denken, die hastig Augen, Ohren und Mund bedeckt hatte, als der dunkle Mann erwähnt worden war.

»Mutter, Vater, Frau, Mann«, flüsterte Mutter Abagail. »Auf der anderen Seite der Fürst der hohen Stätten, der Herr des dunklen Morgens. Ich habe in meinem Stolz gesündigt. Ihr habt alle im Stolz gesündigt. Wißt ihr nicht, daß geschrieben steht, ihr sollt nicht in die Fürsten und Herren dieser Welt euren Glauben setzen?«

Sie sahen sie an.

»Elektrisches Licht ist nicht die Antwort, Stu Redman, CB-Funk auch nicht, Ralph Brentner. Soziologie macht ihm kein Ende, Glen Bateman. Und deine Buße um ein Leben, das längst ein versiegeltes Buch ist, wird es nicht aufhalten können, Larry Underwood. Und dein Sohn wird es auch nicht aufhalten, Fran Goldsmith. Der böse Mond ist aufgegangen. Ihr seid nichts vor dem Antlitz des Herrn.«


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