Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Whitney sagte mit leiser Stimme: »Glaubst du, daß er es aus ihr herausgekriegt hat?«
»Nein«, sagte Lloyd und beobachtete Dinny. »Das glaube ich nicht. Irgendwie ist die Sache für ihn schiefgelaufen. Sie... sie hat Glück gehabt oder schneller gedacht als er. Und das kommt nicht oft vor.«
»Auf lange Sicht spielt es keine Rolle«, sagte Ken, aber er sah dennoch besorgt aus.
»Nein, sicher nicht.« Lloyd lauschte eine Weile dem Wind. »Vielleicht ist er wieder nach L.A.« Aber das glaubte er nicht, und man sah es seinem Gesicht an.
Whitney ging in die Küche zurück und holte noch eine Runde Bier. Sie tranken schweigend, erfüllt von beunruhigenden Gedanken. Zuerst der Richter und nun die Frau. Beide tot. Und keiner hatte geredet. Keiner war unversehrt geblieben, wie er es befohlen hatte. Es war, als hätten die alten Yankees mit Mantle und Marris und Ford die beiden Eröffnungsspiele der FootballMeisterschaft verloren; es war kaum zu glauben – und beängstigend.
Der Wind wehte die ganze Nacht hindurch.
63
Am späten Nachmittag des 10. September spielte Dinny in dem kleinen Park nördlich des Hotel– und Kasinobezirks der Stadt. Angelina Hirschfield, seine »Mutter« für diese Woche, saß auf einer Parkbank und unterhielt sich mit einem jungen Mädchen, das vor etwa fünf Wochen nach Las Vegas gekommen war, ungefähr zehn Tage später als Angie selbst.
Angie Hirschfield war siebenundzwanzig. Das Mädchen war zehn Jahre jünger und trug heute Jeans und eine kurze Matrosenbluse, die nichts der Phantasie überließ. Der Reiz ihres straffen jungen Körpers stand in einem fast obszönen Kontrast zu ihrem kindlichen Schmollmund und dem leeren Gesichtsausdruck. Ihre Konversation war monoton und scheinbar endlos: Rock-Stars, Sex, ihr lausiger Waffenreinigungsjob in Indian Springs, Sex, ihr Diamantring, Sex, Fernsehsendungen, die sie so sehr vermißte, und Sex. Angie wünschte sich, sie würde mit jemand gehen und Sex machen, damit sie selbst ihre Ruhe hatte. Und sie hoffte, daß Dinny mindestens dreißig war, bevor dieses Mädchen seine »Mutter« wurde.
In diesem Augenblick schaute Dinny auf, lächelte und rief: »Tom! He, Tom!«
Auf der anderen Seite des Parks schlurfte ein großer, kräftiger Mann mit strohblondem Haar vorbei, dessen Frühstücksdose ihm beim Gehen gegen das Knie schlug.
»Sieht aus, als war' der Kerl besoffen«, sagte das Mädchen zu Angie.
Angie lächelte. »Nein, das ist Tom. Er ist nur...«
Aber Dinny war schon losgerannt und rief: »Tom! Warte! Tom!«
Tom drehte sich grinsend um. »Dinny! He-he!«
Dinny sprang an Tom hoch. Tom ließ den Vesperkoffer fallen und nahm Dinny hoch. Wirbelte ihn herum.
»Flugzeug machen, Tom! Flugzeug machen!«
Tom packte Dinny an den Handgelenken und wirbelte ihn herum, schneller und schneller. Die Fliehkraft hob den Körper des Jungen, bis seine Beine parallel zum Boden waren. Er jauchzte vor Vergnügen. Nach zwei oder drei weiteren Umdrehungen setzte Tom ihn vorsichtig ab.
Dinny lachte, wankte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.
»Noch mal, Tom! Bitte, noch mal!«
»Nein, dann mußt du brechen. Und Tom muß jetzt nach Hause. Meine Fresse, ja.«
»Okay, Tom. Tschüs.«
Angie sagte: »Ich glaube, von allen Leuten in der Stadt mag Dinny am liebsten Lloyd Henreid und Tom Cullen. Tom Cullen ist einfältig, aber...« Sie sah das Mädchen an und verstummte. Das Mädchen betrachtete Tom mit schmalen, nachdenklichen Augen.
»Ist er mit einem anderen Mann gekommen?« fragte sie.
»Wer? Tom? Nein, soweit ich weiß, ist er ganz allein gekommen. Vor anderthalb Wochen. Er war bei den anderen Leuten in der Zone, aber sie haben ihn weggejagt. Ihr Verlust ist unser Gewinn, möchte ich sagen.«
»Und ist er wirklich nicht mit einem Tauben gekommen? Einem Taubstummen?«
»Einem Taubstummen? Nein. Er ist allein gekommen. Dinny liebt ihn über alles.«
Das Mädchen sah Tom nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Sie dachte an Pepto-Bismol in der Flasche. Sie dachte an eine gekritzelte Notiz: Wir brauchten dich nicht.Das war damals in Kansas gewesen, vor tausend Jahren. Sie hatte auf die beiden geschossen. Wenn sie sie doch nur getötet hätte, besonders den Taubstummen.
»Julie? Alles in Ordnung?«
Julie Lawry antwortete nicht. Sie sah Tom Cullen nach. Nach einer Weile fing sie an zu lächeln.
64
Der Sterbende öffnete sein Permacover-Notizbuch, entfernte die Kappe von seinem Füller, überlegte eine Weile und fing dann an zu schreiben.
Es war seltsam; wo früher die Feder über das Papier geglitten war und wie in einem magischen Prozeß das Blatt mit Zeilen gefüllt hatte, kamen die Worte jetzt nur schleppend und ungelenk, die Buchstaben groß und unregelmäßig, als würde eine private Zeitmaschine ihn in seine ersten Schultage zurückversetzen.
Damals hatten seine Eltern noch ein wenig Liebe für ihn übrig gehabt. Amy war noch nicht erblüht, und seine Zukunft als der erstaunliche fette und-möglicherweise-homosexuelle Junge aus Ogunquit war noch nicht beschlossen. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er damals mit einem Glas Cola neben sich am sonnigen Eßtisch gesessen und Wort für Wort ein Tom-Swift-Buch in ein Schreibheft Marke Blue Horse – billiges Papier, blaue Linien – abgeschrieben hatte. Er konnte die Worte seiner Mutter aus dem Wohnzimmer hören. Manchmal sprach sie ins Telefon, manchmal mit einer Nachbarin.
Es ist nur Babyspeck, sagt der Arzt. Gott sei Dank hat er nichts mit den Drüsen. Und er ist so klug!
Buchstabe für Buchstabe sah er die Worte entstehen. Wort für Wort die Sätze. Absätze, jeder ein Stein in dem großen gemauerten Bollwerk, das man Sprache nennt.
»Dies ist meine größte Erfindung«, sagte Tom energisch. »Gebt acht, was passiert, wenn ich die Platte herausziehe, aber um Gottes willen, schützt eure Augen!«
Die Mauersteine der Sprache. Ein Stein, ein Blatt, eine Tür, die man nicht findet. Worte. Worte. Magie. Leben und Unsterblichkeit. Macht.
Ich weiß nicht, woher er es hat, Rita. Vielleicht von seinem Großvater. Der war Priester, und es heißt, daß er die wunderbarsten Predigten gehalten hat...
Er beobachtete, wie die Buchstaben mit der Zeit besser wurden. Beobachtete, wie sie sich zusammenfügten, keine Druckschrift mehr, sondern Schreibschrift. Er trug Gedanken und Handlungen zusammen. Schließlich war die Welt nichts anderes als Gedanken und Handlungen. Er hatte schließlich eine Schreibmaschine bekommen (und mittlerweile war nicht mehr viel anderes für ihn übrig; Amy war an der High School, National Honor Society, Cheerleader, Laienschauspielgruppe, Diskussionsrunde, lauter Einsen, die Zahnspangen waren abgenommen worden, und ihre allerbeste Freundin auf der Welt war Frannie Goldsmith... und der Babyspeck ihres Bruders war noch nicht weg, obwohl dieser Bruder schon dreizehn Jahre alt war; und er fing an, große Worte zur Verteidigung zu gebrauchen, und ihm war mit allmählich aufkeimendem Entsetzen klargeworden, was das Leben wirklich war: ein einziger großer Kochtopf von Heiden', in dem er als einziger Missionar steckte und langsam gesotten wurde). Die Schreibmaschine setzte das übrige, das not tat, für ihn frei. Zuerst langsam, so langsam, und die ständigen Tippfehler waren unglaublich frustrierend. Es war, als würde sich die Maschine bewußt – und heimtückisch – seinem Willen widersetzen. Aber als er besser damit umgehen konnte, begriff er allmählich, was die Maschine wirklich war – eine Art magisches Stromkabel zwischen seinem Gehirn und der leeren Seite, die er zu erobern trachtete. Zur Zeit der Supergrippe konnte er mehr als hundert Worte pro Minute tippen, und damit konnte er endlich mit seinen rasenden Gedanken Schritt halten und alle einfangen. Aber er hatte nie völlig aufgegeben, mit der Hand zu schreiben, weil er wußte, daß Moby Dickmit der Hand geschrieben worden war, und Der scharlachrote Buchstabeund Das verlorene Paradies.
Die Art zu schreiben, die Frannie in seinem Hauptbuch gesehen hatte, hatte er in jahrelanger Übung entwickelt – keine Abschnitte, keine Absätze, keine Pause für das Auge. Es war Arbeit – gräßliche Arbeit, die die Hände verkrampfte -, aber es war eine heißgeliebte Arbeit. Er benützte die Schreibmaschine gern und bereitwillig, aber für seine Sternstunden behielt er sich stets die Handschrift vor. Und jetzt würde er den letzten Rest von sich selbst auf eben diese Weise zu Papier bringen.
Er sah auf und erblickte Bussarde, die am Himmel kreisten, wie in einer Samstagsmatinee in einem Film mit Randolph Scott oder einem Roman von Max Brand. Er stellte sich vor, wie es in einem Roman beschrieben sein würde: Harold sah die Bussarde wartend am Himmel kreisen. Er betrachtete sie einen Augenblick gelassen, dann beugte er sich wieder über sein Tagebuch.
Er beugte sich wieder über sein Tagebuch.
Am Ende mußte er wieder zu den krakeligen Buchstaben zurückkehren, dem Besten, was seine zitternde Motorik am Anfang zustande gebracht hatte. Er mußte schmerzlich an die sonnige Küche denken, das kalte Glas Cola, das alte und stockfleckige TomSwift-Buch. Und jetzt endlich, dachte er (und schrieb er), würde er seinen Vater und seine Mutter glücklich machen. Er hatte den Babyspeck verloren. Und obwohl er rein technisch gesehen immer noch Jungfrau war, war er todsicher, daß er kein Homosexueller war. Er machte den Mund auf und krächzte: »Der totale Gipfel, Ma.«
Er hatte die Seite halb vollgeschrieben. Er betrachtete zuerst das Geschriebene, dann sein Bein, das verbogen und gebrochen war. Gebrochen? Ein zu mildes Wort. Es war zerschmettert. Er saß jetzt schon fünf Tage lang im Schatten dieses Felsens. Er hatte nichts mehr zu essen. Er wäre schon gestern oder vorgestern verdurstet, wenn es nicht zweimal stark geregnet hätte. Sein Bein eiterte. Es hatte einen grünen, gasigen Geruch, und das Fleisch war so geschwollen, daß der Khakistoff seiner Hose sich straffte, und das Hosenbein wie eine Wursthülle aussah. Nadine war lange fort. Harold nahm die Pistole, die neben ihm lag, und überprüfte die Ladung. Heute hatte er sie hundertmal überprüft. Während der Regenschauer hatte er sorgfältig darauf geachtet, daß die Waffe nicht naß wurde. Er hatte noch drei Kugeln. Die ersten beiden hatte er auf Nadine abgefeuert, als sie zu ihm hinuntergeschaut und ihm gesagt hatte, daß sie ihn hier zurücklassen würde. Sie waren um eine Haarnadelkurve gefahren, Nadine auf der Innen– und er mit seiner Triumph auf der Außenseite. Sie waren auf dem Colorado West Slope, etwa siebzig Meilen von der Grenze nach Utah entfernt. Am äußersten Rand der Kurve war eine Ölspur gewesen, und in den Tagen danach hatte Harold oft über diese Ölspur nachgedacht. Es kam ihm zu perfekt vor. Eine Ölspur wovon? Gewiß war seit mindestens zwei Monaten hier oben niemand mehr vorbeigekommen. Genügend Zeit für eine Ölspur zu trocknen. Es war, als hätte sein rotes Auge sie beobachtet und den richtigen Moment abgepaßt, um Harold mit Hilfe einer Ölspur aus dem Verkehr zu ziehen. Ihn mit Nadine bis in die Berge zu lassen, falls es Ärger gab, und dann auszuschalten. Harold hatte, wie man so schön sagt, seine Schuldigkeit getan.
Die Triumph war gegen die Leitplanke geschlittert, Harold in hohem Bogen den Abhang hinuntergeschleudert worden. Er hatte einen grauenhaften Schmerz im rechten Bein gespürt. Er hatte das nasse Knacken gehört, als es brach. Er schrie. Der steinige Hang kam auf ihn zu, der Hang, der ekelhaft steil abfiel und in einer Schlucht endete.
Er schlug auf den Boden auf, wurde in die Luft geschleudert und landete wieder auf dem rechten Bein, schrie wieder und hörte es wieder brechen, diesmal an einer anderen Stelle, flog noch einmal in die Luft und rollte gegen einen vielleicht vor Jahren bei einem Gewitter umgestürzten Baum. Wenn dieser nicht dort gelegen hätte, wäre er ganz in die Schlucht gestürzt, und statt der Bussarde hätten die Bergforellen sich an ihm gütlich tun können.
Er wunderte sich immer noch über seine ungelenke Kinderschrift, als er in sein Notizbuch schrieb: lch mache Nadine keine Vorwürfe.Das stimmte. Aber damals hatte er ihr Vorwürfe gemacht.
Erschrocken und mit rasend schmerzendem rechten Bein war er ein Stück den Hang hinaufgekrochen. Hoch oben sah er Nadine, die über die Leitplanke blickte. Ihr Gesicht war weiß und winzig, das Gesicht einer Puppe.
»Nadine!« rief er. Seine Stimme war ein hartes Krächzen. »Das Seil!
Es ist in der linken Satteltasche!«
Sie sah nur zu ihm hinunter. Er glaubte schon, daß sie ihn nicht gehört hatte, und wollte seine Worte gerade wiederholen, als er sah, wie sie den Kopf nach links, nach rechts und wieder nach links bewegte. Ganz langsam. Sie schüttelte den Kopf.
»Nadine! Ich komme ohne Seil nicht wieder nach oben! Mein Bein ist gebrochen!«
Sie antwortete nicht. Sie schaute nur zu ihm hinunter. Sie schüttelte nicht einmal mehr den Kopf. Er hatte das Gefühl, in einer tiefen Grube zu sitzen, in die sie vom Rand aus hinuntersah.
»Nadine, wirf mir das Seil runter!«
Wieder das langsame Kopfschütteln, wie die Tür einer Gruft, die vor einem Mann zufiel, welcher nicht tot war, sondern nur im Griff einer schrecklichen Katalepsie.
»NADINE! UM GOTTES WILLEN! NADINE!«
Endlich drang ihre Stimme zu ihm herunter, leise, aber in der Stille der Berge deutlich zu verstehen. »Es war alles so geplant, Harold. Ich muß weiter. Es tut mir sehr leid.«
Aber sie ging noch nicht; sie blieb an der Leitplanke stehen und beobachtete ihn, wo er lag, ungefähr sechzig Meter tiefer. Schon waren die Fliegen da, die emsig sein Blut auf den zahlreichen Steinen kosteten, wo er aufgeschlagen war und Teile seiner selbst abgeschürft hatte.
Harold versuchte, den Hang hinaufzukriechen, wobei er sein zertrümmertes Bein hinter sich herschleifte. Zuerst empfand er keinen Haß und kein Bedürfnis, ihr eine Kugel zu verpassen. Aber es schien ihm wichtig, ihren Gesichtsausdruck zu sehen. Es war kurz nach Mittag. Es war heiß. Schweiß lief ihm über das Gesicht und tropfte auf die scharfen Steine und Felsbrocken, über die er kletterte. Er bewegte sich mit Hilfe der Ellenbogen und stiess sich mit dem linken Fuß ab, wie ein verkrüppeltes Insekt. Sein Atem feilte im Hals wie eine heiße Raspel. Er wußte nicht, wie lange es dauerte, aber ein– oder zweimal stieß er mit dem verletzten Bein gegen einen Stein, und die unerträglichen Schmerzen machten ihn fast bewußtlos. Mehrere Male war er zurückgerutscht und hatte hilflos gestöhnt.
Zuletzt wurde ihm dumpf bewußt, daß er nicht mehr weiter konnte. Die Schatten hatten sich verändert. Drei Stunden waren vergangen. Er wußte nicht mehr, wann er zuletzt zur Leitplanke und zur Straße hinaufgeschaut hatte, aber eine Stunde war es bestimmt her. In seiner Qual hatte er sich ganz auf den Aufstieg konzentriert. Nadine war wahrscheinlich schon längst gegangen.
Aber sie war immer noch da, und obwohl er nur sieben oder acht Meter geschafft hatte, konnte er ihre Miene grausam deutlich erkennen. In ihrem Blick lag ein Ausdruck von Trauer, aber ihr leerer Blick war in die Ferne gerichtet.
Ihr Blick galt ihm.
Da fing er an, sie zu hassen und griff nach seinem Schulterhalfter. Der Colt war noch da; er war während des Sturzes von dem über den Griff geknöpften Riemen festgehalten worden. Er knöpfte den Riemen ab, wobei er den Oberkörper beugte, damit sie es nicht sah.
»Nadine...«
»Es ist besser so, Harold. Besser für dich, denn seine Methode wäre viel schlimmer. Das siehst du doch ein, nicht wahr? Du willst ihm bestimmt nicht Auge in Auge gegenüberstehen, Harold? Er meint, daß jemand, der eine Seite verrät, wahrscheinlich auch die andere verraten wird. Er würde dich töten, aber vorher würde er dich in den Wahnsinn treiben. Er hat diese Fähigkeit. Er hat mich vor die Wahl gestellt. So – oder auf seineWeise. Ich habe mich hierfür entschieden. Du kannst schnell ein Ende machen, wenn du den Mut hast. Du weißt, was ich meine.«
Er prüfte die Pistole zum ersten von hundert (möglicherweise tausend) Malen, wobei er sie im Schatten seines verrenkten Ellbogens hielt.
»Was ist mit dir?« rief er hinauf. »Bist du nicht auch eine Verräterin?«
Ihre Stimme klang traurig. »Im Herzen habe ich ihn nie verraten.«
»Ich glaube, genau da hast du ihn verraten«, rief Harold zu ihr hinauf. Er versuchte, eine ehrliche Miene aufzusetzen, aber in Wirklichkeit schätzte er nur die Entfernung. Er würde höchstens zwei Schüsse abgeben können. Und eine Pistole war eine notorisch unzuverlässige Waffe. »Und ich glaube, er weiß es auch.«
»Er braucht mich«, sagte sie, »und ich brauche ihn. Du hattest damit nie etwas zu tun, Harold. Und wenn wir zusammen weitergefahren wären, hätte ich dich vielleicht... vielleicht etwas machen lassen. Diese bewußte Kleinigkeit. Und das hätte alles zerstört. Das konnte ich nach all den Opfern, dem Blut und den Scheußlichkeiten einfach nicht riskieren. Wir haben gemeinsam unsere Seelen verkauft, Harold, aber von mir ist noch genug übrig, daß ich für meine den vollen Preis will.«
»Ich gebe dir den vollen Preis«, sagte Harold und schaffte es, auf die Knie zu kommen. Die Sonne blendete. Schwindel packte ihn mit grober Faust und brachte seinen Gleichgewichtssinn durcheinander. Ihm war, als hörte er Stimmen – eine Stimme– überrascht und brüllend protestieren. Er drückte ab. Der Schuß hallte krachend und donnernd von Felsen zu Felsen wider, bis er verstummte. Nadines überraschter Gesichtsausdruck war fast komisch.
In einer Art trunkenem Triumph dachte Harold: Sie hat nicht gedacht, daß ich es fertigbringe! Ihr Mund war ein erschrockenes, überraschtes O. Ihre Augen waren aufgerissen. Die Finger ihrer Hand verkrampften sich und flogen hoch, als ob sie im Begriff wäre, eine abnormale Melodie auf dem Klavier zu spielen. Der Augenblick war so köstlich, daß er ihn eine oder zwei Sekunden zu lange genoss und nicht merkte, daß er sie verfehlt hatte. Als es ihm klar wurde, legte er wieder an, versuchte zu zielen und umklammerte das rechte Handgelenk mit der linken Hand.
»Harold! Nein! Das kannst du nicht tun!«
Nicht? Es ist eine Kleinigkeit, eine Pistole abzudrücken. Klar kann ich es.
Sie schien sich vor Entsetzen nicht bewegen zu können, und als er ihren Hals genau vor der Kimme der Pistole hatte, verspürte er die plötzliche kalte Gewißheit, daß es so vorbestimmt war – das Ende als kurzer, sinnloser Ausbruch von Gewalt.
Jetzt hatte er sie genau im Visier.
Aber als er abdrücken wollte, passierte zweierlei. Schweiß lief ihm in die Augen und nahm ihm die Sicht. Und er rutschte ab. Später sagte er sich, daß das Geröll nachgegeben haben oder sein verletztes Bein eingeknickt sein mußte oder beides. Vielleicht stimmte das sogar. Aber es fühlte sich an... es fühlte sich an wie ein Stoß, und in den langen Nächten zwischen damals und jetzt war es ihm nicht gelungen, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Tagsüber dachte Harold streng rational, aber in den Nächten erfüllte ihn die grauenhafte Überzeugung, daß der dunkle Mann selbst eingegriffen und ihn behindert hatte. Der Schuß, den er ihr genau in den Hals verpassen wollte, ging fehl; hoch, daneben, ab in den blauen Himmel. Harold rollte kopfüber bis zu dem toten Baum; sein rechtes Bein wurde verdreht und gestoßen und bildete eine einzige Schmerzquelle vom Knöchel bis zu den Hüften.
Er prallte gegen den Baum und verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, war es Nacht, und der Mond, drei Viertel voll, stand schweigend über der Schlucht. Nadine war fort.
Die erste Nacht verbrachte er in einem Delirium des Entsetzens und der Überzeugung, daß er nicht zur Straße kriechen konnte und hier in der Kluft sterben mußte. Als der Morgen graute, kroch er trotzdem nach oben, schwitzend und von Schmerzen gequält.
Er begann den Aufstieg gegen sieben Uhr, etwa um die Zeit, als in Boulder die Beerdigungstrupps in ihren orangefarbenen Lastwagen vom Busbahnhof abfuhren. Um fünf Uhr an diesem Nachmittag berührten seine zerschundenen und mit Blasen bedeckten Hände die Leitplanke. Sein Motorrad war noch da, und er weinte fast vor Erleichterung. In fliegender Hast riß er ein paar Dosen und einen Öffner aus der Satteltasche und stopfte sich Corned Beef aus vollen Händen in den Mund. Aber es schmeckte schlecht, und nach einem langen Kampf erbrach er es.
Da begann er die unwiderlegbare Tatsache seines bevorstehenden Todes zu begreifen, legte sich neben die Triumph und weinte, sein verletztes Bein unter sich. Danach gelang es ihm, ein wenig zu schlafen.
Am nächsten Tag überraschte ihn ein heftiger Regenschauer, nach dem er bis auf die Haut durchnäßt war und vor Kälte zitterte. Sein Bein roch nach Wundbrand, und er war ängstlich darauf bedacht, das Schießeisen mit dem Körper vor Nässe zu schützen. An jenem Abend hatte er begonnen, in sein Notizbuch zu schreiben, und zum ersten Mal entdeckt, wie seine Handschrift sich allmählich zurückzuentwickeln begann. Er mußte an eine Geschichte von Daniel Keyes denken – sie trug den Titel »Blumen für Algernon«. Darin hatten eine Gruppe Wissenschaftler ein geistig zurückgebliebenes Faktotum irgendwie in ein Genie verwandelt... eine Zeitlang. Dann verlor der arme Kerl die Gabe wieder. Wie hiess er doch gleich? Charly irgendwas, richtig? Klar, denn das war der Titel der Verfilmung. Charly. Ziemlich guter Film. Nicht so gut wie die Geschichte, voll psychedelischer Scheiße aus den sechziger Jahren, soweit er sich erinnern konnte, aber trotzdem ziemlich gut. Früher war Harold oft ins Kino gegangen und hatte sich noch mehr Filme zu Hause auf Video angesehen. In den Tagen, als die Welt noch etwas war, das das Pentagon Zitat lebensfähige Alternative Zitat Ende genannt haben würde. Er hatte die meisten alleine gesehen. Er schrieb in sein Notizbuch, die Worte entstanden langsam aus krakeligen Buchstaben:
Ich frage mich, ob sie alle tot sind. Das Komitee. Wenn ja, tut es mir leid. Ich war irregeleitet. Das ist eine schwache Entschuldigung für mein Tun, aber ich schwöre bei allem, was ich weiß, es ist die einzige Entschuldigung, die zählt. Der dunkle Mann ist so real wie die Supergrippe selbst, so real wie die Atombomben, die immer noch irgendwo in ihren Betonschächten stehen. Und wenn das Ende kommt, und wenn es so schrecklich ist, wie die guten Menschen es immer gewußt haben, bleibt nur eines zu sagen, wenn sich diese guten Menschen dem Thron des Richters nähern: Ich war irregeleitet.
Harold las, was er geschrieben hatte, und strich sich mit einer dünnen, zitternden Hand über die Stirn. Es war keine gute Entschuldigung, es war eine schlechte. Man konnte beschönigen, soviel man wollte, es stank zum Himmel. Jemand, der diesen Absatz las, nachdem er sein Hauptbuch gelesen hatte, mußte ihn für einen völligen Heuchler halten. Er hatte sich als König der Anarchie gesehen, aber der dunkle Mann hatte ihn durchschaut und mühelos in ein zitterndes Knochenbündel verwandelt, das jetzt elend am Straßenrand sterben würde. Sein Bein war angeschwollen wie ein Abwasserrohr und roch wie faulende, überreife Bananen, und er sass da, während Bussarde über ihm mit den Aufwinden kreisten, und versuchte, das Unfaßbare vernunftmäßig zu begründen. Er war das Opfer der Tatsache geworden, daß er nicht erwachsen geworden war, so einfach war das. Seine eigenen tödlichen Visionen hatten ihn vergiftet.
Sterbend empfand er, daß er ein wenig Vernunft zurückgewonnen hatte, vielleicht ein wenig Würde. Und das wollte er nicht durch billige Entschuldigungen beflecken, die auf Krücken vom Blatt gehinkt kamen.
»Ich hätte in Boulder etwas werden können«, sagte er leise, und diese einfache, schreckliche Wahrheit hätte ihm Tränen in die Augen getrieben, wenn er nicht so müde und ausgetrocknet gewesen wäre. Er sah von den ungelenken Buchstaben zum Colt. Plötzlich wollte er Schluß machen und versuchte, darüber nachzudenken, wie er sein Leben auf die ehrlichste und einfachste Weise beenden konnte. Es erschien ihm notwendiger denn je, seine Gedanken aufzuschreiben und sie dem zurückzulassen, der ihn finden mochte, sei es in einem oder in zehn Jahren.
Er nahm den Stift. Überlegte. Schrieb:
Ich bitte um Vergebung für die Zerstörung, die ich angerichtet habe, leugne aber nicht, daß ich aus freien Stücken gehandelt habe. Meine Schularbeiten habe ich immer mit Harold Emery Lauder unterschrieben. Auch meine Manuskripte – so armselig sie waren – habe ich so unterschrieben. Gott helfe mir, ich habe den Namen einmal in einen Meter großen Buchstaben auf ein Scheunendach geschrieben. Jetzt will ich mit dem Namen unterschreiben, den man mir in Boulder gegeben hat. Damals konnte ich ihn nicht akzeptieren, aber heute ist er mir lieb.
Ich werde bei gesundem Verstand sterben.
Unten an den Rand setzte er säuberlich seine Unterschrift: Hawk. Er klappte das Permacover-Notizbuch langsam zu. Er schob die Kappe auf den Stift und steckte ihn in die Tasche. Er nahm den Lauf der Pistole in den Mund und sah zum blauen Himmel hinauf. Er dachte an ein Spiel, das sie als Kinder gespielt hatten, ein Spiel, bei dem die anderen ihn gehänselt hatten, weil er sich nicht traute, es mitzumachen. Außerhalb der Stadt lag an einer der Nebenstraßen eine Kiesgrube, von deren Rand man in die Tiefe springen und einen Augenblick, bei dem einem das Herz stillstand, fallen mußte, bis man im Sand landete, sich ein paarmal überschlug und nach oben kletterte, um wieder von vorne anzufangen.
Alle außer Harold. Harold stand oben auf der Kante und rief Eins... Zwei... Drei! wie die anderen, aber bei ihm funktionierte der Zauber nicht. Seine Füße wollten sich nicht bewegen. Er konnte nicht hinunterspringen. Und die anderen jagten ihn manchmal bis nach Hause, beschimpften ihn und nannten ihn Harold, den Angsthasen.
Er dachte: Wenn ich nur einmal gesprungen wäre... nur ein einziges Mal... wäre ich vielleicht nicht hier. Aber das letzte Mal zählt.
Er dachte: Eins... Zwei... DREI!
Er drückte ab.
Der Schuß ging los.
Harold sprang.
Nördlich von Las Vegas liegt Emigrant Valley, und in dieser Nacht brannte ein kleines Feuer in dieser mit Felsbrocken übersäten Wildnis. Randall Flagg saß davor und grillte mißmutig ein kleines Kaninchen. Er drehte es an dem primitiven Bratspieß, den er sich gebaut hatte, und sah zu, wie es brutzelte und Fett zischend in die Flammen tropfte. Ein leichter Wind wehte den Bratenduft in die Wüste hinaus, und die Wölfe waren gekommen. Sie saßen zwei Bodenerhebungen von seinem Feuer entfernt und heulten den fast vollen Mond an, und weil sie das Fleisch rochen. Hin und wieder sah er zu ihnen hinüber, und zwei oder drei Tiere fingen an, sich zu beißen, nach einander zu schnappen und mit den kräftigen Hinterbeinen zu treten, bis der Schwächste vertrieben war. Dann fingen die anderen wieder an zu heulen, die Schnauzen zum rötlichen, geschwollenen Mond emporgereckt.
Aber inzwischen langweilten ihn die Wölfe.
Er trug seine Jeans und seine abgenutzten Stiefel und seine Schaf fell Jacke mit den zwei Buttons auf den Brusttaschen: Smiley und HEUTE SCHWEIN – MORGEN SCHINKEN. Der Nachtwind spielte mit seinem Kragen.
Es gefiel ihm nicht, wie die Dinge sich entwickelten. Der Wind trug ihm böse Omen zu, schlimme Vorzeichen wie Fledermäuse, die im Dachboden einer verlassenen Scheune flatterten. Die alte Frau war gestorben, und anfangs hatte er gedacht, das wäre gut. Trotz allem hatte er vor der alten Frau Angst gehabt. Sie war gestorben, und er hatte Dayna Jürgens erzählt, sie sei im Koma gestorben. Aber stimmte das? Er war nicht mehr ganz so sicher.
Hatte sie zuletzt noch geredet? Und wenn, was hatte sie gesagt? Hatten sie etwas vor?
Er hatte eine Art drittes Auge entwickelt. Es war wie seine Fähigkeit zu levitieren; etwas, das er akzeptiert hatte, aber nicht recht begriff. Er konnte es ausschicken, um zu sehen... fast immer. Aber manchmal wurde das Auge auf geheimnisvolle Weise blind. Es war ihm gelungen, in das Sterbezimmer der alten Frau zu schauen, er hatte sie alle um ihr Bett herumstehen sehen, die Schwanzfedern noch von Harolds und Nadines kleiner Überraschung versengt ... aber dann war ihm plötzlich die Sicht getrübt worden, und er war wieder in der Wüste gewesen, im Schlafsack zusammengerollt, und hatte nur Cassiopeia in ihrem Schaukelstuhl aus Sternen gesehen. Und seine innere Stimme hatte ihm gesagt: Sie ist gestorben. Sie haben darauf gewartet, daß sie redet, aber sie hat es nicht.
Aber er traute dieser Stimme nicht mehr.
Da war diese beunruhigende Sache mit den Spionen.
Der Richter, der fast keinen Kopf mehr hatte.
Das Mädchen, das ihm in letzter Sekunde entwischt war. Und sie hatte es gewußt, gottverdammt! Sie hatte es gewußt.
Er warf einen wütenden Blick zu den Wölfen hinüber, und fünf oder sechs Tiere fingen wieder an, sich zu beißen. In der Stille klangen ihre kehligen Laute wie zerreißendes Tuch.
Er kannte alle ihre Geheimnisse, außer... dem dritten. Wer war der dritte? Er hatte das Auge immer wieder ausgesandt, aber es sah immer nur das rätselhafte, idiotische Gesicht des Mondes. M-O-N-D, das buchstabiert man Mond.
Wer war der dritte?
Wie war es dem Mädchen gelungen, ihm zu entkommen? Er war völlig überrascht gewesen und hatte nur ein Stück von ihrer Bluse in der Hand gehabt. Er hatte von dem Messer gewußt, das war ein Kinderspiel, aber nichts von dem plötzlichen Sprung zum Fenster. Und nicht, daß sie sich so kaltblütig, ohne zu zögern, das Leben nehmen würde. Innerhalb weniger Sekunden war sie fort gewesen. Wie Wiesel jagten sich die Gedanken in seinem Kopf. Das gefiel ihm überhaupt nicht.
Lauder, zum Beispiel. Da war Lauder.
Er hatte ausgezeichnet funktioniert, wie eines dieser Spielzeugtiere zum Aufziehen, die einen Schlüssel im Rücken stecken haben. Geh hierhin. Geh dorthin. Tu dies. Tu das. Aber die Dynamitbombe hatte nur zwei von ihnen erwischt – die Rückkehr der alten Negerfrau hatte den ganzen Plan, die viele Mühe vereitelt. Und dann... nachdem er Harold erledigt hatte, hätte dieser fast Nadine umgebracht! Er empfand Wut und Erstaunen, als er daran dachte. Und die dumme Fotze hatte mit offenem Mund dagestanden und gewartet, daß er noch einmal schoß, fast als wolltesie getötet werden. Und wer hatte es auszubaden, wenn Nadine starb?
Wer, wenn nicht sein Sohn?
Das Kaninchen war gar. Er zog es vom Spieß und legte es auf den Blechteller.
»Okay, ihr Arschlöcher, fressen!«
Er mußte regelrecht laut grinsen. War er nicht mal bei den Marines gewesen? Er glaubte ja. Allerdings in Parris Island ausgebildet. Da war ein Junge gewesen, ein Fahnenflüchtiger, Boo Dinkway. Sie hatten...