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The Stand. Das letze Gefecht
  • Текст добавлен: 24 сентября 2016, 05:37

Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы


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»Durchdrehen«, stöhnte er wieder. Die gebrochene Verzweiflung seines trockenen Winseins entsetzte ihn. War es so schlimm geworden? Einst hatte es einen Larry Underwood mit einem bescheidenen Single-Hit gegeben, der Visionen hatte, zum Elton John seiner Zeit zu werden... meine Güte, wie Jerry Garcia darüberlachen würde... und dieser Mann war jetzt in das gebrochene Ding verwandelt worden, das irgendwo im südöstlichen New Hampshire über den schwarzen Asphalt der Route 9 kroch, ja, kroch, crawling kingsnake, das war er. Jener andere Larry Underwood hatte ganz sicher keine Ähnlichkeit mit diesem kriechenden Hosenscheißer... diesem...

Er versuchte aufzustehen, konnte es aber nicht.

»Mann, ist das 'ne lächerliche Scheiße«, sagte er halb lachend und halb weinend.

Auf einem Hügel auf der anderen Straßenseite, zweihundert Meter entfernt, lag ein großes weißes Farmhaus im Neuengland-Stil, einer wunderschönen Fata Morgana gleich. Es hatte grüne Läden, grüne Verzierungen und ein grünes Schindeldach. Davor befand sich ein grüner Rasen, der so allmählich ungepflegt auszusehen anfing. Am Ende des Rasens verlief ein kleiner Wassergraben; er konnte ihn gurgeln und blubbern hören, ein bezaubernder Laut. Daneben verlief mäanderförmig eine Steinmauer, die wahrscheinlich die Grundstücksgrenze markierte; in Abständen lehnten sich große, schattenspendende Ulmen über diese Mauer. Er würde seinen weltberühmten Crawling-Hosenscheißer-Jive dort hinüber machen und eine Weile im Schatten sitzen, ja, das würde er. Und wenn es ihm etwas besser ging... ganz allgemein... würde er aufstehen, zum Bach gehen, trinken und sich waschen. Wahrscheinlich stank er. Aber wen störte das? Wer konnte ihn riechen, wo Rita doch tot war? Lag sie immer noch dort oben im Zelt? fragte er sich zaghaft. Schwoll an? Beute für die Fliegen? Sah immer mehr wie die schwarzverfaulte Süßigkeit in der öffentlichen Toilette an der Transverse Number One aus? Himmel, Arsch, wo sollte sie denn sonst sein? In Palm Springs, mit Bob Hope Golf spielen?

»Was für ein Scheißdreck«, flüsterte er und kroch über die Straße. Er war sicher, wenn er erst einmal im Schatten war, würde er auch aufstehen können, aber die Anstrengung schien zu groß zu sein. Immerhin brachte er noch genügend Energie auf, um argwöhnisch in die Richtung zu sehen, aus der er gekommen war, ob sein Motorrad nicht auf ihn zugerast kam.

Im Schatten war es mindestens fünfzehn Grad kühler, und Larry stieß den Atem als langen Stoßseufzer der Freude und Erleichterung aus. Er griff sich mit der Hand in den Nacken, auf den die Sonne fast den ganzen Tag niedergebrannt hatte, und zog sie mit einem leisen Zischen des Schmerzes wieder weg. Sonnenbrand? Nehmen Sie Xylocaine. Und den ganzen anderen Pißkram. Holt die Kerle aus der heißen Sonne. Burn, baby, burn. Watts. Wißt ihr noch, Watts? Eins, zwei, drei, wieder mal wie einst im Mai. Die ganze Menschheit hatte sich verpißt. Kein Wunder, bei dieser Hitze.

»Mann, bist du krank?« sagte er, stützte die Hand an die rauhe Rinde der Ulme und schloß die Augen. Sonnengesprenkelte Schatten riefen bewegliche Muster in Rot und Schwarz auf den Innenseiten seiner Lider hervor. Das Geräusch des blubbernden, gurgelnden Wassers war lieblich und einlullend. Noch eine Minute, dann würde er dort runtergehen, trinken und sich waschen. Nur noch eine Minute.

Er döste ein.

Die Minuten zogen dahin, und aus dem Dösen wurde der erste tiefe und traumlose Schlaf seit Tagen. Er hatte die Hände schlaff im Schoß liegen. Seine dünne Brust hob und senkte sich, durch den Bart sah sein Gesicht noch hagerer aus, das bekümmerte Gesicht eines einsamen Flüchtlings, der einem gräßlichen Gemetzel entkommen war, jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Nach und nach wurden die tiefen Furchen in seinem Gesicht weicher. Er sank in weiten Spiralen zu den tiefsten Ebenen der Bewußtlosigkeit hinab und ruhte dort aus wie ein kleines Flußlebewesen, das im kühlen Schlamm den Sommer überdauert. Die Sonne sank tiefer am Himmel.

In der Nähe des Bachrands raschelte es in einem ausladenden Gebüsch – etwas bewegte sich verstohlen in den Zweigen, hielt inne, bewegte sich wieder. Nach einer Weile kam ein Junge heraus. Er war vielleicht dreizehn, vielleicht auch zehn und groß für sein Alter. Abgesehen von Fruit-of-the-Loom-Shorts war er nackt. Sein Körper war gleichmäßig mahagonifarben braungebrannt, abgesehen von einem verblüffend weißen Streifen gleich über dem Saum der Shorts. Seine Haut war von Moskitostichen und Insektenbissen verunziert, manche frisch, die meisten alt. Er hielt ein Schlachtermesser in der rechten Hand. Die Klinge war dreißig Zentimeter lang, die Schneide gezackt. Sie funkelte grell in der Sonne.

Leise, in den Hüften leicht nach vorne gebeugt, näherte er sich der Ulme und der Mauer, bis er direkt hinter Larry stand. Seine Augen waren blaugrün, die Farbe von Meerwasser, und in den Augenwinkeln leicht hochgezogen, was seinem Gesicht einen chinesischen Einschlag gab. In den ausdruckslosen Augen lag eine verhaltene Wildheit. Er hob das Messer.

Eine leise, aber bestimmte Frauenstimme sagte: »Nein.«

Er drehte sich zu ihr um und lauschte mit gesenktem Kopf und immer noch erhobenem Messer. Seine Haltung war fragend und enttäuscht zugleich.

»Wir beobachten nur und warten ab«, sagte die Frauenstimme. Der Junge machte eine Pause, sah vom Messer zu Larry und dann wieder zum Messer; auf seinem Gesicht lag ein seltsam sehnsüchtiger Ausdruck; dann wich er den Weg zurück, den er gekommen war.

Larry schlief weiter.



Als er aufwachte, stellte Larry als erstes fest, daß er sich gut fühlte. Als zweites, daß er Hunger hatte. Als drittes, daß die Sonne am falschen Ort stand; sie schien am Himmel rückwärts gewandert zu sein. Als viertes, daß er – bitte verzeihen Sie die Ausdrucksweise – pissen mußte wie ein Brauereipferd.

Als er aufstand und beim Strecken das Knacken seiner Sehnen hörte, wurde ihm plötzlich klar, daß er nicht nur gedöst hatte; er hatte die ganze Nacht geschlafen. Er blickte auf die Uhr und sah, warum die Sonne falsch stand. Es war 9 Uhr 20 am Vormittag. Hunger. In dem großen weißen Haus mußte es Lebensmittel geben. Dosensuppe, vielleicht Corned Beef. Sein Magen knurrte. Bevor er dorthin ging, legte er die Kleidung ab, kniete am Bach nieder und spritzte sich Wasser über den Körper. Er stellte fest, wie mager er geworden war – so ging das nicht weiter. Er stand auf, trocknete sich mit seinem Hemd ab und zog die Hose wieder an. Ein paar Steine streckten die nassen, schwarzen Rücken aus dem Bach heraus, auf ihnen ging er zur anderen Uferseite. Dort blieb er plötzlich starr stehen und blickte zu dem dichten Gebüsch hinüber. Die Angst, die seit dem Aufwachen in ihm geschlummert hatte, flammte plötzlich auf wie ein Feuer explodierender Tannenzapfen und erlosch genau so schnell wieder. Es mußte ein Eichhörnchen oder Waldmurmeltier gewesen sein, vielleicht auch ein Fuchs. Kein Grund zur Panik. Er wandte sich beruhigt wieder ab und ging über den Rasen zu dem großen weißen Haus hinauf.

Auf halbem Wege stieg ein Gedanke wie ein Luftbläschen zur Oberfläche seines Verstandes und zerplatzte. Es geschah ganz nebenbei, ohne Fanfarenstoß, aber er blieb dennoch vor Verblüffung wie angewurzelt stehen.

Der Gedanke war: Warum bist du nicht mit einem Rad gefahren?

Er stand auf halbem Weg zwischen Haus und Bach mitten auf dem Rasen, und es war so einfach, daß er es kaum fassen konnte. Er war zu Fuß gegangen, seit er die Harley stehengelassen hatte, hatte sich verausgabt und war zum Schluß mit einem Hitzschlag zusammengebrochen, oder mit etwas Ähnlichem; es spielte jetzt keine Rolle mehr. Er hätte radeln können, nicht schneller als im Schrittempo, wenn er wollte, und könnte schon lange an der Küste sein und sich ein Sommerhaus aussuchen und einrichten. Er fing an zu lachen, zuerst leise, weil es gespenstisch in der unendlichen Stille klang. Zu lachen, ohne daß jemand da war, der mitlachen konnte, war ein weiteres Zeichen dafür, daß man ohne Rückfahrkarte auf dem Weg in das legendäre Land Plemplem war. Aber das Lachen klang so natürlich und herzlich, so gottverdammt gesundund so sehr nach dem alten Larry Underwood, daß er es einfach herausließ. Er stemmte die Hände in die Hüften, legte den Kopf himmelwärts zurück und brüllte vor Lachen über seine eigene unfaßbare Dummheit.

Hinter ihm, wo die Büsche am dichtesten standen, beobachteten blaugrüne Augen das alles, und sie beobachteten auch noch, wie Larry, immer noch lachend und kopfschüttelnd, die letzten Schritte zum Haus zurücklegte. Sie beobachteten, wie er auf die Veranda stieg und durch die Vordertür eintrat, die offen war. Sie beobachteten, wie er hineinging. Dann bewegten sich die Büsche und machten das raschelnde Geräusch, das Larry gehört, aber weiter nicht beachtet hatte. Der Junge zwängte sich heraus, immer noch nackt bis auf die Shorts, und schwang das Schlachtermesser. Eine andere Hand kam aus dem Gebüsch und streichelte seine Schulter. Der Junge blieb sofort stehen. Die Frau kam heraus – sie war groß und eindrucksvoll und geschmeidig; sie schien die Büsche kaum zu bewegen. Sie hatte dichtes schwarzes Haar mit Strähnen von reinstem Weiß; attraktives, aufregendes Haar. Es war zu einem Zopf geflochten, der ihr nach vorn über eine Schulter hing und erst dünner wurde, als er die Wölbung der Brust erreichte. Wenn man die Frau sah, fiel einem zuerst ihre Größe auf, dann richtete man den Blick auf das Haar und mochte glauben, seine rauhe und doch ölige Glätte mit den Augen fühlen zu können. Und wenn man ein Mann war, überlegte man vielleicht, wie ihr Haar wohl offen aussehen würde, befreit im Mondschein über ein Kissen ausgebreitet. Man fragte sich, wie sie im Bett sein würde. Aber sie hatte nie einen Mann in sich empfangen. Sie war rein. Sie wartete. Sie hatte Träume gehabt. Einmal, auf dem College, hatte sie das Ouija-Brett befragt. Und sie fragte sich nun wieder, ob es dieser Mann sein könnte.

»Warte«, sagte sie zu dem Jungen.

Er drehte sein verzweifeltes Gesicht zu dem ihren, ruhigen herum. Sie wußte, woran er dachte.

»Dem Haus wird nichts geschehen. Warum sollte er dem Haus etwas tun, Joe?«

Er wandte sich ab und blickte sehnsüchtig und besorgt zum Haus hinüber.

»Wenn er geht, folgen wir ihm.«

Er schüttelte heftig den Kopf.

»Doch; das müssen wir. Ich muß es.« Ja, sie verspürte das heftige Verlangen. Er war vielleicht nicht der Mann, aber selbst wenn er es nicht war – er war ein Glied in der Kette, der sie nun schon jahrelang folgte und die sich jetzt ihrem Ende näherte.

Joe – das war nicht sein richtiger Name – hob wütend das Messer, als wollte er die Klinge in ihren Körper bohren. Sie machte keine Anstalten, sich zu wehren oder zu fliehen, und der Junge ließ es langsam wieder sinken. Er drehte sich zum Haus um und stieß das Messer ein paarmal in diese Richtung.

»Nein, das wirst du nicht tun«, sagte sie. »Weil er ein menschliches Wesen ist, und er führt uns zu...« Sie verstummte. Anderen menschlichen Wesen, hatte sie sagen wollen. Er ist ein menschliches Wesen, und er führt uns zu anderen menschlichen Wesen. Aber sie war nicht sicher, ob sie das gemeint hatte, und selbst wenn, ob sie nur das gemeint hatte. Sie fühlte sich bereits hin und her gerissen und wünschte sich, sie hätte Larry nie gesehen. Sie versuchte wieder, den Jungen zu streicheln, aber er riß sich wütend los. Er sah zu dem großen weißen Haus, und seine Augen glühten vor Eifersucht. Nach einer Weile glitt er in das Gebüsch zurück und sah sie vorwurfsvoll an. Sie folgte ihm, um nach ihm zu sehen. Er legte sich hin, rollte sich in Embryonalhaltung zusammen und hielt das Messer vor der Brust. Er steckte den Daumen in den Mund und machte die Augen zu.

Nadine ging an die Stelle, wo der Bach einen kleinen See bildete, und kniete sich hin. Sie trank aus hohlen Händen, dann setzte sie sich ins Gras, um das Haus zu beobachten. Ihre Augen waren ruhig, ihr Gesicht sah fast aus wie das einer Madonna von Raphael.



Am Spätnachmittag, als Larry die Route 9 entlangfuhr – über eine Allee -, sah er plötzlich en großes, reflektierendes grünes Schild vor sich und hielt erstaunt an, um die Aufschrift zu lesen. Die besagte, daß hier das Ferienland Maine begann. Er konnte es kaum glauben; er mußte in seiner Verwirrung und Angst eine unglaubliche Strecke zurückgelegt haben. Oder ihm waren ein paar Tage abhanden gekommen. Er wollte gerade weiterfahren, als etwas – ein Geräusch in den Büschen oder vielleicht auch nur in seinem Kopf – ihn veranlaßte, sich umzudrehen. Da war nichts, nur die Route 9, die verlassen zurück nach New Hampshire führte.

Seit seinem Besuch in dem großen weißen Haus, wo er zum Frühstück Cornflakes und schon etwas schale Ritz Cracker mit Käsekrem aus der Sprühdose gegessen hatte, war er das Gefühl nicht losgeworden, daß er beobachtet und verfolgt würde. Er hörte etwas, sah vielleicht sogar etwas aus den Augenwinkeln. Seine Beobachtungsgabe, die in dieser seltsamen Situation erst langsam zu vollem Leben erwachte, sprach schon auf optische oder akustische Reize an, die so unmerklich waren, daß man sie fast schon unterbewußt nennen konnte, und bestürmte seine Nervenenden mit solch winzigen Stimuli, daß er selbst bei gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit nur eine vage Ahnung hatte, ein Gefühl des »Beobachtet-Seins«. Dieses Gefühl machte ihm aber keine Angst wie die anderen. Es hatte nichts mit Halluzinationen oder einem Delirium gemein. Wenn ihn jemand beobachtete und sich nicht zeigte, dann wahrscheinlich nur deshalb, weil dieser Jemand Angst vor ihm hatte. Und wenn er Angst vor dem armen alten und abgemagerten Larry Underwood hatte, der inzwischen zu feige war, mit einem Motorrad schneller als fünfundzwanzig Meilen pro Stunde zu fahren, brauchte Larry sich höchstwahrscheinlich wegen dieses Jemands keine Sorgen zu machen.

Jetzt stand er breitbeinig über dem Rad, das er vier Meilen östlich von dem großen weißen Haus aus einem Sportgeschäft geholt hatte, und rief deutlich: »Kommt doch raus, wenn jemand da ist! Ich tu' euch nichts.«

Keine Antwort. Er stand auf der Straße vor dem Schild, das die Grenze markierte, beobachtete und wartete. Ein Vogel zwitscherte und flog dann über den Himmel. Sonst bewegte sich nichts. Nach einer Weile fuhr er weiter.



Um sechs Uhr an diesem Abend erreichte er am Schnittpunkt von Route 9 und 4 die kleine Stadt North Berwick. Er beschloß, hier zu rasten und am nächsten Morgen zur Küste zu fahren. An der Kreuzung von 9 und 4 in North Berwick befand sich ein kleiner Laden. Dort holte er einen Sechserpack Bier aus der toten Kühltruhe. Black Label, eine Marke, die er noch nie probiert hatte – wahrscheinlich ein hiesiges Bier. Außerdem nahm er eine große Tüte Salz-und-Essig-Kartoffelchips von Humpty Dumpty und zwei Dosen Dinty Moore Beef Stew mit. Das alles verstaute er im Rucksack und ging zur Tür hinaus.

Auf der anderen Straßenseite war ein Restaurant, und dann hatte er für einen Augenblick den Eindruck, zwei Schatten gesehen zu haben, die dahinter verschwanden. Vielleicht hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt, aber das glaubte er nicht. Er überlegte, ob er über den Highway laufen und versuchen sollte, die beiden aus ihrem Versteck zu scheuchen: Hopp-hopp, Kinder, Schluß jetzt, das Spiel ist vorbei. Er entschied sich dagegen. Er wußte, was Angst ist. Statt dessen schritt er ein Stück den Highway entlang und schob das Rad, an dessen Lenkstange der gefüllte Rucksack baumelte. Er sah ein großes Schulgebäude aus rotem Backstein, dahinter eine Baumgruppe. In diesem Hain sammelte er soviel Holz, daß er ein anständiges Feuer machen konnte, und entfachte es auf dem asphaltierten Spielplatz der Schule. In der Nähe war ein Bach, der an einer Textilfabrik vorbei und unter dem Highway hindurch floß. Dort kühlte er sein Bier und machte über dem Feuer eine Dose Rindfleisch warm. Er aß es aus seinem Pfadfindereßgeschirr und saß dabei auf einer Schaukel des Spielplatzes, schwang langsam hin und her, und sein Schatten fiel lang über die verblaßten Linien des Basketballfelds.

Er überlegte sich, warum er so wenig Angst vor den Menschen hatte, die ihm folgten – denn mittlerweile war er sicher, daß ihm welche folgten; mindestens zwei, möglicherweise mehr. In diesem Zusammenhang dachte er auch darüber nach, warum er sich den ganzen Tag über so ausgezeichnet gefühlt hatte, als wäre während des langen Schlafs am gestrigen Nachmittag ein schwarzes Gift aus seinem Körper ausgeschieden worden. Hatte er einfach nur Ruhe gebraucht? Nichts weiter? Es schien zu einfach.

Wenn man es logisch betrachtete, sagte er sich, hätten seine Verfolger ihm schon längst ein Leid zugefügt, wäre das ihre Absicht gewesen. Sie hätten aus einem Hinterhalt auf ihn geschossen oder ihn zumindest gewaltsam gezwungen, seine Waffen abzulegen. Sie hätten sich nehmen können, was sie wollten ... aber wieder logisch gedacht (es war so gut, wieder logisch zu denken, denn in den vergangenen Tagen war sein ganzes Denken in einem ätzenden Säurebad des Entsetzens geformt worden), was konnte er schon mit sich führen, das jemand besitzen mochte? Was weltliche Güter anbelangte, gab es sie jetzt für jeden im Überfluß, weil herzlich wenig Leute übriggeblieben waren. Weshalb sollte sich jemand die Mühe machen, es zu stehlen und zu töten und sein Leben zu riskieren, wenn alles, wovon man je geträumt hatte, während man mit dem Katalog von Sears zwischen den Beinen auf dem Scheißhaus saß, jetzt umsonst hinter jedem Schaufenster in Amerika zur Verfügung stand? Nur die Scheibe einschlagen, reingehen und es sich nehmen.

Das heißt, alles, ausgenommen die Gesellschaft von Artgenossen. Dieses Gut war knapp, wie Larry selbst nur zu genau wußte. Und an eben diesem Gut war den Leuten gelegen, die ihn beobachteten, klarer Fall. Und das wiederum war der Grund dafür, daß er keine Angst hatte. Logik, süße Logik. Früher oder später würde ihr Wunsch nach Kontakt ihre Angst überwinden. Bis dahin würde er warten. Er wollte sie nicht aufscheuchen wie Rebhühner; das würde alles nur verschlimmern. Vor zwei Tagen wäre er wahrscheinlich selbst aus den Latschen gekippt, wenn er jemanden gesehen hätte. Da war die Angst einfach noch zu groß gewesen. Nun, er konnte warten. Aber, Mann, er wollte wirklich wieder jemanden sehen. Wirklich. Er ging zum Bach zurück und spülte das Eßgeschirr aus. Er fischte den Sechserpack aus dem Wasser und ging wieder zu seiner Schaukel. Er riß den Verschluß der ersten Dose auf und hob sie in Richtung des Restaurants, wo er die Schatten gesehen hatte.

»Auf euer Wohl«, sagte Larry und trank die halbe Dose auf einen Zug leer. Ging runter wie Butter, konnte man echt sagen. Als er den Sechserpack leergetrunken hatte, war sieben Uhr durch, und die Sonne machte sich zum Untergehen bereit. Er kickte die letzten glühenden Kohlen des Feuers auseinander und sammelte seine Sachen zusammen. Dann radelte er halb betrunken und voller Wohlbefinden eine Viertelmeile die Route 9 entlang, bis er ein Haus mit verglaster Veranda gefunden hatte. Er stellte das Rad auf dem Rasen ab, nahm den Schlafsack und öffnete die Verandatür mit einem Schraubenzieher.

Er drehte sich noch einmal in der Hoffung um, ihn oder sie oder mehrere zu sehen – sie folgten ihm noch, das spürte er -, aber die Straße war einsam und verlassen. Er betrat achselzuckend das Haus.

Es war noch früh, und er ging davon aus, daß er eine ganze Weile unruhig wach liegen und auf den Schlaf warten würde, aber offenbar mußte er immer noch Schlaf nachholen. Fünfzehn Minuten nachdem er sich hingelegt hatte, war er entschlummert, atmete langsam und gleichmäßig, das Gewehr in der Nähe seiner rechten Hand.



Nadine war müde. Es schien der längste Tag ihres Lebens zu sein. Sie war überzeugt, daß sie zweimal gesehen worden waren, einmal in der Nähe von Strafford, das zweite Mal an der Grenze von Maine und New Hampshire, als Joe über die Schulter geblickt und gerufen hatte. Ihr selbst war es einerlei, ob sie entdeckt wurden oder nicht. Dieser Mann war nicht verrückt, wie der Mann, der vor zehn Tagen an dem großen weißen Haus vorbeigekommen war. Es war ein Soldat gewesen, der unter der Last von Gewehren und Granaten und Patronengurten und Munition gestöhnt hatte. Und dann hatte er gelacht und geweint und gedroht, jemandem namens Lieutenant Morton die Eier abzuschießen. Lieutenant Morton war nirgends zu sehen gewesen, was wahrscheinlich gut für ihn war, falls er noch lebte. Auch Joe hatte Angst vor dem Soldaten gehabt, und in diesem Fall war vermutlich auch das ganz gut gewesen.

»Joe?«

Sie drehte sich um.

Joe war nicht mehr da.

Sie war müde, war fast schon eingeschlafen. Sie stieß die Decke zurück, stand auf und verzog das Gesicht wegen hundert Wehwehchen. Wie lange war es her, seit sie so viele Stunden auf einem Fahrrad gesessen hatte? Wahrscheinlich hatte sie das noch nie getan. Und dann die permanente, nervenaufreibende Anstrengung, den goldenen Mittelweg zu finden. Wenn sie dem Mann zu nahe kamen, würde er sie sehen, und das würde Joe beunruhigen. Wenn sie zu weit zurückblieben, wechselte er möglicherweise von der Route 9 auf eine andere Straße über, und sie verloren ihn. Das würde sie beunruhigen. Sie war nie auf den Gedanken gekommen, Larry könnte einen Kreis fahren und hinter sie gelangen. Glücklicherweise (jedenfalls für Joe) war auch Larry nie darauf gekommen.

Sie sagte sich immer wieder, Joe würde einsehen, daß sie ihn brauchten... und nicht nur ihn. Sie konnten nicht allein bleiben. Wenn sie allein blieben, würden sie allein sterben. Joe würde sich an die Vorstellung gewöhnen; er hatte sein früheres Leben ebensowenig in einem Vakuum verbracht wie sie.

»Joe«, rief sie nochmals leise.

Er konnte so lautlos sein wie ein Guerilla des Vietkong, der durch das Unterholz schlich, aber in den vergangenen drei Wochen hatten sich ihre Ohren an ihn gewöhnt, und heute abend schien als zusätzlicher Bonus der Mond. Sie hörte leises Kratzen und Klickern von Geröll und wußte, wohin er ging. Sie achtete nicht auf ihre Schmerzen und folgte ihm. Es war Viertel nach zehn. Sie hatten ihr Lager (wenn man zwei Decken im Gras »Lager« nennen wollte) hinter dem North Berwick Grille gegenüber vom Supermarkt aufgeschlagen und die Räder in einem Schuppen hinter dem Restaurant versteckt. Der Mann, dem sie folgten, hatte auf dem Spielplatz der Schule vis-à-visgegessen (»Ich wette, wenn wir zu ihm gehen, wird er uns von seinem Essen abgeben, Joe«, hatte sie taktvoll gesagt. »Es ist heiß... und duftet es nicht herrlich? Ich wette, es schmeckt viel besser als diese Wurst.« Joe hatte die Augen aufgerissen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und mit dem Messer haßerfüllt in Larrys Richtung gefuchtelt); danach war der Mann die Straße entlang bis zu einem Haus mit verglaster Veranda gefahren. Offenbar war er, wie er das Fahrrad lenkte, ein wenig betrunken. Jetzt schlief er auf der Veranda des Hauses, für das er sich entschieden hatte.

Sie ging schneller und zuckte zusammen, wenn sich spitze Steine in ihre Fußsohlen bohrten. Links standen Häuser, und sie ging zu deren Rasen, die jetzt wild wuchsen. Das Gras, das naß von Tau war und angenehm roch, reichte ihr bis zu den Schienbeinen. Sie mußte an eine Zeit denken, als sie mit einem Jungen durch solches Gras gelaufen war, unter einem Vollmond, nicht einem abnehmenden, wie jetzt. Ein heißer, angenehmer Ball der Erregung hatte in ihrem Unterleib geglüht, und sie war sich deutlich bewußt gewesen, daß ihre Brüste, die, voll und erblüht, bei jedem Schritt wippten, etwas Sexuelles waren. Der Mond hatte ihr ein Gefühl vermittelt, als wäre sie trunken, ebenso das Gras, das ihre Beine mit seiner nächtlichen Feuchtigkeit benetzt hatte. Sie hatte gewußt, wenn der Junge sie erwischte, würde sie ihm ihre Jungfräulichkeit schenken. Sie war wie eine Indianerin durch den Mais gelaufen. Hatte er sie erwischt? Was für eine Rolle spielte das jetzt noch? Sie lief schneller und sprang auf einen Betonweg, der wie eine Bahn aus Eis in der Dunkelheit schimmerte.

Und da war Joe; er stand am Rand der verglasten Veranda, wo der Mann schlief. Seine weiße Unterhose war das Hellste in der Dunkelheit; die Haut des Jungen war so dunkel, daß man auf den ersten Blick den Eindruck hatte, als würde die Unterhose allein dastehen und in der Luft schweben oder als hätte H. G. Wells'

Unsichtbarer sie angezogen.

Joe war aus Epsom, das wußte sie, denn dort hatte sie ihn gefunden. Nadine kam aus South Barnstead, eine fünfzehn Meilen nordöstlich von Epsom gelegene Stadt. Sie hatte systematisch nach anderen gesunden Menschen gesucht, aber gezögert, ihr Haus und ihre Heimatstadt zu verlassen. Sie hatte ihr Suchgebiet erweitert, in konzentrischen Kreisen, die immer größer und größer wurden. Sie hatte nur Joe gefunden, der von einem Tier gebissen worden war – Ratte oder Eichhörnchen, der Größe nach -, Fieber hatte und im Delirium war. Er hatte nackt bis auf die Unterhose auf dem Rasen eines Hauses in Epsom gesessen und das Schlachtermesser in der Hand gehabt wie ein alter Steinzeitwilder oder ein sterbender, aber immer noch tückischer Pygmäe. Nadine hatte Erfahrung bei der Behandlung von Infektionen. Sie hatte ihn ins Haus getragen. War es sein Elternhaus? Sie hielt es für wahrscheinlich, konnte aber nicht sicher sein, falls Joe es ihr nicht sagte. In dem Haus waren Tote gewesen, viele Tote – Mutter, Vater, drei andere Kinder, das älteste um die Fünfzehn. Nadine hatte eine Arztpraxis gefunden, wo es Desinfektionsmittel und Antibiotika und Verbandszeug gab. Sie war nicht sicher, welche Antibiotika die richtigen sein würden, und sie wußte, sie konnte ihn umbringen, wenn sie die falsche Wahl traf, aber wenn sie nichts tat, würde er auch sterben. Die Bißwunde war am Knöchel, der zur Größe eines Abwasserrohrs angeschwollen war. Das Glück war ihr hold. Drei Tage später hatte der Knöchel wieder seine normale Größe, und das Fieber war weg. Der Junge vertraute ihr. Sonst offenbar keinem, aber ihr. Sie wachte morgens auf, und er klammerte sich an ihr fest. Sie waren zu dem großen weißen Haus gegangen. Sie nannte ihn Joe. Das war nicht sein richtiger Name, aber als Lehrerin hatte sie jedes Mädchen, dessen Namen sie nicht kannte, Jane und jeden Jungen Joe genannt. Der Soldat war vorbeigekommen, hatte gelacht und geweint und Lieutenant Morton verflucht. Joe wollte hinausstürzen und ihn mit dem Messer umbringen. Und jetzt diesen Mann. Sie fürchtete sich davor, ihm das Messer wegzunehmen, denn es war Joes Talisman. Wenn sie es versuchte, konnte ihn das gegen sie aufbringen. Sogar im Schlaf hielt er es fest in der Hand, und eines Nachts hatte sie versucht, es ihm wegzunehmen – nur um zu versuchen, ob es gelingen würde. Er war sofort aufgewacht, aus tiefem Schlaf. Im nächsten Augenblick hatten die beunruhigend blau-grauen Augen mit ihrem chinesischen Schnitt sie voll verhaltener Wildheit angestarrt. Er hatte das Messer mit leisem Knurren weggezogen. Gesagt hatte er nichts.

Jetzt hob er das Messer, senkte es, hob es wieder. Knurrte tief in der Kehle und stieß das Messer in Richtung Veranda. Brachte sich möglicherweise in eine Art Trance, um tatsächlich die Tür zu stürmen.

Sie trat hinter ihn und gab sich keine besondere Mühe, leise zu sein, aber er hörte sie trotzdem nicht; Joe war in seiner eigenen Welt. Einen Augenblick später packte sie ihn, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, mit einer Hand am Handgelenk und drehte es brutal im Gegenuhrzeigersinn.

Joe stieß einen zischenden Seufzer aus, und Larry Underwood regte sich im Schlaf, drehte sich um und lag wieder still. Das Messer fiel zwischen ihnen ins Gras; das silberne Mondlicht spiegelte sich auf den Zacken der Klinge. Sie sahen aus wie leuchtende Schneeflocken.

Er blickte sie mit wütenden, vorwurfsvollen und mißtrauischen Augen an. Nadine erwiderte den Blick unnachgiebig. Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Joe schüttelte nachdrücklich den Kopf. Er deutete auf die Glaswand und die schlafende Gestalt im Schlafsack dahinter. Er machte eine gräßlich deutliche Geste, strich sich mit dem Daumen über Hals und Adamsapfel. Dann grinste er. Nadine hatte ihn noch nie grinsen gesehen; es durchlief sie kalt. Es hätte nicht wilder aussehen können, wenn die schimmernden weißen Zähne des Jungen spitz zugefeilt gewesen wären.

»Nein«, sagte sie leise. »Sonst wecke ich ihn auf der Stelle.«

Joe sah erschrocken drein. Er schüttelte hastig den Kopf.

»Dann komm mit mir. Schlaf.«

Er sah zu dem Messer hinunter, dann wieder zu ihr auf. Wenigstens war die Wildheit verschwunden. Er war nur noch ein hilfloser kleiner Junge, der seinen Teddy wollte oder die kratzige Decke, die ihn seit der Wiege begleitete. Nadine wurde klar, dies konnte der geeignete Zeitpunkt sein, ihm das Messer endgültig auszureden, einfach nur den Kopf zu schütteln: »Nein.« Aber was dann? Würde er schreien? Er hatte geschrien, nachdem der verrückte Soldat weitergezogen war. Immerzu geschrien, langgezogene, unverständliche Laute des Entsetzens und der Wut. Wollte sie den Mann im Schlafsack in der Nacht kennenlernen, während solche Schreie in ihren und seinen Ohren gellten?

»Kommst du mit mir?«

Joe nickte.

»Gut«, sagte sie leise. Er bückte sich hastig und hob das Messer auf.

Sie gingen gemeinsam zurück, und er kuschelte sich eng an sie; das Vertrauen war wieder hergestellt, der Störenfried wenigstens vorläufig vergessen. Er schlang die Arme um sie und schlief ein. Sie spürte den altbekannten Schmerz im Unterleib, der soviel tiefer und allumfassender war als derjenige, den die Anstrengung hervorrief. Es war ein Frauenschmerz, und dagegen konnte sie nichts tun. Sie schlief ein.



In den frühen Morgenstunden wachte sie auf – sie trug keine Uhr -, war kalt und steif und entsetzt und fürchtete plötzlich, Joe könnte hinterhältig gewartet haben, bis sie schlief, um dann zum Haus zurückzuschleichen und dem Mann im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Joes Arme waren nicht mehr um sie geschlungen. Sie fühlte sich verantwortlich für den Jungen; sie hatte sich stets für die Kleinen verantwortlich gefühlt, die nicht darum gebeten hatten, auf die Welt zu kommen, aber wenn er das getan hatte, würde sie ihn verlassen. Leben zu nehmen, wo so vieles ausgelöscht worden war, war eine unverzeihliche Sünde. Und sie konnte es ohne Hilfe nicht mehr lange allein mit Joe schaffen; mit ihm zu sein war, als wäre man mit einem launischen Löwen in einem Käfig eingesperrt. Und wie ein Löwe, konnte (oder wollte) Joe nicht sprechen; er konnte nur mit seiner hilflosen Kleinjungenstimme brüllen.


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