Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
Жанр:
Ужасы
сообщить о нарушении
Текущая страница: 54 (всего у книги 100 страниц)
»Noch ein Zentimeter«, sang Kid mit aufgerissenen Augen und breitem Grinsen. »Nur... noch... einer.«
Dann ging alles sehr schnell. Mülleimermann spürte, wie der rechte Hinterreifen des Autos plötzlich nach außen und steil abwärts rutschte. Er hörte eine abstürzende Lawine, erst kleine Kiesel, dann größere Steine. Er schrie. Kid fluchte gräßlich, schaltete in den ersten Gang und trat das Gaspedal durch. Links, wo sie sich millimeterweise am umgestürzten Wrack eines VWBus vorbeigetastet hatten, ertönte das Knirschen von Metall auf Metall.
» Flieg!« schrie Kid. » Flieg wie ein Vogel! Flieg! Gottverdammt, FLIEG!«
Die Hinterreifen des Coupe drehten durch. Einen Augenblick schienen sie sich noch mehr dem Abgrund zuzuneigen. Dann schnellte das Auto vorwärts, nach oben, und sie waren wieder auf der Straße, auf der anderen Seite des Unfalls, und gaben Gas.
» Ich hab' dir doch gesagt, daß wir es schaffen!« schrie Kid triumphierend. » Gottverdammt! Harn wir's nicht geschafft? Habn wir's nicht geschafft, Mülli, elender, feiger Schwanzlutscher?«
»Wir haben es geschafft«, sagte der Mülleimermann leise. Er zitterte am ganzen Körper. Er konnte es nicht verhindern. Und dann sagte er zum zweiten Mal, seit er Kid getroffen hatte, unwissentlich das einzige, das ihm das Leben rettete – hätte er es nicht gesagt, hätte Kid ihn zweifellos erschossen; für ihn wäre es eine seltsame Form von Feier gewesen. »Gut gefahren, Sportsfreund«, sagte er. Er hatte in seinem ganzen Leben noch niemanden »Sportsfreund« genannt.
»Ach... so gut auch wieder nicht«, sagte Kid verächtlich. »Es gibt mindestens noch zwei im Land, die das geschafft hätten. Glaubste die Heißescheiße ?«
»Wenn du meinst, Kid.«
»Brauchst mir nichts zu sagen, Süßer, ich sag's dir. Und weiter geht's. Augen zu und durch.«
Aber sie fuhren nicht lange weiter. Fünfzehn Minuten später mußte das Coupe des Kid endgültig anhalten, achtzehnhundert Meter oder mehr von seinem Ausgangspunkt in Shreveport, Louisiana, entfernt.
»Das kann ich nicht glauben«, sagte Kid. »Verflucht noch mal... das kann ich nicht... GLAUBEN!«
Er riß die Fahrertür auf und sprang hinaus, ohne die noch viertelvolle Flasche Rebell Yell aus der Hand zu geben.
»RUNTER VON MEINER STRASSE!« brüllte Kid und tanzte in seinen grotesken hochhackigen Stiefeln herum, eine winzige zerstörerische Naturgewalt, wie ein Erdbeben in der Flasche.
»RUNTER VON MEINER STRASSE, IHR WICHSER, IHR SEID TOT, IHR GEHÖRT ALLE AUF 'N FRIEDHOF, IHR HABT AUF MEINER STRASSE NICHTS ZU SUCHEN!«
Er warf die Flasche Rebell Yell, die sich überschlug und bernsteinfarbene Flüssigkeit verspritzte. An der Flanke eines alten Porsche zerschellte sie in tausend Scherben. Kid stand schweigend da, keuchte und wippte leicht auf den Schuhsohlen. Diesmal war das Problem keine Kleinigkeit wie ein Unfall mit vier Wagen. Diesmal bildete der Verkehr an sich das Problem. Hier wurden die Fahrspuren in östliche und westliche Richtung von einem etwa zehn Meter breiten begrünten Mittelstreifen getrennt, und das Coupe hätte es möglicherweise von einer Seite des Highway auf die andere geschafft, aber der Zustand war auf beiden Fahrspuren derselbe: Auf den vier Fahrspuren stand sechsspurig der Verkehr, Stoßstange an Stoßstange und Seite an Seite. Die Standspuren waren so verstopft wie die Fahrbahn. Ein paar Fahrer hatten sogar versucht, auf dem Mittelstreifen selbst weiterzukommen, obwohl dieser uneben und voller Felsbrocken war, die wie Drachenzähne aus dem grauen Boden ragten. Vielleicht hätten hohe Geländewagen mit Allradantrieb hier Erfolg gehabt, aber Müll sah nur einen Friedhof mit schrottreifem, zerschelltem und verbeultem Blech aus Detroit. Es war, als wären alle Fahrer gleichzeitig vom selben Wahnsinn überkommen worden und hätten beschlossen, hier hoch auf der I-70 ein wahnsinniges Carambolagerennen zu veranstalten. Colorado Rocky Mountain High, dachte der Mülleimermann, I've seen it raining Chevies in the sky– ich habe gesehen, wie es Chevies vom Himmel regnete. Er kicherte fast und hielt sich hastig den Mund zu. Wenn Kid ihn jetzt kichern hörte, würde er höchstwahrscheinlich nie wieder kichern.
Kid kam mit seinen hochhackigen Stiefeln zurückgestapft, das sorgfältig coiffierte Haar glänzte. Sein Gesicht war das eines Zwergbasilisken. Wut loderte in den Augen. »Ich lass' das Scheißauto nicht hier«, sagte er. »Kapiert? Auf keinen Fall. Ich lass' es nicht hier. Lauf los, Mülli. Lauf los und sag mir, wie weit der elende Stau geht. Vielleicht ein LKW auf der Straße, ich weiß nicht. Wir können nicht umkehren. Der Straßenrand ist abgestürzt, wir würden runterrutschen. Wenn es ein umgestürzter Lastwagen ist, ist es mir scheißegal. Ich fahr' jedes einzelne Miststück über den Rand hinunter. Das kann ich, und diese Heißescheiße solltest du besser glauben. Beeil dich, Junge.«
Müll widersprach nicht. Er ging vorsichtig, zwischen den liegengebliebenen Autos durch, die Straße entlang. Er war bereit, sich zu ducken und wegzulaufen, sollte Kid schießen. Aber Kid schoß nicht. Als Mülleimer eine seiner Meinung nach sichere Entfernung zurückgelegt hatte (d. h. außer Revolverreichweite), kletterte er auf einen Tanklastzug und sah zurück. Kid, Miniaturpunkt aus der Hölle, auf die Entfernung von einer halben Meile tatsächlich nur noch so groß wie eine Puppe, lehnte mürrisch an der Seite seines Autos und trank. Mülleimermann überlegte, ob er winken sollte, kam aber zum Ergebnis, daß das doch keine so gute Idee war.
Der Mülleimermann begann seinen Fußmarsch an diesem Tag gegen zehn Uhr dreißig MDT vormittags. Er kam langsam voran und mußte häufig über Hauben und Dächer von Autos klettern, so dicht standen sie, und als er das erste TUNNEL-GESPERRT-Schild erreichte, war es bereits Viertel nach drei nachmittags. Er hatte etwa zwölf Meilen zurückgelegt. Zwölf Meilen waren nicht viel – nicht für jemand, der zwanzig Prozent des Landes auf dem Fahrrad durchquert hatte -, aber wenn man die Hindernisse bedachte, waren zwölf Meilen recht eindrucksvoll. Er hätte schon längst umkehren und Kid sagen können, daß es unmöglich war... das heißt, wenn er je die Absicht gehabt hätte, wieder umzukehren. Was er selbstverständlich nicht hatte. Der Mülleimermann hatte nie viel über Geschichte gelesen (nach der Elektroschocktherapie war ihm das Lesen irgendwie schwergefallen), aber er mußte auch nicht wissen, daß in alten Zeiten Könige und Kaiser Überbringer schlechter Nachrichten häufig aus simpler Pikiertheit töten ließen. Was er wußte, war ausreichend: Er hatte genügend von Kid gesehen, um zu wissen, daß er nicht noch mehr sehen wollte.
Er stand da und betrachtete das Schild, schwarze Buchstaben auf orangefarbenem, rautenförmigem, Grund. Es war umgefahren worden und lag unter dem Reifen eines Yugo, der wie der älteste der Welt aussah. TUNNEL GESPERRT. WelcherTunnel? Er sah voraus, schirmte die Augen ab und dachte, er könnte etwassehen. Er ging dreihundert Meter weiter, kletterte über Autos, wenn es erforderlich war, und kam zu einem beunruhigenden Wirrwarr verkeilter Fahrzeuge und Leichen. Manche Autos und Lastwagen waren bis auf die Achsen niedergebrannt. Bei vielen handelte es sich um Armeefahrzeuge. Viele Leichen trugen Khaki. Hinter diesem Schauplatz eines Kampfes – Müll war sicher, daß es sich darum handelte – begann der Verkehrsstau wieder. Und dahinter verschwand der Verkehr Richtung West und Ost in den beiden dunklen Löc hern eines Tunnels, den ein in den Fels geschraubtes Schild als EISENHOWER TUNNEL identifizierte.
Er trat mit klopfendem Herzen näher, wußte aber nicht recht, was er eigentlich vorhatte. Der in den Fels hineingetriebene Doppelschacht schüchterte ihn ein, und als er näherkam, wurde daraus regelrechtes Entsetzen. Er hätte voll und ganz verstanden, was Larry Underwood vor dem Lincoln Tunnel empfunden hatte; in diesem Augenblick waren sie unwissentlich verwandte Seelen, in nacktem Grausen vereint.
Der Hauptunterschied war der, daß der Fußgängerweg im Lincoln Tunnel hoch über der Straße lag, hier dagegen so niedrig, dass manche Autos tatsächlich versucht hatten, an der Seite zu fahren, zwei Reifen auf dem Fußweg und zwei auf der Straße. Der Tunnel war zwei Meilen lang. Man konnte ihn nur durchqueren, indem man in völliger Finsternis von Auto zu Auto kroch. Das würde Stunden dauern.
Der Mülleimermann spürte, wie seine Eingeweide zu Wasser wurden.
Er sah lange Zeit in den Tunnel hinein. Larry Underwood hatte seinen Tunnel vor mehr als einem Monat trotz seiner Angst betreten. Nach reiflicher Überlegung drehte sich der Mülleimermann um und ging mit hängenden Schultern und zuckenden Mundwinkeln Richtung Kid zurück. Er machte nicht nur kehrt, weil es keine mühelose Möglichkeit zu gehen gab oder weil der Tunnel so lang war (Müll hatte sein ganzes Leben in lowa verbracht und keine Ahnung, wie lang der Eisenhower Tunnel war). Larry Underwood war von Eigennutz getrieben (möglicherweise beherrscht) worden, von der simplen Logik des Überlebens. New York war eine Insel, er mußte runter. Der Tunnel war der schnellste Weg. Also wollte er, so schnell es ging, hindurch, so wie man sich die Nase zuhielt und schnell schluckte, wenn man wußte, die Medizin schmeckte schlecht. Der Mülleimermann war eine geschlagene Kreatur und daran gewöhnt, die Hiebe und Knüffe des Schicksals und seiner eigenen unerklärlichen Natur hinzunehmen... und zwar mit gesenktem Kopf. Seine katastrophale Begegnung mit The Kid hatte ihn darüber hinaus entmannt, sie war fast einer Gehirnwäsche gleichgekommen. Er war mit Geschwindigkeiten dahingebraust, die Gehirnschäden hervorrufen konnten. Er war unter Todesdrohung gezwungen worden, eine Dose Bier in einem Zug leerzutrinken und sich hinterher nicht zu übergeben. Er war zu Analverkehr mit einem Revolverlauf gezwungen worden. Er wäre fast dreihundert Meter tief vom Straßenrand abgestürzt. Konnte er es, als krönenden Abschluß, da noch ertragen, durch ein Loch im Berg zu kriechen, ein Loch, in dem er wer weiß welche Schrecken der Dunkelheit kennenlernen mochte? Nein. Andere vielleicht, aber nicht der Mülleimermann. Zudem besaß die Vorstellung umzukehren eine gewisse Logik. Zugegeben, es war die Logik des Geschlagenen und halb Wahnsinnigen, aber sie besaß dennoch ihre ureigene perverse Faszination. Er war nicht auf einer Insel. Wenn er den ganzen restlichen heutigen und den morgigen Tag zurückgehen mußte, um eine Straße zu finden, die über den Berg führte, anstatt durch ihn hindurch, würde er es auf sich nehmen. Richtig, er mußte an Kid vorbei, aber er dachte, Kid könnte seine Meinung geändert haben und schon aufgebrochen sein, obwohl er das Gegenteil geschworen hatte. Vielleicht war er sturzbetrunken. Vielleicht war er auch (obwohl Müll bezweifelte, daß ihm so außergewöhnliches Glück widerfahren würde) schon tot. Schlimmstenfalls konnte Müll, sofern Kid noch da war, noch beobachtete und wartete, einfach abwarten, bis es dunkel wurde, und dann an ihm vorbeischleichen wie ein ( Wiesel) kleines Tier im Unterholz. Dann würde er einfach weiter nach Osten gehen, bis er die Straße gefunden hatte, die er suchte.
Er kam zu dem Tanklastwagen, von dem er Kid und dessen mythisches Coupe zuletzt gesehen hatte; auf dem Rückweg war er schneller vorangekommen. Diesmal kletterte er nicht hinauf, wo er als Silhouette vor dem Abendhimmel leicht zu sehen gewesen wäre, sondern kroch auf Händen und Knien von einem Auto zum anderen und versuchte, ganz leise zu sein. Vielleicht war Kid wach und wachsam. Bei einem wie Kid konnte man nie wissen... und es zahlte sich nicht aus, Risiken einzugehen. Er wünschte sich, er hätte die Waffe eines der Soldaten mitgenommen, obwohl er in seinem ganzen Leben noch nie geschossen hatte. Er kroch weiter; die spitzen Steine auf der Straße bohrten sich schmerzhaft in seine Klauenhand. Es war acht Uhr, die Sonne war hinter den Bergen untergegangen.
Müll duckte sich hinter die Haube des Porsche, an den Kid die Whiskeyflasche geworfen hatte, und spähte vorsichtig darüber. Ja, da war Kids Coupe mit der glänzenden Goldbemalung, der konvexen Scheibe und der Haifischflosse, die in den blutergußfarbenen Himmel stach. Kid saß zusammengesunken hinter dem fluoreszierenden Lenkrand und hatte die Augen zu und den Mund offen. Mülleimers Herz klopfte einen trommelnden Siegestanz in der Brust. Hackevoll! verkündete sein Herz in zwei Schlägen. Hackevoll! Bei Gott! Hackevoll!Müll dachte, er könnte zwanzig Meilen östlich sein, bis Kid mit seinem Kater aufwachte.
Trotzdem war er vorsichtig. Er huschte von einem Auto zum nächsten wie ein Wasserfloh, der über die ruhige Oberfläche eines Teichs hüpft, umrundete das Coupe links, hastete über die immer breiteren Lücken. Jetzt lag das Coupe bei neun Uhr links von ihm, jetzt bei sieben und jetzt bei sechs, direkt hinter ihm. Jetzt nur noch Entfernung zwischen sich und diesen verrückten...
»Bleib bloß stehen, du brunzdummer Schwanzlutscher.«
Müll erstarrte auf Händen und Knien. Er machte Pipi in die Hose, sein Verstand verwandelte sich in eine irre flatternde Amsel der Panik.
Er drehte sich um, die Sehnen in seinem Hals ächzten wie Türangeln in einem Spukhaus. Und da stand Kid. Er trug jetzt ein irisierendes grünes Hemd und ein Paar sonnengebleichte Cordhosen. In jeder Hand einen Fünfundvierziger, das Gesicht eine Grimasse aus Hass und Wut.
»Ich wollte gerade den Weg da runter abchecken«, hörte Mülleimermann sich sagen. »Um sicherzugehen, daß der Weg frei ist.«
»Klar, auf Händen und Knien, Pißnelke. Ich werd' deinen verdammten Weg freimachen. Steh auf.«
Müll kam irgendwie auf die Füße und blieb auf denselben, indem er sich am Türgriff eines Autos rechts von sich festhielt. Die beiden Mündungen der 45er von Kid sahen genauso aus wie die beiden Röhren des Eisenhower Tunnel. Jetzt sah er dem Tod ins Auge. Das wußte er. Diesmal gab es keine passenden Worte, ihm zu entgegnen.
Er sprach ein stummes Gebet zum dunklen Mann: Bitte... wenn es dein Wille ist... mein Leben für dich!
»Was ist da oben?« fragte Kid. »Ein Unfall?«
»Ein Tunnel. Völlig verstopft. Darum bin ich zurückgekommen, um es dir zu sagen. Bitte...«
»Ein Tunnel«, stöhnte Kid. »Beim kahlköpfigen Heiland!« Seine Miene wurde wieder finster. »Lügst du mich an, elende Tunte?«
» Nein! Ich schwöre es! Auf dem Schild stand Leesenhoover Tunnel. Ich glaube, das stand da, aber ich habe Mühe mit langen Worten. Ich...«
»Halt die Klappe. Wie weit?«
»Acht Meilen. Vielleicht mehr.«
Kid schwieg einen Moment und sah nach Westen über die Straße. Dann betrachtete er Mülleimer mit glitzernden Augen. »Willste mir weismachen, daß der Stau acht Meilen lang ist? Verlogener Drecksack!« Kid spannte die Hähne beider Revolver halb. Müll, der halb gespannt nicht von ganz gespannt und ganz gespannt nicht von einer Tüte Wanzen hätte unterscheiden können, kreischte wie eine Frau und legte die Hände vor die Augen.
» Ungelogen!« schrie er. » Ungelogen! Ich schwöre es! Ich schwöre es!«
Kid sah ihn lange Zeit an. Schließlich ließ er die Hähne der Revolver wieder sinken.
»Ich bring' dich um, Mülli«, sagte er lächelnd. »Ich puste dir dein jämmerliches Licht aus. Aber vorher gehen wir zu dem Unfall von heute morgen zurück. Du wirst den VW-Bus über den Rand schieben. Dann kehr' ich um und such 'nen anderen Weg. Ich geh' nicht ohne mein Scheißauto«, fügte er quengelnd hinzu. »Auf keiheinen Fall.«
»Bitte, bring mich nicht um«, flüsterte Müll. »Bitte nicht.«
»Wenn du den VW in weniger als fünfzehn Minuten über den Rand bringst, vielleicht nicht«, sagte Kid. »Glaubste die Heißescheiße?«
»Ja«, sagte Müll. Aber er hatte tief in die unnatürlich glitzernden Augen sehen können und glaubte es ganz und gar nicht. Sie gingen zu der Unfallstelle zurück, Mülleimermann mit wackligen Knien voraus. Kid schritt trippelnd aus, seine Lederjacke ächzte leise in ihren geheimen Falten. Ein vages, fast liebliches Lächeln umspielte seinen Puppenmund.
Als sie die Unfallstelle erreichten, war die Dämmerung fast vorbei. Der VW Bus lag auf der Seite, die Leichen der drei oder vier Insassen bildeten ein Durcheinander von Armen und Beinen, das gnädigerweise in der zunehmenden Dunkelheit kaum zu sehen war. Kid ging an dem Bus vorbei zum Straßenrand und betrachtete die Stelle, wo sie zehn Stunden vorher vorbeigeschrammt waren. Eine Reifenspur des Coupe war noch da, aber die andere war zusammen mit der Böschung abgestürzt.
»Nee«, sagte Kid endgültig. »Hier kommen wir nie vorbei, wenn wir vorher nicht gründlich aufräumen. Brauchste mir nicht zu sagen, ich sag's dir.«
Einen Augenblick spielte Mülleimer mit dem Gedanken, auf Kid loszustürmen und ihn über den Rand zu stoßen. Dann drehte Kid sich um. Er hatte die Revolver gezogen und beiläufig auf Mülls Leibesmitte gerichtet.
»Aber Mülli. Hast böse Gedanken gehabt. Und keine Ausreden. Ich kann dich lesen wie ein offenes Buch.«
Mülleimer schüttelte heftig widersprechend den Kopf hin und her.
»Mach keinen Fehler mit mir, Mülli. Um nichts auf der Welt solltest du das machen. Und jetzt schieb diesen Bus weg. Du hast fünfzehn Minuten.«
In der Nähe parkte ein Austin auf dem unterbrochenen Mittelstreifen. Kid machte die Beifahrertür auf, zerrte beiläufig den aufgedunsenen Leichnam eines Teenagermädchens heraus (ihr Arm riß in seiner Hand ab, er warf ihn geistesabwesend weg wie ein Mann, der einen Truthahnknochen abgenagt hat) und setzte sich auf den Beifahrersitz, so daß die Füße draußen auf dem Asphalt blieben. Er gestikulierte gutgelaunt mit den Revolvern zu der geduckten, schlotternden Gestalt des Mülleimermanns.
»Zeit läuft, Kumpel.« Er warf den Kopf zurück und sang: »Oh... da kommt Johnny mit dem Fimmel in der Hand, hat nur ein Ei und geht Loszum Ro-dee-Oh... ganz recht, Mülli, elender Waschlappen, mach dich dran, nur noch zwölf Minuten übrig... und links rechts links rechts, komm schon, alter Dummkopf, setz dich in Bewegung...«
Müll lehnte sich gegen den Bus. Spannte die Beine an und drückte. Der Bus glitt vielleicht fünf Zentimeter Richtung Abgrund. In seinem Herzen wuchs wieder Hoffnung – dieses unverwüstliche Unkraut des menschlichen Herzens. Kid war irrational, impulsiv, Carley Yates und seine Billardkumpel hätten gesagt, verrückter als eine Scheißhausratte. Vielleicht würde der Irre ihn wirklich leben lassen, wenn er den Bus tatsächlich über den Rand stoßen und damit Platz für Kids kostbares Coupe schaffen konnte.
Vielleicht.
Er senkte den Kopf, packte den Rand der Karosserie des VW und schob mit aller Kraft. Schmerzen loderten in seinem erst kürzlich verbrannten Arm auf, er wußte, gleich würde das empfindliche neue Gewebe aufplatzen. Dann würden die Schmerzen zur Qual werden. Der Bus bewegte sich sieben Zentimeter. Schweiß troff von Mülleimers Stirn und rann ihm in die Augen, wo er wie warmes Motorenöl brannte.
»Oh, da kommt Johnny mit dem Pimmel in der Hand, hat nur ein Ei und geht LOSzum Ro-dee– Oh« sang Kid. »Und allemannlinks, allemannr...«
Das Lied brach ab wie ein trockener Zweig. Mülleimermann sah erschrocken auf. Kid war vom Beifahrersitz des Austin aufgestanden. Er hatte Müll das Profil zugekehrt und starrte über ihre Hälfte der Straße zu den östlichen Fahrspuren. Dahinter erhob sich ein Felshang voll Gestrüpp, der den halben Himmel verdeckte.
»Scheiße, was war denn das?« flüsterte Kid.
»Ich hab' nichts geh...«
Aber dann hörteer etwas. Er hörte das leise Prasseln von Geröll und Steinen auf der anderen Seite des Highway. Seine Träume fielen ihm so unvermittelt heftig wieder ein, daß sein Blut gefror und sämtliche Spucke in seinem Mund verdampfte.
» Wer ist da?« brüllte Kid. » Antworte! Antworte, verdammt, oder ich schieße!«
Und er bekam Antwort, aber nicht von einer menschlichen Stimme. Ein Heulen schwoll in der Nacht an wie eine heisere Sirene, das zuerst anstieg und dann rasch zu einem tiefen, kehligen Knurren sank.
»Heiliger Jesus!« sagte Kid mit plötzlich dünner Stimme. Wölfe kamen den Hang herunter und überquerten den weißen Streifen am Rand des Highway, hagere graue Gebirgswölfe mit roten Augen und aufgerissenen, geifernden Mäulern. Es waren mehr als zwei Dutzend. Mülleimer machte in der Ekstase des Entsetzens wieder Pipi in die Hose.
Kid kam um die Karosserie des Austin herum, legte die Fünfundvierziger an und fing an zu feuern. Flammen loderten aus den Mündungen; die Schüsse hallten von den Bergwänden wider, bis es sich anhörte, als wäre eine ganze Artillerie im Einsatz. Mülleimermann schrie auf und steckte die Zeigefinger in-die Ohren. Der Nachtwind verwehte den frischen, beißenden, heißen Revolverrauch. Schießpulvergestank stach in der Nase. Die Wölfe kamen ungerührt näher, nicht schneller und nicht langsamer. Ihre Augen... der Mülleimermann konnte den Blick nicht von ihren Augen nehmen. Es waren nicht die Augen gewöhnlicher Wölfe; davon war er überzeugt. Es waren die Augen ihres Herrn, dachte er. Ihres Herrn und seines Herrn. Plötzlich fiel ihm sein Gebet wieder ein, und er hatte keine Angst mehr. Er nahm die Finger aus den Ohren. Er achtete nicht auf die Nässe, die sich in seinem Schritt ausbreitete. Er fing an zu lächeln.
Kid hatte beide Revolver leergeschossen und damit drei Wölfe niedergestreckt. Er steckte die Waffen ins Halfter, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sie nachzuladen, und wandte sich nach Westen. Er ging etwa zehn Schritte, dann blieb er stehen. Auf den Fahrspuren nach Westen kamen ebenfalls Wölfe daher, sie schlichen zwischen den dunklen Formen der liegengebliebenen Fahrzeuge dahin wie vereinzelte Nebelschwaden. Einer hob die Schnauze himmelwärts und heulte. Ein zweiter Schrei gesellte sich dazu, ein dritter zum zweiten, schließlich ein ganzer Chor zum dritten. Dann trotteten sie weiter.
Kid wich zurück. Jetzt versuchte er, einen Revolver zu laden, aber die Kugeln fielen ihm aus den nervösen Fingern. Plötzlich gab er auf.
Die Waffe fiel ihm aus der Hand und polterte auf die Straße. Die Wölfe stürmten auf ihn zu, als wäre das ein Signal gewesen. Kid warf sich mit einem schrillen, dünnen Angstschrei herum und lief zu dem Austin. Beim Laufen fiel der zweite Revolver aus dem tiefhängenden Halfter und polterte auf die Straße. Mit tiefem, bedrohlichem Knurren sprang der erste Wolf auf ihn zu, als Kid sich eben in den Austin warf und die Tür zuschlug.
Er schaffte es gerade. Der Wolf prallte von der Tür ab, knurrte und rollte die roten Augen auf gräßliche Weise. Die anderen gesellten sich zu ihm, Augenblicke später war der Austin von Wölfen umzingelt. Kids Gesicht im Inneren war ein kleiner weißer Mond, der heraussah.
Dann kam einer der Wölfe auf den Mülleimermann zu; er hatte den dreieckigen Kopf gesenkt, die Augen glühten wie Sturmlampen.
Mein Leben für dich...
Müll ging ihm festen Schrittes und überhaupt nicht ängstlich entgegen. Er streckte die verbrannte Hand aus, und der Wolf leckte sie. Nach einem Augenblick ließ er sich zu Mülls Füßen nieder und legte den zotteligen, buschigen Schwanz um die Schnauze. Kid starrte ihn mit offenem Mund an.
Mülleimermann lächelte ihm in die Augen und zeigte ihm den Mittelfinger.
Beide Mittelfinger.
Und er schrie: »Hol dich der Teufel! Du bist fertig! Hast du verstanden? GLAUBSTE DIE HEISSESCHEISSE? FERTIG! BRAUCHSTE MIR NICHT ZU SAGEN, ICH SAG'S DIR!«
Der Wolf schloß das Maul sanft um Mülls gute Hand. Dieser sah nach unten. Der Wolf stand wieder und zog ihn sanft weiter. Zog ihn nach Westen.
»Gut«, sagte Mülleimer gelassen. »Okay, Junge.«
Er setzte sich in Marsch, und der Wolf fiel gleich hinter ihm ein und folgte ihm wie ein gut abgerichteter Hund. Als sie weitergingen, kamen fünf andere zwischen den liegengebliebenen Autos hervor und gesellten sich zu ihnen. Jetzt ging ihm ein Wolf voraus, zwei an seiner Seite, einer hinter ihm, als wäre er ein Würdenträger mit Eskorte.
Er blieb einmal stehen und sah über die Schulter. Er vergaß nie, was er sah: einen Ring Wölfe, die geduldig in einem grauen Kreis um den Austin herumsaßen, und die blasse Scheibe von Kids Gesicht, der herausstarrte und hinter dem Fenster den Mund bewegte. Die Wölfe schienen Kid anzugrinsen, die Zungen hingen ihnen aus den Mäulern. Sie schienen ihn zu fragen, wie lange es denn noch dauern würde, bis er den dunklen Mann mit einem Arschtritt aus dem ollen Lost Wages hinausbeförderte. Wie lange genau?
Der Mülleimermann fragte sich, wie lange diese Wölfe um den kleinen Austin herumsitzen und ihn mit einem Ring aus Zähnen umzingeln würden. Die Antwort lautete selbstverständlich, solange es eben erforderlich sein würde. Zwei Tage, drei, vielleicht sogar vier. Kid würde drinnen sitzen und nach draußen schauen. Nichts zu essen (es sei denn das Teenagermädchen hatte einen Passagier gehabt), nichts zu trinken, die Innentemperatur im Wagen durch den Treibhauseffekt nachmittags wahrscheinlich bis zu fünfzig Grad. Die Schoßhündchen des dunklen Mannes würden warten, bis Kid verhungerte oder wahnsinnig genug war, die Tür aufzumachen und einen Fluchtversuch zu wagen. Der Mülleimermann kicherte in der Dunkelheit. Kid war nicht besonders groß. Er würde nicht mehr als einen Happen für jeden abgeben. Und was sie bekamen, konnte durchaus Gift für sie sein.
»Hab' ich recht?« schrie er und meckerte zu den funkelnden Sternen hinauf. »Ihr braucht mirnicht zu sagen, ob ihr diese Heißescheiße glaubt! Verflucht noch mal, ich sag's EUCH!«
Seine geisterhafte graue Eskorte trottete ernst neben ihm dahin und schenkte den Schreien des Mülleimermanns keine Beachtung. Als sie das Coupe von Kid erreicht hatten, trottete der Wolf hinter ihm hin, schnupperte an einem der Breitreifen, dann grinste er sardonisch, hob ein Bein und machte Pipi daran.
Mülleimermann fing an zu lachen. Er lachte, bis ihm Tränen aus den Augen quollen und seine rissigen, stoppeligen Wangen hinabliefen. Sein Wahnsinn wollte jetzt wie ein feiner Rollbraten nur noch, dass ihn die Wüstensonne garkochte und abrundete, ihm den letzten Hauch köstlichen Aromas verlieh.
Sie gingen weiter, der Mülleimermann und seine Eskorte. Als der Verkehr dichter wurde, krochen sie entweder mit am Boden schleifenden Bäuchen unter Autos durch oder sprangen über Motorhauben und Dächer in seiner Nähe – geschmeidige, stumme Begleiter mit roten Augen und weißen Zähnen. Als sie den Eisenhower Tunnel kurz nach Mitternacht erreichten, zögerte der Mülleimermann nicht, sondern schritt wacker ins klaffende Maul der Westseite hinein. Wie konnte er jetzt Angst haben? Wie konnte er sich mit solchen Wächtern fürchten?
Es war ein langer Weg, und er hatte, noch ehe er richtig begonnen hatte, schon jegliches Zeitgefühl verloren. Er tastete sich blind von einem Auto zum nächsten. Einmal griff er mit der Hand in etwas Nasses und ekelerregend Weiches, gefolgt von einem gräßlichen Wusch stinkenden Gases. Nicht einmal da zauderte er. Von Zeit zu Zeit sah er rote Augen in der Dunkelheit; sie waren stets vor ihm und führten ihn stets weiter.
Später nahmen seine Sinne frischere Luft wahr, er sputete sich so sehr, daß er einmal das Gleichgewicht verlor, von der Haube eines Autos herunterfiel und sich den Kopf schmerzhaft an der Stoßstange des nächsten anschlug. Wenig später sah er auf und erblickte wieder Sterne über sich, die jetzt vor der einsetzenden Dämmerung verblaßten. Er war draußen.
Seine Wächter waren verschwunden. Aber Mülleimer sank auf die Knie und sprach ein langes, wirres und zusammenhangloses Dankgebet. Er hatte die Hand des dunklen Mannes am Werk gesehen, und zwar überdeutlich.
Trotz allem, was er durchgemacht hatte, seit er vergangenen Morgen aufgewacht war und gesehen hatte, wie Kid seine Frisur im Fenster des Zimmers im Golden Motel bewunderte, war Müll so aufgekratzt, daß er nicht schlafen konnte. Statt dessen ging er weiter und liess den Tunnel hinter sich. Der Verkehr hatte sich auch auf der Westseite des Tunnels gestaut, aber nach zwei Meilen dünnte er soweit aus, daß man bequem gehen konnte. Jenseits des Mittelstreifens, auf den Fahrspuren nach Osten, erstreckte sich der Strom der Fahrzeuge, die den Tunnel passieren wollten, endlos. Am Nachmittag kam er vom Vail-Paß herunter nach Vail selbst und ging an den Wohnhäusern und Apartmentblocks für Singles vorbei. Inzwischen hatte die Müdigkeit ihn fast überwältigt. Er schlug ein Fenster ein, machte eine Tür auf und fand ein Bett. Dann wußte er bis zum frühen nächsten Morgen nichts mehr.
Das Schöne an religiösem Wahn ist, daß er die Macht hat, alles zu erklären. Wenn Gott (oder Satan) erst einmal als Ursache für alles akzeptiert wird, was in der Welt der Sterblichen geschieht, bleibt nichts dem Zufall überlassen... oder dem Wandel. Wenn erst einmal beschwörende Floskeln wie »wir sehen nun wie in einem dunklen Spiegel« oder »geheimnisvoll und unerforschlich sind seine Wege« angewendet werden, kann man die Logik frohen Herzens über Bord werfen. Religiöser Wahn ist einer der wenigen unfehlbaren Methoden, auf die Unbillen der Welt zu reagieren, weil er reinen Zufall vollkommen ausschließt. Für den wahren religiösen Fanatiker geschieht alles mit einem Sinn.
Aus diesem Grund war es nicht verwunderlich, daß der Mülleimermann auf der Straße westlich von Vail zwanzig Minuten lang mit einer Krähe sprach und überzeugt war, daß sie ein Sendbote des dunklen Mannes war... oder der dunkle Mann selbst. Die Krähe betrachtete ihn lange von ihrem Aussichtspunkt auf einem Telefonmast und flog erst weg, als sie sich langweilte oder Hunger hatte... oder als Mülleimers endloser Schwall von Lobpreisungen und Loyalitätsbekundungen versiegt war.
In der Nähe von Grand Junction besorgte er sich ein neues Fahrrad, und am 25. Juli hatte er das westliche Utah auf der Route 4 hinter sich gelassen, die die I-89 im Osten mit der nach Südwesten verlaufenden 115 verbindet, welche vom Norden von Salt Lake City bis nach San Bernadino, Kalifornien, verläuft. Und als sich der Vorderreifen seines neuen Fahrrads plötzlich entschied, sich vom Gestell zu trennen und auf sich allein gestellt in die Wüste zu rollen, wurde der Mülleimermann über die Lenkstange geschleudert und landete auf dem Kopf, ein Sturz, der ihm den Schädel hätte brechen müssen (er fuhr vierzig, als es passierte, und hatte keinen Helm auf). Dennoch konnte er weniger als fünf Minuten später aufstehen und mit verzerrtem Gesicht seinen kleinen schlurfenden Tanz ausführen, während ihm Blut aus einem halben Dutzend Kratzern und Schürfwunden ins Gesicht floß, und singen: » Cii-a-bo-la, mein Leben für dich, Ci-a-bo-la, bumpty, bumpty, bump!«