Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Um zwanzig vor elf am 20. Juli schlurfte sie auf die Veranda und trug Kaffee und Toast mit sich hinaus, wie jeden Tag, wenn das Coca-Cola-Thermometer vor dem Fenster über der Spüle mehr als zehn Grad anzeigte. Es war Hochsommer, der schönste Sommer seit 1955, wie sich Mutter Abagail genau erinnerte, jenem Jahr, als ihre Mutter im gesegneten Alter von dreiundneunzig Jahren gestorben war. Schade, daß nicht mehr Leute da sind, die sich an einem solchen Sommer erfreuen können, dachte sie, als sie sich vorsichtig in den Schaukelstuhl ohne Lehnen setzte. Aber hatten sich die Leute je darüber gefreut? Einige natürlich: junge Menschen, die sich liebten, und alte Leute, deren Knochen sich noch deutlich an die tödliche Umklammerung des Winters erinnerten. Jetzt waren die meisten jungen und alten Leute tot, und die dazwischen auch. Gott hatte ein strenges Gericht über die Menschheit gebracht.
Manche mochten ein so strenges Gericht als zu hart empfinden, aber Mutter Abagail zählte nicht dazu. Er hatte es schon einmal mit Wassser getan, und irgendwann einmal würde Er es mit Feuer tun. Es war nicht ihre Sache, über Gott zu richten, obwohl sie wünschte, Er hätte diesen Kelch an ihr vorübergehen lassen. Aber wenn es um Gericht ging, gab sie sich mit der Antwort zufrieden, die Gott Moses aus dem brennenden Busch gegeben hatte, als Moses Fragen für angebracht hielt. Wer bist du! fragt Moses, und Gott ruft so gewitzt, wie man sich nur wünschen kann aus dem Busch: Ich binder ICH BIN. Mit anderen Worten: Moses, hör auf, auf diesen Busch hier zu klopfen, und sieh zu, daß du deinen alten Hintern bewegst.
Sie kicherte und nickte mit dem Kopf und tauchte den Toast in den breiten Mund der Tasse, bis er so weich war, daß sie ihn kauen konnte. Vor sechzehn Jahren hatte sie ihrem letzten Zahn Lebewohl gesagt. Zahnlos war sie aus dem Leib ihrer Mutter gekommen, und zahnlos würde sie ins Grab sinken.
Ihre Urenkelin Molly und ihr Mann hatten ihr ein Jahr später zum Muttertag ein Gebiß geschenkt, dem Jahr, als sie selbst dreiundneunzig wurde, aber es tat ihr am Gaumen weh, und sie trug es nur, wenn Molly und Jim zu Besuch kamen. Dann nahm sie es aus dem Kasten in der Schublade, spülte es gut ab und setzte es ein. Und wenn sie noch Zeit hatte, bevor Molly und Jim kamen, schnitt sie Grimassen im fleckigen Spiegel in der Küche und knurrte durch diese großen, weißen falschen Zähne und lachte Tränen. Sie sah aus wie ein alter schwarzer Alligator aus den Everglades.
Sie war alt und schwach, aber ihr Verstand war noch ziemlich in Ordnung. Sie hieß Abagail Freemantle und war 1882 geboren, was sie mit ihrer Geburtsurkunde beweisen konnte. Sie hatte in ihrem Leben auf Erden viel gesehen, aber nichts, was man mit den Ereignissen des vergangenen Monats oder so auch nur annähernd vergleichen konnte. Nein, so etwas war noch nie dagewesen, und jetzt kam die Zeit, wo sie in die Sache hineingezogen wurde, und das war ihr zuwider. Sie war alt. Sie wollte ihre Ruhe haben und sich am Wechsel der Jahreszeiten freuen, bis Gott es leid war, sie bei ihrer täglichen Runde zu beobachten, und beschloß, sie in sein Reich zu holen. Aber was geschah, wenn man Gott in Frage stellte? Die Antwort, die man dann bekam, hieß: Ich binder ICH BIN, und das war alles. Als sein eigener Sohn ihn bat, er möge den Kelch an ihm vorübergehen lassen, hatte Gott nicht einmal geantwortet ... und sie stand unendlich viel tiefer. Nur eine ganz gewöhnliche Sünderin, das war sie, und der Gedanke ängstigte sie, daß Gott herabgeschaut hatte, als im Frühjahr 1882 ein kleines Mädchenbaby den Kopf zwischen den Beinen seiner Mutter herausstreckte, und zu sich gesagt hatte: Ich werde sie lange Zeit auf der Erde lassen. 1990, hinter einem riesigen Berg von Kalenderblättern, wartet Arbeit auf sie.
Ihre Zeit hier in Hemingford Home ging zu Ende, und die letzte Arbeit, die sie noch zu verrichten hatte, lag vor ihr im Westen, in der Nähe der Rocky Mountains. Er hatte Moses einen Berg besteigen und Noah ein Boot bauen lassen; er hatte mitangesehen, wie sein eigener Sohn ans Kreuz genagelt wurde. Was kümmerte es ihn, welche schreckliche Angst Abagail Freemantle vor dem Mann ohne Gesicht hatte, vor ihm, der sie in ihren Träumen verfolgte?
Sie sah ihn nie; sie mußte ihn nicht sehen. Er war ein Schatten, der um die Mittagszeit durch den Mais schlich, ein kalter Lufthauch, eine Aaskrähe, die von einem Telefondraht auf einen herabsah. Seine Stimme sprach zu ihr in all jenen Lauten, vor denen sie sich immer gefürchtet hatte – flüsternd war sie wie das Ticken eines Klopfkäfers unter der Treppe, der den baldigen Tod eines nahen Angehörigen verkündet; dröhnend war sie wie der Donner in den Wolken, die aus dem Westen kamen wie ein tobendes Armageddon. Und manchmal hörte sie keinen Laut, nur das einsame Rauschen des Nachtwinds im Mais, aber sie wußte, daß er in der Nähe war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, und das war das Allerschlimmste, denn dann schien der Mann ohne Gesicht nur wenig geringer als Gott selbst zu sein; dann schien es, als wäre sie in Reichweite des dunklen Engels, der schweigend über Ägypten geflogen war und in jedem Haus, dessen Türpfosten nicht mit Blut bespritzt war, das Erstgeborene getötet hatte. Das ängstigte sie am allermeisten. Sie wurde wieder zum Kind in ihrer Angst und wußte, daß auch andere ihn kannten und Angst vor ihm hatten, aber nur ihr allein war eine klare Vision von seiner schrecklichen Macht zuteil geworden.
»Ach, ja«, sagte sie und schob das letzte Stück Toast in den Mund. Sie schaukelte hin und her und trank Kaffee. Es war ein schöner heller Tag, kein Teil ihres Körpers machte ihr besondere Beschwerden, und sie sprach ein kurzes Dankgebet für dieses Geschenk. Gott ist groß, Gott ist gut; das kleinste Kind konnte diese Worte lernen, und sie umfaßten die ganze Welt und alles, was darin war, gut und böse.
»Gott ist groß«, sagte Mutter Abagail. »Gott ist gut. Danke für den Sonnenschein und für den Kaffee. Für den guten Stuhlgang von gestern abend. Du hattest recht, die Datteln haben es geschafft, aber lieber Gott, ich finde den Geschmack so ekelhaft. Was bin ich nur für eine? Gott ist groß...«
Sie hatte den Kaffee fast ausgetrunken. Sie stellte die Tasse ab und schaukelte; ihr der Sonne zugewandtes Gesicht war wie ein seltsames lebendes, von Kohleadern durchzogenes Stück Fels. Sie döste... sie schlief. Ihr Herz, dessen Wände jetzt so dünn waren wie Seidenpapier, schlug, wie es während der letzten 39475 Tage jede Minute geschlagen hatte. Wie bei einem Baby in der Wiege hätte man die Hand auf ihre Brust legen müssen, um festzustellen, ob sie überhaupt atmete.
Aber das Lächeln blieb.
Seit den Jahren, da sie ein Mädchen gewesen war, hatte sich alles sehr verändert. Die Freemantles waren als befreite Sklaven nach Nebraska gekommen, und Abagails eigene Urenkelin Molly hatte einmal auf gemeine, zynische Weise gelacht und angedeutet, dass das Geld, mit dem Abbys Vater ihr Haus gekauft hatte – Geld, das ihm Sam Freemantle aus Lewis, South Carolina, als Lohn für die acht Jahre bezahlt hatte, die ihr Daddy und seine Brüder nach Ende des Bürgerkriegs geblieben waren -, »Gewissensgeld« gewesen sei. Abagail hatte den Mund gehalten, als Molly das gesagt hatte – Molly und Jim und die anderen waren jung und verstanden nur extrem Gutes und extrem Böses – aber innerlich hatte sie die Augen verdreht und zu sich gesagt: Gewissensgeld? Nun, kann es denn Geld geben, das sauberer ist?
Die Freemantles hatten sich also in Hemingford Home niedergelassen, und Abby war als letztes Kind ihrer Eltern hier geboren worden. Ihr Vater hatte es verstanden, die Leute umzustimmen, die weder von Niggern kaufen noch ihnen etwas verkaufen wollten; er erwarb immer nur ein kleines Stück Land auf einmal, um keinen zu beunruhigen, der sich wegen »dieser schwarzen Dreckskerle in Columbus« Sorgen machte; er war der erste im Polk-County gewesen, der den Fruchtwechsel einführte, der erste, der Kunstdünger verwendete; und im März 1902 war Gary Sites ins Haus gekommen, um John Freemantle mitzuteilen, daß er in die Farmervereinigung aufgenommen worden war. Er war der erste Schwarze im ganzen Staat Nebraska, der das geschafft hatte. Das war ein großartiges Jahr gewesen.
Ihr kam in den Sinn, daß jeder, der auf sein Leben zurückblickte, sich ein Jahr herausgreifen und sagen konnte: »Das war das beste.« Es schien, als gäbe es für jeden eine Jahreszeit, wenn alles sich zusammenfügte, passend und harmonisch und voller Wunder. Erst später machte man sich Gedanken darüber, warum es so gekommen war. Es war, als würde man zehn Köstlichkeiten zugleich in den Kühlschrank tun, so daß jede ein wenig den Geschmack der anderen annahm. Die Pilze schmeckten nach Schinken, der Schinken nach Pilzen; das Wildbret hatte einen Hauch des wilden Geschmacks von Rebhuhn und das Rebhuhn einen winzigen Hauch Gurke. Im späteren Leben wünschte man sich vielleicht, daß all die guten Dinge, die man in einem einzigen Jahr bekommen hatte, etwas besser verteilt gewesen wären, daß man eines der goldenen Dinge nehmen und über einen Zeitraum von vielleicht drei Jahren verteilen könnte, in denen einem nichts Gutes widerfahren war, an das man sich erinnern konnte, nicht einmal etwas Schlechtes. Aber es hatte eben alles seinen geregelten Gang genommen, wie es nun mal auf dieser Welt sein sollte, die Gott geschaffen und Adam und Eva um ein Haar zerstört hatten – die Wäsche war gewaschen, die Böden waren geschrubbt, die Kinder versorgt und die Kleider genäht worden; drei Jahre, in denen nichts den einförmigen grauen Strom der Zeit unterbrochen hatte, abgesehen von Ostern, dem 4. Juli, Erntedank und Weihnachten. Aber die Art und Weise, wie Gott seine Wunder wirkte, war für die Menschen unergründlich, und für Abby Freemantle und ihren Vater war 1902 ein großartiges Jahr gewesen.
Abby hielt sich für die einzige in der Familie – das heißt, abgesehen von ihrem Daddy -, die begriff, was für eine große, fast beispiellose Sache es war, in die Farmervereinigung aufgenommen zu werden. Er war der erste Neger in Nebraska, wahrscheinlich der erste in den Vereinigten Staaten. Er machte sich keinerlei Illusionen über den Preis, den er und seine Familie in Form von grausamen Witzen und Diskriminierungen jener Männer bezahlen mußten – zu allererst von Ben Conveigh -, die dagegen gewesen waren. Aber Daddy sah auch ein, daß Gary Sites ihm mehr als eine Chance zum Überleben gab: Gary gab ihm die Möglichkeit, wie alle anderen im Maisgürtel zu Wohlstand zu kommen.
Als Mitglied der Vereinigung würde er keine Probleme mehr haben, gutes Saatgut zu kaufen. Und er mußte seine Ernte nicht mehr bis Omaha bringen, um einen Käufer zu finden. Die Mitgliedschaft in der Farmervereinigung konnte das Ende des Streits über Wasserrechte bedeuten, den er mit Ben Conveigh hatte, der rasend wurde, wenn es ums Thema Nigger wie John Freemantle und Niggerfreunde wie Gary Sites ging. Es wäre sogar möglich, daß der Steuereintreiber des County mit seinen endlosen Schikanen aufhörte. Daher nahm John Freemantle die Einladung an, und die Abstimmung erfolgte zu seinen Gunsten (und zwar mit einer beruhigenden Mehrheit), und es wurden derbe Witze gemacht, Witze darüber, wie ein Waschbär auf dem Dachboden des Gebäudes der Farmervereinigung erwischt worden war, und darüber, daß man ein Niggerbaby, wenn es in den Himmel kam und seine schwarzen Flügel erhielt, nicht Engel, sondern Fledermaus nannte, und Ben Conveigh lief eine Weile herum und erzählte, der einzige Grund, warum die Vereinigung John Freemantle aufgenommen hatte, wäre der, daß die Kinderkirmes bevorstand und sie einen Nigger brauchten, der den afrikanischen Orang-Utan spielte. John Freemantle hatte so getan, als hätte er das alles nicht gehört, und daheim las er aus der Bibel – »eine leise Antwort vertreibt den Zorn« und »Brüder, wie ihr säet, so sollt ihr auch ernten«, und sein Lieblingszitat, das er nicht demütig sprach, sondern voll grimmiger Überzeugung und Vorfreude: »Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen.«
Und im Laufe der Zeit hatte er auch die Nachbarn für sich gewonnen. Nicht alle natürlich; nicht die Fanatiker wie Ben Conveigh und dessen Halbbruder George, nicht die Arnolds und die Deacons, aber alle anderen. 1903 waren sie bei Gary Sites und seiner Familie zum Dinner eingeladen worden, in der guten Stube, genau wie die Weißen.
1902 hatte Abagail im großen Saal der Farmervereinigung Gitarre gespielt; und zwar nicht am Negerabend, sondern in einer TalentShow der Weißen Ende des Jahres. Ihre Mutter war strikt dagegen gewesen; es war einer der wenigen Anlässe, als sie Einwände gegen eine Entscheidung ihres Mannes vor den Kindern aussprach (nur waren die Jungs da schon in mittleren Jahren, und John selbst hatte mehr als nur ein paar weiße Strähnen im Haar).
»Ich weiß, wie es gewesen ist«, sagte sie weinend. »Du und Sites und dieser Frank Fenner habt das ausgeheckt. Für sie ist das recht und schön, aber was hast du dir dabei gedacht, John Freemantle? Es sind Weiße. Du kannst dich mit ihnen auf den Hof hocken und übers Pflügen reden! Du kannst unten in der Stadt mit ihnen ein Bier trinken, wenn Nate Jackson dich in seinen Saloon läßt. Schön! Ich weiß, was du die letzten Jahre durchgemacht hast – das ändert nichts. Ich weiß, du hast gelächelt, auch wenn du im Herzen Todesqualen empfunden haben mußt. Aber dies ist etwas anderes! Es geht um deine eigene Tochter! Was wirst du sagen, wenn sie in ihrem schönen weißen Kleid da oben steht und ausgelacht wird? Was, wenn sie mit faulen Tomaten nach ihr werfen wie nach Brick Sullivan, als er versucht hat, in der Neger-Show aufzutreten? Und was wirst du ihr sagen, wenn sie mit dem Kleid voller Tomaten vor dir steht und sagt: >Warum, Daddy? Warum haben sie das getan, und warum hast du es zugelassen?<«
»Nun, Rebecca«, antwortete John, »ich denke, das überlassen wir ihr und David.«
David war ihr erster Mann gewesen; 1901 war aus Abagail Freemantle Abagail Trotts geworden. David Trotts war ein schwarzer Farmarbeiter aus Valparaiso, und um sie zu werben, war er fast dreißig Meilen gekommen. John Freemantle hatte einmal zu Rebecca gesagt, daß es Trotts gehörig erwischt haben mußte, wo er doch soviel trottete. Und viele hatten über ihren ersten Mann gelacht und Sachen gesagt wie: »Ich weiß, wer in dieserFamilie die Hosen anhat.«
Aber David war kein Schwächling; nur ruhig und nachdenklich. Als er zu John und Rebecca Freemantle sagte: »Was Abagail für richtig hält, wird gemacht«, hatte Abby ihn dafür gesegnet und ihrer Mutter und ihrem Vater gesagt, daß sie mit ihm zusammenbleiben wollte. Sie war mit ihrem ersten Kind schon im dritten Monat, als sie am 27. Dezember 1902 im großen Saal der Farmervereinigung auf die Bühne stieg – unter eisigem Schweigen, das eintrat, als der Zeremonienmeister ihren Namen ansagte. Vor ihr war Gretchen Tilyons auf der Bühne gewesen, hatte einen rassigen französischen Tanz aufs Parkett gelegt und den pfeifenden, johlenden und mit den Füßen stampfenden Männern im Publikum ihre Beine und Unterröcke gezeigt.
Sie stand in der eisigen Stille und wußte, wie schwarz ihr Gesicht und ihr Hals in ihrem neuen weißen Kleid aussehen mußten, und sie hatte schreckliches Herzklopfen und dachte: Ich habe jedes Wort vergessen, jedes einzelne Wort, aber ich habe Daddy versprochen, daß ich nicht weine, ganz gleich, was geschieht, ich weine nicht, aber Ben Conveigh sitzt da unten, und wenn Ben Conveigh NIGGER schreit, werde ich bestimmt weinen, oh, warum habe ich mich nur darauf eingelassen? Mama hatte recht, ich habe meinen Platz vergessen und werde dafür büßen müssen...
Der Saal war voll weißer Gesichter, die zu ihr heraufsahen. Jeder Stuhl war besetzt, und hinten im Saal standen die Leute sogar noch in zwei Reihen. Petroleumlampen leuchteten und flackerten. Die roten Samtvorhänge waren zurückgezogen und mit Goldkordeln festgebunden.
Und sie dachte: Ich bin Abagail Freemantle Trotts, ich spiele gut, und ich singe gut, das muß mir nicht erst jemand sagen.
Und in die reglose Stille sang sie »The Old Rugged Cross«, und ihre Finger zupften die Melodie. Dann, mit einem Akkord, die kräftigere Melodie »How I Love My Jesus«, dann noch lauter »Camp Meeting in Georgia«. Ohne es zu wollen, fingen die Leute im Saal jetzt an zu schunkeln. Einige grinsten und klatschten auf die Knie. Sie sang Lieder aus dem Bürgerkrieg: »When Johnny Comes Marching Home«, »Marching Through Georgia« und dann »Goober Peas«, das Lied von den Erdnüssen (wieder wurde gelacht; viele der Männer im Saal, Bürgerkriegsveteranen, hatten während ihrer Dienstzeit mehr Erdnüsse essen müssen, als ihnen lieb war). Zum Schluß sang sie »Tenting Tonight on the Old Campground«, und als die letzten Töne in der jetzt nachdenklichen und traurigen Stille verhallten, dachte sie: Jetzt werft eure Tomaten, wenn ihr wollt. Ich habe gespielt und gesungen, so gut ich konnte, und ich war wirklich gut.
Als der letzte Akkord in die Stille verklang, hielt diese Stille einen langen, beinahe verzauberten Augenblick an, als wären die Leute auf den Sitzen und hinten in den Reihen plötzlich weit fortgetragen worden, so weit, daß sie den Rückweg nicht gleich fanden. Dann setzte der Beifall ein und schlug wie eine Woge über ihr zusammen, lang und anhaltend, so daß sie errötete, sich verwirrt fühlte, schwitzte und am ganzen Körper zitterte. Sie sah ihre Mutter, die ungeniert weinte, und ihren Vater und David, der sie anstrahlte. Da hatte sie versucht, von der Bühne zu gehen, aber Rufe »Zugabe!
Zugabe!« wurden laut, und daher spielte sie lächelnd »Digging My Potatoes«. Dieses Lied war ein klein wenig riskant, aber sie dachte sich, wenn Gretchen Tilyons in aller Öffentlichkeit die Knöchel zeigen konnte, dann konnte sie ein Lied singen, das ein ganz klein wenig zotig war. Immerhin war sie eine verheiratete Frau.
»Someone's been digging my potatoes
They've left em in my bin,
And now that someone's gone
And see the trouble I've got in.«
Das Lied hatte noch sechs solche Strophen (manche schlimmer als diese, und sie sang jede einzelne; der Beifall nach jeder letzten Zeile wurde immer johlender. Später dachte sie, wenn sie in dieser Nacht einen Fehler gemacht hatte, dann den, dieses Lied zu singen, weil es genau der Song war, den die Leute wahrscheinlich von einem Nigger erwartet hatten).
Sie endete und bekam erneut donnernden Applaus und Rufe »Zugabe!«. Sie ging wieder auf die Bühne, und als sich die Menge beruhigt hatte, sagte sie: »Haben Sie vielen herzlichen Dank. Ich hoffe, Sie finden es nicht ungebührlich, wenn ich nur noch ein Stück singe, das ich eigens gelernt habe, obwohl ich nie damit ge rechnet hätte, daß ich es hier singen würde. Es ist das beste Lied, das ich kenne, und es handelt davon, was Präsident Lincoln und dieses Land noch vor meiner Geburt für mich und meinesgleichen getan haben.«
Jetzt waren sie ganz ruhig und lauschten erwartungsvoll. Ihre Familie saß mucksmäuschenstill beim linken Gang, wie ein Fleck Johannisbeermarmelade auf einem weißen Tischtuch.
»Aufgrund dessen, was damals im Bürgerkrieg passiert ist«, fuhr sie unerschütterlich fort, »war es meiner Familie möglich, hierherzukommen und mit den netten Nachbarn zu leben, die wir haben.«
Dann sang und spielte sie »The Star-Spangled Banner«, und alle standen auf und lauschten; manches Taschentuch wurde hervorgeholt, und als Abby endete, applaudierten die Leute, daß es beinahe das Dach abdeckte.
Es war der stolzeste Tag ihres Lebens.
Kurz nach Mittag wurde sie wach, richtete sich auf und blinzelte ins Sonnenlicht, eine alte, hundertundachtjährige Frau. Sie hatte mit verrenktem Rücken geschlafen, und jetzt tat er ihr weh. Würde den ganzen Tag weh tun, das stand jetzt schon fest.
»Ach ja«, sagte sie und stand vorsichtig auf. Sie ging die Verandastufen hinunter, hielt sich sorgfältig am wackeligen Geländer fest, zuckte zusammen, weil sich Messer in ihren Rücken und Nadeln in die Beine bohrten. Ihr Kreislauf war auch nicht mehr das, was er mal gewesen war... warum auch ? Sie hatte sich immer wieder ermahnt, was es für Folgen haben würde, wenn sie in diesem Schaukelstuhl einschlief. Sie döste ein, und die alten Zeiten fingen wieder an, und das war herrlich, o ja, besser als fernsehen, aber wenn sie aufwachte, mußte sie einen bitteren Preis dafür bezahlen. Sie konnte sich ermahnen, soviel sie wollte, sie war wie ein alter Hund, der sich vor dem Kamin ausstreckte. Wenn sie sich in die Sonne setzte, schlief sie ein, so war das. Was das betraf, hatte sie kein Wort mehr mitzureden.
Sie kam nun zur letzten Sprosse, machte eine längere Pause, damit ihre »Beine auch mit ihr Schritt halten konnten«, räusperte einen ordentlichen Klumpen Rotz hoch und spie ihn in den Sand. Als sie sich wie immer fühlte (abgesehen von den Rückenschmerzen), ging sie langsam nach hinten zum Abort, den ihr Enkel Victor im Jahr 1931 hinter dem Haus gebaut hatte. Sie ging rein, dann machte sie penibel die Tür zu, hing den Haken fest in die Öse, als wäre eine ganze Armee Schaulustiger draußen, nicht nur ein paar Amseln, und setzte sich. Einen Augenblick später ließ sie Wasser und seufzte zufrieden.
Das Älterwerden brachte ein Problem mit sich, von dem einem niemand je erzählte (oder hörte man einfach nie zu?) – man vergaß, wann man Wasser lassen mußte. Es schien, als würde man da unten in der Blase jegliches Gefühl verlieren, und wenn man nicht aufpaßte, mußte man, ehe man sich's versah, die Kleidung wechseln. Sie war nicht gern schmutzig, darum hockte sie sich sechs-bis siebenmal am Tag hierher, und nachts hatte sie den Nachttopf neben dem Bett stehen. Mollys Mann Jim hatte einmal zu ihr gesagt, sie wäre wie ein Hund, der an keinem einzigen Hydranten vorbeikam, ohne nicht wenigstens kurz das Bein zum Gruß zu heben; darüber hatte sie lachen müssen, bis ihr die Tränen aus den Augen gequollen und an den Wangen hinuntergelaufen waren. Mollys Jim war Angestellter in einer Werbeagentur in Chicago und machte Karriere... hatte jedenfalls Karriere gemacht. Sie ging davon aus, daß er tot war, wie alle anderen. Molly, du bist tot. Gott segne dich, Gott segne sie alle, jetzt waren sie alle im Himmel.
Im letzten Jahr waren Molly und Jim die einzigen gewesen, die sie noch hier draußen besuchen kamen. Alle anderen schienen vergessen zu haben, daß sie noch lebte, aber dafür hatte sie Verständnis. Sie hatte lange über ihre Zeit gelebt. Sie war wie ein Dinosaurier, dem es nicht zustand, daß er noch Fleisch an den Knochen hatte, ein Ding, dessen angemessener Platz in einem Museum war (oder auf dem Friedhof). Sie konnte verstehen, daß sie nicht kommen und sie sehen wollten, aber sie verstand nicht, warum sie nicht das Land sehen wollten. Es war nicht mehr viel übrig, nein; nur noch wenige Hektar der einstmals riesigen Farm. Aber es gehörte noch ihnen; es war noch ihr Land. Aber den Schwarzen schien nicht mehr so viel am Land zu liegen. Manche schienen sich sogar dafür zu schämen. Sie waren weggezogen, um ihr Dasein in den Städten zu fristen, und die meisten kamen, wie Jim, ganz gut zurecht... aber wie sehr blutete ihr das Herz, wenn sie an die vielen Schwarzen denken mußte, die sich vom Land abgewendet hatten!
Vorletztes Jahr hatten Molly und Jim ihr eine Toilette mit Wasserspülung einbauen wollen und waren beleidigt gewesen, als sie abgelehnt hatte. Sie hatte versucht, es ihnen begreiflich zu machen, aber Molly hatte nur immer wieder gesagt: »Mutter Abagail, du bist hundertacht Jahre alt. Was meinst du, wie mir zumute ist, wenn ich mir vorstelle, daß du manchmal hier rausgehst und dich hinhockst, wenn es nur zehn Grad über Null hat? Weißt du nicht, dass schon der Kälteschock deinem Herz den Garaus machen könnte?«
»Wenn der Herr mich bei sich haben will, wird der Herr mich zu sich holen«, sagte Abagail beim Stricken, und daher glaubten Molly und Jim, sie würde ihr Strickzeug betrachten und nicht sehen, wie die beiden die Augen verdrehten.
Manches konnte man einfach nicht ändern, aber das schienen die jungen Leute nicht begreifen zu können, wie so vieles andere. Damals, 1984, als sie hundert geworden war, hatten Cathy und David ihr einen Fernseher angeboten, und darauf hatte sie sich eingelassen. Das Fernsehen war ein netter Zeitvertreib, wenn man ganz allein war. Aber als Christopher und Susy gekommen waren und gesagt hatten, sie wollten ihr Haus an die städtische Wasserversorgung anschließen, hatte Abby ebenso abgelehnt wie beim freundlichen Angebot von Molly und Jim, ihr ein Wasserklosett zu bauen. Sie hatten gemeint, ihr Brunnen wäre zu seicht und könnte austrocknen, wenn es wieder einen Sommer wie den 1988 gab, als die Dürre kam. Das stimmte, aber sie sagte trotzdem nein. Molly und Jim dachten natürlich, daß Abby nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, daß sie Schicht für Schicht senil wurde, wie man Wachs auf den Fußboden auftrug, aber sie selbst war der Meinung, daß ihr Verstand so gut wie eh und je war.
Sie erhob sich vom Klositz, streute Zitruspulver in das Loch und ging langsam wieder hinaus in den Sonnenschein. Sie duftete ihren Abort immer ein, aber es war trotzdem eine stinkige alte Bruchbude, wie sauber sie auch duften mochte.
Es war, als hätte ihr die Stimme Gottes ins Ohr geflüstert, als Chris und Susy ihr Haus an die städtische Wasserversorgung anschließen lassen wollten ... die Stimme Gottes, schon damals, als Molly und Jim ihr den Porzellanthron mit dem Knopf der Wasserspülung bringen wollten. Gott sprachzu den Menschen; hatte er nicht zu Noah gesprochen, ihm von der Arche erzählt und ihm genau gesagt, wie lang, breit und tief sie sein mußte? Jawohl. Und sie glaubte, dass er auch zu ihr gesprochen hatte, nicht aus einem brennenden Busch oder einer Feuersäule, sondern mit einer stillen, leisen Stimme, die sagte: Abby, du wirst deine Handpumpe brauchen. Genieß deinen elektrischen Strom, Abby, aber sorge dafür, daß deine Öllampen voll und die Dochte in Ordnung sind. Laß deinen Eisschrank so, wie ihn deine Mutter vor dir gehabt hat. Und laß dir von den jungen Leuten nichts aufschwatzen, Abby, das gegen meinen Willen ist. Sie sind dein Fleisch und Blut, aber ich bin dein Vater.
Sie blieb mitten auf ihrem Hof stehen und sah auf das Maisfeld hinaus, das nur vom Sandweg geteilt wurde, der nach Duncan und Columbus führte. Drei Meilen vom Haus entfernt war der Weg asphaltiert. Der Mais stand gut in diesem Jahr, eine Schande, dass außer den Saatkrähen niemand da war, um ihn zu ernten. Es war ein trauriger Gedanke, daß die großen Erntemaschinen in diesem September in den Scheunen stehenbleiben mußten; traurig, daß es kein Maisschälen und keine Tänze auf der Tenne geben würde. Traurig, daß sie zum ersten Mal in den letzten hundertacht Jahren nicht hier in Hemingford Home sein würde, um den Wechsel der Jahreszeiten zu sehen, wenn der Sommer dem fröhlichen, heidnischen Herbst Platz machte. Sie würde diesen Somme r um so mehr lieben, weil es ihr letzter war – das spürte sie ganz deutlich. Und sie würde nicht hier zur letzten Ruhe gebettet werden, sondern weiter im Westen, in einem fremden Land. Das war bitter.
Sie schlurfte zur Reifenschaukel hinüber und schubste sie an. Es war ein alter Traktorreifen, den ihr Bruder Lucas 1922 hier aufgehängt hatte. Das Seil war seitdem viele Male ausgewechselt worden, aber der Reifen niemals. Das Leinen kam an vielen Stellen durch, und am inneren Ring war eine tiefe Einbuchtung, wo Generationen junger Hintern gesessen hatten. Unter dem Reifen war eine lange, staubige Narbe im Boden, wo das Gras jeden Versuch zu wachsen längst aufgegeben hatte, und am Ast, an dem die Seile festgemacht waren, war die Rinde abgeschabt und der weiße Knochen des Holzes zu sehen. Das Seil knarrte leise, und diesmal sagte sie laut:
»Bitte, o Herr, o Herr, nur wenn ich muß, bitte, laß diesen Kelch an mir vorübergehen, wenn Du kannst. Ich bin alt, ich habe Angst, und am liebsten möchte ich hier zu Hause begraben werden. Ich bin bereit, jetzt gleich zu gehen, wenn Du es willst. Dein Wille geschehe, Herr, aber Abby ist eine müde alte schwarze Frau. Dein Wille geschehe.«
Kein Laut, nur das leise Knarren des Seils und das Krächzen der Krähen im Maisfeld. Sie lehnte die alte, gefurchte Stirn gegen die alte, gefurchte Borke des Apfelbaums, den ihr Vater vor so langer Zeit gepflanzt hatte, und weinte bitterlich.
In dieser Nacht träumte sie, daß sie wieder die Stufen zur Halle der Farmervereinigung hinaufging, eine junge, hübsche Abagail, im dritten Monat schwanger, ein dunkles äthiopisches Juwel im weißen Kleid; sie hielt die Gitarre an der Brust, stieg hinauf, hinauf in diese Dunkelheit, ihre Gedanken ein einziges Durcheinander, aber eines wußte sie ganz genau: Ich bin Abagail Freemantle Trotts, ich spiele gut und singe gut, das muß ich mir nicht erst sagen lassen.
Im Traum drehte sie sich langsam zu den weißen Gesichtern um, die wie Monde zu ihr emporgerichtet waren, und sah in den Saal, in dem so hell die Lampen leuchteten, sah den weichen Glanz, der von den dunklen, leicht angelaufenen Scheiben reflektiert wurde und die roten Samtvorhänge mit den Goldkordeln.
Sie klammerte sich fest an diesen einen Gedanken und spielte »Rock of Ages«. Sie spielte und ließ ihre Stimme erklingen, nicht nervös und gehemmt, sondern genau so, wie sie beim Üben geklungen hatte, voll und sanft, wie das gelbe Lampenlicht selbst, und sie dachte: Ich überzeuge sie. Mit Gottes Hilfe überzeuge ich sie. Mein Volk, wenn dich dürstet, lasse ich nicht Wasser aus dem Fels sprudeln? Ich überzeuge sie, und David wird stolz auf mich sein, Mama und Daddy werden stolz auf mich sein, ich selbst werde stolz auf mich sein, ich zaubere Musik aus der Luft und Wasser aus dem Fels...
Und dann sah sie ihn zum ersten Mal. Er stand ganz hinten in der Ecke, hinter allen Sitzreihen, und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug Jeans und eine Jeansjacke mit Knöpfen an den Taschen. Er trug staubige schwarze Stiefel mit abgelaufenen Absätzen; Stiefel, die aussahen, als wären sie manche dunkle und staubige Meile gelaufen. Seine Stirn war so weiß wie Gaslicht, die Wangen glühend und kräftig durchblutet, die Augen funkelnde blaue Diamanten, in denen infernalische Fröhlichkeit blitzte, als hätte der Dämon Satans die Arbeit von Kris Kringle übernommen. Er hatte die Zähne gefletscht, ein heißes, loderndes Grinsen, das beinahe ein Fauchen war. Die Zähne waren weiß und scharf und spitz, wie die Zähne eines Wiesels.