Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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»Joe«, sagte er, »hast du >gern geschehen< gesagt?«
Joe nickte heftig. »Gengeschen. Gengeschen.«
Nadine streckte die Arme aus und lächelte. »Das ist gut, Joe. Sehr, sehr gut.« Joe ging zu ihr und ließ sich einen Augenblick oder zwei von ihr in den Arm nehmen. Dann sah er wieder die Motorräder an, heulte und kicherte vor sich hin.
»Er kann sprechen«, sagte Larry.
»Ich wußte, daß er nicht stumm ist«, antwortete Nadine. »Aber es ist schön zu wissen, daß er wieder zu sich selbst finden kann. Ich glaube, er brauchte zwei von unserer Sorte. Zwei Hälften. Er... ach, ich weiß auch nicht.«
Er sah, daß sie errötete, und glaubte, den Grund zu wissen. Er schob das Stück Gummischlauch in das Loch im Beton und wurde sich plötzlich darüber klar, daß das, was er da machte, als symbolische (und recht vulgäre) Anspielung interpretiert werden konnte. Er sah hastig zu ihr auf. Sie wandte sich schnell ab, aber ihm war nicht entgangen, wie gebannt sie beobachtete, was er tat, und wie rot ihre Wangen waren.
Eine Woge greller Angst stieg in ihm auf, und er rief: »Um Himmels willen, Nadine, paß auf!« Sie konzentrierte sich auf die Handkontrollen und achtete nicht darauf, wohin sie fuhr, und sie war im Begriff, die Honda mit halsbrecherischen fünf Meilen die Stunde gegen eine Pinie zu rammen.
Sie sah auf, und er hörte sie mit verblüffter Stimme »Oh!« sagen. Dann schlug sie vi el zu heftig den Lenker ein und fiel vom Motorrad. Die Honda wurde abgewürgt.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er zu ihr lief. »Alles in Ordnung? Nadine? Alles...«
Dann richtete sie sich benommen auf und betrachtete die aufgeschürften Hände. »Ja, alles klar. Zu dumm, daß ich nicht darauf geachtet habe, wohin ich fahre. Ist dem Motorrad was passiert?«
»Lassen Sie das Scheißmotorrad, ich möchte Ihre Hände sehen.«
Sie streckte sie ihm hin, und er nahm eine Plastikflasche Bactine aus der Hosentasche und sprühte sie damit ein.
»Sie zittern«, sagte sie.
»Kümmern Sie sich nicht darum«, antwortete Larry gröber als beabsichtigt. »Hören Sie, vielleicht sollten wir lieber bei den Fahrrädern bleiben. Es ist gefährlich...«
»Das Atmen auch«, antwortete sie ruhig. »Und ich glaube, Joe sollte mit Ihnen fahren, jedenfalls am Anfang.«
»Er wird nicht...«
»Ich glaube doch«, sagte Nadine und sah ihm ins Gesicht. »Und Sie auch.«
»Hören wir für heute abend auf. Man kann fast nichts mehr sehen.«
»Noch einmal. Habe ich nicht gelesen, daß man gleich wieder aufsteigen soll, wenn einen das Pferd abwirft?«
Joe, der Blaubeeren aus einem Motorradhelm mampfte, kam herüber. Er hatte wilde Blaubeerbüsche hinter der Vertretung gefunden und die Beeren gepflückt, während Nadine ihre erste Lektion bekommen hatte.
»Na gut«, sagte Larry resigniert. »Aber passen Sie bitte auf, wohin Sie fahren.«
»Ja, Sir. Gut, Sir.« Sie salutierte und lächelte ihn an. Sie hatte ein wunderbares, zaghaftes Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellte. Larry erwiderte das Lächeln; was konnte er schon machen. Wenn Nadine lächelte, lächelte sogar Joe.
Diesmal fuhr sie zweimal rund um den Platz und dann auf die Straße hinaus, lenkte wieder zu heftig, und wieder schlug Larrys Herz bis zum Hals. Aber sie stützte sich geschickt mit dem Fuß ab, wie er ihr beigebracht hatte, und fuhr den Hügel hinauf. Er sah sie vorsichtig in den zweiten Gang schalten. Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld. Er hörte noch, wie sie in den dritten Gang schaltete. Dann wurde das Dröhnen des Motors zu einem Summen und verstummte schließlich ganz. Larry stand ängstlich in der Dunkelheit und schlug ab und zu geistesabwesend nach einem Moskito.
Joe kam wieder herüber; sein Mund war blau. »Gengeschen«, sagte er und grinste. Larry brachte als Antwort ein gepreßtes Lächeln zustande. Wenn sie nicht bald zurückkam, würde er ihr folgen. Visionen, wie er sie mit gebrochenem Genick im Straßengraben fand, geisterten düster durch seinen Kopf.
Als er schon zum Motorrad ging und sich fragte, ob er Joe mitnehmen sollte oder nicht, hörte er wieder das dröhnende Summen, welches zum Motorenlärm der Honda anschwoll, die im vierten Gang heranbrauste. Er entspannte sich... etwas. Ihm wurde widerwillig klar, daß er sich niemals völlig würde entspannen können, wenn sie mit diesem Ding fuhr.
Sie kam wieder in Sicht; der Scheinwerfer des Motorrads war jetzt eingeschaltet. Sie hielt neben ihm.
»Ganz gut, hm?« Sie stellte den Motor ab.
»Ich wollte Ihnen schon hinterherfahren. Ich dachte, Sie hätten einen Unfall gebaut.«
»In gewisser Weise hatte ich auch einen.« Sie sah, wie er sich verkrampfte, und fügte hinzu: »Ich habe zu langsam gewendet und vergessen, die Kupplung zu drücken. Ich hab' den Motor abgewürgt.«
»Oh. Genug für heute, hm?«
»Ja«, sagte sie. »Mein Steiß tut weh.«
In dieser Nacht lag er unter der Decke und fragte sich, ob sie zu ihm kommen würde, wenn Joe eingeschlafen war, oder ob er zu ihr gehen sollte. Er begehrte sie. Und danach zu urteilen, wie sie seine absurde kleine Darbietung mit dem Gummischlauch verfolgt hatte, begehrte sie ihn seiner Meinung nach auch. Schließlich schlief er ein.
Er träumte, daß er sich in einem Maisfeld verirrt hatte. Aber er hörte Musik, Gitarrenmusik. Joe spielte Gitarre. Wenn er Joe fand, würde alles gut werden. Also folgte er den Klängen, brach durch eine Reihe Mais nach der anderen, wenn es sein mußte, und gelangte schließlich zu einer unregelmäßigen Lichtung. Dort stand ein kleines Haus, eigentlich mehr eine Hütte, deren Veranda von rostigen alten Wagenhebern gestützt wurde. Nicht Joe spielte die Gitarre. Wie wäre das auch möglich gewesen? Denn Joe hielt seine linke Hand, Nadine seine rechte. Sie waren bei ihm. Eine alte Frau spielte Gitarre, eine Art Jazz-Spiritual, das Joe zum Lächeln brachte. Die alte Frau war schwarz, sie saß auf der Veranda, und Larry vermutete, daß sie die älteste Frau war, die er in seinem Leben gesehen hatte. Aber sie hatte etwas an sich, das ihn mit Wärme und Wohlbehagen erfüllte... so wie früher bei seiner Mutter, als er noch klein gewesen war und sie ihn plötzlich in den Arm genommen und gesagt hatte: Da kommt der beste Junge, da kommt Alice Underwoods allerbester Junge.
Die alte Frau hörte auf zu spielen und blickte zu ihnen herüber.
Sieh einer an, ich hab' Gesellschaft. Kommt raus, damit ich euch sehen kann, meine Gucker sind nicht mehr das, was sie mal waren.
Also kamen sie näher, alle drei, Hand in Hand, und Joe streckte die Hand aus und schubste die alte Reifenschaukel an, als sie daran vorbei kamen. Der krapfenförmige Schatten des Reifens glitt auf dem unkrautüberwucherten Boden hin und her. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, auf einer Insel in einem Meer von Mais. Im Norden verlief ein Feldweg, der am Horizont zu einem Punkt wurde.
Möchtest du gerne damit spielen, mein Kleiner? fragte sie Joe, und Joe ging freudig zu ihr und nahm ihr die Gitarre aus den knotigen Händen. Er spielte die Melodie, der sie durch den Mais gefolgt waren, aber schneller und besser als die alte Frau.
Gott segne ihn, er spielt gut. Ich bin zu alt. Die Finger sind nicht mehr so schnell. Liegt am Rheuma. Aber 1895 hab' ich in der Stadthalle gespielt. Ich war die erste Negerin, die je dort gespielt hatte, die allerbeste.
Nadine fragte die Frau, wer sie war. Sie befanden sich in einer Art zeitlosem Ort, wo die Sonne eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit stehengeblieben zu sein schien und der Schatten der Schaukel, die Joe angeschubst hatte, für alle Zeiten über den überwucherten Hof gleiten würde. Larry wünschte sich, er könnte für immer hier bleiben, er und seine Familie. Es war ein guter Ort. Hier konnte der Mann ohne Gesicht ihn nie erwischen und Nadine und Joe auch nicht.
Mutter Abagail, so nennt man mich. Ich glaube, ich bin die älteste Frau in Ostnebraska, und ich back' meine Plätzchen immer noch selbst. Kommt so schnell wie möglich zu mir. Wir müssen gehen, bevor er Wind von uns bekommt.
Eine Wolke zog vor die Sonne. Die Schaukel bewegte sich nicht mehr. Joe hörte mit einem scheppernden Mißklang auf zu spielen, und Larry spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Die alte Frau schien es nicht zu bemerken.
Bevor wer Wind von uns bekommt? fragte Nadine, und Larry wünschte sich, er könnte sprechen, aufschreien, sie möge die Frage zurücknehmen, bevor sie davonschnellen und ihnen schaden konnte.
Der schwarze Mann. Der Diener des Teufels. Wir haben die Rockies zwischen ihm und uns, Gott sei Dank, aber die werden ihn nicht aufhalten. Darum müssen wir zusammenfinden. In Colorado. Gott ist mir im Traum erschienen und hat mir gezeigt, wo. Aber wir müssen schnell sein, so schnell wir können. Also kommt zu mir. Auch andere sind zu mir unterwegs.
Nein, sagte Nadine mit kalter, ängstlicher Stimme. Wir gehen nach Vermont, das ist alles. Nur nach Vermont – nur ein kurzer Ausflug. Eure Reise wird länger sein als unsere, wenn ihr nicht gegen seine Macht kämpft, antwortete die alte Frau in Larrys Traum. Sie sah Nadine sehr traurig an. Dies könnte ein guter Mann sein, den du da bei dir hast, Frau. Er will etwas aus sich machen. Warum hilfst du ihm nicht, anstatt ihn zu benützen?
Nein! Wir gehen nach Vermont, nach VERMONT!
Die alte Frau lachte Nadine mitleidig aus. Du wirst direkt in die Hölle gehen, wenn du nicht aufpaßt, Tochter Evas. Und wenn du dort bist, wirst du feststellen, daß die Hölle kalt ist.
Da zersplitterte der Traum in Bruchstücke von Dunkelheit, die ihn verschluckten. Aber etwas in dieser Dunkelheit verfolgte ihn. Es war kalt und gnadenlos, und jeden Moment würde er seine grinsenden Zähne zu sehen bekommen.
Aber bevor das geschah, wachte er auf. Es war eine halbe Stunde vor Anbruch der Dämmerung, die Welt war in dichten weißen Bodennebel gehüllt, der sich verziehen würde, wenn die Sonne aufgegangen war. Das Gebäude der Motorradvertretung ragte daraus hervor wie ein seltsamer Schiffsbug, der aus Mauersteinen statt aus Holz gebaut war.
Jemand war neben ihm, und er sah, daß nicht Nadine in der Nacht zu ihm gekommen war, sondern Joe. Der Junge lag neben ihm, hatte den Daumen in den Mund gedrückt und zitterte im Schlaf, als hätte er seinen eigenen Alptraum. Larry fragte sich, ob Joes Träume so anders als die seinen waren... und er lag auf dem Rücken, starrte in den weißen Nebel und dachte darüber nach, bis die anderen eine Stunde später aufwachten.
Als sie mit dem Frühstück fertig waren, hatte sich der Nebel so weit verzogen, daß sie die Sachen auf die Motorräder packen und aufbrechen konnten. Wie Nadine gesagt hatte, zögerte Joe nicht, bei Larry mitzufahren; er stieg sogar unaufgefordert auf Larrys Motorrad.
»Langsam«, sagte Larry zum vierten Mal. »Wir werden uns nicht beeilen und einen Unfall bauen.«
»Prima«, sagte Nadine. »Ich bin so aufgeregt. Es ist wie eine heilige Suche!« Sie lächelte ihn an, aber Larry konnte das Lächeln nicht erwidern. Rita Blakemoor hatte etwas ganz Ähnliches gesagt, als sie New York City verlassen hatten. Zwei Tage vor ihrem Tod hatte sie es gesagt.
Zum Mittagessen hielten sie in Epsom, aßen gebackenen Schinken aus der Dose und tranken Orangenlimonade unter dem Baum, wo Larry eingeschlafen war und Joe mit dem Messer über ihm gestanden hatte. Larry hatte erleichtert festgestellt, daß das Motorradfahren gar nicht so schlimm war, wie er gedacht hatte; meistens kamen sie ganz gut voran, und selbst in den Ortschaften war es nur nötig, im Schrittempo über die Bürgersteige dahinzurollen. Nadine war vor unübersichtlichen Kurven außerordentlich vorsichtig, und selbst auf offener Straße drängte sie Larry nicht, schneller als die fünfunddreißig Meilen zu fahren, die er vorlegte. Wenn kein schlechtes Wetter dazwischenkam, konnten sie nach seiner Vermutung am 19. in Stovington sein.
Zum Abendessen hielten sie westlich von Concord, und Nadine sagte, sie könnten Zeit sparen, wenn sie statt der Route von Lauder und Goldsmith direkt auf der Verbindungsstraße 189 fuhren.
»Dort dürften jede Menge Staus sein«, sagte Larry zweifelnd.
»Die können wir umgehen«, sagte sie zuversichtlich, »und, wenn nötig, auf der Standspur fahren. Schlimmstenfalls müssen wir zurück zu einer Ausfahrt und auf eine Nebenstraße ausweichen.«
Sie versuchten es zwei Stunden nach dem Essen und kamen tatsächlich an eine Barrikade von einer Seite der Fahrspuren nach Norden auf die andere. Kurz hinter Warner war ein Auto mit Wohnwagen wie ein Taschenmesser zusammengeklappt; der Fahrer und seine Frau, seit Wochen tot, lagen wie Sandsäcke auf den Vordersitzen ihres Electra.
Zu dritt gelang es ihnen, die Motorräder über die geknickte Kupplung zwischen Auto und Anhänger zu heben. Danach waren sie so erschöpft, daß sie nicht mehr weiter konnten, und in dieser Nacht erwog Larry nicht, ob er zu Nadine sollte, die ihre Decke zehn Schritte von ihm ausgebreitet hatte (der Junge lag zwischen ihnen). In dieser Nacht war er so müde, daß er nur schlafen wollte.
Am nächsten Tag kamen sie an ein Hindernis, das sie nicht umgehen konnten. Ein Lastwagen war umgestürzt, und sechs Autos waren hineingerast. Glücklicherweise lag die Ausfahrt Enfield erst zwei Meilen hinter ihnen. Sie fuhren zurück, die Ausfahrt hinunter und machten müde und entmutigt im Stadtpark von Enfield zwanzig Minuten Rast.
»Was haben Sie vorher gemacht, Nadine?« fragte Larry. Er hatte an den Ausdruck in ihren Augen gedacht, als Joe endlich gesprochen hatte (der Junge hatte seinem Wortschatz mittlerweile noch >Larry, Nadine, dangefön< und >musaufsklo< hinzugefügt), und nun stellte er eine darauf beruhende Vermutung an. »Waren Sie Lehrerin?«
Sie sah ihn überrascht an. »Ja. Gut geraten.«
»Grundschule?«
»Richtig. Erst– und Zweitkläßler.«
Das erklärte ihre unerbittliche Weigerung, Joe zurückzulassen. Zumindest geistig war der Junge auf dem Stadium eines Siebenjährigen verblieben.
» Wie haben Sie es erraten?«
»Ich bin vor langer Zeit einmal mit einer Sprachtherapeutin aus Long Island ausgegangen «, sagte Larry. »Ich weiß, das hört sich wie der Anfang eines typischen New-York-Witzes an, aber es stimmt. Sie arbeitete für die Ocean-View-Schule. Untere Klasse. Kinder mit Sprachproblemen, Gaumendeformierungen, Hasenscharten, Gehörlosigkeit. Sie sagte immer, daß man den Kindern nur andere Möglichkeiten zeigen muß, die richtigen Laute hervorzubringen, um ihre Sprachstörungen zu beheben. Zeigen, das Wort sagen, zeigen, das Wort sagen. Immer wieder, bis etwas im Kopf des Kindes klick machte. Und wenn sie über dieses Klick redete, sah sie aus wie Sie, als Joe >gern geschehen< gesagt hat.«
»Wirklich?« Sie lächelte ein wenig sehnsüchtig. »Ich hatte die Kleinen so gern. Manche waren störrisch, aber in diesem Alter sind sie noch nicht unwiderruflich verdorben. Die Kleinen sind die einzigen guten Menschen.«
»Reichlich romantische Vorstellung, finden Sie nicht?«
Sie zuckte die Achseln. »Kinder sind gut. Und wenn man mit ihnen arbeitet, muß man romantisch sein. Das ist nicht so schlimm. War Ihre Sprachtherapeutin nicht glücklich in ihrem Beruf?«
»Doch, hat ihr gefallen«, stimmte Larry zu. »Waren Sie verheiratet? Vorher?« Da war es wieder – dieses einfache, unscheinbare Wort. Vorher. Nur zwei Silben, aber es war allumfassend geworden.
»Verheiratet? Nein. Nicht verheiratet.« Sie sah wieder nervös aus.
»Ich bin die klassische altjüngferliche Lehrerin, jünger, als ich aussehe, aber älter, als ich mich fühle. Siebenunddreißig.« Er hatte ihr Haar betrachtet, ehe er es verhindern konnte, und sie nickte, als hätte er es laut gesagt. »Vorzeitig ergraut«, sagte sie sachlich. »Als meine Großmutter vierzig war, war ihr Haar schlohweiß. Ich vermute, ich habe mindestens fünf Jahre länger Zeit.«
»Wo haben Sie unterrichtet?«
»An einer kleinen Privatschule in Pittsfield. Sehr exklusiv. Efeuberankte Wände, das Neueste vom Neuen auf dem Spielplatz. Vergeßt die Rezession, Leute, volle Kraft voraus. Der Fuhrpark besaß zwei Thunderbirds, drei Mercedes Benz, ein paar Lincolns und einen Chrysler Imperial.«
»Sie müssen sehr gut in Ihrem Job gewesen sein.«
»Ja, ich glaube, das war ich«, sagte sie ungekünstelt, dann lächelte sie. »Ist jetzt aber nicht mehr wichtig.«
Er legte einen Arm um sie. Sie zuckte leicht zusammen, dann spürte er, wie sie sich verkrampfte. Ihre Hand und Schulter waren warm.
»Bitte nicht«, sagte sie unbehaglich.
»Möchten Sie es nicht?«
»Nein. Ich möchte es nicht.«
Er zog den Arm fassungslos zurück. Sie wollte es, das war es; er spürte ihr Verlangen in milden, aber deutlich wahrnehmbaren Wellen von ihr ausgehen. Sie hatte hektische Flecken im Gesicht und betrachtete verzweifelt ihre Hände, die wie verletzte Spinnen in ihrem Schoß zuckten. Ihre Augen glänzten, als wäre sie den Tränen nahe.
»Nadine...«
(honey, is that you?)
Sie blickte zu ihm auf, und er erkannte, daß die Gefahr, in Tränen auszubrechen, gebannt war. Sie wollte gerade etwas sagen, als Joe hinzukam, den Gitarrenkasten in einer Hand. Sie blickten ihn schuldbewußt an, als hätten sie etwas Intimeres gemacht, als nur zu reden.
»Lady«, sagte Joe im Plauderton.
»Was?« fragte Larry aufgeschreckt und begriff nicht.
»Lady!« sagte Joe noch einmal und deutete mit dem Daumen über die Schulter.
Larry und Nadine sahen einander an.
Plötzlich erklang eine vierte Stimme, schrill und emotionsgeladen und so aufrüttelnd wie die Stimme des Herrn.
»Gott sei Dank!« rief sie. »O Gott sei Dank!«
Sie standen auf und blickten der Frau entgegen, die jetzt die Straße entlang auf sie zu gerannt kam. Sie lachte und weinte gleichzeitig.
»Ich bin so froh, Sie zu sehen«, sagte sie. »So froh, Sie zu sehen, Gott sei Dank...«
Sie schwankte und wäre vielleicht zu Boden gefallen, hätte Larry sie nicht rasch ergriffen und gestützt, bis ihre Benommenheit geschwunden war. Er schätzte sie auf etwa fünfundzwanzig Jahre. Sie trug Blue Jeans und eine schlichte weiße Baumwollbluse. Ihr Gesicht war blaß, die blauen Augen unnatürlich starr; diese Augen blickten Larry so intensiv an, als wollten sie das Hirn dahinter mit aller Kraft überzeugen, daß die drei Menschen, die sie vor sich sahen, keine Halluzination, sondern aus Fleisch und Blut waren.
»Ich bin Larry Underwood«, sagte er. »Die Dame hier ist Nadine Cross. Der Junge heißt Joe. Wir sind sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
Die Frau sah ihn noch einen Moment wortlos an, dann trat sie langsam von ihm weg und ging zu Nadine hinüber.
»Ich freue mich so...«, begann sie, »...so sehr, daß ich Sie treffe.«
Ihre Schritte waren unsicher. »Mein Gott, sind Sie wirklich Menschen?«
»Ja«, sagte Nadine.
Die Frau warf die Arme um Nadine und schluchzte. Nadine hielt sie fest. Joe stand bei einem liegengebliebenen Lastwagen auf der Straße, hielt den Gitarrenkasten in der Rechten und den Daumen der Linken im Mund. Schließlich kam er zu Larry und blickte zu ihm auf. Larry nahm seine Hand. So standen die beiden da und betrachteten die Frauen ernst. Und so lernten sie Lucy Swann kennen.
Als sie Lucy sagten, wohin sie unterwegs waren und daß sie hofften, am Ziel mindestens zwei weitere Menschen zu treffen, brannte sie darauf, mit ihnen zu kommen. Larry fand im Enfield Sporting Goods einen mittelgroßen Rucksack für sie, und Nadine begleitete sie zu ihrem Haus am Stadtrand, um ihr beim Packen zu helfen... zweimal Kleidung zum Wechseln, Unterwäsche, ein zweites Paar Schuhe, ein Regenmantel. Und ein Bild ihres verstorbenen Mannes und ihrer Tochter.
In dieser Nacht rasteten sie in einer Stadt namens Queechee, die schon jenseits der Staatengrenze in Vermont lag. Lucy Swann erzählte eine kurze Geschichte, die schlicht und einfach war und sich nicht sehr von den anderen unterschied, die sie noch zu hören bekommen sollten. Kummer war unvermeidlich, und der Schock hatte Lucy zumindest in Rufweite des Wahnsinns gebracht.
Ihr Mann war am fünfundzwanzigsten Juni erkrankt, ihre Tochter einen Tag später. Sie hatte sich, so gut sie konnte, um die beiden gekümmert und ständig damit gerechnet, daß sie das Sabbern, wie man die Krankheit in ihrer Ecke in Neu-England genannt hatte, auch bekommen würde. Am siebenundzwanzigsten, als ihr Mann ins Koma gefallen war, war Enfield weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Der Fernsehempfang war verschwommen und verzerrt geworden. Die Menschen starben wie die Fliegen. Während der letzten Juniwoche waren starke Truppenbewegungen auf der Mautstraße beobachtet worden, doch die hatten in einem kleinen Fleckchen wie Enfield, New Hampshire, nichts verloren. In den frühen Morgenstunden des achtundzwanzigsten war ihr Mann gestorben. Am neunundzwanzigsten schien es ihrer kleinen Tochter eine Zeitlang besser zu gehen, aber am Abend war ihr Zustand ganz unvermittelt kritisch geworden, und gegen elf Uhr war sie gestorben. Am 3. Juli waren alle Einwohner von Enfield, außer ihr selbst und einem alten Mann namens Pop Carmody, tot gewesen. Pop war krank gewesen, sagte Lucy, schien das Sabbern aber völlig überwunden zu haben. Am Morgen des Unabhängigkeitstages hatte sie Pop tot auf der Main Street gefunden, aufgedunsen und schwarz, wie alle anderen.
»Dann habe ich meinen Mann, meine kleine Tochter und Pop gemeinsam beerdigt«, sagte Lucy, während sie um das prasselnde Feuer herum saßen. »Es hat einen ganzen Tag gedauert, aber ich habe sie zur letzten Ruhe gebettet. Und dann dachte ich mir, daß ich besser nach Concord gehe, wo meine Eltern wohnen. Aber... irgendwie bin ich nie dazu gekommen.« Sie sah die anderen flehentlich an. »War das falsch? Glauben Sie, sie waren noch am Leben?«
»Nein«, sagte Larry. »Die Immunität ist sicher nicht vererbbar. Meine Mutter...« Er blickte ins Feuer.
»Wes und ich, wir mußten heiraten«, sagte Lucy. »Das war der Sommer nach meinem High-School-Abschluß. 1984. Meine Eltern wollten nicht, daß ich ihn heirate. Sie wollten, daß ich weggehe, das Baby bekomme und es hergebe. Aber das wollte ich nicht. Meine Mutter sagte, wir würden uns sowieso über kurz oder lang scheiden lassen. Mein Dad sagte, Wes wäre ein Habenichts, immer rastlos. Ich sagte nur: Das mag sein, warten wir eben ab, was passiert. Ich wollte das Risiko einfach eingehen. Verstehen Sie?«
»Ja«, sagte Nadine. Sie saß neben Lucy und sah sie voll Mitgefühl an.
»Wir hatten ein hübsches kleines Haus. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß es einmal so enden würde, wirklich nicht«, sagte Lucy mit einem Seufzer, der halb Schluchzen war. »Wir hatten uns so schön eingerichtet. Wes wurde mehr Marcy als mir zuliebe seßhaft. Für ihn ging mit der Kleinen die Sonne auf und unter. Sie war für ihn...«
»Pssst«, sagte Nadine. »Das war alles vorher.«
Wieder dieses Wort, dachte Larry. Das kleine zweisilbige Wort.
»Ja. Es ist vorbei. Und ich glaube, ich hätte damit fertig werden können. Ich wurde auch damit fertig, bis ich die schlimmen Alpträume bekam.«
Larry riß den Kopf hoch. »Träume?«
Nadine blickte Joe an. Vor einem Augenblick hatte der Junge vor dem Feuer gedöst. Jetzt schaute er Lucy mit glänzenden Augen an.
»Schlimme Träume, Alpträume«, sagte Lucy. »Nicht immer dieselben. Meistens verfolgte mich ein Mann, und ich kann nicht genau sehen, wie er aussieht, weil er fast immer in einen... wie sagt man... einen Umhang gehüllt ist. Und er hält sich in Schatten und Gassen.« Sie erschauerte. »Es ist schon so weit gekommen, daß ich Angst vor dem Schlafen habe. Aber vielleicht kann ich jetzt...«
»Schwarrr-tser Mann!« schrie Joe plötzlich so unvermittelt und heftig, daß sie alle zusammenzuckten. Er sprang auf, die Beine wie ein winziger Bela Lugosi; die Finger hatte er zu Krallen geformt.
»Schwarrr-tser Mann! Schlimme Träume! Verfolgt! Verfolgt mich!
Macht mir 'ngst!« Er schmiegte sich an Nadine und starrte mißtrauisch in die Dunkelheit.
Schweigen senkte sich über sie.
»Das ist verrückt«, sagte Larry schließlich und verstummte gleich wieder. Sie sahen ihn alle an. Plötzlich wirkte die Dunkelheit sehr, sehr dunkel, und Lucy sah wieder ängstlich aus.
Larry zwang sich, weiterzusprechen. »Lucy, haben Sie je von einem... von einem Ort in Nebraska geträumt?«
»Ich hatte einmal einen Traum über eine alte Negerin«, sagte Lucy, »aber es war ein ganz kurzer Traum. Die alte Frau sagte so etwas wie: >Komm mich besuchen.< Dann war ich wieder in Enfield, und dieser... dieser schreckliche Mann hat mich verfolgt. Und dann bin ich aufgewacht.«
Larry blickte sie so lange an, daß sie errötete und wegsah. Er betrachtete Joe. »Joe, hast du je von... äh, Mais geträumt? Von einer alten Frau? Einer Gitarre?« Joe sah ihn nur aus Nadines schützenden Armen an.
»Lassen Sie ihn in Ruhe, Sie regen ihn nur auf«, sagte Nadine, aber sie schien diejenige zu sein, die aufgeregt war.
Larry überlegte. »Ein Haus, Joe? Ein kleines Haus mit einer Veranda auf Wagenhebern?«
Er glaubte, ein Funkeln in Joes Augen zu erkennen.
»Hören Sie auf, Larry!« sagte Nadine.
»Eine Schaukel, Joe? Eine Schaukel aus einem Reifen?« Plötzlich zuckte Joe in Nadines Armen zusammen. Er nahm den Daumen aus dem Mund. Nadine versuchte, ihn zu halten, aber Joe riß sich los.
»Die Schaukel!« sagte Joe aufgeregt. »Die Schaukel! Die Schaukel!« Er wirbelte herum und deutete zuerst auf Nadine, dann auf Larry. »Sie! Du! Viele!«
»Viele?« fragte Larry, aber Joe war schon wieder in sich versunken. Lucy Swann sah fassungslos drein. »Die Schaukel«, sagte sie.
»Daran kann ich mich auch erinnern.« Sie blickte Larry an. »Warum haben wir alle dieselben Träume? Richtet jemand einen Strahl auf uns oder so was?«
»Ich weiß nicht.« Er sah Nadine an. »Haben Sie auch diese Träume gehabt?«
»Ich träume nicht«, sagte sie schneidend und senkte sofort darauf den Kopf. Er dachte: Du lügst. Aber warum?
»Nadine, wenn Sie...« begann er.
»Ich habe Ihnen gesagt, ich träume nicht!« schrie Nadine schrill, beinahe hysterisch. »Können Sie mich denn nicht in Ruhe lassen? Müssen Sie mich bedrängen?«
Sie stand auf und entfernte sich fast im Laufschritt vom Feuer. Lucy sah ihr einen Augenblick unsicher nach, dann stand sie auf.
»Ich gehe ihr nach.«
»Ja, tun Sie das. Joe, du bleibst bei mir, okay?«
»Kay«, sagte Joe und klappte den Gitarrenkasten auf.
Lucy kam zehn Minuten später mit Nadine zurück. Larry sah, daß sie beide geweint hatten, jetzt aber wieder beruhigt zu sein schienen.
»Tut mir leid«, sagte Nadine zu Larry. »Ich bin nur ständig nervös. Manchmal macht sich das auf seltsame Weise Luft.«
»Macht nichts.«
Das Thema wurde nicht mehr angeschnitten. Sie saßen da und hörten zu, wie Joe sein Repertoire spielte. Er wurde wirklich immer besser, und allmählich konnte man zwischen Heulen und Grunzen Bruchstücke der Texte hören.
Schließlich schliefen sie, Larry an einem Ende, Nadine am anderen, Joe und Lucy dazwischen.
Larry träumte zuerst vom dunklen Mann an seinem hohen Ort, dann von der alten schwarzen Frau, die auf ihrer Veranda saß. Aber in diesem Traum wußte er, daß der schwarze Mann kam; er schritt durch den Mais, drängte seine verhüllte Gestalt durch die Stauden, sein schreckliches, heißes Grinsen war ihm wie ins Gesicht geschweißt, und er kam auf sie zu, immer näher, näher. Larry wachte mitten in der Nacht auf, außer Atem und mit vor Angst zugeschnürter Brust. Die anderen schliefen wie Steine. Irgendwie hatte er es in diesem Traum gewußt. Der schwarze Mann war nicht mit leeren Händen gekommen. In den Armen hielt er, während er durch den Mais schritt, wie eine Opfergabe den verwesten Leichnam von Rita Blakemoor, der jetzt steif und aufgedunsen war, das Fleisch von Murmeltieren und Wieseln zerfetzt. Eine stumme Anklage, die ihm vor die Füße geworfen werden würde, damit sie den anderen seine Schuld hinausschrie und damit stumm verkündete, daß er kein netter Kerl war, daß ihm etwas fehlte, daß er ein Verlierer war, ein Nehmer.
Schließlich schlief er wieder ein, und bis er am nächsten Morgen um sieben frierend, hungrig und mit voller Blase aufwachte, war sein Schlaf traumlos.
»Mein Gott«, sagte Nadine mit ausdrucksloser Stimme. Larry betrachtete sie und sah eine Enttäuschung, die zu überwältigend für Tränen war. Ihr Gesicht war blaß, die so bemerkenswerten Augen blickten umwölkt und stumpf.
Es war Viertel nach sieben am 19. Juli, die Schatten wurden lang. Sie waren den ganzen Tag gefahren, hatten jeweils nur fünf Minuten Rast gemacht und nur eine halbe Stunde Mittagspause in Randolph. Keiner hatte sich beschwert, obwohl Larrys Körper nach sechs Stunden auf dem Motorrad verkrampft war und schmerzte und ihn überall Nadeln stachen.
Jetzt standen sie zusammen in einer Reihe vor einem schmiedeeisernen Zaun des Seuchenzentrums. Unter und hinter ihnen lag die Stadt Stovington, die sich kaum verändert hatte, seit Stu Redman sie in den letzten Tagen seines Aufenthalts in diesem Komplex gesehen hatte. Hinter dem Zaun und dem Rasen, der einmal so gepflegt gewesen, jetzt aber verwuchert und mit Blättern und Zweigen übersät war, die die nachmittäglichen Stürme darauf geweht hatten, befand sich die Anlage selbst, drei Stockwerke hoch. Aber der größte Teil, vermutete Larry, unterirdisch. Die Anlage war verlassen, still, einsam.
Mitten auf dem Rasen stand ein Schild mit der Aufschrift:
SEUCHENZENTRUM STOVINGTON
REGIERUNGSGELÄNDE! BESUCHER
BEIM PFÖRTNER ANMELDEN
Daneben stand ein zweites Schild, und darauf schauten sie alle.
ROUTE 7 nach RUTLAND
HIER SIND ALLE TOT
ROUTE 4 nach SCHUYLERVILLE
WIR ZIEHEN WEITER NACH NEBRASKA
ROUTE 2 zur I-87
BLEIBEN SIE AUF UNSERER ROUTE
I-87 SÜDLICH ZUR I-90
HALTEN SIE NACH SCHILDERN AUSSCHAU
I-90 NACH WESTEN
HAROLD EMERY LAUDER
FRANCES GOLDSMITH
STUART REDMAN
LAWRENCE BATEMAN
8. JULI 1990
»Mein guter Harold«, murmelte Larry. »Ich kann es kaum erwarten, dir die Hand zu schütteln und dir ein Bier auszugeben... oder einen Payday-Riegel.«
»Larry!« sagte Lucy erschrocken.
Nadine war ohnmächtig geworden.