Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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»Und wenn ich nein sage?« Seine Lippen waren kalt, äschern. Sie zuckte die Schultern; ihre Brüste wogten aufreizend. »Das Leben geht weiter, Harold, oder nicht? Ich werde einen Weg finden, zu tun, was ich tun muß. Du wirst weiterleben. Früher oder später wirst du ein Mädchen finden, das... diese Kleinigkeit für dich machen wird. Aber diese Kleinigkeit ist nach einer Weile langweilig. Sehr langweilig.«
»Woher willst du das wissen?« fragte er und grinste sie schief an.
»Ich weiß es, weil Sex Leben in kleinem Maßstab ist, und das Leben ist langweilig – Zeit, die man in verschiedenen Wartezimmern verbringt. Du hast hier vielleicht deine kleinen Triumphe, Harold, aber zu welchem Ziel? Alles in allem wird es ein schäbiges, banales Leben sein, und du wirst dich immer an mich ohne Bluse erinnern und dich fragen, wie ich ohne alles ausgesehen haben könnte. Du wirst dich fragen, wie es gewesen wäre, wenn ich schmutzige Worte zu dir gesagt hätte... oder wenn ich Honig über deinen ganzen... Körper... geschüttet und dann abgeleckt hätte... und du wirst dich fragen...«
»Hör auf«, sagte er. Er zitterte am ganzen Leib.
Aber sie hörte nicht auf.
»Ich glaube, du wirst dich auch fragen, wie es auf seinerSeite der Welt gewesen wäre«, sagte sie. »Das vielleicht mehr als alles andere.«
»Ich...«
»Entscheide dich, Harold. Soll ich die Bluse wieder an– oder alles andere ausziehen?«
Wie lange dachte er nach? Er wußte es nicht. Später war er nicht einmal mehr sicher, ob er sich überhaupt mit der Frage gequält hatte. Aber als er sprach, schmeckten die Worte in seinem Mund wie der Tod: »Ins Schlafzimmer. Gehen wir ins Schlafzimmer.«
Sie lächelte ihn an, ein solches Lächeln des Triumphs und sinnlicher Verlockungen, daß er davor und vor seiner begierigen Reaktion darauf erschauerte.
Sie nahm seine Hand.
Und Harold Lauder ergab sich in sein Schicksal.
55
Das Haus des Richters lag über einem Friedhof.
Larry und er saßen nach dem Abendessen auf der hinteren Veranda, rauchten Roi-Tan-Zigarren und betrachteten den Sonnenuntergang, der hinter den Bergen zu Orange verblaßte.
»Als ich ein Junge war«, sagte der Richter, »wohnten wir in der Nähe des schönsten Friedhofs in Illinois. Er hießt Mount Hope, Berg der Hoffnung. Jeden Abend machte mein Vater, der damals Anfang sechzig war, nach dem Essen einen Spaziergang. Manchmal ging ich mit. Und wenn unser Weg uns an diesem hervorragend gepflegten Gottesacker vorbeiführte, sagte er oft: >Was meinst du, Teddy, gibt es Hoffnung?< Und ich antwortete: >Da ist der Berg der Hoffnung<, und er brüllte jedesmal vor Lachen, als hätte er es noch nie gehört. Ich glaube manchmal, daß wir nur deshalb an dem Friedhof vorbeigegangen sind, daß er diesen Witz mit mir machen konnte. Er war ein wohlhabender Mann, aber einen komischen Witz schien er nicht zu kennen.«
Der Richter rauchte mit gesenktem Kopf und hochgereckten Schultern.
»Er ist 1937 gestorben, da war ich nicht mal zwanzig«, sagte er. »Ich vermisse ihn seitdem. Ein Junge braucht keinen Vater, wenn es kein guter Vater ist, aber ein guter Vater ist unersetzlich. Keine Hoffnung außer Mount Hope. Das hat ihm so gefallen! Er war achtundsiebzig, als er gestorben ist. Er ist gestorben wie ein König, Larry. Er saß auf dem Thron im kleinsten Zimmer unseres Hauses, die Zeitung auf dem Schoß.«
Larry, der nicht wußte, wie er auf diese recht bizarre nostalgische Enthüllung reagieren sollte, sagte nichts.
Der Richter seufzte. »Nicht mehr lange, dann wird das hier ein beachtliches Unternehmen sein«, sagte er. »Das heißt, wenn ihr den Strom wieder einschalten könnt. Wenn nicht, werden die Leute nervös und ziehen nach Süden, bevor das schlechte Wetter sie daran hindern kann.«
»Ralph und Brad sagen, sie schaffen es. Ich vertraue ihnen.«
»Dann wollen wir hoffen, daß dein Vertrauen begründet ist, oder nicht? Vielleicht ist es ganz gut, daß die alte Frau fort ist. Vielleicht hat sie gewußt, daß es so besser sein würde. Vielleicht sollten die Leute selber entscheiden können, was die Lichter am Himmel sind und ob ein Baum ein Gesicht hat oder es nur ein Trick von Licht und Schatten war. Verstehst du mich, Larry?«
»Nein, Sir«, antwortete Larry wahrheitsgemäß. »Ich bin nicht sicher.«
»Ich frage mich, ob wir wirklich diese langweilige Sache mit Göttern und Erlösern und so weiter neu erfinden müssen, bevor wir das Wasserklosett neu erfunden haben. Das wollte ich damit sagen. Ich frage mich, ob dies die richtige Zeit für Götter ist.«
»Glauben Sie, sie ist tot?«
»Sie ist nun seit sechs Tagen fort. Die Suchtrupps haben keine Spur von ihr gefunden. Ja, ich glaube, sie ist tot, aber ich bin nicht einmal jetzt ganz sicher. Sie war eine erstaunliche Frau, völlig außerhalb von rationalen Maßstäben. Vielleicht bin ich hauptsächlich deshalb so froh, daß sie weg ist, weil ich ein so rationaler alter Griesgram bin. Ich mache gern meine tägliche Runde, gieße meinen Garten – hast du gesehen, wie sich die Begonien wieder erholt haben? Darauf bin ich ganz stolz -, lese meine Bücher oder mache Notizen für mein eigenes Buch über die Seuche. Das alles mache ich gern, und abends möchte ich ein Glas Wein trinken und ohne Sorgen einschlafen. Ja. Keiner von uns will Vorzeichen und Omen sehen, auch wenn wir Gespenstergeschichten und Gruselfilme lieben. Keiner von uns will wirklicheinen Stern im Osten oder eine Feuersäule bei Nacht sehen. Wir wollen Frieden und Vernunft und Routine. Wenn wir Gott im schwarzen Gesicht einer alten Frau sehen müssen, dann kann uns das nur daran erinnern, daß es für jeden Gott einen Teufel gibt – und unser Teufel mag schon näher sein, als uns lieb ist.«
»Deshalb bin ich hier«, sagte Larry unbeholfen. Ihm wäre es lieber gewesen, der Richter hätte seinen Garten, seine Bücher, seine Notizen und sein Glas Wein vor dem Schlafengehen nicht erwähnt. Larry hatte eine zweischneidige gute Idee bei einem Treffen von Freunden gehabt und einen leichtfertigen Vorschlag gemacht. Jetzt fragte er sich, ob es eine Möglichkeit gab, weiterzusprechen, ohne sich wie ein grausamer und opportunistischer Narr anzuhören.
»Ich weiß, warum du hier bist. Ich bin einverstanden.«
Larry fuhr hoch, daß das Gefl echt seines Korbstuhls knarrte und ächzte. »Wer hat Ihnen das gesagt? Es sollte streng geheim bleiben, Richter. Wenn jemand aus dem Komitee nicht dichthalten kann, stecken wir schön in der Klemme.«
Der Richter hob eine Hand voller Leberflecke und brachte ihn zum Schweigen. Die Augen in seinem von der Zeit gezeichneten Gesicht strahlten. »Ruhig, Junge – ruhig. Niemand aus eurem Komitee hat geplaudert, nicht, daß ich wüßte, und ich hab' das Ohr immer dicht am Boden. Nein, ich habe mir das Geheimnis selbst eingeflüstert. Warum bist du heute abend gekommen? Dein Gesicht verrät alles, Larry. Ich hoffe, du spielst nicht Poker. Als ich von meinen schlichten Freuden gesprochen habe, konnte ich sehen, wie dein Gesicht immer länger geworden ist... es hat einen recht komischen Ausdruck angenommen...«
»Ist das so komisch? Was soll ich machen, fröhlich aussehen, wo... wo...«
»Wo ich nach Westen geschickt werde«, sagte der Richter leise.
»Um die Gegend auszukundschaften. Darum geht es, richtig?«
»Genau darum geht es.«
»Ich habe mich gefragt, wie lange es dauert, bis das Thema zur Sprache kommt. Es ist nämlich enorm wichtig, sogar unbedingt notwendig, wenn die Freie Zone ihr Überleben sichern will. Wir wissen nicht, was er dort drüben plant. Er könnte genausogut auf der dunklen Seite des Mondes sein.«
»Wenn er wirklich da ist.«
»Oh, er ist da. In der einen oder anderen Form ist er da. Kein Zweifel.« Er nahm einen Nagelclip aus der Hosentasche und beschäftigte sich mit seinen Fingernägeln, die schnippenden Geräusche unterstrichen seine Worte. »Sag mal, hat das Komitee darüber gesprochen, was passiert, wenn es uns dort besser gefällt? Wenn wir bleiben wollen?«
Larry war verblüfft von dieser Vorstellung. Er sagte dem Richter, dass seines Wissens noch niemand darüber nachgedacht hatte.
»Ich kann mir vorstellen, daß bei ihm die Lichter schon wieder an sind«, sagte der Richter mit trügerischer Gelassenheit. »Das ist ein Anreiz, weißt du. Das hat dieser Impening offenbar gemerkt.«
»Ab mit Schaden«, sagte Larry grimmig, und der Richter lachte lange und herzlich.
Als er sich beruhigt hatte, sagte er: »Ich breche morgen auf. Mit einem Landrover, glaube ich. Erst nach Norden, Wyoming, dann nach Westen. Gott sei Dank kann ich noch gut fahren! Ich werde durch Idaho nach Nordkalifornien fahren. Es mag zwei Wochen dauern, der Rückweg wahrscheinlich länger. Wenn ich zurückkomme, könnte es schneien.«
»Ja. Die Möglichkeit haben wir in Betracht gezogen.«
»Und ich bin alt. Alte neigen zu Herzanfällen und Dummheit. Ich nehme an, ihr schickt noch andere?«
»Nun...«
»Nein, darüber darfst du nicht reden. Ich ziehe die Frage zurück.«
»Hören Sie, Sie können ablehnen«, platzte Larry heraus. »Niemand setzt Ihnen die Pistole auf die Br...«
»Willst du versuchen, dich deiner Verantwortung mir gegenüber zu entledigen?« fragte der Richter schneidend.
»Vielleicht. Vielleicht will ich das. Vielleicht denke ich auch nur, dass Ihre Chancen zurückzukommen eins zu zehn stehen und Ihre Chancen, mit Informationen zurückzukommen, die für uns wesentlich sind, vielleicht eins zu zwanzig. Vielleicht will ich Ihnen auch nur auf nette Weise sagen, daß ich vielleicht einen Fehler gemacht habe. Sie könnten zu alt sein.«
»Ich bin zu alt für Abenteuer«, sagte der Richter und steckte den Clip weg, »aber hoffentlich nicht zu alt, das zu tun, was ich für richtig halte. Irgendwo dort draußen liegt eine alte Frau, die wahrscheinlich elend gestorben ist, weil sie es für richtig hielt. Ich zweifle nicht daran, daß religiöser Wahn sie motiviert hat. Aber Leute, die unbedingt das Richtige tun wollen, wirken immer verrückt. Ich werde gehen. Es wird kalt sein. Meine Verdauung wird Schwierigkeiten machen. Ich werde einsam sein. Ich werde meine Begonien vermissen. Aber...« Er sah Larry an, seine Augen glitzerten in der Dunkelheit. »Ich werde auch klug sein.«
»Das glaube ich aufs Wort«, sagte Larry und spürte, wie ihm Tränen in den Augenwinkeln brannten.
»Wie geht es Lucy?« fragte der Richter, der das Thema seiner Abreise offenbar für abgeschlossen hielt.
»Gut«, sagte Larry. »Es geht uns beiden gut.«
»Keine Probleme?«
»Nein«, sagte Larry und dachte an Nadine. Er machte sich immer noch Gedanken wegen ihrer Verzweiflung bei der letzten Begegnung. Du bist meine letzte Chance, hatte sie gesagt. Seltsame Worte, fast selbstmörderisch. Wie konnte man ihr helfen? Psychiatrie? Das war lächerlich, wo sie allenfalls einen Pferdedoktor anzubieten hatten. Und nicht einmal die Telefonseelsorge gab es mehr.
»Es ist gut, daß du mit Lucy zusammen bist«, sagte der Richter, »aber ich vermute, du machst dir wegen der anderen Frau Sorgen.«
»Ja, das tue ich.« Was jetzt folgte, war schwer auszusprechen, aber es war ihm viel wohler, wenn er es jemand anderem beichten und anvertrauen konnte. »Ich fürchte, daß sie an, nun, Selbstmord denkt.« Er fuhr rasch fort: »Sicher nicht nur meinetwegen, denken Sie bloß nicht, ich wäre der Meinung, daß sich ein Mädchen umbringen könnte, weil sie sexy Larry Underwood nicht bekommt. Aber der Junge, für den sie gesorgt hat, ist aus seiner Schale herausgekrochen, und ich glaube, sie fühlt sich einsam, weil niemand mehr auf sie angewiesen ist.«
»Wenn ihre Depressionen chronisch und zyklisch werden, kann es durchaus sein, daß sie sich umbringt«, sagte der Richter mit erschreckender Gleichgültigkeit.
Larry sah ihn entsetzt an.
»Aber du kannst dich nicht zweiteilen«, sagte der Richter. »Du kannst nur einer sein. Stimmt das nicht?«
»Ja.«
»Und du hast deine Wahl getroffen?«
»Ja.«
»Endgültig?«
»Ja. Endgültig.«
»Dann mußt du damit leben«, sagte der Richter mit großer Erleichterung. »Um Gottes willen, Larry, werd erwachsen. Entwickle ein bißchen Selbstgefälligkeit. Vieles daran ist häßlich, weiß Gott, aber etwas davon auf deine vielen Skrupel getüncht, das muss unbedingt sein! Es ist für die Seele, was ein guter Lichtschutzfaktor für die Haut ist. Du kannst nur deine eigene Seele meistern, und ab und zu kommt ein klugscheißerischer Psychologe des Wegs und stellt sogar die Fähigkeit dazu in Frage. Werd erwachsen! Deine Lucy ist ein prima Mädchen. Wenn du Verantwortung für mehr als ihre und deine Seele übernimmst, mutest du dir zuviel zu, und sich zuviel zuzumuten ist eine der beliebtesten Methoden der Menschheit, eine Katastrophe herauszufordern. «
»Ich unterhalte mich gern mit Ihnen«, sagte Larry und war erschrocken und amüsiert zugleich über den Tiefsinn dieser Bemerkung.
»Wahrscheinlich nur, weil ich dir genau das sage, was du hören willst«, sagte der Richter heiter. Und dann fügte er hinzu: »Es gibt viele Möglichkeiten, Selbstmord zu begehen, weißt du.«
Bevor allzuviel Zeit vergangen war, sollte Larry Gelegenheit haben, sich unter bitteren Umständen an diese Bemerkung zu erinnern.
Am nächsten Morgen um Viertel nach acht fuhr Harolds Wagen wieder vom Greyhound-Bahnhof zum Stadtteil Table Mesa. Harold, Weizak und zwei andere saßen hinten auf dem Wagen. Norman Kellogg und ein weiterer Mann saßen im Fahrerhaus. Sie waren gerade an der Kreuzung Arapahoe Street und Broadway, als ihnen langsam ein brandneuer Landrover entgegenkam. Weizak winkte und rief: »Wo fahren Sie hin, Richter?«
Der Richter, der in Wollhemd und Weste ziemlich komisch aussah, hielt an. »Ich dachte mir, ich fahre einen Tag nach Denver«, sagte er unverbindlich.
»Schaffen Sie das mit dem Ding?« rief Weizak.
»Oh, ich glaube schon, wenn ich die Hauptstraßen meide.«
»Wenn Sie an einem Sex-Shop vorbeikommen, bringen Sie doch einen Kofferraum voll Bücher mit.«
Alle lachten über diese Bemerkung – auch der Richter-, nur Harold nicht. Er sah heute morgen blaß und übernächtigt aus, als hätte er schlecht geschlafen. In Wirklichkeit hatte er überhaupt kaum geschlafen. Nadine hatte Wort gehalten; in der vergangenen Nacht waren einige seiner Träume in Erfüllung gegangen. Träume der feuchten Art, wollen wir einmal sagen. Er freute sich schon auf heute abend, und Weizaks anzügliche Bemerkung über Pornographie war heute, da er ein wenig Erfahrung aus erster Hand hatte, nur noch für den Hauch eines Lächelns gut. Nadine hatte noch geschlafen, als er gegangen war. Bevor sie gegen zwei aufgehört hatten, hatte sie ihm gesagt, sie wolle sein Hauptbuch lesen. Er hatte gesagt, nur zu, wenn es ihr Wunsch sei. Vielleicht lieferte er sich damit ihrer Gnade aus, aber er war zu verwirrt, ganz sicher zu sein. Etwas Besseres hatte er in seinem Leben nie geschrieben, und der auslösende Faktor war sein Wunsch – nein, sein Bedürfnis. Sein Bedürfnis, jemand anderen seine beste Arbeit lesen und erfahren zu lassen.
Jetzt lehnte sich Kellogg aus dem Fahrerhaus des Müllautos und sah den Richter an. »Seien Sie vorsichtig, Väterchen. Okay? Heutzutage sind komische Leute auf den Straßen unterwegs.«
»Allerdings«, sagte der Richter mit einem seltsamen Lächeln. »Ich werde schon aufpassen. Guten Tag, meine Herren. Auch Ihnen, Mr. Weizak.«
Neuerliches Gelächter, dann fuhren sie weiter.
Der Richter fuhr nicht Richtung Denver. Als er die Route 36 erreichte, querte er sie und fuhr auf der Route 7 weiter. Die Morgensonne schien hell und sanft, und auf dieser Nebenstraße waren keine Staus, die sie blockierten. In der Stadt Brighton war es schlimmer; an einer Stelle mußte er die Straße verlassen und über das Football-Feld der örtlichen High School fahren, um einem gewaltigen Stau auszuweichen. Er fuhr weiter nach Osten, bis er die 1-25 erreichte. Rechts ging es nach Denver. Aber er bog links ab – nach Norden – und fuhr die Einfahrtsrampe hinunter. Als er halb unten war, nahm er den Gang raus und sah nach links, nach Westen, wo die Rockies, zu deren Füßen Boulder lag, malerisch in den blauen Himmel ragten.
Er hatte Larry gesagt, er wäre zu alt für Abenteuer, aber bei Gott, das war eine Lüge gewesen. Seit zwanzig Jahren hatte sein Herz nicht mehr in diesem frischen Rhythmus geschlagen, hatte die Luft nicht so lieblich geduftet, waren die Farben nicht so leuchtend gewesen. Er würde auf der 1-25 nach Cheyenne fahren und dann nach Westen abbiegen, um zu sehen, was ihn hinter den Bergen erwartete. Seine Haut, vom Alter trocken, juckte nichtsdestotrotz bei diesem Gedanken, und die Härchen stellten sich auf. Auf der 1-80 in westlicher Richtung nach Sah Lake City, dann durch Nevada nach Reno. Dann wollte er sich wieder nach Norden wenden, aber das war wohl ziemlich gleich. Denn irgendwo zwischen Salt Lake und Reno, möglicherweise vorher, würde man ihn anhalten, verhören und möglicherweise anderswo hinschicken, wo er wieder verhört wurde. Am einen oder anderen Ort wurde dann möglicherweise eine Einladung ausgesprochen.
Es war nicht einmal unmöglich, daß er den dunklen Mann selbst kennenlernte.
»Jetzt aber weiter, Alter«, sagte er leise.
Er legte den Gang des Rover wieder ein und fuhr langsam auf die 125. Nach Norden führten drei Fahrspuren, alle verhältnismäßig frei. Wie er vermutet hatte, war der fließende Verkehr schon in Denver durch Staus und Unfälle blockiert worden. Auf der anderen Seite des Mittelstreifens standen die Wagen dicht an dicht – die armen Narren, die nach Süden fahren wollten, weil sie hofften, im Süden wäre es besser -, aber hier hatte er freie Fahrt. Vorläufig wenigstens. Richter Farris fuhr weiter und war froh, daß er unterwegs war. Er hatte die letzte Nacht schlecht geschlafen. Heute nacht, unter den Sternen, den alten Leib fest in zwei Schlafsäcke gehüllt, würde er besser schlafen. Er fragte sich, ob er Boulder je wiedersehen würde, und dachte, daß die Chancen wahrscheinlich nicht sehr gut standen. Und dennoch war er sehr aufgeregt.
Es war einer der schönsten Tage seines Lebens.
Am frühen Nachmittag fuhren Nick, Ralph und Stu zu dem kleinen stuckverzierten Haus im Norden Boulders hinaus, in dem Tom Cullen ganz allein lebte. Für die »alten« Einwohner Boulders war Toms Haus schon zu einer Sehenswürdigkeit geworden. Stan Nogotny sagte, es war, als hätten Katholiken, Baptisten und Seventh-DayAdventisten sich mit den Demokraten und den Moonies zusammengetan, um ein religiös-politisches Disneyland zu schaffen. Der vordere Rasen war ein seltsames Tableau von Statuen. Ein dutzendmal die Jungfrau Maria, die in manchen Fällen gerade Schwärme von rosa Plastikflamingos zu füttern schien. Der größte Flamingo war größer als Tom selbst und stand auf einem Bein, das in einen meterlangen Stachel überging. Zwischen den Figuren stand ein riesiger Wunschbrunnen, in dessen verziertem Eimer ein großer, im Dunkeln leuchtender Plastikjesus stand, der die Hände ausgestreckt hatte. Neben dem Wunschbrunnen stand eine große Gipskuh, die anscheinend aus einem Vogelbad trank. Das Fliegengitter vor der Eingangstür wurde aufgestoßen, und Tom, mit bloßem Oberkörper, kam heraus, um sie zu begrüßen. Aus der Ferne, überlegte Nick, hätte man ihn mit seinen hellblauen Augen und dem rotblonden
Bart für einen kraftstrotzenden Schriftsteller oder Maler halten können. Wenn er näherkam, gab man diese Vorstellung zugunsten von etwas weniger Intellektuellem auf... vielleicht eine Art Handwerker aus der Gegenkultur, der Originalität zugunsten von Kitsch aufgegeben hatte. Und wenn er ganz nahe war und lächelte und mit einem Kilometer pro Stunde daherplapperte, wurde einem endgültig klar, daß es in Tom Cullens Oberstübchen nicht ganz richtig war.
Nick wußte, ein Grund, warum er sich so sehr mit Tom Cullen verbunden fühlte, war der, daß man ihn selbst früher für geistig zurückgeblieben gehalten hatte – anfangs, weil seine Behinderung ihn daran gehindert hatte, lesen und schreiben zu lernen, später dann, weil die Leute einfach davon ausgingen, wer taubstumm war, mußte geistig zurückgeblieben sein. Er hatte jeden umgangssprachlichen Ausdruck dafür schon einmal gehört. Nicht alle Tassen im Schrank. Plemplem. Einen Sparren locker haben. Dem Typ fehlt ein Zacken in der Krone. Er mußte an den Abend denken, als er im Zack's ein paar Bier trinken wollte, der Kneipe am Stadtrand von Shoyo – der Abend, als Ray Booth und seine Kumpane ihm aufgelauert hatten. Der Barkeeper hatte am anderen Ende der Bar gestanden, über die er sich vertraulich gebeugt hatte, um mit einem Kunden zu sprechen. Er hatte den Mund mit der Hand abgeschirmt, so daß Nick nur unvollständig verstand, was er sagte. Aber mehr mußte er auch nicht verstehen. Taubstumm... wahrscheinlich zurückgeblieben...
Von allen häßlichen Ausdrücken für geistige Behinderung gab es einen einzigen, der auf Tom Cullen zutraf. Nick selbst gebrauchte ihn in der Stille seines eigenen Verstands häufig und mit großer Anteilnahme. Der Ausdruck war: Der Typ spielt nicht mit einem vollen Blatt.Das war es, was mit Tom nicht stimmte. Darauf lief es hinaus. Das Elend in Toms Fall war, daß so wenig Karten fehlten, und noch dazu wertlose Karten – Kreuz zwei, Karo drei, was in der Art. Aber ohne diese Karten konnte man eben kein gutes Spiel spielen. Man konnte nicht einmal beim Solitaire gewinnen, wenn diese Karten im Blatt fehlten.
»Nicky!« schrie Tom. »Bin ich froh, dich zu sehen! Meine Fresse, ja!
Tom Cullen ist so froh!« Er schlang die Arme um Nicks Hals und drückte ihn an sich. Nick spürte, wie Tränen in seinem schlimmen Auge hinter der Klappe stachen, die er an sonnigen Tagen wie diesem immer noch trug. »Und Ralph auch! Und der da. Du bist... mal sehen...«
»Ich bin...« begann Stu, aber Nick brachte ihn mit einer brüsken Bewegung der linken Hand zum Schweigen. Er hatte Gedächtnistraining mit Tom gemacht, was Erfolg zu haben schien. Wenn man etwas, das man kannte, mit einem Namen assoziieren konnte, den man sich einprägen wollte, prägte er sich einem häufig ein. Auch das hatte Rudy ihm vor vielen Jahren beigebracht. Jetzt nahm er den Block aus der Tasche und kritzelte darauf. Dann gab er ihn Ralph, damit er ihn laut vorlas.
Ralph gehorchte stirnrunzelnd: »Was ißt du gerne, das in einer Schüssel mit Fleisch und Gemüse und Soße gemacht wird?«
Tom stand stockstill da. Sein Gesicht wurde reglos. Er sperrte den Mund auf und wurde zum Inbegriff eines Idioten.
Stu regte sich unbehaglich und sagte: »Nick, ich finde, wir sollten...«
Nick hielt einen Finger an die Lippen und brachte ihn zum Schweigen; im selben Augenblick erwachte Tom Cullen wieder zum Leben.
»Stew!« sagte er, lachte und machte Luftsprünge. »Du bist Stew!« Er sah Nick zur Bestätigung an, und Nick zeigte ihm das V für Sieg.
»M-O-N-D, und das buchstabiert man Stew, das weiß Tom Cullen, das weiß jeder!«
Nick deutete zur Tür von Toms Haus.
»Wollt ihr reinkommen? Meine Fresse, ja! Wir werden alle reingehen. Tom hat sein Haus geschmückt.«
Ralph und Stu warfen sich einen amüsierten Blick zu, während sie Nick und Tom die Verandastufen hinauf folgten. Tom »schmückte« immer. Er »möblierte« nicht, denn das Haus war natürlich möbliert gewesen, als er einzog. Als sie ins Haus gingen, fanden sie eine wirre Märchenwelt vor.
Gleich hinter der Tür hing ein riesiger vergoldeter Vogelkäfig, auf dessen Stange, sorgfältig mit Draht befestigt, ein ausgestopfter grüner Papagei saß, und Nick mußte sich darunter durchducken. Das Verblüffende war, dachte er, daß Toms Schmuck nicht aus beliebigem Trödel bestand. In dem Fall hätte das Haus ausgesehen wie ein Ramschladen. Hier war mehr, etwas, das jenseits dessen zu liegen schien, was ein normaler Verstand als Muster erkennen konnte. In einem großen Viereck über dem Kamin im Wohnzimmer waren eine Reihe von Kreditkartenzeichen angebracht, alle sorgfältig montiert und regelmäßig angeordnet.
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Nun ergab sich die Frage: Woher wußte Tom, daß alle diese Zeichen zu einer Kategorie gehörten? Er konnte nicht lesen, aber er hatte das Muster irgendwie begriffen. Auf dem Kaffeetisch stand ein großer Hydrant aus Styropor. Auf der Fensterbank stand das Blaulicht eines Polizeiwagens, wo es das Sonnenlicht auffangen und als blauen Fächer an die Wand werfen konnte.
Tom zeigte ihnen das ganze Haus. Das Spielzimmer im Keller war mit ausgestopften Vögeln und anderen Tieren vollgestellt, die er bei einem Tierpräparator gefunden hatte; er hatte die Vögel an fast unsichtbare Klavierdrähte gehängt, sie schienen zu fliegen, Eulen und Habichte und sogar ein Adler mit mottenzerfressenem Gefieder, dem eins seiner gelben Glasaugen fehlte. In einer Ecke stand ein Murmeltier auf den Hinterbeinen, in einer anderen ein Ziesel, in der nächsten ein Stinktier und ein Wiesel in der vierten. Mitten im Zimmer stand ein Coyote, der irgendwie der Brennpunkt der kleineren Tiere zu sein schien.
Das Geländer der Treppe nach oben war mit rotem und weißem Papier umwickelt, so daß es aussah wie die Stange vor einem Friseurladen. Im oberen Flur hingen verschiedene Jagdflugzeuge ebenfalls an Klavierdrähten – Fockers, Spads, Stukas, Spitfires, Zeros, Messerschmitts. Der Boden des Badezimmers war knallblau gestrichen worden. Toms erlesene Sammlung von Spielzeugbooten stand darauf; sie segelten auf einem Porzellanmeer um vier weiße Porzellaninseln und einen weißen Porzellankontinent herum: die Füße der Badewanne und die Kloschüssel.
Schließlich führte sie Tom wieder nach unten. Sie setzten sich unter die Kreditkartenmontage gegenüber einem 3-D-Bild von John und Robert Kennedy vor einem Hintergrund goldgesäumter Wolken. Die Legende darunter lautete BRÜDER IM HIMMEL VEREINT.
»Gefällt dir Toms Schmuck? Was meinst du? Hübsch?«
»Sehr hübsch«, sagte Stu. »Sag mal. Diese Vögel da unten... gehen sie dir nicht manchmal auf die Nerven?«
»Meine Fresse, nein!« sagte Tom erstaunt. »Die sind voller Sägemehl.«
Nick gab Ralph einen Zettel.
»Tom, Nick will wissen, ob es dir etwas ausmacht, dich noch einmal hypnotisieren zu lassen. Wie es Stan damals gemacht hat. Aber diesmal ist es wichtig, nicht nur ein Spiel. Nick erklärt dir später, warum.«
»Nur zu«, sagte Tom. » Duuu... wirst... gaaanz müüüde..., richtig?«
»Ja, das ist es«, sagte Ralph.
»Soll ich wieder auf die Uhr sehen? Das macht mir nichts aus. Wenn sie hin– und herpendelt? Gaaanz... müüüde...« Tom sah sie zweifelnd an. »Aber ich bin nicht müde. Meine Fresse, nein. Ich bin gestern früh ins Bett gegangen. Tom Cullen geht immer früh ins Bett, weil es kein Fernsehen mehr gibt.«
Stu sagte leise: »Möchtest du gern einen Elefanten sehen, Tom?«
Tom machte sofort die Augen zu. Sein Kopf sank locker nach vorn. Seine Atmung ging in langsamen, gleichmäßigen Zügen. Stu sah ihn überrascht an. Nick hatte ihm das Schlüsselwort gegeben, aber Stu hatte nicht recht glauben können, daß es funktionieren würde. Und er hätte nie gedacht, daß es so schnell gehen würde.
»Als ob man einem Huhn den Kopf unter den Flügel steckt«, staunte Ralph.
Nick reichte Stu das vorbereitete »Drehbuch« für diese Begegnung. Stu sah Nick lange an. Nick sah ihn ebenfalls an, dann nickte er ernst, daß Stu anfangen sollte.
»Tom, hörst du mich?« fragte Stu.
»Ja, ich höre dich«, sagte Tom mit einer Stimme, bei der Stu ruckartig aufsah.
Sie war anders als Toms übliche Stimme, aber auf eine Weise, die Stu nicht fassen konnte. Sie erinnerte ihn an einen Vorfall, als er achtzehn gewesen war und den Abschluß an der High School gemacht hatte. Sie waren vor dem Festakt in der Umkleidekabine der Jungs gewesen, alle Jungs, mit denen er zur Schule ging seit... nun, in mindestens vier Fällen seit dem ersten Schultag der ersten Klasse, in vielen anderen fast genauso lang. Einen Augenblick hatte er gesehen, wie sehr sich ihre Gesichter zwischen den alten Zeiten, den Anfangstagen, und diesem Moment der Einsicht, als er mit einem schwarzen Talar in der Hand auf dem Kachelboden des Umkleideraums stand, verändert hatten. Diese Vision der Veränderung hatte ihn damals zum Zittern gebracht, und sie brachte ihn jetzt wieder zum Zittern. Die Gesichter, in die er gesehen hatte, waren nicht mehr die Gesichter von Kindern gewesen... aber auch noch nicht die Gesichter von Männern. Es waren Gesichter im Limbus, Gesichter, die genau zwischen zwei klar umrissenen Existenzebenen hingen. Diese Stimme, die aus dem Schattenland von Tom Cullens Unterbewußtsein kam, schien wie diese Gesichter zu sein, nur unendlich trauriger. Stu fand, es war die Stimme des Mannes, der er niemals sein würde.
Aber sie warteten, daß er weitermachte, und er mußte weitermachen.
»Ich bin Stu Redman, Tom.«
»Ja. Stu Redman.«
»Nick ist hier.«
»Ja, Nick ist hier.«
»Ralph Brentner ist auch hier.«
»Ja, Ralph auch.«
»Wir sind deine Freunde.«
»Ich weiß.«
»Wir möchten, daß du etwas tust, Tom. Für die Zone. Es ist gefährlich.«
»Gefährlich...«
Sorge zog über Toms Gesicht, so langsam wie ein Wolkenschatten über ein sommerliches Maisfeld zieht.
»Muß ich Angst haben? Muß ich...« Er verstummte und seufzte. Stu sah Nick besorgt an.
Nick formte mit den Lippen: Ja.
»Er ist es«, sagte Tom und seufzte voll Grauen. Es hörte sich an wie ein kalter Novemberwind, der durch die kahlen Zweige von Eichen fährt. Stu schauderte wieder innerlich. Ralph war blaß geworden.
»Wer, Tom?« fragte Stu sanft.
»Flagg. Sein Name ist Randy Flagg. Der dunkle Mann. Soll ich...«
Wieder dieser langgezogene, bittere und klägliche Seufzer.
»Woher kennst du ihn, Tom?« Das stand nicht im Drehbuch.
»Träume... ich habe sein Gesicht in Träumen gesehen.«
Ich habe sein Gesicht in Träumen gesehen. Aber keiner von ihnen hatte sein Gesicht gesehen. Es war immer verborgen.
»Du hast ihn gesehen?«
»Wie sieht er aus, Tom?«
Tom sagte lange nichts. Stu dachte schon, daß er nicht antworten würde, und wollte anhand des »Drehbuchs« weitermachen, als Tom sagte:
»Er sieht aus wie jeder, den man auf der Straße sieht. Aber wenn er grinst, fallen die Vögel tot von Telefonleitungen. Wenn er einen auf bestimmte Weise ansieht, tut die Prostata weh und der Urin brennt. Wo er ausspuckt, wird das Gras gelb und stirbt. Er ist immer draußen. Er kam aus der Zeit. Er kennt sich selbst nicht. Er hat die Namen von tausend Dämonen. Jesus hat ihn einmal unter die Schweine gestoßen. Sein Name ist Legion. Er hat Angst vor uns. Wir sind drinnen. Er beherrscht Magie. Er kann die Wölfe rufen und in den Krähen leben. Er ist der König von Nirgendwo. Aber er hat Angst vor uns. Er hat Angst vor dem... Drinnen.«