Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Etwa zu der Zeit, als Nadine ein paar Einsichten kamen, die eigentlich auf der Hand hätten liegen sollen, saß Lloyd Henreid allein in der Cub Bar, spielte Big Clock Solitaire und mogelte. Er war gereizt. An diesem Tag war es in Indian Springs zu einem Brand gekommen, ein Toter, drei Verletzte, und davon würde einer mit Sicherheit an den Brandwunden sterben. Sie hatten niemand in Vegas, der solche Verletzungen behandeln konnte.
Carl Hough hatte die Nachricht überbracht. Er hatte eine extreme Stinklaune gehabt und war nicht der Mann, den man leicht nahm. Vor der Seuche war er Pilot bei Ozark Airlines gewesen, davor bei den Marines, und er hätte Lloyd mit einer Hand in zwei Hälften brechen und gleichzeitig mit der anderen einen Daiquiri mixen können, wenn er gewollt hätte. Carl behauptete, daß er im Verlauf seiner langen und aufregenden Karriere mehrere Menschen getötet hatte, und Lloyd war geneigt, ihm zu glauben. Nicht, daß Lloyd körperlich Angst vor Carl Hough gehabt hätte; der Pilot war groß und stark, hatte aber wie alle anderen im Westen einen Heidenrespekt vor dem Wandelnden Gecken, und Lloyd trug immerhin Flaggs Amulett. Aber er war einer ihrer Piloten, und aus diesem Grund mußte er diplomatisch behandelt werden. Und seltsamerweise war Lloyd Diplomat. Seine Referenzen waren schlicht, aber ehrfurchtgebietend: Er hatte mehrere Wochen mit einem Wahnsinnigen namens Poke Freeman verbracht und überlebt. Außerdem verbrachte er schon diverse Wochen mit Randall Flagg und atmete immer noch und war bei klarem Verstand.
Carl war am 12. September gegen zwei Uhr eingetroffen und hatte den Motorradhelm unter dem rechten Arm gehalten. Auf der linken Wange hatte er häßliche Brandwunden und Blasen an der Hand. Ein Feuer war ausgebrochen. Schlimm, aber nicht so schlimm, wie es hätte werden können. Ein Tanklastwagen war explodiert, brennendes Benzin war über den ganzen Asphalt verspritzt worden.
»Gut«, hatte Lloyd gesagt. »Ich werde zusehen, daß der Boß es erfährt. Sind die Verletzten im Krankenhaus?«
»Ja, sind sie. Ich glaube nicht, daß Freddy Campanari den Sonnenuntergang noch erleben wird. Bleiben zwei Piloten, ich und Andy. Sag ihm das, und sag ihm noch etwas, wenn er zurückkommt. Ich will, daß dieser Wichser von Mülleimermann verschwindet. Das ist meine Bedingung, wenn ich bleiben soll.«
Lloyd sah Carl Hough an. »Wirklich?«
»Ich hab's doch eben gesagt.«
»Dann will ich dir jetzt was sagen, Carl«, antwortete Lloyd. »Ich kann ihm diese Nachricht nicht überbringen. Wenn du ihm Befehle erteilen willst, mußt du es selbst machen.«
Carl wirkte plötzlich unsicher und ängstlich. Angst nahm sich in seinem harten Gesicht seltsam aus. »Ich weiß, was du meinst. Ich bin nur müde und hab' die Schnauze voll, Lloyd. Mein Gesicht tut höllisch weh. Aber das will ich nicht an dir auslassen.«
»Schon gut, Mann. Dazu bin ich da.« Manchmal wünschte er sich, daß es nicht so wäre. Er hatte schon wieder Kopfschmerzen. Carl sagte: »Aber er muß weg. Wenn ich es dem Boß sagen muß, werde ich es. Ich weiß, daß er einen dieser schwarzen Steine hat. Der Boß muß viel von ihm halten. Aber hör zu.« Carl setzte sich und legte den Helm auf einen Backarat-Tisch. »Müll war für das Feuer verantwortlich. Mein Gott, wie sollen wir je die Maschinen in die Luft bringen, wenn einer von den Männern vom Boß die verdammten Piloten verbrennt?«
Einige Leute, die durch das Foyer des Grand gingen, warfen besorgte Blicke zu dem Tisch, wo Lloyd und Carl saßen.
»Nicht so laut, Carl.«
»Okay. Aber du siehst das Problem, oder nicht?«
»Bist du ganz sicher, daß es Müll war?«
»Hör zu«, sagte Carl und beugte sich nach vorne, »er war im Fahrzeuglager. Er war lange dort. Viele haben ihn gesehen, nicht nur ich.«
»Ich dachte, er wäre irgendwo draußen. In der Wüste. Du weißt ja, nach Material suchen.«
»Nun, er ist zurückgekommen, klar? Sein Geländewagen war voller Material. Gott weiß vielleicht, wo er es hernimmt, ich nicht. Nun, während der Kaffeepause hat er den Leuten alles vorgeführt. Du weißt ja, wie er ist. Waffen sind für ihn das, was Süßigkeiten für ein Kind sind.«
»Ja.«
»Als letztes hat er uns eine Brandbombenzündschnur gezeigt. Man zieht am Riemen, und eine kleine Phosphorflamme fängt an zu brennen. Dann eine halbe Stunde oder vierzig Minuten nichts, je nachdem, wie lang die Zündschnur ist, klar? Kapiert? Und dann ein Höllenfeuer. Klein, aber heiß.«
»Ja.«
»Also gut. Müll zeigt es uns und sabbert förmlich über dem Ding, und Freddy Campanari sagt: >He, Leute, die mit Feuer spielen, sind Bettnässer, Müll.< Und Steve Tobin – du kennst ihn ja, der ist komischer als eine Gummikrücke -, der sagt: >Jungs, ihr solltet lieber die Streichhölzer verstecken, Mülli ist wieder in der Stadt.< Und Müll ist echt unheimlich geworden. Er hat uns alle angesehen und leise gemurmelt. Ich habe gleich neben ihm gesessen und glaube, er hat gesagt: >Fragt mich jetzt bloß nicht noch nach dem Rentenscheck der alten Oma Semple.< Kapierst du das?«
Lloyd schüttelte den Kopf. Er kapierte überhaupt nichts, wenn es um den Mülleimermann ging.
»Dann ist er einfach gegangen. Hat das Zeug genommen, das er uns gezeigt hat, und weg war er. Nun, uns war allen nicht wohl in unserer Haut. Wir wollten seine Gefühle nicht verletzen. Die meisten Jungs mögen Müll wirklich. Oder haben es. Er ist wie ein Kind, weißt du?«
Lloyd nickte.
»Eine Stunde später geht der verdammte Tanklaster hoch wie eine Rakete. Und während wir die Trümmer einsammeln, sehe ich hoch, und da ist Müll in seinem Geländewagen bei den Baracken und sieht mit dem Fernglas zu uns herüber.«
»Mehr hast du nicht in der Hand?« fragte Lloyd erleichtert.
»Nein. Hab' ich nicht. Hätte ich mehr, hätte ich mir nicht mal die Mühe gemacht, zu dir zu kommen, Lloyd. Aber ich habe darüber nachgedacht, wie der Laster hochgegangen ist. Genau für so etwas braucht man diese Zündschnur. In Nam haben die Kong viele unserer Munitionswagen auf diese Weise hochgejagt, und zwar mit unseren eigenen Scheißzündschnüren. Man klebt sie unter den Wagen ans Auspuffrohr. Läßt niemand den Motor an, geht die Ladung hoch, wenn die Uhr abgelaufen ist. Läßt ihn jemand an, geht sie hoch, wenn das Auspuffrohr heiß wird. So oder so – WUMM, kein Laster mehr. Was nicht paßt – es stehen immer ein Dutzend Treibstofflaster in der Fahrzeughalle, und wir benützen sie nicht in einer bestimmten Reihenfolge. Als wir den armen Freddy im Krankenhaus gehabt haben, sind John Waite und ich rübergegangen. John hat die Aufsicht über den Fuhrpark und hat sich fast bepißt. Er hatte Müll schon vorher da drinnen gesehen.«
»War er sicher, daß es der Mülleimermann war?«
»Bei seinen Verbrennungen an den Armen kann man ihn kaum verwechseln, meinst du nicht auch? Klar? Damals hat sich niemand was dabei gedacht. Er hat nur herumgestöbert, das ist schließlich sein Job, oder nicht?«
»Ja, so könnte man es wohl sagen.«
»Also haben John und ich uns die restlichen Lastwagen angesehen. Und bei allen Heiligen, an jedem einzelnen ist eine Zündschnur. Er hat sie direkt unter den Tanks selbst an den Auspuffrohren angebracht. Der Lastwagen, den wir als ersten benutzt haben, ist nur deshalb hochgegangen, weil das Auspuffrohr heiß wurde, wie ich es dir vorhin erklärt habe, klar? Aber die anderen waren so gut wie bereit. Zwei oder drei hatten schon angefangen zu rauchen. Manche Lastwagen waren leer, aber mindestens fünf waren voll Treibstoff. Noch zehn Minuten, und wir hätten den halben verdammten Stützpunkt verloren.«
Heiliger Himmel, dachte Lloyd wehklagend. Es ist wirklich schlimm. Schlimmer kann es kaum noch werden.
Carl hielt die Hand voller Blasen hoch. »Das habe ich mir geholt, als ich eine der heißen rausgezogen habe. Verstehst du jetzt, warum er weg muß?«
Lloyd sagte zögernd: »Vielleicht hat jemand die Zündschnüre aus seinem Geländewagen gestohlen, während er pinkeln war, oder so.«
Carl sagte geduldig: »So war es aber nicht. Jemand hat seine Gefühle verletzt, während er seine Spielsachen vorgeführt hat, und er hat versucht, uns alle zu verbrennen. Beinahe mit Erfolg. Es muss etwas geschehen, Lloyd.«
»Gut, Carl.«
Er verbrachte den Rest des Tages damit, sich nach Müll zu erkundigen – hatte jemand ihn gesehen oder wußte, wo er sich aufhielt? Mißtrauische Blicke und abschlägige Antworten. Die Sache hatte sich herumgesprochen. Vielleicht war das gut. Wer ihn sah, würde es bestimmt sofort in der Hoffnung melden, sich beim Boss beliebt zu machen. Aber Lloyd hatte so eine Ahnung, daß niemand Müll sehen würde. Er hatte ihnen ein kleines Feuer unter dem Hintern angezündet und war mit seinem Wagen in der Wüste verschwunden.
Er betrachtete das Solitaire-Spiel, das vor ihm ausgebreitet lag, und widerstand dem Impuls, alles auf den Fußboden zu fegen. Statt dessen mogelte er unter den Karten ein weiteres As hervor und spielte weiter. Es spielte keine Rolle. Wenn Flagg ihn wollte, würde er ihn finden. Mülli würde an einem schönen Querbalken enden, wie Heck Drogan. Pech gehabt, mein Junge.
Aber insgeheim war er nicht so sicher.
In letzter Zeit waren Dinge geschehen, die ihm nicht gefielen. Zum Beispiel die Sache mit Dayna. Flagg hatte von ihr gewußt, das stimmte, aber sie hatte nicht geredet. Irgendwie war es ihr gelungen, sich in den Tod zu flüchten, und was den dritten Spion anbetraf, waren sie kein Stück weitergekommen.
Das war auch so etwas. Warum wußte Flagg nicht, wer der dritte Spion war? Er hatte alles über den alten Furz gewußt, und als er aus der Wüste zurückkam, hatte er auch alles über Dayna gewußt und ihnen genau gesagt, wie er sie behandeln wollte. Aber es hatte nicht funktioniert.
Und jetzt der Mülleimermann.
Müll war nicht irgendwer. Früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Genau wie er selbst trug Müll den Stein des schwarzen Mannes. Nachdem Flagg diesem Großmaul von Anwalt in L. A. das Gehirn geröstet hatte, hatte Lloyd gesehen, wie Flagg Mülleimer die Hände auf die Schultern legte und leise sagte, daß alle Träume wahr gewesen waren. Und Mülleimer hatte geflüstert: »Mein Leben für dich.«
Lloyd wußte nicht, was sonst noch zwischen den beiden vorgegangen sein mochte, aber ganz offensichtlich trieb er sich mit Flaggs Segen in der Wüste herum. Und jetzt war der Mülleimermann Amok gelaufen.
Das warf einige ziemlich ernste Fragen auf.
Und deshalb saß Lloyd um neun Uhr abends allein hier, mogelte beim Patiencelegen und wünschte sich, er wäre betrunken.
»Mr. Henreid?«
Was jetzt? Er sah auf und erblickte ein junges Mädchen mit hübschem Gesicht und Schmollmund. Enge weiße Shorts. Ein Oberteil, das die Warzenhöfe ihrer Brüste nicht ganz bedeckte. Eindeutig der Sex-Typ, aber sie sah blaß und nervös aus, fast elend. Sie kaute zwanghaft an einem Daumennagel, und er sah, daß all ihre Fingernägel abgebissen waren.
»Was?«
»Ich... ich muß Mr. Flagg sprechen«, sagte sie. Alle Energie verschwand aus ihrer Stimme, sie endete flüsternd.
»Tatsächlich? Für wen hältst du mich, seinen persönlichen Referenten?«
»Aber... sie sagten... ich soll mich an Sie wenden.«
»Wer?«
»Nun, Angie Hirschfield. Sie war es.«
»Wie heißt du?««
»Äh, Julie.« Sie kicherte, aber es war nur ein Reflex. Der verängstigte Gesichtsausdruck blieb unverändert, und Lloyd fragte sich müde, was für eine Kacke jetzt wieder am Dampfen war. Ein Mädchen wie sie würde nicht ausgerechnet nach Flagg fragen, wenn es sich nicht um etwas Ernstes handelte. »Julie Lawry.«
»Also, Julie Lawry, Flagg ist nicht in Las Vegas.«
»Wann kommt er zurück?«
»Das weiß ich nicht. Er kommt und geht, er trägt keinen Piepser. Und er ist mir keine Rechenschaft schuldig. Wenn du ihm etwas erzählen willst, sag es mir, und ich werde sehen, daß er es erfährt.«
Sie sah ihn zweifelnd an, und Lloyd wiederholte, was er am Nachmittag zu Carl Hough gesagt hatte: »Dazu bin ich da.«
»Okay.« Dann hastig: »Wenn es wichtig ist, müssen Sie ihm sagen, daß ich es Ihnen erzählt habe. Julie Lawry.«
»Okay.«
»Vergessen Sie es auch nicht?«
»N ein, Herrgott!Was ist es?«
Sie schmollte. »Sie müssen nicht gleich böse werden.«
Er seufzte und legte die Karten, die er in der Hand hielt, auf den Tisch. »Nein«, sagte er. »Wahrscheinlich nicht. Was ist es?«
»Dieser Taubstumme. Wenn er hier ist, spioniert er bestimmt. Ich dachte, das sollen Sie wissen.« Ihre Augen glitzerten boshaft. »Der Wichser hat mich mit der Waffe bedroht.«
»Welcher Taubstumme?«
»Nun, ich hab' den Schwachsinnigen gesehen und mir gedacht, dass der Taubstumme auch hier sein muß. Die sind nicht aus unserem Holz. Ich glaube, sie sind von der anderen Seite gekommen.«
»Das glaubst du also, hm?«
»Ja.«
»Ich weiß bei Gott nicht, wovon du redest. Es war ein langer Tag, und ich bin müde. Wenn du nicht anfängst, vernünftig zu reden, Julie, gehe ich ins Bett.«
Julie setzte sich, schlug die Beine übereinander und erzählte Lloyd von ihrer Begegnung mit Nick Andres und Tom Cullen in ihrer Heimatstadt Pratt, Kansas. Über das Pepto-Bismol (»Ich habe nur ein bißchen Spaß mit dem Schwachsinnigen gemacht, und dieser Taubstumme richtet seine Pistole auf mich!«). Sie erzählte ihm sogar, daß sie auf die beiden geschossen hatte, als sie die Stadt verließen.
»Und was soll das beweisen?« fragte Lloyd, als sie fertig war. Das Wort »Spion« hatte ihn aufhorchen lassen, aber danach war er wieder in den Dämmerzustand der Langeweile versunken. Julie schmollte wieder und zündete eine Zigarette an. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Dieser Schwachsinnige, er ist jetzt hier. Ich wette, er spioniert.«
»Und du sagst, er heißt Tom Cullen?«
»Ja.«
Lloyd hatte nur eine vage Erinnerung. Cullen war ein großer blonder Kerl, der sicher nicht alle Tassen im Schrank hatte, aber so schlimm, wie diese dumme Schlampe ihn darstellte, nun auch wieder nicht war. Er dachte nach, aber mehr fiel ihm zu Cullen nicht ein. Es strömten immer noch jeden Tag sechzig bis hundert Leute nach Vegas. Es war unmöglich, sie alle zu kennen, und Flagg hatte gesagt, der Zustrom würde noch zunehmen, bevor er sich allmählich verlor. Er könnte sich an Paul Burlson wenden, der über die Einwohner von Vegas Buch führte, und ihn nach diesem schwachsinnigen Cullen fragen.
»Werden Sie ihn verhaften?« fragte Julie.
Lloyd sah sie an. »Ich werde dich verhaften, wenn du mir noch länger auf die Pelle rückst.«
»Ach, Sie können mich mal!« rief Julie Lawry und hob dabei giftig die Stimme. Sie sprang auf und blitzte ihn an. In den engen Shorts schienen ihre Beine bis ans Kinn zu reichen. »Ich habe versucht, Ihnen einen Gefallenzu tun!«
»Ich überprüfe es.«
»Ja, ich weiß. Das kenne ich.«
Sie stampfte davon; ihr Hintern bewegte sich in kleinen, indignierten Kreisen.
Mit einer gewissen müden Belustigung sah Lloyd ihr nach und dachte, daß es viele Tussies wie sie auf der Welt gab – selbst jetzt nach der Supergrippe gab es viele, jede Wette. Leicht aufzureißen, aber anschließend mußte man sich vor ihren Fingernägeln in acht nehmen. Verwandte jener Spinnen, die ihre Partner nach dem Sex auffressen. Zwei Monate waren vergangen, und sie war immer noch wütend auf diesen Taubstummen. Wie hieß er, hatte sie gesagt? Andros?
Lloyd zog ein zerfleddertes schwarzes Notizbuch aus der Tasche, benetzte einen Finger und schlug eine leere Seite auf. Dies war sein Merkbuch, und es war randvoll von kleinen Notizen an ihn selbst – ob es nun darum ging, sich zu rasieren, bevor er Flagg aufsuchte, oder um eine umrandete Notiz, wonach die Medikamentenbestände der Apotheken in Vegas zu registrieren waren, bevor zuviel Morphium oder Kodein verloren ging. Er würde sich bald ein neues Notizbuch zulegen müssen.
In seiner ungelenken Grundschulschrift schrieb er: Nick Andros oder Androtes – taubstumm. In der Stadt?Und darunter: Tom Cullen, bei Paul überprüfen. Er steckte das Buch in die Tasche zurück. Vierzig Meilen weiter nordöstlich hatte der dunkle Mann unter den funkelnden Sternen der Wüste seine langfristige Verbindung mit Nadine Cross vollzogen. Es hätte ihn sehr interessiert zu erfahren, daß ein Freund von Nick Andros in Las Vegas war.
Aber er schlief.
Lloyd betrachtete mürrisch seine Patience und vergaß Julie Lawry und ihre Wut und ihren strammen kleinen Arsch. Er mogelte ein weiteres As hervor und dachte betrübt an den Mülleimermann und was Flagg vielleicht sagen – oder tun – würde, wenn Lloyd es ihm erzählte.
Als Julie Lawry gerade die Cub Bar verließ, stand Tom Cullen in einem anderen Stadtteil am Aussichtsfenster seiner Wohnung und sah verträumt zum Vollmond hinauf.
Es war Zeit zu gehen.
Zeit zurückzugehen.
Diese Wohnung war nicht wie sein Haus in Boulder. Diese Wohnung war möbliert, aber nicht geschmückt. Er hatte nicht einmal ein einziges Poster an die Wand geklebt, nicht einen ausgestopften Vogel an einen Klavierdraht gehängt. Diese Wohnung war nur eine Station am Wege gewesen, und jetzt war es Zeit zu gehen. Er war froh. Hier gefiel es ihm nicht. An diesem Ort roch es; es war ein trockener, fauliger Geruch, den man nicht genau definieren konnte. Die meisten Leute waren nett, und einige mochte er genauso gern wie die Leute in Boulder, Angie zum Beispiel und den kleinen Dinny. Keiner machte sich über ihn lustig, weil er langsam war. Sie hatten ihm einen Job gegeben, und sie machten Spaße mit ihm, und manchmal tauschten sie in der Mittagspause untereinander ihr Essen aus, wenn etwas besser aussah als etwas anderes. Es waren nette Leute, nicht viel anders als die Leute in Boulder, soweit er es beurteilen konnte, aber...
Aber sie hatten diesen Geruchan sich.
Sie schienen alle zu warten und zu beobachten. Manchmal herrschte ein seltsames Schweigen zwischen ihnen, und ihre Augen schienen glasig zu werden, als hätten sie alle denselben bösen Traum. Sie taten etwas, ohne eine Erklärung zu verlangen, warum sie es tun mußten oder wozu. Es war, als würden diese Leute fröhliche Gesichter zur Schau stellen, aber die wirklichen Gesichter darunter waren die Gesichter von Ungeheuern. Darüber hatte er mal einen gruseligen Film gesehen. Diese Art von Ungeheuern nannte man Werwolf.
Geisterhaft, hoch und frei stand der Mond über der Wüste. Er hatte Dayna aus der Freien Zone gesehen. Er hatte sie nur einmal gesehen, und dann nie wieder. Was war mit ihr passiert? Hatte sie auch spioniert? War sie zurückgegangen?
Er wußte es nicht. Aber er hatte Angst.
Auf dem La-Z-Boy-Stuhl vor dem nutzlosen Farbfernseher der Wohnung stand ein kleiner Rucksack. Dieser Rucksack war mit vakuumversiegelten Lebensmitteln gefüllt. Er nahm ihn auf und hängte ihn sich um.
Nachts wandern, am Tag schlafen.
Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er auf den Hof des Gebäudes hinaus. Der Mond schien so hell, daß er einen Schatten auf den riesigen Beton warf, wo früher Möchtegern-Gewinner ihre Autos mit den Nummernschildern anderer Staaten geparkt hatten. Er sah zu der geisterhaften Münze empor, die am Himmel schwebte.
»M-O-N-D, das buchstabiert man Mond«, flüsterte er. »Meine Fresse, ja. Tom Cullen weiß, was das bedeutet.«
Sein Fahrrad lehnte an der rosa Stuckmauer des Mietshauses. Er hielt noch einmal inne, rückte den Rucksack zurecht, stieg auf und brach Richtung Interstate auf. Um elf Uhr hatte er Las Vegas hinter sich gelassen und radelte auf der Standspur der 1-15 Richtung Osten. Niemand sah ihn. Kein Alarm wurde ausgelöst. Sein Verstand schaltete in einen angenehmen Leerlauf, wie meistens, wenn alles Wichtige erledigt war. Er radelte konstant dahin und dachte nur, daß sich der leichte Nachtwind angenehm auf seinem verschwitzten Gesicht anfühlte. Ab und zu mußte er um eine Sanddüne herumfahren, die aus der Wüste gekommen war und einen weißen, geisterhaften Arm über die Straße gelegt hatte, und als er die Stadt schon ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, mußte er sich auch mit liegengebliebenen Autos herumschlagen-sehet meine Werke, ihr Mächtigen, und verzweifelt, hätte Glen Bateman vielleicht in seiner ironischen Art gesagt. Um zwei Uhr nachts hielt er an und nahm einen leichten Imbiß aus Slim Jims, Crackern und Kool-Aid aus der großen Thermosflasche auf dem Gepäckträger zu sich. Dann fuhr er weiter. Der Mond war untergegangen. Las Vegas blieb mit jeder Umdrehung der Fahrradreifen weiter zurück. Das verbesserte seine Stimmung erheblich.
Aber am Morgen des 13. September um Viertel vor vier wusch eine kalte Welle der Angst über ihn hinweg. Sie war um so schrecklicher, weil sie unerwartet kam und unlogisch war. Tom hätte laut geschrien, aber seine Stimmbänder waren plötzlich wie gefroren. Die Muskeln seiner tretenden Beine wurden schlaff, er rollte unter dem strahlenden Sternenhimmel entlang. Das schwarzweiße Negativ der Wüste zog immer langsamer an ihm vorüber.
Erwar in der Nähe.
Der Mann ohne Gesicht, der Dämon, der nun auf Erden wandelte. Flagg.
Den Boß nannten sie ihn. Den Grinsenden nannte Tom ihn insgeheim. Wenn man sein Grinsen sah, gerann einem das Blut in den Adern, und das Fleisch wurde kalt und grau. Der Mann, der eine Katze veranlassen konnte, Haarklumpen auszuwürgen, wenn er sie nur ansah. Wenn er über eine Baustelle ging, schlugen sich die Männer mit dem Hammer auf die Daumen und setzten Schindeln falsch ein und gingen wie Schlafwandler über das Ende des Gerüstes hinaus und...
... und, o du lieber Gott, er ist wach!
Ein Wimmern drang aus Toms Kehle. Er spürte diese plötzliche Wachheit. Er schien zu sehen und zu fühlen, wie sich in der Dunkelheit des frühen Morgens ein Auge öffnete, ein entsetzliches rotes Auge, das noch vom Schlaf getrübt und verwirrt war. Es drehte sich in der Dunkelheit. Suchte. Suchte nach ihm. Es wußte, daß Tom Cullen da war, aber nicht genau, wo er war.
Halb betäubt fand er die Pedale und fuhr weiter, schneller und schneller, beugte sich über den Lenker, um den Luftwiderstand zu verringern. Zuletzt flog er nur so dahin. Wäre ihm ein liegengebliebenes Auto im Weg gewesen, wäre er mit Vollgas dagegen gerast und hätte sich wahrscheinlich umgebracht. Aber ganz allmählich spürte er, daß er diese unheimliche, heiße Präsenz hinter sich gelassen hatte. Und das größte Wunder war, daß dieses fürchterliche rote Auge in seine Richtung geblickt und ihn nicht gesehen ( vielleicht weil ich mich so weit über den Lenker gebeugt habe, dachte Tom Cullen zusammenhanglos) und sich wieder geschlossen hatte.
Der dunkle Mann war wieder eingeschlafen.
Wie fühlt sich ein Kaninchen, wenn der Schatten des Habichts auf es herabfährt wie ein dunkles Kruzifix... und dann weitersaust, ohne auch nur die Geschwindigkeit zu verringern? Wie fühlt sich eine Maus, wenn die Katze, die den ganzen Tag vor dem Loch gesessen hat, von ihrem Herrn gepackt und unzeremoniell durch die Haustür nach draußen befördert wird? Wie fühlt sich ein Reh, wenn es leise an dem gewaltigen Jäger vorbeizieht, der nach drei Flaschen Bier zum Mittagessen schnarcht? Vielleicht fühlen sie überhaupt nichts, oder vielleicht empfinden sie wie Tom Cullen, als er diese schwarze und gefährliche Einflußsphäre hinter sich gelassen hatte: eine gewaltige und fast elektrisierende Sonneneruption der Erleichterung; ein Gefühl der Wiedergeburt. Und ganz besonders das Gefühl einer nur knapp wiedergewonnenen Sicherheit und daß ein solches Glück sicher ein Zeichen des Himmels sein muß.
Er fuhr bis fünf Uhr morgens. Vor ihm verwandelte sich der Himmel in das dunkelblau eingefaßte Gold des Sonnenaufgangs. Die Sterne verblaßten.
Tom war hundemüde. Er fuhr noch ein Stück weiter und entdeckte etwa siebzig Meter rechts von der Straße eine steil abfallende Senke. Er schob sein Fahrrad hinüber in die trockene Grube. Fast instinktiv sammelte er genügend Gras und Zweige von Mesquitesträuchern, um das Fahrrad weitgehend zu bedecken. Ein paar Meter von seinem Fahrrad entfernt standen gegeneinandergelehnt zwei große Felsen. Er kroch in die schattige Spalte zwischen ihnen, legte die Jacke unter den Kopf und schlief fast auf der Stelle ein.