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The Stand. Das letze Gefecht
  • Текст добавлен: 24 сентября 2016, 05:37

Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы


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Sie richtete sich auf und sah, daß der Junge immer noch bei ihr war. Er hatte sich im Schlaf ein wenig von ihr entfernt, das war alles. Er hatte sich wie ein Fötus zusammengerollt, den Daumen im Mund und die Hand um den Griff des Messers geklammert.

Nachdem sie über das Gras gegangen war, Wasser gelassen hatte und wieder unter die Decke gekrochen war, schlief sie sofort wieder ein. Am nächsten Morgen war sie nicht sicher, ob sie in der Nacht wirklich aufgewacht war oder ob sie es nur geträumt hatte. Wenn ich geträumt habe, dachte Larry, dann müssen es gute Träume gewesen sein. Er konnte sich an keinen einzigen erinnern. Er fühlte sich fast schon wieder wie der alte Larry und dachte, der Tag würde schön werden. Noch heute würde er das Meer sehen. Er rollte seinen Schlafsack zusammen, schnallte ihn auf den Gepäckträger, ging zurück, um den Rucksack zu holen... und blieb stehen.

Ein Betonweg führte zu den Verandastufen, und das Gras auf beiden Seiten war lang und unvorstellbar grün. Rechts, ganz dicht an der Veranda, war das taufeuchte Gras niedergetreten. Wenn der Tau verdunstete, würde sich das Gras wieder aufrichten, aber jetzt waren deutlich Fußspuren zu erkennen. Er war in der Stadt aufgewachsen und alles andere als ein Waldläufer (er hatte lieber Hunter S. Thompson als James Fenimore Cooper gelesen), aber man mußte blind sein, dachte er, nicht zu merken, daß sie zu zweit gewesen waren: ein Großer und ein Kleiner. Irgendwann in der Nacht waren sie zur Tür gekommen und hatten ihn beobachtet. Ihn fröstelte. Die Heimlichtuerei gefiel ihm nicht. Die ersten Vorboten neuer Angst noch weniger.

Wenn sie sich nicht bald zeigen, beschloß er, werde ich versuchen, sie hervorzuscheuchen. Allein der Gedanke, daß ihm das gelingen könnte, brachte den größten Teil seines Selbstvertrauens zurück. Er schnallte den Rucksack über und machte sich auf den Weg. Gegen Mittag hatte er die US 1 in Wells erreicht. Kopf oder Zahl! Er warf eine Münze. Zahl. Er wandte sich auf der US1 nach Süden und liess die Münze gleichgültig im Staub funkeln. Joe fand sie zwanzig Minuten später und starrte sie an wie die Kristallkugel eines Hypnotiseurs. Er steckte sie in den Mund, und Nadine befahl ihm, sie auszuspucken.

Zwei Meilen weiter sah Larry es zum ersten Mal, das riesige blaue Tier, das heute träge und langsam war. Es war ganz anders als der Pazifik oder der Atlantik von Long Island. Dort sah der Ozean friedlich aus, fast zahm. Dieses Wasser war von einem dunkleren Blau, fast kobaltfarben; gleichgültig rollten die Wogen ans Ufer, nagten an den Felsen. Gischt wie geschlagenes Eiweiß spritzte in die Luft und klatschte wieder zurück. Die Wellen donnerten mit unablässigem tiefen Grollen an die Klippen.

Larry stellte sein Fahrrad ab, ging zum Meer hinunter und spürte eine seltsame Erregung, die er nicht erklären konnte. Er war hier, er hatte den Ort erreicht, wo die See die Herrschaft übernahm. Hier war der Osten zu Ende. Land's End.

Er ging über eine sumpfige Wiese, und seine Schuhe machten schmatzende Geräusche im feuchten Boden zwischen Erdhügeln und Schilfbüscheln. Der durchdringende, fruchtbare Geruch der Flut hing in der Luft. Näher am Wasser war die dünne Haut der Erdschicht abgeschält, und der nackte Knochen aus Granit trat zutage – Granit, die »letzte Wahrheit« von Maine. Möwen stiegen hellweiß vor blauem Grund zum Himmel, kreischten und wimmerten. Er hatte noch nie so viele Vögel auf einmal gesehen. Ihm fiel ein, daß diese Vögel trotz ihrer weißen Schönheit Aasfresser waren. Der Gedanke, der sich anschloß, war unaussprechlich, aber er hatte ihn schon gedacht, bevor er ihn verdrängen konnte: Sie müssen in letzter Zeit reiche Ernte gehalten haben.

Er ging wieder weiter; jetzt klickten und kratzten seine Schuhe auf von der Sonne getrockneten Felsen, die wegen der Brandung in ihren Rissen und Fugen dennoch immer feucht bleiben würden. Entenmuscheln wuchsen in diesen Rissen, und hier und da lagen wie zerfetzte Knochensplitter die Schalen, die die Möwen fallengelassen hatten, um an das weiche Fleisch im Innern heranzukommen.

Einen Augenblick später stand er an der kahlen Küste. Der Wind vom Meer traf ihn mit voller Wucht und wehte ihm den dichten Haarschopf aus der Stirn. Larry hob ihm das Gesicht entgegen, dem herben, sauberen Salzgeruch des blauen Tiers. Die gläsernen, blaugrünen Wellenkämme rollten langsam herein, ihre Spitzen wurden deutlicher, je flacher der Boden unter ihnen wurde; zuerst bildete sich ein Hauch Schaum auf den Gipfeln, dann ein feiner Zuckerguß. Und dann schlugen sie selbstmörderisch ans Ufer, wie seit Anbeginn der Zeiten, zerstörten sich selbst und gleichzeitig ein unendlich kleines Stückchen Land. Ein gluckerndes, hustendes Dröhnen war zu hören, als Wasser in einen tiefen, halb versunkenen Felstunnel gedrückt wurde, der im Laufe von Jahrtausenden entstanden war.

Er drehte sich zuerst nach links, dann nach rechts, und sah in jeder Richtung dasselbe, so weit das Auge reichte... Wellen, Brecher, Gischt, aber größtenteils einen endlosen Überfluß an Farben, die ihm den Atem raubten.

Das war Land's End.

Er setzte sich, ließ die Füße über den Rand einer Klippe baumeln und fühlte sich ruhig, besänftigt. Dort saß er eine halbe Stunde oder länger. Der Wind regte seinen Appetit an; er kramte im Rucksack nach etwas Eßbarem. Er aß kräftig. Gischt hatte die Beine seiner Blue Jeans schwarz gefärbt. Er fühlte sich gesäubert, erfrischt. Er ging langsam über die sumpfige Wiese zurück und war so in Gedanken versunken, daß er den Schrei, der vor ihm anschwoll, für den der Möwen hielt. Er hatte schon den Kopf zum Himmel gehoben, als er plötzlich voller Angst merkte, daß es der Schrei eines Menschen war. Ein Kampfschrei.

Er sah ruckartig wieder nach unten und erblickte einen kleinen Jungen, der mit pumpenden Beinmuskeln über die Straße auf ihn zugelaufen kam. In der Hand hielt er ein langes Schlachtermesser. Er war nackt bis auf die Unterhose, seine Beine waren von Brennesselmalen gezeichnet. Hinter ihm trat in diesem Moment eine Frau aus Gestrüpp und Brennesseln auf der anderen Seite des Highway. Sie sah blaß aus und hatte dunkle Ringe der Erschöpfung unter den Augen. »Joe!« rief sie und fing an zu laufen, als würde es ihr Schmerzen bereiten.

Joe lief weiter, ließ nicht nach, seine nackten Füße spritzten dünne Schleier des Marschwassers auf. Sein Gesicht war zu einem verkniffenen, mörderischen Grinsen verzerrt. Er hielt das Schlachtermesser hoch über dem Kopf, es glitzerte in der Sonne.

Er will mich umbringen, dachte Larry, der bei diesem Gedanken wie vom Donner gerührt stehenblieb. Dieser Junge... was habe ich ihm denn getan?

» Joe!« schrie die Frau, diesmal mit schriller, müder und verzweifelter Stimme. Joe lief noch immer, verringerte zusehends die Entfernung. Larry merkte gerade noch, daß er sein Gewehr beim Fahrrad gelassen hatte, dann war der schreiende Junge schon bei ihm. Als er mit dem Schlachtermesser in hohem, weitem Bogen ausholte, erwachte Larry aus seiner Lähmung. Er sprang zur Seite, hob instinktiv den rechten Fuß und trat dem Jungen mit seinem nassen, gelben Stiefel in den Leib. Und empfand Mitleid: Es war nichts als ein kleiner Junge, erschöpft, kraftlos; er fiel um wie ein Kegel. Er sah gefährlich aus, war aber alles andere als ein Schwergewicht.

»Joe!« rief Nadine. Sie stolperte über einen Erdklumpen, fiel auf die Knie und bespritzte ihre weiße Bluse mit braunem Schlamm. »Tun Sie ihm nichts! Er ist nur ein kleiner Junge! Bitte, tun Sie ihm nichts!«

Sie rappelte sich auf und mühte sich weiter.

Joe war flach auf den Rücken gefallen. Er lag da wie ein X: Die Arme bildeten ein V, die gespreizten Beine ein zweites, umgekehrtes V.

Larry machte einen Schritt vorwärts, trat dem Jungen aufs Handgelenk und nagelte die Hand, mit der er das Messer hielt, am schlammigen Boden fest.

»Laß den Piekser los, Junge.«

Der Junge fauchte und stieß dann ein grunzendes, kollerndes Geräusch aus, wie ein Truthahn. Er zog die Oberlippe über die Zähne. Seine Chinesenaugen starrten böse in die von Larry. Den Fuß auf dem Handgelenk des Jungen zu lassen war, wie auf eine verletzte, aber immer noch bösartige Schlange zu treten. Er merkte, wie der Junge versuchte, seine Hand freizubekommen, ohne sich darum zu kümmern, ob der Preis aufgeschürfte Haut, blutiges Fleisch oder sogar ein gebrochenes Handgelenk war. Er richtete sich in eine halb sitzende Position auf und versuchte, Larry durch den schweren, nassen Stoff seiner Jeans ins Bein zu beißen. Larry trat noch fester auf das dünne Handgelenk, und Joe stieß einen Schrei aus – nicht vor Schmerzen, sondern vor Wut.

»Laß es los, Junge.«

Joe wehrte sich immer noch.

Das Patt hätte andauern können, bis Joe das Messer freibekommen oder Larry ihm den Arm gebrochen hätte, wenn Nadine nicht schließlich schlammverschmiert, atemlos und vor Erschöpfung taumelnd bei ihnen eingetroffen wäre.

Ohne Larry anzusehen, sank sie auf die Knie. »Laß es los!« sagte sie leise, aber energisch. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, zeigte jedoch keine Regung. Sie brachte es dicht vor Joes verzerrte, zuckende Fratze. Er schnappte nach ihr wie ein Hund und wehrte sich weiter. Wütend versuchte Larry, die Balance zu halten. Wenn es dem Jungen jetzt gelang, sich loszureißen, würde er wahrscheinlich zuerst auf die Frau einstechen.

»Laß... es... los!« sagte Nadine.

Der Junge knurrte. Speichel quoll zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Auf der rechten Wange hatte er einen Schlammspritzer in Form eines Fragezeichens.

»Wir lassen dich zurück, Joe. Ichlasse dich zurück. Ich gehe mit ihm. Wenn du nicht brav bist.«

Larry spürte, wie die Spannung des Arms unter seinem Fuß noch stärker wurde und dann nachließ. Aber der Junge sah die Frau verletzt, anklagend und vorwurfsvoll an. Als er den Blick etwas abwandte und Larry ansah, konnte dieser glühende Eifersucht in den Augen erkennen. Obwohl ihm der Schweiß in Strömen vom Körper troff, fröstelte Larry unter diesem Blick.

Sie sprach mit ruhiger Stimme auf ihn ein. Niemand würde ihm weh tun. Niemand würde ihn zurücklassen. Wenn er das Messer losließ, konnten sie alle Freunde werden.

Allmählich spürte Larry, daß sich die Hand unter seinem Schuh entspannt und das Messer losgelassen hatte. Der Junge lag reglos da und starrte zum Himmel. Er hatte aufgegeben. Larry nahm den Fuß von Joes Handgelenk, bückte sich rasch und hob das Messer auf. Er drehte sich um und schleuderte es in Richtung Küste. Das Messer drehte sich im Kreis und reflektierte funkelnd das Sonnenlicht. Joes seltsame Augen folgten seiner Bahn; er stieß ein langes, heulendes Wimmern des Schmerzes aus. Das Messer prallte mit blechernem Klirren auf die Felsen und schlitterte über den Rand. Larry drehte sich wieder um und betrachtete die beiden. Die Frau untersuchte Joes rechten Unterarm, wo sich das Profil von Larrys Stiefelsohlen tief eingegraben hatte und langsam grellrot wurde. Sie sah auf, blickte Larry ins Gesicht. Ihre dunklen Augen waren voller Traurigkeit.

Larry spürte die altbekannte, eigennützige Ausrede in sich aufsteigen – Ich mußte es tun, es war nicht meine Schuld, hören Sie, Lady, er wollte mich umbringen-, weil er glaubte, das Urteil in diesen kummervollen Augen lesen zu können: Du bist kein netter Kerl.

Aber er schwieg. Es gab nichts zu sagen. Die Situation war eindeutig, der Junge hatte Larrys Gegenwehr erzwungen. Als er Joe betrachtete, der sich jetzt verzweifelt über die Knie gekrümmt und den Daumen in den Mund gesteckt hatte, bezweifelte er, ob der Junge selbst die Situation ausgelöst hatte. Aber es hätte schlimmer ausgehen können, mit einer Stichwunde oder möglicherweise sogar einem Toten.

Also sagte er nichts, sah der Frau in die sanften Augen und dachte: Ich glaube, ich habe mich verändert. Irgendwie. Ich weiß nicht, wie sehr.Er mußte an etwas denken, das Barry Grieg einmal zu ihm gesagt hatte – über einen Rhythmusgitarristen aus L. A., einen Typen namens Jory Baker, der stets pünktlich kam, nie eine Probe versäumte oder eine Aufnahme versaute. Kein Gitarrist, der einem ins Auge fiel, kein Showman wie Angus Young oder Eddie Van Haien, aber ein fähiger Bursche. Barry hatte gesagt, daß dieser Jory Baker mal die treibende Kraft einer Gruppe namens Sparx gewesen war, eine Gruppe, die jedermann als die erfolgversprechendste des Jahres betrachtete. Sie hatten einen Sound draufgehabt wie die frühen Creedence: harter, solider Gitarren-Rock. Jory Baker hatte die Sachen fast sämtlich alleine geschrieben und durch die Bank selbst gesungen. Dann ein Autounfall, gebrochene Knochen, jede Menge Dope im Krankenhaus. Er war rausgekommen, wie es in einem Song von John Prine hieß, »with a steel plate in his head and a monkey on his back« – »mit einer Stahlplatte im Schädel und einem Affen auf dem Rücken«. Er stieg von Demerol auf Heroin um. Wurde ein paarmal hopps genommen. Nach einer Weile war er einer von vielen namenlosen Junkies mit zittrigen Fingern, der am GreyhoundBusbahnhof um Kleingeld bettelte und auf dem Strich rumhing. Dann war er irgendwie über einen Zeitraum von achtzehn Monaten hinweg clean geworden und clean geblieben. Aber er war nicht mehr derselbe. Er war nicht mehr die treibende Kraft einer Gruppe, ob erfolgversprechendste des Jahres oder sonstwas, aber er kam immer noch pünktlich, versäumte keine Probe und versaute keine Aufnahme. Er redete nicht viel, aber der Highway der Nadeleinstiche am linken Arm war verschwunden. Und Barry Grieg hatte gesagt: Er ist auf der anderen Seite rausgekommen.Mehr nicht. Niemand kann sagen, was sich zwischen der Person, die man war, und der Person, die man wird, abspielt. Niemand kann diese deprimierende, einsame Sektion der Hölle kartographieren. Es gibt keine Karten der Veränderung. Man kommt... eben einfach auf der anderen Seite raus.

Oder auch nicht.

Ich habe mich irgendwie verändert, dachte Larry dumpf. Ich bin auch auf der anderen Seite rausgekommen.

Sie sagte: »Ich bin Nadine Cross. Das ist Joe, Freut mich, Sie kennenzulernen. «

»Larry Underwood.«

Sie gaben sich die Hand und mußten beide wegen der absurden Situation lächeln.

»Gehen wir zur Straße zurück«, sagte Nadine.

Sie gingen nebeneinander, und nach ein paar Schritten sah Larry über die Schulter zu Joe, der immer noch über die Knie gebeugt saß, am Daumen lutschte und offenbar gar nicht mitbekommen hatte, dass sie gegangen waren.

»Er wird schon kommen«, sagte sie leise.

»Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

Als sie die Schotterböschung des Highway erreicht hatten, stolperte sie, und Larry nahm ihren Arm. Sie sah ihn dankbar an.

»Können wir uns setzen?« fragte sie.

Sie setzten sich einander gegenüber auf das Pflaster. Nach einer Weile stand Joe auf und trottete mit gesenktem Kopf zu ihnen herüber. Er setzte sich ein Stück von ihnen entfernt hin. Larry sah ihn mißtrauisch an, dann Nadine Cross.

»Sie beide sind mir gefolgt.«

»Das haben Sie gewußt? Ja. Dachte ich mir.«

»Wie lange?«

»Zwei Tage«, sagte Nadine. »Wir waren in dem großen Haus in Epsom.« Als sie seinen verwirrten Blick sah, fügte sie hinzu: »Am Bach. Sie sind an der Steinmauer eingeschlafen.«

Er nickte. »Und gestern nacht sind Sie beide gekommen und haben mich beobachtet, als ich auf der Veranda geschlafen habe. Vielleicht um zu sehen, ob ich Hörner oder einen langen roten Schwanz habe.«

»Das war Joe«, sagte sie leise. »Als ich sah, daß er weg war, bin ich ihm nachgelaufen. Woher wußten Sie das?«

»Sie haben Spuren im Tau hinterlassen.«

»Oh.« Sie sah ihn prüfend an, musterte ihn, und Larry hätte gern die Augen niedergeschlagen, tat es aber nicht. »Ich möchte nicht, dass Sie wütend auf uns sind. Das klingt wahrscheinlich ein bißchen lächerlich, nachdem Joe gerade versucht hat, Sie umzubringen, aber dafür ist Joe nicht verantwortlich.«

»Ist das sein richtiger Name?«

»Nein, ich nenne ihn nur so.«

»Er ist wie ein Wilder in einer Fernsehsendung von National Geographie.«

»Ja, genau. Ich habe ihn vor einem Haus auf dem Rasen gefunden. Vielleicht war es sein Elternhaus. An der Tür stand >Rockway<. Joe war krank.

Er war gebissen worden. Wahrscheinlich von einer Ratte. Er spricht nicht. Er knurrt und grunzt nur. Bis heute morgen hatte ich ihn unter Kontrolle. Aber ich... ich bin müde, wissen Sie... und...« Sie zuckte die Achseln. Der Schlamm trocknete in Mustern auf ihrer Bluse, die wie chinesische Schriftzeichen aussahen. »Ich mußte ihn erst anziehen. Er hat alles wieder ausgezogen, bis auf die Unterhose. Zuletzt hatte ich keine Lust mehr. Ich bin Lehrerin, keine Missionarin. Die Mücken und Moskitos scheinen ihn nicht zu stören.« Sie machte eine Pause. »Ich will, daß Sie uns mitnehmen. Was das betrifft, muss man in dieser Situation wohl nicht schüchtern sein.«

Larry fragte sich, was sie wohl denken würde, wenn er ihr von der letzten Frau erzählte, die mit ihm kommen wollte. Das würde er natürlich nie tun; diese Episode war tief begraben, auch wenn die betreffende Frau es nicht war. Er wollte Ritas Namen ebensowenig ins Spiel bringen, wie ein Mörder den Namen seines Opfers auf einer Party erwähnen würde.

»Ich weiß nicht, wohin ich gehe«, sagte er. »Ich bin von New York City gekommen, wahrscheinlich über einen ziemlichen Umweg. Ich wollte mir ein schönes Haus an der Küste suchen und dort bis Oktober oder so bleiben. Aber je länger ich unterwegs bin, um so mehr sehne ich mich nach anderen Menschen. Je länger ich unterwegs bin, um so schlimmer trifft mich das alles.«

Er drückte sich ungeschickt aus und konnte es wohl auch nicht besser, ohne Rita oder seine schlimmen Träume von dem dunklen Mann zu erwähnen.

»Ich hatte oft schreckliche Angst«, sagte er vorsichtig. »Weil ich allein bin. Ziemlich verrückt. Als hätte ich erwartet, daß Indianer mich überfallen und skalpieren.«

»Mit anderen Worten, Sie suchen jetzt keine Häuser mehr, sondern Menschen.«

»Ja, vielleicht.«

»Sie haben uns gefunden. Ist doch schon was.«

»Ich glaube, Sie haben mich gefunden. Und dieser Junge macht mir Sorgen, Nadine. Das muß ich ehrlich sagen. Sein Messer ist weg, aber die Welt wimmelt von Messern, man muß sie nur aufsammeln.«

»Ja.«

»Ich will mich nicht brutal ausdrücken, aber...« Er verstummte und hoffte, sie würde es selbst sagen, aber sie sagte gar nichts, sah ihn nur mit ihren dunklen Augen an.

»Wären Sie bereit, ihn zurückzulassen?« Jetzt war es heraus, ausgespuckt wie ein Stein, und er hörte sich immer noch nicht wie ein netter Kerl an... aber war es richtig, eine schlimme Situation noch schlimmer zu machen, indem man sich mit einem zehnjährigen Psychopathen belastete? Er hatte ihr gesagt, daß er brutal sein würde, und das war er wohl auch gewesen. Aber sie lebten jetzt in einer brutalen Welt.

Derweil bohrte sich der Blick von Joes meerwasserblauen Augen in ihn.

»Das könnte ich nicht«, sagte Nadine ruhig. »Ich sehe die Gefahr, und ich weiß, daß in erster Linie Sie gefährdet sind. Er ist eifersüchtig. Er hat Angst, daß Sie wichtiger für mich werden könnten als er. Es könnte sein, daß er... daß er es noch einmal versucht, es sei denn, Sie können mit ihm Freundschaft schließen oder ihn wenigstens davon überzeugen, daß Sie nicht die Absicht haben...«

Sie verstummte und ließ offen, was sie hatte sagen wollen. »Aber wenn ich ihn zurückließe, wäre das gleichbedeutend mit Mord. Damit will ich nichts zu tun haben. So viele sind gestorben, daß man keinen mehr töten sollte.«

»Wenn er mir mitten in der Nacht die Kehle durchschneidet, damit haben Sie dann etwas zu tun.«

Sie senkte den Kopf.

So leise, daß hoffentlich nur sie ihn hören konnte – er wußte nicht, ob Joe, der sie beobachtete, ihre Unterhaltung verstand oder nicht-, sagte Larry: »Er hätte es wahrscheinlich schon gestern nacht getan, wenn Sie ihm nicht gefolgt wären. Oder nicht?«

Sie antwortete leise: »Könnte sein.«

Larry lachte. »Der Geist der zukünftigen Weihnacht?«

Sie sah auf. »Ich will mit Ihnen gehen, Larry, aber ich kann Joe nicht zurücklassen. Das müssen Sie entscheiden.«

»Sie machen es mir nicht leicht.«

»Heutzutage ist das ganze Leben nicht mehr leicht.«

Er dachte darüber nach. Joe saß auf der weichen Böschung an der Straße und sah aus seinen Meerwasseraugen zu ihnen herüber. Hinter ihnen schlugen die Wellen des Ozeans unaufhörlich gegen die Felsen und dröhnten in den geheimen Tunneln, wo sie das Land ausgehöhlt hatten.

»Na gut«, sagte er. »Ich finde, Sie sind gefährlich weichherzig, aber... na gut.«

»Danke«, sagte Nadine. »Ich übernehme die Verantwortung für alles, was er tut.«

»Ein schöner Trost, wenn er mich aufgeschlitzt hat.«

»Das würde mir bis an mein Lebensende auf der Seele liegen«, sagte Nadine, und eine plötzliche Gewißheit, daß sich alle ihre Worte über die Unverletzlichkeit des Lebens eines nicht zu fernen Tages erheben und sie verspotten würden, durchfuhr sie wie ein kalter Wind, so daß sie erschauerte. Nein, sagte sie sich. Ich werde nicht töten. Das nicht. Niemals.



Sie verbrachten die Nacht im weichen weißen Sand des öffentlichen Strandes von Wells. Larry entfachte ein großes Lagerfeuer oberhalb des Tangstreifens, der den letzten Hochwasserstand markierte, und Joe saß abseits von ihm und Nadine und warf hin und wieder kleine Äste in die Flammen. Ab und zu hielt er einen größeren Ast ins Feuer, bis dieser wie eine Fackel brannte; dann lief er damit am Strand entlang und hielt ihn hoch wie eine riesige brennende Geburtstagskerze. Sie beobachteten ihn, bis er aus dem dreißig Schritte messenden Lichtkreis des Feuers verschwunden war, sahen dann nur noch die Fackel, deren Flamme bei Joes schnellem Lauf nach hinten geweht wurde. Der Wind war stärker geworden, es war so frisch wie seit Tagen nicht mehr. Larry erinnerte sich vage an den Regenguß an dem Nachmittag, als er seine sterbende Mutter gefunden hatte, bevor die Super-Grippe wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug über New York hinweggerast war. Erinnerte sich an das Gewitter und die weißen Vorhänge, die wild in die Wohnung geweht worden waren. Er zitterte ein wenig, und der Wind ließ eine Flammenspirale aus dem Feuer zum schwarzen Sternenhimmel emportanzen. Fünkchen stoben noch höher und erloschen. Er dachte an den Herbst, der immer noch in weiter Ferne lag, aber nicht mehr so weit wie an dem Tag im Juni, als er seine Mutter im Delirium auf dem Fußboden gefunden hatte. Im Norden, weit entfernt am Strand, hüpfte Joes Fackel auf und ab. Er fühlte sich einsam und noch kälter – und nur wegen diesem einen Licht, das in der gewaltigen, stummen Dunkelheit flackerte. Die Brandung rollte und dröhnte.

»Spielen Sie?«

Er zuckte zusammen, als er ihre Stimme hörte, und betrachtete den Gitarrenkasten, der neben ihnen im Sand lag. Er hatte im Musikzimmer des großen Hauses, in das sie eingebrochen waren, um ihre Vorräte zu ergänzen, an einem Steinway-Flügel gelehnt. Larry hatte so viele Dosen in den Rucksack gepackt, wie sie brauchten, um die heute verzehrten Vorräte zu ergänzen, und die Gitarre ganz impulsiv mitgenommen, ohne in den Kasten zu sehen, um was für ein Modell es sich handelte – wenn sie aus so einem Herrenhaus stammte, mußte sie einfach gut sein. Er hatte seit dieser irren Party in Malibu nicht mehr gespielt, und das war vor sechs Wochen gewesen. In einem anderen Leben.

»Ja, ich kann spielen«, sagte er und stellte fest, daß er spielen wollte, nicht für sie, sondern weil es manchmal gut tat zu spielen; es entspannte. Und wenn man ein Feuer am Strand hatte, mußte einfach jemand Gitarre spielen. Das war eine praktisch in Stein gemeißelte Weisheit.

»Mal sehen, was wir da haben«, sagte er und ließ die Laschen des Gitarrenkastens aufklappen.

Er hatte ein teures Instrument erwartet, aber was er in dem Kasten fand, war dennoch eine freudige Überraschung. Es war eine zwölfsaitige Gibson, ein wunderschönes Instrument, vielleicht sogar handgefertigt. Larry war nicht Fachmann genug, das zu beurteilen. Er wußte aber, daß die Intarsien am Griffbrett aus echtem Perlmutt waren – das orangerote Leuchten des Feuers spiegelte sich darin und machte sie zu Prismen des Lichts.

»Sie ist wunderschön«, sagte Nadine.

Er schlug die Saiten an, und der Klang gefiel ihm, obwohl die Gitarre offen und obendrein nicht richtig gestimmt war. Der Klang war voller als der einer sechssaitigen. Ein harmonischer Klang, aber hart. Das war das Gute an einer Gitarre mit Stahlsaiten, der schöne harte Klang. Und die Saiten waren Black Diamonds, abgegriffen und leicht verzogen, aber man bekam einen schönen, ehrlichen Preis für sein Spiel; das Instrument klang nur ein wenig rauh, wenn man Akkorde wechselte – zing! Er lächelte ein wenig, als er an Barry Grieg dachte, der die glatten, flachen Stahlsaiten so verachtet hatte.

»Dollardrähte«, hatte er sie immer genannt. Der gute alte Barry, der Steve Miller sein wollte, wenn er groß war.

»Weshalb lächeln Sie?« fragte Nadine.

»Wegen der alten Zeiten«, sagte er, und ein wenig Trauer stieg in ihm auf.

Er stimmte nach Gehör, genau richtig, und dachte immer noch an Barry und Johnny McCall und Wayne Stukey. Als er zum Ende kam, tippte sie ihn leicht auf die Schulter, und er sah auf. Joe stand neben dem Feuer und hielt den abgebrannten Ast weltvergessen in der Hand. Er stand mit offenem Mund da und blickte Larry mit unverhohlener Faszination in den seltsamen Augen an.

Sehr leise, so leise, daß es ein Gedanke in seinem Kopf hätte sein können, sagte Nadine: »Musik hat einen Zauber...«

Larry schlug eine einfache Melodie auf der Gitarre an, einen alten Blues, den er als Teenager aus einem Elektra-Folk-Album nachgespielt hatte. Ursprünglich von Koerner Ray und Glover, dachte er. Als er glaubte, daß er die Melodie im Griff hatte, ließ er sie über den Strand klingen, und dann sang er... sein Gesang war schon immer besser als sein Spiel gewesen.

»Well you see me comin baby from a long ways away 

I will turn the night mamma right into day 

Cause l'm here 

A long ways from my home 

But you can hear me comin baby 

By the slappin on my black cat bone.«


Der Junge grinste jetzt, grinste so erstaunt wie jemand, der ein kostbares Geheimnis entdeckt hat. Er sah aus wie einer, der lange, lange Zeit an einem Jucken zwischen den Schulterblättern litt, wo er nicht hinkam, fand Larry, und endlich jemanden gefunden hatte, der ganz genau wußte, wo er kratzen mußte. Er kramte in den lange brach gelegenen Archiven seines Verstandes nach einer zweiten Strophe und fand eine.

»I can do some things mamma that other men can't do 

They can't find the numbers baby, can't work the conqueror root 

But I can, cause l'm a long ways from my home 

And you know you'll hear me comin 

By the whacking on my black cat bone.«




Das offene, entzückte Grinsen des Jungen ließ seine Augen aufleuchten und verwandelte sie in etwas, dachte Larry, das höchstwahrscheinlich die Schenkelmuskeln eines jeden jungen Mädchens etwas entkrampfen würde. Er suchte nach einer instrumentalen Überleitung und bewerkstelligte sie gar nicht so schlecht. Seine Finger entlockten der Gitarre die richtigen Töne: hart, knapp, ein klein wenig kitschig, wie gestohlener Modeschmuck, der an einer Straßenecke aus einer Papiertüte verkauft wurde. Er prahlte ein wenig damit, wechselte aber hastig zu einem guten alten E mit drei Fingern über, ehe er die Melodie völlig versaute. An die letzte Strophe, etwas über Eisenbahnschienen, konnte er sich nicht mehr erinnern, daher wiederholte er die erste und hörte dann auf. Als Stille eingetreten war, lachte Nadine und klatschte in die Hände. Joe warf den Ast weg, hüpfte im Sand auf und ab und stiess Freudenschreie aus. Larry konnte die Veränderung des Jungen kaum fassen und ermahnte sich, sie nicht zu ernst zu nehmen. Damit würde er nur eine Enttäuschung riskieren.

Musik hat einen Zauber, der selbst die wilde Bestie zähmen kann.

Er fragte sich voll ungewolltem Mißtrauen, ob es wirklich so einfach sein konnte. Joe gestikulierte, und Nadine sagte: »Er möchte, dass Sie noch etwas spielen. Würden Sie das tun? Es war wunderschön. Ich fühle mich schon besser. Viel besser.«

Er spielte Geoff Maladurs »Goin Downtown« und seinen eigenen »Sally's Fresno Blues«; er spielte »The Springhill Mine Disaster« und Arthur Crudups »That's All Right, Mamma«. Dann ging er zu einfachen Rock'-n'-Roll-Rhythmen über-»Milk Cow Blues«, »Jim Dandy«, »Twenty Flight Rock« (hier spielte er den Boogie-WoogieRhythmus des Refrains so gut er konnte, obwohl seine Finger mittlerweile langsam und taub wurden und schmerzten), und als Abschluß einen Song, der ihm immer gut gefallen hatte, »Endless Sleep« von Jody Reynolds.

»Ich kann nicht mehr spielen«, sagte er zu Joe, der während der ganzen Darbietung reglos dagestanden hatte. »Meine Finger.« Er streckte sie aus und zeigte die tiefen Rillen, die die Saiten in seine Finger gedrückt hatten, und die abgebrochenen Nägel. Der Junge streckte ebenfalls die Hände aus.

Larry überlegte einen Augenblick und zuckte innerlich die Achseln. Er gab dem Jungen die Gitarre, Hals voraus. »Man braucht viel Übung«, sagte er.

Aber es erfolgte das Erstaunlichste, das er je im Leben gehört hatte. Der Junge spielte »Jim Dandy« fast fehlerlos an, aber er heulte die Worte mehr als er sie sang, als würde ihm die Zunge am Gaumen kleben. Gleichzeitig war völlig klar, daß er noch nie im Leben Gitarre gespielt hatte; er drückte die Saiten nicht fest genug, so daß der Klang nicht voll und rein war, und seine Akkordwechsel waren verzerrt und unbeholfen. Der Klang war gedämpft und gespenstisch, als würde Joe auf einer Gitarre spielen, in die man Watte gestopft hatte, aber sonst war es eine perfekte Nachahmung dessen, was Larry gespielt hatte.

Als er fertig war, betrachtete Joe neugierig seine Finger, als versuchte er zu begreifen, warum sie nur die Substanz der Melodie hervorbringen konnten, die Larry gespielt hatte, aber nicht die klaren Töne selbst.

Wie aus weiter Ferne hörte Larry sich benommen sagen: »Du drückst nicht fest genug, das ist alles. Du mußt Hornhaut – harte Schwielen – an den Fingerspitzen bekommen. Und die Muskeln deiner linken Hand müssen kräftiger werden.«

Joe sah ihn aufmerksam an, während er sprach, aber Larry wußte nicht, ob der Junge ihn wirklich verstand. Er wandte sich an Nadine.

»Wußten Sie, daß er das kann?«

»Nein. Ich bin so erstaunt wie Sie. Als wäre er eine Art Wunderkind, nicht wahr?«


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