Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Das Papier, auf dem er schrieb, war in einem Ringbuch, in dem er alle Gedanken aufschrieb – der Inhalt des Ringbuchs war halb Tagebuch und halb Einkaufsliste. Er hatte festgestellt, daß er in Listen geradezu vernarrt war; er dachte, einer seiner Vorfahren mußte Buchhalter gewesen sein. Er hatte festgestellt, wenn man Sorgen hatte, schwanden diese häufig, wenn man eine Liste erstellte.
Er wandte sich wieder der leeren Seite vor sich zu und kritzelte müßig auf den Rand.
Ihm schien, als wäre alles, was sie heute noch aus dem alten Leben wollten oder brauchten, im stummen Kraftwerk in East Boulder gelagert, wie verstaubte Schätze in einem dunklen Schrank aufbewahrt wurden. Ein unbehagliches Gefühl schien sich unter den Leuten breitzumachen, die sich in Boulder versammelt hatten, ein Gefühl dicht unter der Oberfläche – sie waren wie ängstliche Kinder, die sich nach Einbruch der Dunkelheit im hiesigen Spukhaus herumtrieben. In gewisser Weise glich der Ort einer widerlichen Geisterstadt. Es herrschte ein Gefühl vor, daß der Aufenthalt hier nur vorübergehend war. Sie hatten einen Mann unter sich, einen Burschen namens Impening, der früher als Aufseher in der IBMNiederlassung an der Boulder-Longmont-Diagonale gearbeitet hatte. Impening schien es darauf angelegt zu haben, Unruhe zu stiften. Er lief herum und erzählte den Leuten, daß am 14. September 1974 in Boulder fünf Zentimeter Schnee gelegen hatten und es im November schon so kalt sein konnte, daß einem Messingaffen die Eier abfroren. Solchem Gerede hätte Nick gern ein schnelles Ende bereitet. Wenn Impening in der Armee gewesen wäre, hätte man ihn wegen solcher Panikmache unehrenhaft entlassen; aber das war eine leere Logik, wenn es überhaupt eine war. Wichtig war, dass Impening mit seinem Gerede nichts ausrichten würde, wenn die Leute in Häuser ziehen konnten, in denen das Licht funktionierte und die Heizung auf Knopfdruck heiße Luft in die Räume blies. Wenn das vor dem ersten Kälteeinbruch nicht erreicht war, würden die Leute sich einfach davonmachen, fürchtete Nick, und alle Versammlungen und Repräsentanten und Ratifizierungen der Welt würden sie nicht aufhalten können.
Laut Ralph war im Kraftwerk kein erheblicher Schaden entstanden, jedenfalls kein sichtbarer. Das Personal hatte einige Maschinen abgestellt, andere hatten sich selbsttätig ausgeschaltet. Zwei oder drei große Turbinenmotoren waren durchgeschmort, wahrscheinlich als Folge eines letzten starken Stromstoßes. Ralph sagte, ein paar Kabel müßten ausgewechselt werden, aber er dachte, er und Brad Kitchner und ein Team von einem Dutzend Männern könnten das hinkriegen. Ein weitaus größerer Arbeitstrupp war erforderlich, um verschmorte, schwarze Kupferleitungen aus den durchgebrannten Motoren zu entfernen und meterweise neuen Kupferdraht einzuziehen. In den Großhandlungen in Denver lag genügend Kupferdraht bereit; Ralph und Brad waren letzte Woche einen Tag dort gewesen und hatten sich selbst vergewissert. Mit genügend Arbeitskräften glaubten sie, den Strom bis zum Labor Day wieder einschalten zu können.
»Und dann feiern wir die größte Party, die diese verdammte Stadt je gesehen hat«, sagte Brad.
Recht und Gesetz. Das war auch etwas, was ihm Sorgen machte. Konnte man Stu Redman diese Last aufbürden? Er würde den Job nicht wollen, aber Nick glaubte, er könnte Stu dazu überreden... und wenn es hart auf hart ging, würde er Stus Freund Glen bitten, ihm zu helfen. Was ihn wirklich quälte, war die noch zu frische und schmerzliche Erinnerung an seine eigene kurze und schlimme Zeit als Kerkermeister von Shoyo, an die er lieber nicht denken mochte. Vince und Billy im Sterben, Mike Childress, der wie wild immer auf sein Essen sprang und trotzdem schrie: Hungerstreik! Ich trete in den Hungerstreik!
Der Gedanke, daß sie vielleicht Gerichte und Gefängnisse brauchen würden und womöglich sogar einen Henker, tat ihm im Innersten weh. Herrgott, es waren Mutter Abagails Leute, nicht die des dunklen Mannes! Aber er vermutete, daß sich der dunkle Mann nicht mit trivialen Dingen wie Gerichten und Gefängnissen abgeben würde. Seine Strafen waren schnell und wirksam und schwer. Er mußte nicht mit dem Gefängnis drohen, wenn die Leichen an der 115 an Kreuzen aus Telegrafenmasten hingen – ein Fressen für die Vögel. Nick hoffte, daß es nur zu geringfügigen Übertretungen kommen würde. Es hatte schon einige Fälle von Trunkenheit und Randaliererei gegeben. Ein Junge, der zu jung zum Fahren war, war mit einem schweren Schlepper den Broadway auf– und abgefahren und hatte die Leute von der Straße gescheucht. Zuletzt war er auf einen parkenden Bäckereiwagen gefahren und hatte sich die Stirn aufgeschlagen – und hatte noch Glück gehabt, daß er so glimpflich davongekommen war, fand Nick. Die Leute, die ihn gesehen hatten, wußten, daß er zu jung war, aber keiner hatte sich befugt gefühlt, ihn aufzuhalten.
Autorität. Organisation.Er schrieb diese Worte auf einen Block und kreiste sie zweimal ein. Daß sie Mutter Abagails Leute waren, machte sie nicht immun gegen Schwäche, Dummheit oder schlechte Gesellschaft. Nick wußte nicht, ob sie die Kinder Gottes waren oder nicht, aber als Moses vom Berg herabgekommen war, hatten diejenigen, die nicht gerade das goldene Kalb anbeteten, emsig Würfel gespielt, das wußte er. Und sie mußten mit der Möglichkeit rechnen, daß irgend jemand beim Kartenspiel erstochen wurde oder jemanden wegen einer Frau erschoß.
Autorität. Organisation. Er kreiste die Worte noch einmal ein, und jetzt sahen sie wie Gefangene hinter einer dreifachen Umzäunung aus. Wie gut sie zueinander paßten... und wie traurig sie klangen.
Wenig später kam Ralph herein. »Morgen kommen wieder ein paar Leute, Nicky, und übermorgen eine ganze Prozession. Die zweite Gruppe besteht aus mehr als dreißig Leuten.«
»Gut«, schrieb Nick. »Ich wette, früher oder später bekommen wir auch einen Arzt. Behauptet das Gesetz der Wahrscheinlichkeit.«
»Ja«, sagte Ralph. »Wir werden zu einer regelrechten Stadt.«
Nick nickte.
»Ich habe mit dem Burschen gesprochen, der die heutige Gruppe angeführt hat. Sein Name ist Larry Underwood. Kluger Mann, Nick. Messerscharf. «
Nick zog die Brauen hoch und zeichnete ein »?« in die Luft.
»Nun, mal sehen«, sagte Ralph. Er wußte, was das Fragezeichen bedeutete: gib mir mehr Informationen, wenn du kannst. »Ich glaube, er ist sechs oder sieben Jahre älter als du, und vielleicht acht oder neun jünger als Redman. Aber er ist der Typ Mann, nach dem wir, wie du gesagt hast, Ausschau halten sollen. Er stellt die richtigen Fragen.«
»?«
»Zunächst einmal, wer das Sagen hat«, antwortete Ralph. »Dann, was als nächstes kommt. Drittens, wer es macht.«
Nick nickte. Ja – die richtigen Fragen. Aber war er der richtige Mann? Ralph konnte recht haben. Aber vielleicht auch nicht.
»Ich will versuchen, morgen zu ihm zu gehen & Hallo zu sagen«, schrieb er auf ein frisches Blatt Papier.
»Ja, das solltest du. Er ist in Ordnung.« Ralph trat von einem Bein aufs andere. »Und ich hab' mich ein wenig mit Mutter Abagail unterhalten, bevor dieser Underwood und seine Leute sich vorgestellt haben. Hab' mit ihr geredet, wie du gesagt hast.«
»?«
»Sie sagt, wir sollen weitermachen. Anfangen. Sie sagt, die Leute lungern herum und brauchen jemand, der ihnen sagt, was zu tun ist.«
Nick lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte stumm. Dann schrieb er: »Dachte mir, daß sie so denkt. Ich rede morgen mit Stu & Glen. Hast du die Handzettel gedruckt?«
»Oh! Die! Scheiße, ja«, sagte Ralph. »Herrgott, das habe ich fast den ganzen Nachmittag lang getrieben.« Er zeigte Nick ein Muster. Der Druck, der noch nach Matritzenspiritus roch, war groß und auffällig. Ralph hatte das Layout selbst gemacht:
MASSENVERSAMMLUNG!!!
NOMINIERUNG UND WAHL
DES REPRÄSENTANTENAUSSCHUSSES!
18. August 1990, 20:30 Uhr
Ort: Canyon Boulevard Park & Musikpavillon bei GUTEM
Chautauqua Hall im Chautauqua Park bei SCHLECHTEM Wetter.
IM ANSCHLUSS AN DIE VERSAMMLUNG
WERDEN ERFRISCHUNGEN GEREICHT
Darunter waren für Neuankömmlinge und Leute, die sich in Boulder noch nicht umgesehen hatten, zwei provisorische Stadtpläne gezeichnet. Darunter, in kleiner Schrift, die Namen, auf die er, Stu und Glen sich nach längerer Diskussion im Laufe des Tages geeinigt hatten:
Ad-hoc-Komitee
Nick Andros
Glen Bateman
Ralph Brentner
Richard Ellis
Fran Goldsmith
Stuart Redman
Susan Stern
Nick deutete auf die Zeile über die Erfrischungen und zog die Brauen hoch.
»Ach, ja, Frannie kam vorbei und sagte, die Leute würden eher kommen, wenn wir ihnen etwas anbieten. Sie und ihre Freundin Patty Kroger wollen sich darum kümmern. Kuchen und Za-Rex.«
Ralph verzog das Gesicht. »Wenn ich die Wahl hätte, Za-Rex oder Bullenpisse zu saufen, müßte ich mich hinsetzen und nachdenken. Kannst meins haben, Nick.«
Nick grinste.
»Was mich wirklich stört«, fuhr Ralph ernsthafter fort, »ist, daß ihr mich in dieses Komitee steckt. Ich weiß, was das Wort bedeutet. Es bedeutet: >Herzlichen Glückwunsch, du mußt die ganze harte Arbeit machen.< Das würde mir nichts ausmachen, ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Aber Komitees brauchen Einfälle, und damit hapert es bei mir.«
Nick zeichnete schnell ein CB-Funkgerät auf den Block und im Hintergrund einen Sendeturm, von dessen Spitze elektrische Blitze zuckten.
»Ja, aber das ist etwas ganz anderes«, sagte Ralph finster.
»Du schaffst es«, schrieb Nick. »Glaub mir.«
»Wenn du es sagst, Nicky. Ich werd's versuchen. Aber ich glaube immer noch, daß ihr mit diesem Underwood besser bedient wärt,«
Nick schüttelte den Kopf und klopfte Ralph auf die Schulter. Ralph sagte gute Nacht und ging nach oben. Als er gegangen war, studierte Nick lange nachdenklich das Flugblatt. Falls Stu und Glen schon Exemplare gesehen hatten – und er war sicher, daß -, dann wußten sie, daß er von sich aus Harold Lauders Namen von der Liste gestrichen hatte. Er wußte nicht, wie sie es aufnehmen würden, aber die Tatsache, daß sie ihn noch nicht aufgesucht hatten, war wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Sie erwarteten vermutlich einen Kuhhandel von ihm, und falls erforderlich, würde er sich darauf einlassen, damit Harold nicht in die Führungsspitze kam. Notfalls würde er ihnen Ralph geben. Ralph wollte die Position sowieso nicht, aber verdammt, Ralph hatte so viel praktischen Verstand und ein unbezahlbares Talent, Probleme zu knacken. Er wäre der Richtige für ein ständiges Komitee, und Nick hatte das Gefühl, daß Stu und Glen das Komitee ohnehin schon mit ihren Freunden vollgepackt hatten. Wenn er, Nick, Lauder nicht haben wollte, mußten sie einfach mitmachen. Wenn sie diesen Führungscoup durchziehen wollten, durfte es keine Uneinigkeit unter ihnen geben. Sag mal, Mom, wie hat der Mann das Kaninchen aus dem Hut geholt? Nun, mein Sohn, ich bin nicht sicher, aber ich glaube, er könnte das alte Ablenkungsmanöver mit Kuchen und Za-Rex benützt haben. Das klappt einfach immer.
Er wandte sich wieder der Seite zu, auf der er gekritzelt hatte, als Ralph hereingekommen war. Er betrachtete die Worte, die er nicht nur einmal, sondern gleich dreimal eingekreist hatte, als wollte er verhindern, daß sie rauskonnten. Autorität. Organisation. Plötzlich schrieb er noch eines darunter – es hatte gerade noch Platz. Jetzt lauteten die Worte im dreifachen Kreis:
Autorität. Organisation. Politik.
Aber er versuchte nicht, Lauder hinauszudrängen, weil er meinte, daß Stu und Glen Bateman das Spielzeug an sich reißen wollten, das eigentlich ihm gehörte. Klar, er war ein wenig beleidigt. Anders wäre es auch befremdlich gewesen. In gewisser Weise hatten er, Ralph und Mutter Abagail die Freie Zone Boulder ja gegründet.
Es sind mittlerweile Hunderte Menschen hier und Tausende auf dem Weg, wenn Bateman recht hat, dachte er und tippte mit dem Filzstift auf die eingekreisten Wörter. Je länger er sie betrachtete, desto häßlicher kamen sie ihm vor. Aber als Ralph und ich und Mutter Abagail und Tom Cullen und der Rest unserer Gruppe hierhergekommen sind, lebten hier nur Katzen und das Wild, das vom Nationalpark heruntergekommen war, um sich in den Gärten der Leute gütlich zu tun... und sogar in den Läden. Wie das Reh, das irgendwie in den Table-Mesa-Supermarkt hinein-, aber nicht mehr herausgekommen war. Es lief wie irrsinnig durch die Gänge, stiess die Waren um, fiel hin, rappelte sich auf und lief weiter.
Klar, wir sind Spätzünder, wir sind noch keinen Monat hier, aber wir waren die ersten! Es besteht eine gewisse Kränkung, aber gekränkte Eitelkeit ist nicht der Grund, warum ich Harold nicht dabeihaben will. Ich will ihn nicht, weil ich ihm nicht traue. Er lächelt andauernd, aber er hat ein wasserdichtes
(lächeldichtes?)
Dach zwischen Mund und Augen. Es hat einmal Spannungen zwischen ihm und Stu gegeben, wegen Frannie; sie sagen zwar alle drei, das ist vorbei, aber ich frage mich, ob es wirklich vorbei ist. Manchmal blickt Frannie Harold an, als wäre ihr nicht ganz wohl dabei. Sie sieht aus, als wollte sie wissen, wie »vorbei« dieses vorbei wirklich ist. Er ist schlau, aber ich finde, er ist unzuverlässig.
Nick schüttelte den Kopf. Das war nicht alles. Er hatte sich mehr als einmal gefragt, ob Harold Lauder nicht verrückt war.
Es liegt hauptsächlich an diesem Grinsen. Ich will keine Geheimnisse mit jemandem teilen müssen, der so grinst und aussieht, als würde er nachts nicht gut schlafen.
Nein, Lauder. Dem müssen sie sich fügen.
Nick schlug das Ringbuch zu und verstaute es in der untersten Schublade seines Schreibtischs. Dann stand er auf und zog sich aus. Er wollte duschen. Er kam sich irgendwie schmutzig vor. Die Welt, dachte er, nicht wie Garp sie sah, sondern wie sie nach der Supergrippe war. Diese schöne neue Welt. Aber ihm kam sie nicht besonders schön vor, und besonders neu auch nicht. Es war, als hätte jemand einen großen Kanonenschlag in die Spielzeugkiste eines Kindes geworfen. Nach dem großen Knall war alles in alle Richtungen geflogen. Spielzeuge waren von einem Ende des Kinderzimmers bis zum anderen verstreut. Manche waren irreparabel kaputt, andere konnte man wieder richten, aber größtenteils war eben alles verstreut. Es war noch so heiß, daß man es nicht anfassen konnte, aber wenn es abgekühlt war, würde alles gut werden.
Derweil bestand die Aufgabe darin, alles auszusortieren: Die Sachen wegzuwerfen, die nicht mehr gut waren. Die Spielzeuge beiseite zu legen, die man reparieren konnte. Alles aufzulisten, was noch einwandfrei war. Eine neue Spielzeugkiste zu besorgen, in der man alles verstauen konnte, eine schöne neue Spielzeugkiste. Eine starke Spielzeugkiste. Es hat eine erschreckende, ekelerregende Leichtigkeit – und deutliche Faszination -, wie man etwas hochjagen kann. Schwer ist nur, alles wieder zusammenzusetzen. Das Sortieren. Das Reparieren. Das Auflisten. Und natürlich alles wegwerfen, was nichts mehr taugt.
Aber... konnte man es überhaupt über sich bringen, die Sachen wegzuwerfen, die nichts mehr taugten?
Nick blieb nackt, mit den Kleidungsstücken in der Hand, auf halbem Weg zum Badezimmer stehen.
Oh, die Nacht war so still... aber waren nicht alle seine Nächte Symphonien der Stille? Warum hatte er plötzlich Gänsehaut am ganzen Körper?
Weil ihm plötzlich bewußt geworden war, daß das Komitee der Freien Zone keine Spielzeuge aufsammeln würde, ganz und gar keine Spielzeuge. Ihm war plötzlich, als wäre er Mitglied eines bizarren Nähkreises des menschlichen Geistes – er und Redman und Bateman und Mutter Abagail, ja, selbst Ralph mit seinem großen Funkgerät und der Sendeanlage, die das Signal der Freien Zone weit über den toten Kontinent strahlte. Sie hatten alle eine Nadel, und sie arbeiteten vielleicht zusammen, damit sie eine warme Decke für den kalten Winter nähen konnten... oder vielleicht hatten sie auch nur nach längerer Pause angefangen, ein großes Leichentuch für die menschliche Rasse zu nähen, fingen mit der Arbeit bei den Zehen an und arbeiteten sich langsam nach oben.
Nach dem Liebesakt war Stu eingeschlafen. Er hatte in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen, und gestern nacht war er mit Glen Bateman aufgeblieben, hatte sich betrunken und Pläne für die Zukunft gemacht. Frannie hatte den Morgenmantel angezogen und war auf den Balkon herausgekommen.
Das Gebäude, in dem sie wohnten, lag in der Innenstadt Ecke Pearl Street und Broadway. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, und unten konnte sie die Straßenkreuzung sehen; Pearl verlief von Osten nach Westen, Broadway von Norden nach Süden. Ihr gefiel es hier. Sie hatten alle vier Himmelsrichtungen. Die Nacht war warm und windstill, der schwarze Stein des Himmels trug die Makel von Millionen Sternen. In deren schwachem, eisigem Licht sah Fran die Felsen der Flatirons im Westen aufragen.
Sie strich mit der Hand vom Hals bis zu den Schenkeln. Der Morgenmantel, den sie anhatte, war aus Seide, darunter war sie nackt. Die Hand glitt über die Brüste, aber anstatt flach bis zur leichten Wölbung des Schambeins zu streichen, wanderte die Hand über eine Kurve des Bauchs, die vor zwei Wochen noch nicht so deutlich gewesen war.
Man sah es, noch nicht sehr, aber Stu hatte heute abend eine Bemerkung gemacht. Seine Frage war beiläufig gewesen, sogar komisch: Wie lange können wir es noch treiben, ohne daß ich ihn, äh, drücke?
Oder sie, hatte sie amüsiert geantwortet. Was hältst du von vier Monaten, Großer Häuptling?
Prima, hatte er geantwortet und war lustvoll in sie eingedrungen. Vorher hatten sie sich ernsthafter unterhalten. Kurz nach ihrer Ankunft in Boulder hatte Stu ihr gesagt, daß er mit Glen über das Baby gesprochen und Glen vorsichtig angedeutet hatte, daß der Virus oder Erreger der Supergrippe immer noch virulent sein könnte. Wenn ja, könnte das Baby sterben. Das war ein beunruhigender Gedanke (man konnte sich immer auf Glen Bateman verlassen, dachte sie, wenn es um einen beunruhigenden Gedanken ging), aber wenn die Mutter immun war, müßte das Baby doch auch...? Aber viele Leute hatten Kinder durch die Seuche verloren.
Ja, aber das würde bedeuten...
Was würde es bedeuten?
Nun, zunächst könnte es bedeuten, daß alle Menschen hier nur einen Epilog auf die Menschheit darstellten, eine kurze Nachstrophe. Sie wollte das nicht glauben, konnte es nicht glauben. Wenn es stimmte...
Jemand kam die Straße entlang, drehte sich zur Seite und zwängte sich zwischen der Wand eines Restaurants namens Pearl Street Kitchen und einem Wagen von der Müllabfuhr durch, der mit zwei Reifen auf dem Gehweg liegengeblieben war. Die Gestalt hatte sich eine leichte Jacke über eine Schulter gehängt und trug in einer Hand etwas, das eine Flasche oder ein Revolver mit langem Lauf war. In der anderen Hand hatte er einen Zettel, wahrscheinlich mit einer Adresse, so wie er die Hausnummern verglich. Schließlich blieb er vor ihrem Gebäude stehen. Er sah sich die Tür an, als würde er überlegen, was er als nächstes tun sollte. Frannie fand, er sah wie ein Detektiv in einer alten Fernsehserie aus. Sie stand keine sechs Meter über seinem Kopf und steckte in einer typischen Klemme. Rief sie ihm etwas zu, erschreckte sie ihn vielleicht. Rief sie nicht, klopfte er vielleicht und weckte Stuart. Und was wollte er mit einem Revolver in der Hand... wenn es ein Revolver war?
Plötzlich drehte er den Hals und blickte hoch, wahrscheinlich, um zu sehen, ob irgendwo im Haus noch Eicht brannte. Frannie schaute immer noch nach unten. Sie sahen einander genau in die Augen.
»Heiliger Himmel!« rief der Mann auf dem Gehweg. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück, geriet vom Bordstein in den Rinnstein und setzte sich ziemlich unsanft hin.
» Oh «, sagte Frannie im selben Augenblick und wich auf dem Balkon ebenfalls einen Schritt zurück. Hinter ihr stand ein Ragwurz in einer großen Keramikvase auf einem Schemel. Frannie stieß mit der Kehrseite dagegen. Die Vase kippte, beschloß um ein Haar, noch ein Weilchen länger zu leben, und stürzte sich dann laut klirrend auf den Fliesen des Balkonbodens zu Tode.
Im Schlafzimmer grunzte Stu, drehte sich um und war wieder still. Frannie begann, wie nicht anders zu erwarten, zu kichern. Sie preßte beide Hände auf den Mund und kniff sich heftig in die Lippen, aber sie kicherte trotzdem weiter, eine Serie von rauhen Flüsterlauten. Grace schlägt wieder zu, dachte sie und kicherte flüsternd in die hohlen Hände. Wenn er mit einer Gitarre gekommen wäre, hätte ich ihm die verdammte Vase auf den Kopf werfen können. O Sole Mio... RUMS! Der Bauch tat ihr weh, so sehr bemühte sie sich, das Kichern zu unterdrücken.
Ein verschwörerisches Flüstern drang von unten herauf: »He, Sie... Sie auf dem Balkon... pssst!«
» Pssst«, flüsterte Frannie zu sich. » Pssst, Wahnsinn!«
Sie mußte hier weg, bevor sie ih-aahte wie ein Esel. Sie hatte das Lachen noch nie zurückhalten können, wenn es einmal über sie gekommen war. Sie huschte durch das dunkle Schlafzimmer, nahm vom Haken an der Badezimmertür eine solidere – und keuschere – Umhüllung, die sie sich überstreifte, während sie den Flur entlanglief und dabei das Gesicht wie eine Gummimaske verzog. Sie kam auf den Treppenabsatz hinaus und die erste Stufenflucht hinunter, dann brach das Lachen ungehindert aus ihr heraus. Die letzten beiden Treppenfluchten ging sie hemmungslos wiehernd hinunter. Der Mann – ein junger Mann, wie sie jetzt sah – war inzwischen aufgestanden und klopfte sich ab. Er war schlank und gut gebaut, das Gesicht von einem Bart größtenteils verdeckt, der bei Tageslicht blond oder möglicherweise wie roter Sand aussehen mochte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, lächelte aber ein wenig kläglich.
»Was haben Sie umgestoßen?« fragte er. »Hat sich angehört wie ein Klavier.«
»Eine Vase«, sagte sie. »Sie... Sie...« Aber dann kam das Kichern wieder, und sie konnte nur mit dem Finger auf ihn deuten und leise lachen und den Kopf schütteln und sich den schmerzenden Bauch halten. Tränen kullerten ihr die Wangen hinab. »Sie haben zu komisch ausgesehen... Ich weiß, das sollte man nicht zu jemand sagen, den man gerade kennengelernt hat, aber... Herrje! Es ist nunmal so!«
»Wären dies die alten Zeiten«, sagte er grinsend, »wäre mein nächster Schritt, Sie auf mindestens eine Viertelmillion zu verklagen. Auf Teufel komm raus. Richter, ich habe nach oben gesehen, und diese junge Frau hat auf mich heruntergeblickt. Ja, ich glaube, sie hat mir ein Gesicht geschnitten. Jedenfalls hatte sie ein Gesicht. Wir entscheiden für den Kläger, diesen armen Jungen. Und wir lassen den Gerichtsvollzieher kommen. Die Verhandlung wird zehn Minuten vertagt.«
Sie lachten beide ein wenig. Der junge Mann trug saubere verblichene Jeans und ein dunkelblaues Hemd. Die Sommernacht war warm und mild. Frannie freute sich, daß sie herausgekommen war.
»Sie heißen nicht zufällig Fran Goldsmith?«
»Zufällig ja. Aber ich kenne Sie nicht.«
»Larry Underwood. Wir sind heute erst angekommen. Eigentlich suche ich einen Burschen namens Harold Lauder. Man hat mir gesagt, er wohnt mit Stu Redman und Frannie Goldsmith und ein paar anderen Leuten in 161 Pearl.«
Das trocknete ihr Kichern ein. »Harold hat in dem Haus gewohnt, als wir in Boulder ankamen, aber er ist schon lange weg. Er wohnt jetzt in der Arapahoe Street im Westen der Stadt. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen seine Adresse geben und den Weg erklären.«
»Das wäre nett. Aber ich denke, ich warte bis morgen. So etwas wie heute riskiere ich nicht noch mal.«
»Kennen Sie Harold?«
»Ja und nein – so wie ich Sie kenne und doch wieder nicht. Um ehrlich zu sein, muß ich sagen, Sie sehen ganz anders aus, als ich Sie mir vorgestellt habe. In meiner Vorstellung habe ich Sie als blonde Walküre gesehen, wie aus einem Gemälde von Frank Frazetta, womöglich mit einem Fünfundvierziger an jeder Hüfte. Aber ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er streckte die Hand aus, und Frannie nahm sie mit einem knappen erstaunten Lächeln.
»Ich fürchte, ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Setzen Sie sich einen Moment auf den Bordstein, dann erzähle ich es Ihnen.«
Sie setzte sich. Der Geist eines Windhauchs wehte durch die Straße, raschelte mit Papierfetzen und zerzauste die alten Ulmen auf dem Rasen des Gerichtsgebäudes drei Blocks entfernt.
»Ich hab' ein paar Sachen für Harold Lauder«, sagte Larry. »Aber es soll eine Überraschung sein, also wenn Sie ihn vor mir sehen, Schweigen ist Gold, und so weiter.«
»Klar, logisch«, sagte Frannie. Sie war verwirrter denn je. Er hielt den Revolver mit dem langen Lauf hoch, und es war gar kein Revolver, sondern eine Weinflasche mit langem Hals. Er hielt das Etikett ins Sternenlicht, und sie konnte gerade das großgeschriebene BORDEAUX oben und das Datum ganz unten lesen: 1947.
»Der beste Bordeaux in diesem Jahrhundert«, sagte er. »Hat jedenfalls ein alter Freund von mir immer gesagt. Sein Name war Rudy. Gott sei seiner Seele gnädig.«
»Aber 1947... das ist dreiundvierzig Jahre her. Ist er nicht... nun, hinüber?«
»Rudy hat immer gesagt, ein guter Bordeaux ist nie hinüber. Wie auch immer, ich schleppe ihn seit Ohio mit. Wenn es schlechter Wein ist, dann wenigstens weitgereister schlechter Wein.«
»Und der ist für Harold?«
»Ja, und dies hier.« Er holte etwas aus der Jackentasche, und das mußte sie nicht ins Sternenlicht halten, um die Schrift zu lesen. Sie prustete los. »Ein Payday-Schokoriegel!« rief sie aus. »Harolds Lieblingsmarke... aber wie konnten Sie das wissen?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Schießen Sie los.«
»Nun gut. Es war einmal ein Mann namens Larry Underwood, der von Kalifornien nach New York gekommen ist, um seine liebe alte Mutter zu besuchen. Das war nicht der einzige Grund für seinen Besuch, aber die anderen waren nicht so erfreulich, und deshalb wollen wir uns mit dem guten Grund begnügen, ja?«
»Warum nicht?« stimmte Fran zu.
»Und siehe, die böse Hexe des Westens oder ein Arschloch im Pentagon brachte eine große Plage über das Land, und ehe man >Hier kommt Captain Trips< sagen konnte, waren alle Leute in New York tot. Einschließlich Larrys Mutter.«
»Das tut mir leid. Meine Eltern auch.«
»Ja – sämtliche Eltern. Wenn wir uns alle Beileidskarten schicken würden, würde es bald keine mehr geben. Aber Larry hatte Glück. Er verließ die Stadt mit einer Dame namens Rita, die nicht gut mit der neuen Lage fertig wurde. Und unglücklicherweise war Larry nicht darauf vorbereitet, ihr zu helfen, damit fertig zu werden.«
»Darauf war niemand vorbereitet.«
»Aber manche haben es schneller gelernt als andere. Wie dem auch sei, Larry und Rita fuhren zur Küste von Maine. Sie kamen bis Vermont, und dort hat die Dame mit Schlaftabletten ihren Abgang gemacht.«
»O Larry, das ist so traurig.«
»Larry nahm es sich sehr zu Herzen. Er sah es sogar mehr oder weniger als Gottesurteil über seine Charakterfestigkeit. Darüber hinaus hatten ihm verschiedene Leute, die es wissen mußten, einmal gesagt, daß sein unverwüstlichster Charakterzug eine deutliche Spur Eigennutz war, die immer wieder aufleuchtete wie eine Lichtermadonna auf dem Armaturenbrett eines neunundfünfziger Cadillac.«
Frannie rutschte etwas auf dem Bordstein hin und her.
»Ich hoffe, ich beunruhige Sie nicht, aber ich trage das alles schon viel zu lange mit mir herum und es hat wirklich mit Harolds Teil der Geschichte zu tun. Okay?«
»Okay.«
»Danke. Ich glaube, seit ich eingetroffen und die alte Frau ges ehen habe, suche ich nach einem freundlichen Wesen, dem ich mich anvertrauen kann. Ich dachte, es würde Harold sein. Wie auch immer – Larry fuhr allein weiter nach Maine, weil er kein anderes Ziel hatte. Da hatte er schon schlimme Alpträume, aber da er allein war, konnte er nicht wissen, daß andere Menschen sie auch hatten. Er nahm einfach an, sie waren ein weiteres Symptom für seinen geistigen Zusammenbruch. Aber schließlich kam er in ein kleines Küstenstädtchen namens Wells, wo er eine Frau namens Nadine Cross und einen seltsamen kleinen Jungen fand, dessen Name, wie sich herausstellte, Leo Rockway war.«
»Wells«, staunte sie leise.
»Jedenfalls warfen die drei Reisenden gewissermaßen eine Münze, um zu entscheiden, in welcher Richtung sie auf der US 1 weiterziehen sollten, und da die Münze Kopf zeigte, fuhren sie nach Süden und kamen schließlich nach...«
»Ogunquit!« sagte Frannie entzückt.
»Und dort machte ich meine erste Bekanntschaft mit Harold Lauder und Frances Goldsmith in riesigen Buchstaben auf dem Dach einer Scheune.«
»Harolds Botschaft. O Larry, das wird ihn freuen.«
»Wir folgten der Wegbeschreibung auf der Scheune nach Stovington, den Anweisungen in Stovington nach Nebraska und den Anweisungen an Mutter Abagails Haus nach Boulder. Unterwegs trafen wir Leute. Darunter ein Mädchen namens Lucy Swann, meine Freundin. Ich möchte, daß Sie sie kennenlernen. Ich glaube, sie wird Ihnen gefallen.
Aber dann geschah etwas, das Larry gar nicht wollte. Seine kleine Gruppe von vier Leuten wuchs auf sechs an. Im Staat New York stießen die sechs auf vier weitere Leute, und unsere Gruppe absorbierte ihre. Als wir Harolds Schild vor Mutter Abagails Haus erreichten, waren wir schon sechzehn, und als wir aufbrachen, trafen wir noch drei. Larry führte diese tapfere Schar an. Niemand hatte ihn gewählt. Es war einfach so. Und er wollte die Verantwortung gar nicht. Sie war eine Last. Sie raubte ihm nachts den Schlaf. Er warf Tums und Rolaids ein. Aber es ist komisch, wie der Verstand sich manchmal gegen den Verstand stellt. Ich konnte es nicht lassen. Hatte mit Selbstachtung zu tun. Und ich – er – hatte immer Angst, dass er es mit Pauken und Trompeten vermasseln, daß er eines Morgens aufwachen und feststellen würde, daß jemand in seinem Schlafsack gestorben war wie Rita damals in Vermont und alle um ihn herumstehen und mit dem Finger auf ihn zeigen und sagen würden:
>Es ist deine Schuld. Du hast es nicht besser gewußt, es ist deine Schuld.< Und darüber konnte ich mit niemandem sprechen, nicht einmal mit dem Richter...«
»Wer ist der Richter?«
»Richter Farris. Ein alter Kerl aus Peoria. Ich glaube, daß er in den frühen Fünfzigern wirklich mal Richter gewesen ist, vielleicht Bezirksrichter oder so, aber er war schon lange vor der GrippeEpidemie pensioniert. Ziemlich schlauer Kerl. Wenn er einen ansieht, könnte man schwören, daß er Röntgenaugen hat. Jedenfalls war Harold für mich wichtig. Er wurde immer wichtiger, je mehr Leute wir waren. Sozusagen direkt proportional, könnte man sagen.« Er lachte. »Diese Scheune. Mann! Die letzte Zeile, die mit Ihrem Namen, war so weit unten, daß ich mir gedacht habe, er muß mit dem Arsch ganz schön im Wind gehangen haben, als er sie geschrieben hat.«