Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
Жанр:
Ужасы
сообщить о нарушении
Текущая страница: 37 (всего у книги 100 страниц)
Er band die Luftpumpe mit einer Strohschnur auf dem Gepäckträger über dem Hinterrad des Schwinn fest, schloß die Garagentür auf und schob es hinaus. So gut hatte frische Luft noch nie gerochen. Er schloß die Augen, atmete tief ein, rollte das Rad auf die Straße, stieg auf und fuhr langsam die Main Street hinunter. Das Rad lief ausgezeichnet. Genau das Richtige für Tom... vorausgesetzt, er konnte überhaupt fahren.
Er stellte es neben seinem Raleigh ab und ging in den Five-andDime-Supermarkt. Hinten im Laden, zwischen den Sportartikeln, fand er einen größeren Drahtkorb, klemmte ihn unter den Arm und wollte gerade gehen, als ihm eine große verchromte Hupe mit einem dicken roten Gummiball auffiel. Nick legte sie in den Korb und ging zur Eisenwarenabteilung, um einen Schraubenzieher und einen verstellbaren Schraubenschlüssel zu besorgen. Dann trat er wieder nach draußen. Tom lag friedlich ausgestreckt auf dem Marktplatz unter dem Zweiten-Weltkrieg-Soldaten und döste.
Nick befestigte Korb und Hupe an der Lenkstange des Schwinn. Er kehrte ins Five-and-Dime zurück, kam mit einer großen Einkaufstasche wieder heraus, ging damit zum A&P und füllte die Tasche mit Dosenfleisch und Obstund Gemüsekonserven. Er packte gerade einige Dosen Chilibohnen ein, als er einen Schatten am Gang vorbeihuschen sah, in dem er stand. Wäre er nicht taub gewesen, hätte er bemerkt, daß Tom inzwischen das Fahrrad entdeckt hatte. Das heisere, langgezogene Hauuu-UUU-Gaaa! der Hupe hallte durch die Straße, begleitet von Toms fröhlichem Kichern.
Nick trat durch die Tür des Supermarkts nach draußen und sah Tom stolz die Main Street entlangsausen; das blonde Haar flatterte, sein Hemd wehte hinter ihm her, und er quetschte die Hupe, als würde sein Leben davon abhängen. An der Arco-Tankstelle am Ende der Ladenzeile wendete er und kam wieder zurückgestrampelt. Er grinste breit und triumphierend. Die Fisher-Price-Tankstelle hatte er in den Korb am Lenker gestellt. Seine Hosentaschen und die Taschen des Khakihemds waren vollgestopft mit maßstabgetreuen Corgi-Spielzeugautos. Die Sonne warf funkelnde helle, drehende Kreise auf die Speichen. Ein wenig traurig wünschte sich Nick, er könnte den Klang der Hupe hören, um festzustellen, ob er ihm genauso gefallen würde, wie er Tom zu gefallen schien.
Tom winkte ihm zu und radelte weiter die Straße entlang. Am anderen Ende des Einkaufsviertels wendete er wieder, drückte dabei aber unablässig auf die Hupe. Nick streckte die Hand aus wie ein Polizist, der jemanden anhält. Tom kam mit dem Rad schlitternd vor ihm zum Stehen. Große Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Der Gummischlauch der Luftpumpe wippte. Tom keuchte und grinste.
Nick deutete zur Stadt hinaus und winkte: Tschüs.
»Kann ich die Tankstelle immer noch mitnehmen?«
Nick nickte und streifte Tom den Henkel der Tasche über den Stiernacken.
»Fahren wir gleich?«
Nick nickte wieder. Machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis.
»Nach Kansas City?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Wohin wir wollen?«
Nick nickte. Ja. Wohin wir wollen, dachte er, aber wahrscheinlich wird es irgendwo in Nebraska sein.
»Mann!« sagte Tom glücklich. »Okay! Klar! Mann!«
Sie radelten auf der Route 283 Richtung Norden und waren erst zweieinhalb Stunden gefahren, als im Westen Gewitterwolken aufzogen. Der Sturm, der auf einem gazeartigen Regenschleier ritt, war rasch über ihnen. Nick konnte den Donner nicht hören, sah aber gabelförmige Blitze aus den Wolken herausschießen. Sie waren so grell, daß sie blau-purpurnes Flimmern vor den Augen hinterließen. Als sie sich dem Stadtrand von Rosston näherten, wo Nick auf der Route 64 nach Westen abbiegen wollte, verschwand der Regenschleier unter den Wolken, und der Himmel nahm eine stille, bedrohliche Gelbfärbung an. Der Wind, der ihm kühl und frisch gegen die linke Wange geweht hatte, flaute völlig ab. Nick wurde von einer extremen Nervosität gepackt, ohne zu wissen warum, und handelte obendrein seltsam ungeschickt. Niemand hatte ihm je gesagt, daß zu den wenigen Instinkten, die der Mensch noch mit den Tieren teilt, genau dies die Reaktion auf ein plötzliches und radikales Absinken des Luftdrucks war.
Dann zupfte Tom ihn am Ärmel, zupfte heftig. Nick blickte ihn an. Er stellte verblüfft fest, daß alle Farbe aus Toms Gesicht gewichen war. Seine Augen waren große, schwebende Untertassen.
» Tornado!« schrie Tom. » Da kommt ein Tornado!«
Nick suchte nach einer Windhose, sah aber keine. Er wandte sich wieder Tom zu, um ihn zu beruhigen. Aber Tom war schon verschwunden, fuhr mit dem Rad in ein Feld rechts von der Straße und walzte einen ungleichmäßigen, flachen Pfad durch das hohe Gras.
Verdammter Blödmann, dachte Nick wütend. Du wirst eine von den Achsen brechen!
Tom fuhr auf eine Scheune mit Silo zu, die sich am Ende eines etwa eine Viertelmeile langen Feldwegs befand. Nick, der noch immer seltsam nervös war, fuhr mit seinem Rad ein Stück weiter den Highway entlang, hob es über das Viehgatter und strampelte dann den Feldweg zur Scheune hinunter. Toms Fahrrad lag davor im Sand. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Ständer runterzuklappen. Diesen Umstand hätte Nick schlichter Vergeßlichkeit zugeschrieben, hätte er nicht vorher mehrmals gesehen, wie Tom den Klappständer benützte. Er hat vor Angst sein letztes bißchen Verstand verloren, dachte Nick.
Weil er sich aber selbst so unbehaglich fühlte, drehte er sich schnell noch einmal nach Westen um; und als er sah, was sich von dort näherte, blieb er wie erstarrt stehen.
Eine schreckliche Finsternis raste aus westlicher Richtung auf sie zu. Keine Wolke; vielmehr eine vollkommene Abwesenheit von Licht. Das Gebilde hatte die Form einer Windhose und schien auf den ersten Blick dreihundert Meter hoch zu sein. Am oberen Ende war sie breiter als unten; das untere Ende berührte nicht ganz den Boden. Am Gipfel schienen selbst die Wolken davor zu fliehen, als besäße das Gebilde eine unerklärliche, ekelerregende, abstoßende Macht.
Während Nick zusah, berührte der Wirbel etwa eine Dreiviertelmeile entfernt den Boden, und ein langes blaues Gebäude mit Wellblechdach – wahrscheinlich eine KFZ-Werkstatt oder ein Geräteschuppen – explodierte mit einem lauten Knall. Nick konnte es nicht hören, natürlich nicht, aber er spürte die Erschütterung, die seine Beine zittern ließ. Und das Gebäude schien nach innen zu explodieren, als hätte der Trichter sämtliche Luft daraus gesogen. Im nächsten Moment brach das Blechdach in zwei Teile. Die Bruchstücke schössen in die Höhe und wirbelten wie verrückt gewordene Tänzer durch die Luft. Nick beugte sich fasziniert vor und folgte ihrer Bahn.
Ich sehe vor mir das Schlimmste aus meinen Träumen, dachte Nick, und es ist gar kein Mann, auch wenn es manchmal wie ein Mann aussieht. In Wirklichkeit ist es ein Tornado. Ein allmächtiger, großer schwarzer Wirbel, der aus dem Westen herübertobt und alles und jeden verschlingt, der das Unglück hat, in seine Bahn zu geraten. Es...
Dann wurde er an beiden Oberarmen gepackt und buchstäblich von den Füßen gerissen und in die Scheune gezerrt. Er drehte sich zu Tom Cullen um und war einen Moment verblüfft, ihn zu sehen. Er war so von der Windhose fasziniert gewesen, daß er darüber ganz vergessen hatte, daß Tom Cullen überhaupt existierte.
»Runter!« keuchte Tom. »Rasch! Rasch! O meine Fresse, ja! Tornado! Tornado!«
Jetzt endlich war Nick wieder bei vollem Verstand und hatte Angst, er war aus dem tranceähnlichen Zustand herausgerissen worden, in dem er sich befunden hatte, und wußte wieder, wo er war und mit wem. Während er sich von Tom zu der Treppe führen ließ, die in den Sturmkeller der Scheune hinunterführte, spürte er eine seltsame, trommelnde Vibration. Sie war einem echten Geräusch näher, als er es jemals erlebt hatte. Gleich einem bohrenden Schmerz im Zentrum seines Gehirns. Und dann, als er Tom die Treppe hinunterfolgte, sah er etwas, das er sein ganzes Leben lang nie mehr vergessen sollte: Die Wand der Scheune wurde weggefetzt; Brett für Brett wurde herausgezogen und in die wolkenverhangene Luft gezerrt wie eine Reihe fauler Zähne, die von unsichtbaren Kräften herausgerissen wurden. Das Heu am Boden stieg wirbelnd gleich einem Dutzend Miniaturtornados empor, raste im Kreis, kippte, rotierte. Die pulsierende Vibration wurde noch beharrlicher, stärker. Dann riß Tom eine schwere Holztür auf und stieß ihn hinein. Nick roch feuchten Schimmel und Verfall. Im letzten Augenblick des Lichts sah er, daß sie sich den Sturmkeller mit einer Familie rattenzerfressener Leichen teilten. Dann schlug die Tür zu, und es herrschte völlige Dunkelheit. Die Vibration wurde schwächer, liess aber nicht einmal hier unten völlig nach.
Panik stahl sich mit ausgebreitetem Mantel über ihn und hüllte ihn ein. In der Schwärze waren seine Sinneswahrnehmungen auf Geruch und Tastsinn beschränkt, aber keiner der beiden übermittelte Botschaften, die tröstlich waren. Er konnte das unablässige Vibrieren der Dielen unter seinen Füßen spüren, und es roch nach Tod. Tom umklammerte blind Nicks Hand, und Nick zog den geistig zurückgebliebenen Mann an sich. Er spürte Tom zittern und fragte sich, ob Tom weinte oder versuchte, mit ihm zu sprechen. Der Gedanke linderte seine eigene Angst ein wenig; er legte Tom einen Arm um die Schultern. Tom erwiderte die Geste; so standen sie aufrecht in der Dunkelheit und klammerten sich aneinander. Die Vibration unter Nicks Füßen wurde stärker; sogar die Luft auf seinem Gesicht schien jetzt zu zittern. Tom klammerte sich noch fester an ihn. Blind und taub wartete Nick darauf, was als nächstes passieren würde. Kurz schoß der Gedanke durch sein Hirn, daß er sein ganzes Leben in Finsternis und Stille hätte verbringen müssen, wenn Ray Booth auch das andere Auge erwischt hätte. Wäre das der Fall gewesen, überlegte Nick, hätte er sich wahrscheinlich schon vor Tagen eine Kugel in den Kopf gej agt und der Sache ein Ende gemacht.
Später konnte Nick kaum seiner Uhr glauben. Sie bestand beharrlich darauf, daß er und Tom alles in allem nur eine Viertelstunde in dem Keller verbracht hätten. Also mußte es wohl so sein, da die Uhr einwandfrei funktionierte. Er hatte in seinem Leben noch nie so unmittelbar erfahren, wie subjektiv, wie dehnbar die Zeit wirklich ist. Ihm kam es so vor, als hätte es mindestens eine Stunde gedauert, eher sogar zwei oder drei. Und je mehr Zeit verging, desto mehr wuchs in ihm die Überzeugung, daß er und Tom nicht allein im Sturmkeller gewesen waren. Sicher, die Leichen – ein armer Teufel hatte seine Familie hier heruntergebracht, weil er wahrscheinlich gedacht hatte, sie hatten hier andere Naturkatastrophen überstanden und könnten auch diese überstehen -, aber Nick meinte nicht die Leichen. Für Nick war ein Leichnam inzwischen nur eine Sache, nichts anderes als ein Stuhl oder eine Schreibmaschine oder ein Teppich. Ein Leichnam war nur ein lebloser Gegenstand, der Platz wegnahm. Nein, er hatte die Präsenz eines anderen Wesens gespürt, und er wurde immer überzeugter davon, wer – oder was – es gewesen war.
Es war der dunkle Mann, der Mann, der in seinen Träumen zum Leben erwachte, die Kreatur, deren Seele er im schwarzen Herzen des Zyklons gespürt hatte.
Irgendwo... möglicherweise in der Ecke oder direkt hinter ihnen... beobachtete er sie. Und wartete. Im richtigen Augenblick würde er sie berühren, und sie würden beide... was? Selbstverständlich vor Angst verrückt werden. Genau das. Er konnte sie sehen. Nick war sicher, daß er sie sehen konnte. Er hatte Augen, die im Dunkeln sehen konnten, wie Katzenaugen oder die eines seltsamen außerirdischen Wesens. Wie die Kreatur in diesem Film, Predator. Ja – genau so. Der dunkle Mann konnte Farbtöne des Spektrums sehen, die dem menschlichen Auge verborgen blieben; für ihn lief alles zeitlupenhaft langsam ab, in roter Farbe, als wäre die ganze Welt in Blut getaucht.
Anfangs konnte Nick seine Hirngespinste von der Wirklichkeit trennen, aber je mehr Zeit verging, um so überzeugter wurde er, dass die Hirngespinste Wirklichkeit waren. Er bildete sich ein, er könnte den Atem des dunklen Mannes im Nacken spüren.
Er wollte gerade zur Tür springen, sie aufreißen und nach oben fliehen, egal welche Folgen es hatte, als Tom ihm die Entscheidung abnahm. Plötzlich war der Arm um Nicks Schulter verschwunden. Im nächsten Moment knallte die Tür des Sturmkellers auf, grelles, helles Licht strömte herein, so daß Nick eine Hand heben und das gesunde Auge abschirmen mußte. Er erhaschte gerade noch einen geisterhaften, wabernden Blick auf Tom Cullen, der die Treppe hinauftaumelte, dann folgte er ihm und ertastete sich den Weg durch die Helligkeit. Als er oben ankam, hatte sich das Auge an das grelle Licht gewöhnt.
Nick war sicher, daß das Licht nicht so hell gewesen war, als sie nach unten gegangen waren. Daß er recht hatte und warum, erfuhr er Augenblicke später. Das Dach war von der Scheune gerissen worden. Es schien beinahe chirurgisch exakt amputiert worden zu sein; so sauber, daß keinerlei Splitter zu sehen waren und kaum etwas auf dem Boden lag, den das Dach einst abgedeckt hatte. Drei Trägerbalken hingen an der Seite des Schobers herunter; die Wände waren kahl, fast alle Bretter hatte der Sturm weggerissen. Nick hatte den Eindruck, im Skelett eines prähistorischen Ungeheuers zu stehen.
Tom hatte nicht haltgemacht, um den Schaden zu begutachten. Er floh aus der Scheune, als säße ihm der Teufel im Nacken. Er drehte sich nur einmal um; seine Augen waren groß und spiegelten auf fast lächerlich-komische Weise sein Entsetzen wider. Nick konnte einem Blick über die Schulter in den Sturmkeller nicht widerstehen. Die Treppe erstreckte sich hinunter in die Schatten, die Stufen waren aus altem, rissigen Holz, jede hing in der Mitte durch. Er konnte verstreutes Stroh auf dem Boden sehen und zwei Händepaare, die aus, dem Schatten herausgriffen. Ratten hatten die Finger bis auf die Knochen abgenagt.
Falls noch jemand da unten war, konnte Nick ihn nicht sehen. Er wollte es auch nicht.
Er folgte Tom hinaus.
Tom stand zitternd bei seinem Fahrrad. Nick staunte kurz über die verrückte Launenhaftigkeit des Tornados, hatte er doch die halbe Scheune weggerissen, aber die Räder verschmäht, und dann sah er, daß Tom weinte. Nick ging zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern. Tom blickte mit großen Augen zum schiefhängenden Tor der Scheune hinüber. Nick machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. Tom sah ihn kurz an, aber das Lächeln, das Nick erwartet hatte, blieb aus. Tom starrte einfach weiter in die Scheune. Seine Augen hatten einen leeren, starren Blick, der Nick ganz und gar nicht gefiel.
»Da war einer drin«, sagte Tom unvermittelt.
Nick lächelte, aber das Lächeln lag ihm kalt auf den Lippen. Er hatte keine Ahnung, wie gut ihm dieses gespielte Lächeln gelang, vermutete aber, daß es beschissen aussah. Er deutete auf Tom, auf sich selbst und machte dann mit der Handkante eine scharfe, einschneidende Bewegung durch die Luft.
»Nein«, sagte Tom. » Nicht nur wir. Noch jemand. Jemand, der aus dem Tornado gekommen ist.«
Nick zuckte die Achseln.
»Können wir gehen? Bitte.«
Nick nickte.
Sie schoben die Fahrräder zum Highway zurück und benützten dazu die unregelmäßige Schneise entwurzelten Grases und aufgewühlten Bodens, die der Tornado hinterlassen hatte. Er hatte auf der Westseite von Rosston die Spur der Zerstörung begonnen, war in West-Ost-Richtung über die US 183 gepflügt, wobei er Leitplanken und Stromkabel wie Klaviersaiten in die Luft gewirbelt hatte, hatte die Scheune links gestreift und sich direkt dem Wohnhaus zugewandt, das davor stand – gestanden hatte. Vierhundert Meter weiter hörte seine Bahn durch das Feld abrupt auf. Allmählich brachen die Wolken auf (obwohl es noch leicht und erfrischend nieselte), die Vögel zwitscherten sorglos.
Nick sah, wie die Muskelstränge unter Toms Hemd arbeiteten, als er das Rad über den Wirrwarr der Zaundrähte am Rand des Highways hob. Der Bursche hat mir das Leben gerettet, dachte er. Bis heute habe ich in meinem ganzen Leben noch keinen Wirbelsturm gesehen. Hätte ich Tom in May zurückgelassen, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, dann wäre ich jetzt mausetot.
Er hob sein Rad über den Drahtwirrwarr, klopfte Tom auf die Schulter und lächelte ihm zu.
Wir müssen jemand anderen finden, dachte Nick. Wir müssen, damit ich ihm danken kann. Und ihm meinen Namen sagen. Er kennt nicht einmal meinen Namen, weil er nicht lesen kann. Nick stand einen Augenblick da und dachte darüber nach, dann stiegen sie auf die Räder und fuhren los.
In dieser Nacht kampierten sie auf dem Baseballplatz der Rosston Jayces Juniorenmannschaft. Der Abend war wolkenlos und sternenklar. Nick schlief rasch ein; sein Schlaf war traumlos. Als der Morgen dämmerte, wachte er auf und dachte, wie schön es war, mit einem anderen Menschen zusammenzusein; was für ein Unterschied.
Es gab tatsächlich ein Polk County, Nebraska. Das hatte ihn zuerst überrascht, aber er war in den letzten Jahren viel herumgekommen. Er mußte mit jemandem gesprochen haben, der Polk County erwähnt hatte oder aus Polk County stammte, und dann hatte er diese Information in einem Winkel seines Hirns vergraben. Es gab auch eine Route 30. Aber er konnte nicht so recht glauben, jedenfalls nicht im hellen Licht des frühen Morgens, daß sie wirklich eine alte Negerin finden würden, die inmitten von Maisfeldern auf ihrer Veranda saß und zur Gitarre Gospels sang. Er glaubte nicht an Vorahnungen oder Visionen. Aber es schien ihm wichtig, irgendwohin zu fahren, nach anderen Menschen zu suchen. Aber bis ihnen das gelang, würde alles fremd und aus den Fugen sein. Überall lauerten Gefahren. Man konnte sie nicht sehen, aber man spürte sie, so wie er gestern in diesem Keller die Anwesenheit des dunklen Mannes gespürt zu haben glaubte. Man spürte, daß die Gefahr überall war, in den Häusern, hinter der nächsten Kurve des Highways, vielleicht versteckte sie sich sogar unter den Autos und Lastwagen, die überall auf den Hauptstraßen standen. Und wenn sie nicht unmittelbar drohte, so lauerte sie in der Zukunft, nur zwei oder drei Blätter des Abreißkalenders entfernt. Gefahr! schien jedes Teilchen seiner Persönlichkeit zu flüstern. BRÜCKE GESPERRT – EINSTURZGEFAHR. FAHRBAHN AUF VIERZIG MEILEN BESCHÄDIGT. AB HIER WEITERFAHRT AUF EIGENE GEFAHR.
Teilweise lag das sicher am gewaltigen, überwältigenden Schock der verlassenen Landschaft. Solange Nick in Shoyo gewesen war, war er halbwegs sicher davor gewesen. Es hatte keine Rolle gespielt, daß Shoyo verlassen war, jedenfalls keine große, denn Shoyo war nur ein winziges Fleckchen auf der Weltkarte. Aber wenn man reiste, dann war es wie... nun, er erinnerte sich an einen Disney-Film, den er als Kind gesehen hatte, einen Natur-Film. Eine Tulpe nahm die ganze Leinwand ein, eine einzige Tulpe, atemberaubend schön. Dann fuhr die Kamera mit schwindelerregender Schnelligkeit zurück, und man sah ein ganzes Tulpenfeld. Man war wie erschlagen. Es war eine plötzliche und totale Überlastung der Sinneswahrnehmung, und eine innere Sicherung brannte durch; man konnte nichts mehr in sich aufnehmen. Es war einfach zuviel. Und so war auch diese Reise verlaufen. Shoyo war verlassen; daran konnte er sich gewöhnen. Aber auch McNab war verlassen und Texarcana und Spencerville; Ardmore war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Er war auf dem Highway 81 nach Norden gereist und hatte nur Wild gesehen. Zweimal hatte er mögliche Spuren lebender Menschen gesehen: ein etwa zwei Tage altes Lagerfeuer sowie einen Hirsch, der geschossen und sauber ausgeweidet worden war. Aber keine Menschen. Das genügte, um völlig auszurasten, weil einem die Ungeheuerlichkeit der Realität zunehmend bewußt wurde. Es waren nicht nur Shoyo oder McNab oder Texarkana; es war Amerika, das wie eine riesige weggeworfene Blechdose dalag, auf deren Boden noch ein paar vergessene Erbsen herumkullerten. Und es war nicht nur Amerika, es war die ganze Welt, und wenn Nick daran dachte, wurde ihm so schwindlig und übel, daß er den Gedanken rasch verdrängte.
Er beugte sich statt dessen über die Karte. Wenn er und Tom in Bewegung blieben, würden sie vielleicht wie ein Schneeball sein, der bergab rollt und immer größer wird. Mit etwas Glück würden sie ein paar Leute zwischen hier und Nebraska finden, die bereit waren, sich ihnen anzuschließen (oder sie anderen, wenn sie auf eine größere Gruppe stießen). Und von Nebraska aus würden sie anderswo hingehen, vermutete er. Es war wie eine Suche ohne erkennbares Ziel – sie würden keinen Gral finden, kein Schwert in einem Amboß. Wir fahren nach Nordosten, dachte er, raus nach Kansas. Der Highway 35 bringt uns zu einer anderen Stelle der 81, und auf der 81 könnten wir bis nach Swedeholm, Nebraska, wo die 81 die 92 genau im rechten Winkel schneidet. Ein anderer Highway, Route 30, verband die beiden miteinander, bildete die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks. Und irgendwo in diesem Dreieck lag das Land seiner Träume.
Bei diesem Gedanken überkam ihn eine seltsame, erwartungsvolle Spannung.
Eine Bewegung am Rand seines Gesichtsfelds ließ ihn aufschauen. Tom saß aufrecht da und drückte beide Fäuste gegen die Augen. Ein gewaltiges Gähnen schien seine ganze untere Gesichtshälfte verschwinden zu lassen. Nick grinste ihn an, und Tom grinste zurück.
»Fahren wir heute noch ein bißchen?« fragte Tom, und Nick nickte.
»Herrje, das ist gut. Ich fahr' gern mit meinem Rad. Meine Fresse, ja!
Ich hoffe, wir halten nie an.«
Nick steckte die Karte weg und dachte: Wer weiß? Vielleicht wird dein Wunsch erfüllt.
An diesem Morgen wandten sie sich nach Osten. Zu Mittag aßen sie an einer Kreuzung nicht weit von der Grenze zwischen Oklahoma und Kansas entfernt. Es war der 7. Juli, ein heißer Tag. Als sie an der Kreuzung hielten, brachte Tom sein Rad wie gewohnt schlitternd zum Stillstand. Er betrachtete ein Verkehrsschild, dessen Pfahl in einem Blecheimer voller Beton steckte, der zur Hälfte im weichen Boden am Straßenrand eingegraben worden war. Auch Nick betrachtete das Schild. Auf dem Schild stand: SIE VERLASSEN JETZT HARPER COUNTY, OKLAHOMA. HIER BEGINNT WOODS COUNTY, OKLAHOMA.
»Das kann ich lesen«, sagte Tom, und hätte Nick hören können, wäre er teils amüsiert und teils gerührt gewesen, wie Tom mit aufgeregt und schrill deklamierender Stimme verkündete:» Sie gehen raus aus Harper County. Sie kommen nach Woods County.« Er drehte sich zu Nick um. »Wissen Sie was, Mister?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Bin in meinem Leben noch nie aus Harper County raus gewesen, meine Güte, nein, nicht Tom Cullen. Aber mein Daddy hat mich mal hierher gebracht und mir dieses Schild gezeigt. Hat mir gesagt, wenn er mich je auf der andern Seite davon erwischen würde, würde er mich windelweich prügeln. Er erwischt uns doch wohl nicht drüben in Woods County? Glauben Sie, er erwischt uns?«
Nick schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Ist Kansas City in Woods County?«
Nick schüttelte wieder den Kopf.
»Aber wir gehen doch nach Woods County, ehe wir woanders hingehen, oder nicht?«
Nick nickte.
Toms Augen leuchteten. »Ist es die Welt?«
Nick verstand nicht. Er runzelte die Stirn... zog die Brauen hoch... zuckte die Achseln.
»Die Welt ist das, was ich meine«, sagte Tom. »Ziehen wir in die Welt, Mister?« Tom zögerte, dann fragte er voll zögerndem Ernst:
»Ist Woods das Wort für Welt?«
Nick nickte langsam.
»Okay«, sagte Tom. Er betrachtete das Schild noch einen Augenblick, dann wischte er sich das rechte Auge ab, aus dem eine einzige Träne gekullert war. Er sprang wieder auf sein Rad. »Okay, fahren wir.« Er fuhr ohne ein weiteres Wort über die County-Grenze, und Nick folgte ihm.
Sie überquerten die Grenze nach Kansas, kurz bevor es zu dunkel zum Weiterfahren wurde. Nach dem Essen war Tom mürrisch und müde geworden; er wollte mit seiner Tankstelle spielen. Er wollte fernsehen. Er wollte nicht mehr radfahren, weil sein Popo weh tat. Er hatte keinen Begriff von Staatengrenzen und teilte Nicks Hochgefühl nicht, als sie an einem weiteren Schild vorbeikamen, auf dem stand: WILLKOMMEN IN KANSAS. Inzwischen war es so düster, daß die weißen Buchstaben wie Gespenster über dem braunen Schild zu schweben schienen.
Sie schlugen eine Viertelmeile jenseits der Grenze ihr Lager auf – unter einem Wasserturm auf drei hohen Stahlbeinen, der wie ein marsianisches Raumschiff von H. G. Wells aussah. Tom war kaum in den Schlafsack gekrochen, da schlief er schon ein. Nick blieb noch eine Weile sitzen und beobachtete, wie die Sterne allmählich erstrahlten. Das Land war völlig dunkel und – für ihn – vollkommen still. Kurz bevor er selbst in den Schlafsack kroch, flatterte eine Krähe auf einen Zaunpfosten in der Nähe und schien ihn zu beäugen. Ihre kleinen schwarzen Augen waren von Halbkreisen wie Blut umgeben – Spiegelungen des aufgedunsenen orangefarbenen Sommermonds, der stumm aufgegangen war. Die Krähe hatte etwas an sich, das Nick nicht gefiel; er fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er fand einen großen Erdklumpen und warf ihn nach der Krähe. Sie schien ihm einen haßerfüllten Blick zuzuwerfen, flog flatternd auf und verschwand in der Dunk elheit.
In dieser Nacht träumte Nick von dem Mann ohne Gesicht, der auf dem hohen Dach stand, die Hände nach Osten ausgestreckt, und dann von Mais Mais, der höher war als er selbst – und von Musik. Aber diesmal wußteer, daß es Musik war, und er wußte, daß es eine Gitarre war. Er erwachte kurz vor Tagesanbruch mit schmerzhaft voller Blase und hörte noch ihre Worte in den Ohren klingen: Man nennt mich Mutter Abagail... du kannst jederzeit zu mir kommen.
Am Spätnachmittag fuhren sie auf dem Highway 160 durch Comanche County und saßen plötzlich erstaunt auf ihren Rädern, als sie eine kleine Büffelherde – insgesamt vielleicht ein Dutzend Tiere – auf der Suche nach gutem Gras gelassen auf der Fahrbahn hin und her stapfen sahen. An der Nordseite der Straße war ein Stacheldrahtzaun gewesen, aber den hatten die Büffel offenbar niedergetrampelt.
»Was sind denn das für welche?« fragte Tom ängstlich. »Kühe sind das nicht!«
Und weil Nick nicht sprechen und Tom nicht lesen konnte, konnte Nick es ihm nicht sagen. Es war der 5.Juli 1990, und in dieser Nacht schliefen sie auf flachem Farmland vierzig Meilen westlich von Deerhead.
Es war der 9. Juli, und sie aßen ihr Mittagessen im Schatten einer alten, ehrwürdigen Ulme im Vorgarten eines Farmhauses, das teilweise niedergebrannt war. Tom aß mit einer Hand Würstchen aus einer Blechdose, mit der anderen fuhr er ein Auto in seine Tankstelle und wieder heraus. Und dabei sang er immer wieder den Refrain eines bekannten Songs. Nick kannte die Lippenbewegungen auswendig: » Baby, can you dig your man – he's a right -eous mayun – baby, can you dig your man?«
Nick war deprimiert, und die Unermeßlichkeit des Landes erfüllte ihn mit Ehrfurcht; vorher war ihm nie klar geworden, wie einfach es doch war, den Daumen auszustrecken und zu wissen, daß einem früher oder später das Gesetz des Zufalls zu Hilfe kommen würde. Ein Auto hielt an, für gewöhnlich mit einem Mann am Steuer, der nicht selten eine Bierdose gemütlich zwischen die Beine geklemmt hatte. Er fragte einen, wohin man wollte, und man gab ihm einen Zettel, den man griffbereit in der Brusttasche hatte, einen Zettel, auf dem stand:
»Hallo, mein Name ist Nick Andres. Ich bin leider taubstumm. Ich will nach – Vielen Dank fürs Mitnehmen. Ich kann von den Lippen lesen.«
Und die Sache war erledigt. Und wenn der Typ nichts gegen Taubstumme hatte (bei manchen Menschen war das der Fall, aber es war eine Minderheit), sprang man ins Auto und wurde dorthin gebracht, wohin man wollte, oder immerhin ein gutes Stück in die gewünschte Richtung. Das Auto fraß Meile um Meile und blies sie zum Auspuff wieder raus. Das Auto war eine Art Teleportation. Das Auto besiegte die Landkarte. Aber heute gab es kein Auto, obwohl das Auto auf vielen Straßen ein praktisches Transportmittel für Strecken von siebzig, achtzig Meilen gewesen wäre, wenn man vorsichtig fuhr. Und wenn man an ein Hindernis geriet, mußte man das Fahrzeug einfach stehenlassen, ein Stück zu Fuß gehen und sich dann ein anderes nehmen. Ohne Auto waren sie wie Ameisen, die auf der Brust eines gestürzten Riesen krabbelten, Ameisen, die endlos von einer Brustwarze zur anderen wuselten. Und daher wünschte und tagträumte Nick gleichermaßen, daß es wie in jenen sorglosen Tagen des Reisens per Anhalter sein würde, wenn sie endlich jemanden trafen (immer vorausgesetzt, es kam soweit): Das vertraute Funkeln von Chrom würde über den nächsten Hügel kommen, das Aufblitzen der Sonne, das das Auge blendete und zugleich erfreute. Ein ganz normales amerikanisches Auto, ein Chevy Biscain oder Fury III oder ein Pontiac Tempest, irgendeine herrliche Blechkarosse aus Detroit. In seinen Träumen war es nie ein Honda oder Mazda oder Yugo. Die amerikanische Schönheit würde an den Straßenrand fahren, und er würde einen Mann am Steuer sehen, einen Mann mit sonnengebräunten Ellbogen, der keck aus dem Fenster ragte. Dieser Mann würde lächeln und sagen: »Hallo, Jungs! Mensch, freu' ich mich, daß ich euch getroffen habe! Rein mit euch! Rein mit euch! Woll'n mal sehen, wohin wir kommen!«
Aber an diesem Tag sahen sie niemanden, und am 10. begegneten sie Julie Lawry.
Der Tag war wieder knallheiß. Sie waren fast den ganzen Nachmittag mit um die Taillen gebundenen Hemden geradelt, und sie wurden beide so braun wie Indianer. Heute waren sie nicht sehr weit gekommen, wegen der Äpfel. Der grünen Äpfel.
Sie hatten die Äpfel an einem alten Apfelbaum auf dem Hof eines Farmhauses entdeckt, grün und klein und sauer, aber Nick und Tom hatten so lange kein frisches Obst mehr gegessen, daß die Äpfel wie Ambrosia schmeckten. Nick hatte nach dem zweiten aufgehört, aber Tom aß gierig gleich sechs Stück, einen nach dem anderen, bis auf das Kerngehäuse. Er hatte Nicks Ermahnungen, nicht zuviel zu essen, in den Wind geschlagen; wenn Tom Cullen sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er so stur und trotzig sein wie ein eigensinniges vierjähriges Kind.
Und so kam es, daß Tom von etwa elf Uhr morgens bis zum Nachmittag Dünnpfiff hatte. Der Schweiß floß ihm in Strömen. Er stöhnte. Selbst bei geringen Steigungen mußte er absteigen und sein Rad schieben. Nick konnte sich trotz der Wut über die verlorene Zeit eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen.