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The Stand. Das letze Gefecht
  • Текст добавлен: 24 сентября 2016, 05:37

Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы


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Er hatte als Kind im Kino ein Wort gelernt. Dieses Wort hiess INCOMMUNICADO, und es hatte für Nick immer einen phantastischen, Lovecraftschen Beigeschmack gehabt, ein beängstigendes Wort, das im Gehirn dröhnte und hallte, ein Wort, das alle Nuancen der Angst umschrieb, die nur außerhalb der gesunden Welt, in der menschlichen Seele, leben. Er war sein ganzes Leben lang INCOMMUNICADO gewesen.

Er setzte sich und las die letzte Zeile, die er geschrieben hatte. Dort lernte ich lesen und schreiben. Aber so einfach war es nicht gewesen. Er lebte in einer schweigenden Welt. Schreiben war ein Kode. Sprechen war Lippenbewegung, Auf und Ab von Zähnen, ein Tanz der Zunge. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, Lippen zu lesen und mit krakeligen, mühsamen Buchstaben seinen Namen zu schreiben. Das ist dein Name, hatte sie gesagt. Das bist du, Nicky.Aber sie hatte es natürlich stumm gesagt, bedeutungslos. Der wesentliche Zusammenhang war ihm klargeworden, als sie auf das Papier tippte, dann auf seine Brust. Das Schlimmste an der Taubstummheit war nicht, daß man in einer Stummfilmwelt lebte; das Schlimmste war, daß man die Namen der Dinge nicht kannte. Das Konzept von Namen hatte er erst mit vier Jahren allmählich verstanden. Erst mit sechs hatte er gewußt, daß man die großen grünen Dinger Bäumenannte. Er hatte es wissen wollen, aber niemand hatte daran gedacht, es ihm zu sagen, und er konnte nicht fragen: Er war INCOMMUNICADO.

Als sie starb, hatte er sich fast völlig in sich selbst zurückgezogen. Das Waisenhaus war ein Ort brüllender Stille, wo magere Jungs mit grausamen Gesichtern sich über sein Schweigen lustig machten; zwei Jungen liefen etwa auf ihn zu, der eine hatte die Hände vor dem Mund, der andere auf den Ohren. Wenn kein Personal in der Nähe war, schlugen sie ihn. Warum? Ohne Grund. Abgesehen yon dem, daß es in der riesigen anonymen Klasse der Opfer eine Unterklasse gab: die Opfer der Opfer.

Er wollte nicht mehr kommunizieren, und als das geschah, begann der Denkprozeß selbst einzurosten und auseinanderzufallen. Er fing an, ziellos von Ort zu Ort zu gehen und die namenlosen Dinge zu betrachten, von denen die Welt voll war. Er beobachtete Kinder auf dem Spielplatz und sah, wie sie die Lippen bewegten, die Zähne wie weiße Zugbrücken hoben und senkten und die Zungen im rituellen Balztanz der Sprache hüpfen ließen. Manchmal betrachtete er eine einzige Wolke eine ganze Stunde lang.

Dann war Rudy gekommen. Ein großer Mann mit Narben im Gesicht und einer Glatze. Er war eins fünfundneunzig groß, aber für den winzigen Nick Andros hätten es auch drei Meter sein können. Sie trafen sich zum ersten Mal im Keller, wo ein Tisch, sechs oder sieben Stühle und ein Fernsehgerät standen, das nur funktionierte, wenn es Lust hatte. Rudy kauerte sich nieder und brachte die Augen ungefähr auf eine Höhe mit denen von Nick. Dann nahm er die riesigen, narbigen Hände und hielt sie sich vor Mund und Ohren.

Ich bin taubstumm.

Nick wandte das Gesicht mürrisch ab. Wen interessiert das?

Rudy schlug ihn.

Nick fiel zu Boden. Er machte den Mund auf, und stumme Tränen liefen ihm aus den Augen. Er wollte nicht hier bei diesem narbigen Troll sein, diesem kahlen Schreckgespenst. Der Mann war nicht taubstumm, es war nur ein grausamer Scherz.

Rudy zog ihn sanft auf die Füße und führte ihn zum Tisch. Dort lag ein unbeschriebenes Blatt Papier. Rudy deutete darauf, dann auf Nick. Nick sah das Blatt, dann den kahlen Mann verdrossen an. Er schüttelte den Kopf. Rudy nickte und deutete wieder auf das leere Blatt. Er holte einen Bleistift hervor und gab ihn Nick. Rudy deutete auf den Bleistift, auf Nick, dann auf das Blatt. Nick schüttelte den Kopf. Rudy schlug ihn wieder.

Weitere stumme Tränen. Das Narbengesicht sah ihn mit tödlicher Geduld an. Rudy deutete wieder auf das Papier. Auf den Bleistift. Auf Nick.

Nick nahm den Bleistift in die Faust. Er schrieb die vier Worte, die er kannte, rief sie aus dem spinnwebigen, rostenden Mechanismus seines denkenden Gehirns ab. Er schrieb:

Dann brach er den Bleistift entzwei und sah Rudy wütend und trotzig an. Aber Rudy lächelte. Plötzlich griff er über den Tisch und hielt Nicks Kopf zwischen den harten schwieligen Händen. Seine Hände waren warm, sanft. Nick konnte sich kaum erinnern, wann er zuletzt so liebevoll berührt worden war. Seine Mutter hatte ihn so berührt. Rudy nahm seine Hände wieder von Nicks Gesicht. Dann nahm er die Bleistifthälfte mit der Spitze in die Hand. Er drehte nun das Papier auf die unbeschriebene Seite um. Er tippte mit der Bleistiftspitze auf die leere Seite des Blattes, dann tippte er Nick an. Noch einmal. Noch einmal. Und noch einmal. Und plötzlich begriff Nick.


Du bist diese leere Seite.

Nick fing an zu weinen.

Rudy kam die nächsten zehn Jahre lang.

... lernte ich lesen und schreiben. Ein Mann namens Rudy Sparkman half mir. Es war ein Glück für mich, daß ich ihn hatte. 1984 war das Waisenhaus pleite. Sie versuchten, so viele Kinder wie möglich bei Familien unterzubringen, aber ich gehörte nicht dazu. Sie sagten, ich würde mit der Zeit zu einer Familie kommen, die vom Staat Geld dafür bekommt, daß sie mich versorgt. Ich wäre gern zu Rudy gegangen, aber Rudy war in Afrika, wo er für das Friedenskorps arbeitete.

Also lief ich weg. Weil ich schon sechzehn war, haben sie sich wahrscheinlich keine besondere Mühe gegeben, mich zu suchen. Ich dachte mir, wenn ich mir nicht selbst Schwierigkeiten einhandle, komme ich zurec ht, und so weit so gut. Ich habe dann Fernkurse an einer High School belegt. Rudy hat nämlich immer wieder gesagt, Bildung ist das wichtigste. Wenn ich mich einmal eine Zeitlang niederlasse, will ich die Prüfung machen, die dem Abschluß an der High School entspricht. Die könnte ich bestimmt schnell schaffen. Ich mag die Schule gern. Vielleicht gehe ich eines Tages sogar aufs College. Ich weiß, bei einem taubstummen Herumtreiber wie mir hört sich das ziemlich verrückt an, aber ich halte es nicht für unmöglich. Wie auch immer, das ist meine Geschichte.

Gestern morgen war Baker um halb acht ins Büro gekommen, als Nick gerade Abfallkörbe ausleerte. Der Sheriff sah besser aus.

»Wie geht es Ihnen?« schrieb Nick.

»Ganz gut. Bis Mitternacht war ich heiß wie ein Ofen. Das schlimmste Fieber, das ich seit meiner Kindheit gehabt habe. Aspirin hat nicht geholfen. Jane wollte den Doc rufen, aber gegen halb eins war das Fieber plötzlich weg. Danach habe ich geschlafen wie ein Murmeltier. Und wie geht es dir?«

Nick machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis.

»Wie geht es unseren Gästen?«

Nick machte den Mund ein paarmal auf und zu, um schnelles Sprechen anzudeuten. Machte ein wütendes Gesicht. Rüttelte an unsichtbaren Gitterstäben.

Baker warf den Kopf zurück und lachte, dann nieste er mehrmals.

»Du solltest im Fernsehen auftreten«, sagte er. »Hast du deine Lebensgeschichte aufgeschrieben, wie du versuchen wolltest?«

Nick nickte und gab ihm die beiden handbeschriebenen Blätter. Der Sheriff setzte sich und las sie aufmerksam durch. Als er fertig war, sah er Nick so lange und durchdringend an, daß Nick einen Augenblick verlegen und verwirrt auf seine Füße starrte. Als er wieder aufsah, sagte Baker: »Du lebst, seit du sechzehn warst, allein? Sechs Jahre?«

Nick nickte.

»Und du hast wirklich diese ganzen High-School -Kurse gemacht?«

Nick schrieb eine Weile auf den Block. »Ich lag zurück, weil ich so spät lesen & schreiben lernte. Als das Waisenhaus zumachte, fing ich gerade an aufzuholen. Von dort bekam ich sechs Anrechnungspunkte für die High School und anschließend sechs weitere von La Salle in Chicago. Ich hatte auf einem Streichholzbriefchen davon gelesen. Jetzt brauche ich noch vier.«

»Was für Kurse brauchst du noch?« fragte Baker, dann drehte er sich um und brüllte: »Ruhe da hinten! Ihr bekommt Kaffee und Kuchen, wenn es mir paßt, und nicht vorher.«

Nick schrieb: »Geometrie, höhere Mathematik. Zwei Jahre Fremdsprache. Das verlangt das College.«

»Eine Fremdsprache. Du meinst wie Französisch? Deutsch? Spanisch?«

Nick nickte.

Baker lachte und schüttelte den Kopf. »Das schlägt doch alles. Ein Taubstummer lernt eine Fremdsprache sprechen. Nichts gegen dich, Junge. Aber das mußt du verstehen.«

Nick lächelte und nickte.

»Und warum hast du dich so viel herumgetrieben?«

»Als Minderjähriger wagte ich nirgends lange zu bleiben«, schrieb Nick. »Ich hatte Angst, sie würden mich wieder ins Waisenhaus stecken oder so. Als ich alt genug war, mir einen festen Job zu suchen, waren die Zeiten schlechter geworden. Sie haben gesagt, der Aktienmarkt wäre zusammengekracht oder so was, aber weil ich taub bin, habe ich es nicht gehört (ha-ha).«

»Man hätte dich wahrscheinlich fast überall weiterziehen lassen«, sagte Baker. »Wenn die Zeiten schlecht sind, fließt die Milch menschlicher Güte nicht so reichlich, Nick. Was einen festen Job angeht, könnte ich dir vielleicht hier etwas besorgen, wenn dir die Jungs Shoyo und Arkansas nicht endgültig vergällt haben. Aber... wir sind nicht alle so.«

Nick nickte, um zu zeigen, daß er verstanden hatte.

»Wie geht es deinen Zähnen? Hast ja ordentlich eins aufs Maul bekommen.«

Nick zuckte die Achseln.

»Hast du eine Schmerztablette genommen?«

Nick hielt zwei Finger hoch.

»Hör zu, ich muß noch den Papierkram für die drei Jungs erledigen. Geh du an deine Arbeit. Wir reden später weiter.«



Dr. Soames, der Mann, der Nick fast mit seinem Wagen überfahren hatte, kam am gleichen Morgen gegen halb zehn vorbei. Er war um die sechzig und hatte zottiges weißes Haar, einen dürren Truthahnhals und stechende blaue Augen.

»Big John hat mir erzählt, du kannst Lippen lesen«, sagte er. »Er hat mir auch gesagt, daß er dir eine vernünftige Arbeit besorgen will; darum sollte ich dafür sorgen, daß du ihm nicht unter den Händen wegstirbst. Zieh das Hemd aus.«

Nick knöpfte das blaue Arbeitshemd auf und zog es aus.

»Großer Gott, sieh sich einer das an«, sagte Baker.

»Die Kerle haben ganze Arbeit geleistet.« Soames sah Nick an und sagte trocken: »Junge, du hättest fast die linke Brustwarze verloren.«

Er deutete auf ein halbmondförmiges Stück Schorf über der Brustwarze. Nicks Bauch und sein Brustkorb sahen aus wie ein kanadischer Sonnenaufgang. Soames befühlte und betastete ihn und sah ihm eingehend in die Pupillen. Zuletzt untersuchte er die abgebrochenen Reste von Nicks Schneidezähnen, trotz der schlimmen Prellungen das einzige, was ihm jetzt noch wirkliche Schmerzen bereitete.

»Das muß saumäßig weh tun«, sagte Soames, und Nick nickte kläglich. »Du wirst sie verlieren«, fuhr Somaes fort. »Du...« Er nieste dreimal in rascher Folge. »Entschuldigung.«

Er packte seine Utensilien wieder in die schwarze Tasche. »Die Prognose ist günstig, junger Mann, ausgenommen bei Blitzschlägen oder weiteren Ausflügen zu Zacks Bumslokal. Ist dein Sprechproblem physiologisch bedingt oder auf die Taubheit zurückzuführen?«

Nick schrieb: »Physiologisch. Geburtsfehler.«

Soames nickte. »Eine Schande. Aber denk positiv und danke Gott, daß er nicht auch noch dein Gehirn angetickt hat, wo er schon mal dabei war. Zieh das Hemd wieder an.«

Nick gehorchte. Er mochte Soames; in gewisser Weise erinnerte er ihn an Rudy Sparkman, der einmal gesagt hatte, Gott habe allen taubstummen Männern unter der Gürtellinie fünf Zentimeter mehr gegeben, als Ausgleich für das bißchen, was er ihnen oberhalb des Schlüsselbeins genommen hatte.

Soames sagte: »Ich werde in der Apotheke Bescheid sagen, daß sie dir noch Schmerztabletten geben sollen. Sag dem Geldsack hier, er soll sie bezahlen.«

»Ho-ho«, sagte John Baker.

»Er hat mehr Geld in Marmeladegläsern versteckt, als ein Schwein Warzen hat«, fuhr Soames fort. Er nieste wieder, putzte sich die Nase, wühlte in der Tasche und holte ein Stethoskop heraus.

»Vorsicht, Opa, sonst sperre ich dich wegen Trunkenheit und ungebührlichen Benehmens ein«, sagte Baker lächelnd.

»Ja, ja, ja«, sagte Soames. »Eines Tages wirst du das Maul so weit aufreißen, daß du selber reinfällst. Zieh das Hemd aus, John. Mal sehen, ob deine Titten noch so groß sind wie früher.«

»Mein Hemd ausziehen? Warum?«

»Weil deine Frau will, daß ich mal 'nen Blick auf dich werfe, deshalb. Sie glaubt, daß du ein kranker Mann bist und will nicht, daß du noch kränker wirst, weiß Gott warum. Habe ich dir nicht oft genug gesagt, daß sie und ich es nicht mehr heimlich tun müßten, wenn du endlich unter der Erde bist? Los, Johnny. Zeig uns mehr Haut.«

»Es war nur 'ne Erkältung«, sagte Baker und knöpfte widerwillig das Hemd auf. »Heute morgen geht's mir schon wieder besser. Um ehrlich zu sein, Ambrose, du hörst dich schlimmer an als ich.«

»Du stellst dem Arzt keine Diagnose, sondern er dir«, sagte Soames. Als Baker das Hemd auszog, wandte sich Soames an Nick und sagte: »Weißt du, es ist komisch, wie sich eine Erkältung verbreitet. Mrs. Lathrop liegt krank im Bett, die ganze Familie Richie, und die Armen an der Barker Road husten sich die Lungen aus dem Hals. Sogar Billy Warner da drin hustet sich einen ab.«

Baker hatte sich inzwischen aus dem Unterhemd gewunden.

»Da, was hab' ich gesagt?« fragte Soames. »Hat er nicht ein Paar Möpse an sich? Sogar ein alter Arsch wie ich könnte geil werden, wenn er das sieht.«

Baker ächzte, als das Stethoskop seine Brust berührte. »Mein Gott, ist das kalt! Wo bewahrst du das Ding auf, in der Tiefkühltruhe?«

»Einatmen«, sagte Soames stirnrunzelnd. »Und jetzt aus.«

Bakers Ausatmen ging in leichten Husten über.

Soames beschäftigte sich lange mit dem Sheriff. Brust und Rücken. Schließlich legte er das Stethoskop beiseite, drückte Bakers Zunge mit einem Holzspatel runter und sah ihm in den Rachen. Als er fertig war, zerbrach er den Spatel und warf ihn in den Papierkorb.

»Und?« sagte Baker.

Soames drückte die Finger der rechten Hand unterhalb des Kinns gegen Bakers Hals. Baker zuckte zurück.

»Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob das weh tut«, sagte Soames.

»John, geh nach Hause und leg dich hin, das ist kein Rat, sondern ein Befehl.«

Der Sheriff blinzelte. »Ambrose«, sagte er leise, »hör auf. Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich habe hier drei Gefangene, die heute nachmittag nach Camden müssen. Ich habe diesen Jungen letzte Nacht bei ihnen gelassen, aber das war unverantwortlich und kommt nicht wieder vor. Er ist stumm. Ich hätte mich auch gestern abend nicht darauf eingelassen, wenn ich bei klarem Verstand gewesen wäre.«

»Vergiß es. Du hast eigene Probleme. Du hast eine Infektion der Atemwege, und zwar eine verdammt ekelhafte, wie es sich anhört, und dazu noch Fieber. Johnny, deine Röhren sind krank, und um ehrlich zu sein, bei einem Mann, der soviel zusätzliches Gewicht mit sich herumschleppt wie du, ist damit nicht zu spaßen. Geh ins Bett. Wenn es dir morgen früh immer noch gutgeht, schaff die Burschen weg. Noch besser, ruf die State Patrol und laß sie abholen.«

Baker sah Nick an, als wollte er sich entschuldigen. »Weißt du«, sagte er, »mir geht es wirklich nicht besonders. Vielleicht etwas Ruhe...«

»Gehen Sie heim, legen Sie sich hin«, schrieb Nick. »Ich passe auf. Außerdem muß ich das Geld für die Tabletten verdienen.«

»Keiner arbeitet so hart für dich wie ein Junkie«, sagte Soames und gackerte.

Baker nahm die beiden Blätter mit Nicks Lebensgeschichte. »Darf ich die mitnehmen, damit Janey sie lesen kann? Du hast bei ihr 'nen Stein im Brett, Nick, wirklich.«

Nick kritzelte auf den Block: »Gerne. Sie ist sehr nett.«

»Sie ist einmalig«, sagte Baker und seufzte, während er das Hemd zuknöpfte. »Das Fieber kommt wieder. Ich dachte, das wäre vorbei.«

»Nimm Aspirin«, sagte Soames und schnallte seine Tasche zu.

»Was mir Sorgen macht, ist die Drüsenschwellung.«

»In der untersten Schublade steht eine Zigarrenkiste«, sagte Baker.

»Portokasse. Du kannst in Ruhe ausgehen, irgendwo essen und dir deine Tabletten holen. Die Jungs sind eher Dildos als Desperados. Schreib auf einen Zettel, wieviel Geld du genommen hast, und leg ihn in die Kiste. Ich setze mich mit der State Patrol in Verbindung, und heute nachmittag bist du die Jungs los.«

Nick machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis.

»Ich setze schon nach verdammt kurzer Zeit viel Vertrauen in dich«, sagte Baker ernst, »aber Janey meint, das ist in Ordnung. Du gibst acht, ja?«

Nick nickte.



Jane Baker war gestern abend gegen sechs gekommen und hatte Essen und eine Tüte Milch gebracht.

Nick schrieb: »Vielen Dank. Wie geht es Ihrem Mann?«

Sie lachte, eine kleine Frau mit kastanienbraunem Haar, hübsch angezogen mit einem karierten Hemd und verblichenen Jeans. »Er wollte selbst kommen, aber ich hab's ihm ausgeredet. Er hatte heute nachmittag so hohes Fieber, daß ich es mit der Angst bekam, aber heute abend ist die Temperatur fast wieder normal. Wahrscheinlich wegen der State Patrol. Johnny ist nie richtig glücklich, wenn er nicht auf die State Patrol schimpfen kann.«

Nick sah sie fragend an.

»Sie haben ihm gesagt, daß sie die Gefangenen erst um neun Uhr morgen früh abholen können. Zwanzig oder mehr Beamte sind wegen Krankheit ausgefallen. Und eine Menge Beamte, die Dienst tun, müssen Leute zum Krankenhaus nach Camden oder sogar bis nach Pine Bluff fahren. Überall diese Krankheit. Ich glaube, Am Soames macht sich mehr Sorgen, als er zugibt.«

Sie sah selbst besorgt aus. Dann nahm sie die beiden zusammengefalteten Blätter aus der Brusttasche.

»Das ist wirklich eine tolle Geschichte«, sagte sie leise und gab ihm die Blätter zurück. »Sie haben soviel Pech gehabt wie kaum einer, von dem ich je gehört hätte. Aber wie Sie mit Ihren Schwierigkeiten fertig geworden sind, ist bewundernswert. Und ich muß mich noch einmal für meinen Bruder entschuldigen.«

Nick war verlegen und konnte nur die Achseln zucken.

»Hoffentlich bleiben Sie in Shoyo«, sagte sie und stand auf. »Mein Mann mag Sie, und ich mag Sie auch. Hüten Sie sich nur vor diesen Männern da drin.«

»Das werde ich tun«, schrieb Nick. »Sagen Sie dem Sheriff, ich wünsche ihm gute Besserung.«

»Das werde ich gerne ausrichten.«

Danach ging sie, und Nick verbrachte eine unruhige Nacht mit Schlafpausens weil er ab und zu aufstand und nach den drei Inhaftierten sah. Desperados waren sie wahrhaftig nicht; um zehn Uhr schliefen sie alle. Zwei Leute aus der Stadt kamen und vergewisserten sich, daß Nick zurecht kam, und Nick stellte fest, dass beide erkältet zu sein schienen.

Er hatte seltsame Träume, aber beim Aufwachen konnte er sich nur noch daran erinnern, daß er durch endlose Reihen von grünem Mais gewandert zu sein schien, nach etwas gesucht hatte und vor etwas anderem schreckliche Angst empfand, das hinter ihm zu sein schien.



Heute morgen war er früh auf den Beinen und fegte gründlich den hinteren Teil des Gefängnisses, ohne auf Billy Warner und Mike Childress zu achten. Beim Hinausgehen rief Billy ihm nach: »Ray kommt zurück, und wenn der dich erwischt, wirst du dir wünschen, du wärst nicht nur taub und stumm, sondern auch noch blind

Nick, der ihm den Rücken zugekehrt hatte, bekam fast nichts davon mit.

Im Büro nahm er eine alte Ausgabe des Time-Magazins und fing an zu lesen. Er überlegte, ob er die Füße auf den Tisch legen sollte, entschied aber, daß das ein todsicherer Weg war, Ärger zu bekommen, sollte der Sheriff reinschauen.

Um acht Uhr wurde er langsam beunruhigt, ob Sheriff Baker in der Nacht einen Rückfall gehabt haben mochte. Nick war davon ausgegangen, daß Baker mittlerweile hier sein würde, damit er die drei Häftlinge in seinem Gefängnis dem County übergeben konnte, wenn die State Patrol kam, um sie zu holen. Zudem knurrte Nicks Magen bedrohlich. Niemand war vom Truck Stop an der Straße vorbeigekommen, und er sah das Telefon mehr verdrossen als sehnsüchtig an. Er war ein großer Science-fiction-Fan, und von Zeit zu Zeit kaufte er für ein paar Münzen alte, zerlesene Taschenbücher in Wühlkisten, und jetzt dachte er, nicht zum ersten Mal, daß es ein großartiger Tag für die Taubstummen dieser Welt sein würde, wenn es die Bildtelefone, die in Science-fiction-Romanen immer benutzt wurden, wirklich einmal geben sollte.

Um Viertel vor neun fühlte er sich ziemlich unwohl in seiner Haut. Er ging zur Tür zum Zellentrakt und sah hinein.

Billy und Mike standen an den Zellentüren. Beide traten mit den Schuhen gegen die Gitterstäbe... was nur beweist, daß Menschen, die nicht sprechen können, nur einen kleinen Teil der Behinderten der Welt ausmachen. Vince Hogan lag auf der Pritsche. Er drehte nur den Kopf und sah Nick an, als dieser zur Tür kam. Hogans Gesicht war blaß, abgesehen von hektischen Flecken auf den Wangen, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Nick sah den apathischen, fiebrigen Blick des Mannes und wußte, er war krank. Sein Unbehagen wuchs.

»He, Dödel, wie war's mit was zu futtern?« rief Mike ihm zu. »Und der olle Vince sieht aus, als könnte er einen Arzt vertragen. Das Verpfeifen scheint ihm nicht zu bekommen, was, Bill?«

Bill wollte nicht streiten. »Tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe, Mann. Vince ist echt krank. Er braucht einen Arzt.«

Nick ging hinaus und versuchte zu überlegen, was er jetzt machen sollte. Er ging zum Schreibtisch und schrieb auf den Block: »Sheriff Baker oder wer das liest: Ich bin weggegangen und versuche, den Gefangenen Frühstück zu holen und Dr. Soames zu finden – für Vincent Hogan. Er scheint wirklich krank zu sein und sich nicht nur zu verstellen. Nick Andros.«

Er riß das Blatt vom Block und ließ es mitten auf dem Schreibtisch liegen. Dann steckte er den Block in die Tasche und ging auf die Straße hinaus.

Als erstes fiel ihm die stille Hitze des Tages und der Geruch von Grün auf. Am Nachmittag würde es sengend sein. Es war ein Tag, an dem die Menschen ihre tagtäglichen Arbeiten gerne in aller Herrgottsfrühe erledigen, damit sie den Nachmittag so ruhig wie möglich verbringen konnten, aber Nick kam die Hauptstraße von Shoyo an diesem Vormittag seltsam menschenleer vor, mehr wie an einem Sonntag als einem Werktag.

Die meisten der schrägen Parkplätze vor den Geschäften waren leer. Ein paar Autos und Lieferwagen waren unterwegs, aber nicht viele. Der Eisenwarenladen schien geöffnet zu haben, aber die Rollos der Kreditbank waren noch heruntergelassen, obwohl es schon neun war.

Nick wandte sich nach rechts, Richtung Truck Stop, der fünf Blocks entfernt war. Er war gerade an der Ecke des dritten Blocks, als er das Auto von Dr. Soames langsam auf der Straße auf sich zukommen sah – es schlingerte ein wenig von einer Seite auf die andere, als wäre der Fahrer erschöpft. Nick winkte ungestüm, nicht sicher, ob Soames halten würde, aber Soames kam an den Straßenrand gefahren und belegte gleichgültig vier der schrägen Parkplätze. Er stieg nicht aus, sondern blieb einfach hinter dem Steuer sitzen. Es erschreckte Nick, wie der Mann aussah. Seit er ihn das letzte Mal beim lockeren Geplänkel mit dem Sheriff gesehen hatte, schien Soames um zwanzig Jahre gealtert zu sein. Teilweise lag es wohl an der Erschöpfung, aber Erschöpfung konnte nicht der einzige Grund sein – das war selbst Nick klar. Als wollte er Nicks Gedanken bestätigen, holte der Doktor ein zerknittertes Taschentuch aus der Tasche, wie ein alter Zauberer, der einen einfachen Trick abzieht, welcher ihn eigentlich gar nicht mehr interessiert, und nieste mehrmals hinein. Als er fertig war, lehnte er den Kopf gegen den Autositz und atmete schwer mit geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund. Seine Haut wirkte so durchscheinend und gelblich, daß er Nick an eine Leiche erinnerte.

Plötzlich schlug Soames die Augen auf und sagte: »Sheriff Baker ist tot. Wenn du mich deswegen angehalten hast, dann weißt du jetzt Bescheid. Er ist heute morgen kurz nach zwei Uhr gestorben. Und jetzt hat es Janey gepackt. «

Nick riß die Augen auf. Sheriff Baker tot? Aber seine Frau war gestern abend noch da gewesen und hatte gesagt, daß es ihm besser ging. Und sie... sie war gesund gewesen. Nein, es war unmöglich.

»Ja, tot«, sagte Soames, als hätte Nick seine Gedanken laut ausgesprochen. »Und er ist nicht der einzige. Ich habe in den vergangenen zwölf Stunden zwölf Totenscheine ausgestellt. Und ich kenne noch zwanzig, die am Nachmittag tot sein werden, wenn Gott ihnen nicht gnädig ist. Aber ich bezweifle, ob das Gottes Werk ist. Ich glaube eher, er hält sich bei dieser Geschichte ziemlich raus.«

Nick zog den Block aus der Tasche und schrieb: »Was ist mit ihnen los?«

»Ich weiß nicht«, sagte Soames, knüllte den Zettel langsam zusammen und warf ihn in den Rinnstein. »Aber jeder in der Stadt scheint sich angesteckt zu haben, und ich habe mehr Angst als jemals in meinem Leben. Mich selbst hat's auch erwischt, obwohl mir momentan mehr die Erschöpfung zu schaffen macht. Ich bin kein junger Mann mehr. Weißt du, ich kann nicht mehr so lange schuften, ohne den Preis dafür zu bezahlen.« Seine Stimme hatte einen müden, ängstlichen und resignierten Tonfall angenommen, den Nick glücklicherweise nicht hören konnte. »Aber es hilft nichts, wenn ich mich selbst bedaure.«

Nick, der nicht mitbekommen hatte, daß Soames sich selbst bemitleidete, konnte ihn nur verwirrt ansehen.

Soames stieg aus dem Wagen und stützte sich einen Moment auf Nicks Arm ab. Der Griff seiner Hand war wie der eines alten Mannes, schlaff und ein wenig zittrig. »Komm mit zu der Bank da, Nick. Mit dir kann man gut reden. Ich schätze, das hat man dir schon oft gesagt.«

Nick deutete zum Gefängnis.

»Die können da nicht raus«, sagte Soames, »und wenn es sie auch erwischt hat, stehen sie im Moment ganz unten auf meiner Liste.«

Sie setzten sich auf die Bank, die hellgrün gestrichen war und Werbung für eine hiesige Versicherung auf der Lehne trug. Soames wandte das Gesicht dankbar der wärmenden Sonne zu.

»Schüttelfrost und Fieber«, sagte er. »Seit gestern abend zehn Uhr. Zuletzt nur noch Schüttelfrost. Gott sei Dank kein Durchfall.«

»Sie sollten sich ins Bett legen«, schrieb Nick.

»Sollte ich. Werde ich. Ich will nur vorher ein paar Minuten ausruhen...« Seine Augen fielen zu, und Nick dachte, er wäre eingeschlafen. Er fragte sich, ob er zum Truck Stop gehen und Billy und Mike Frühstück holen sollte.

Dann begann Dr. Soames wieder zu reden, ohne die Augen aufzumachen. Nick beobachtete aufmerksam seine Lippen. »Die Symptome sind alle bekannt«, sagte Soames und fing an, sie an den Fingern aufzuzählen, bis er alle zehn von sich gestreckt hatte, wie einen Fächer. »Schüttelfrost. Fieber. Kopfschmerzen. Schwäche und allgemeines Unwohlsein. Appetitlosigkeit.

Schmerzen beim Wasserlassen. Drüsenschwellung von unbedeutend bis akut. Schwellungen unter den Achseln und am Unterleib. Atemschwäche und Atemnot.«

Er sah Nick an.

»Das sind die Symptome der gewöhnlichen Erkältung, der Influenza, der Grippe. Das alles können wir heilen, Nick. Es sei denn, der Patient ist sehr jung, sehr alt oder bereits durch eine vorhergehende Krankheit geschwächt. Normalerweise werden Antibiotika schnell damit fertig. Aber damit nicht. Der Patient bekommt es schnell oder langsam. Das scheint keine Rolle zu spielen. Nichts hilft. Dann eskaliert das Ganze, flaut ab, eskaliert wieder; die Entkräftung nimmt zu; die Schwellungen werden schlimmer; zuletzt Tod. Jemand hat einen Fehler gemacht.

Und man versucht es zu vertuschen.«

Nick sah ihn zweifelnd an, fragte sich, ob er richtig von den Lippen des Doktors gelesen hatte oder ob Soames irre redete.

»Hört sich ziemlich verrückt an, was?« fragte Soames und sah Nick belustigt an. »Ich hatte einmal Angst vor der Paranoia der jüngeren Generation, hast du das gewußt? Sie glaubten immer, jemand würde ihr Telefon abhören ... sie bespitzeln... sie vom Computer überprüfen lassen... und jetzt muß ich feststellen, daß sie recht hatten und ich unrecht. Das Leben ist schön, Nick, aber ich habe feststellen müssen, daß das Alter einen unangemessen hohen Tribut von den ach so hoch geschätzten Vorurteilen fordert.«

»Was meinen Sie damit?« schrieb Nick.

»Kein Telefon in Shoyo funktioniert«, sagte Soames. Nick hatte keine Ahnung, ob das die Antwort auf seine Frage war (Soames hatte seinen letzten Zettel nur ganz flüchtig angesehen), oder ob sich der Arzt einem neuen Thema zugewandt hatte – er vermutete, dass das Fieber für Soames' sprunghafte Gedanken verantwortlich war.

Der Arzt betrachtete Nicks verwirrtes Gesicht und schien zu denken, daß der Taubstumme ihm nicht glaubte. »Stimmt«, sagte er. »Wenn man versucht, eine Nummer zu wählen, die nicht zum Netz dieser Stadt gehört, bekommt man eine Bandansage. Außerdem sind die beiden Aus– und Zufahrten von und nach Shoyo auf der Autobahn gesperrt, auf den Schildern steht STRASSENARBEITEN. Aber da sind keine Straßenarbeiten. Nur die Absperrungen. Ich war draußen. Ich glaube, man könnte die Absperrungen einfach wegräumen, aber wozu? Der Verkehr auf der Schnellstraße schien heute vormittag ziemlich schwach zu sein. Hauptsächlich Fahrzeuge der Armee, Laster und Jeeps.«

»Was ist mit den anderen Straßen?« schrieb Nick.

»Route 63 ist am Ostrand der Stadt aufgerissen worden, weil ein Wasserrohr ausgewechselt werden muß«, sagte Soames. »Am Westrand der Stadt scheint es einen bösen Autounfall gegeben zu haben. Zwei Wagen quer über der Straße; sie ist vollkommen blockiert. Es sind Warnleuchten aufgestellt, aber keine Spur von State Troopers oder Abschleppfahrzeugen.«

Er verstummte, nahm das Taschentuch und schneuzte sich.

»Die Männer, die am Wasserrohr arbeiten, lassen sich reichlich Zeit, meint Joe Rackman, der da draußen wohnt. Ich war vor etwa zwei Stunden bei den Rackmans und habe mir ihren kleinen Jungen angesehen, der wirklich ziemlich krank ist. Joe glaubt, die Männer an der Baustelle sind in Wirklichkeit Soldaten, obwohl sie wie städtische Straßenarbeiter gekleidet sind und einen Wagen des Bundesstaats fahren.«

Nick schrieb: »Woher weiß er das?«

Soames stand auf und sagte: »Bauarbeiter salutieren normalerweise nicht voreinander.«

Nick stand auch auf.

»Nebenstraßen?« kritzelte er.

»Möglich.« Soames nickte. »Aber ich bin Arzt, kein Held. Joe hat gesagt, er hat Gewehre auf dem Lastwagen gesehen.

Armeekarabiner. Wenn man versucht, Shoyo über Nebenstraßen zu verlassen und wird gesehen, wer weiß? Und was findet man außerhalb von Shoyo? Ich wiederhole: Jemand hat einen Fehler gemacht. Und jetzt versuchen sie, es zu vertuschen. Wahnsinn. Wahnsinn. Natürlich kommt so etwas ans Licht, es wird nicht mehr lange dauern. Aber wie viele werden bis dahin sterben?«


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