Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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Larry nickte. Der Junge spielte »That's All Right, Mamma« und brachte wieder fast jede Nuance, die Larry in sein Spiel hineingelegt hatte. Aber die Saiten klangen manchmal dumpf wie Holz, wenn Joes Finger die Schwingungen blockierten, anstatt sie schwingen zu lassen.
»Komm, ich zeig' es dir«, sagte Larry und streckte die Hände nach der Gitarre aus. Joe kniff sofort mißtrauisch die Augen zusammen. Larry vermutete, daß er an das Messer dachte, das im Meer verschwunden war. Der Junge wich zurück und hielt die Gitarre fest.
»Na gut«, sagte Larry. »Sie gehört dir. Wenn du Unterricht möchtest, komm zu mir.«
Der Junge johlte vor Freude, lief mit der Gitarre den Strand entlang und hielt sie hoch über den Kopf, wie eine Opfergabe.
»Er wird sie in Stücke schlagen«, sagte Larry.
»Nein«, erwiderte Nadine, »das glaube ich nicht.«
Irgendwann in der Nacht wachte Larry auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Nadine war eine in drei Decken gehüllte weibliche Gestalt; sie lag ein Viertel des Weges um das erloschene Feuer herum. Larry direkt gegenüber lag Joe. Auch er war in mehrere Wolldecken gehüllt, aber sein Kopf schaute heraus. Er hatte den Daumen wieder fest in den Mund gekorkt. Die Beine hatte er angezogen, dazwischen lag die zwölfsaitige Gibson. Joes freie Hand lag locker um den Hals des Instruments. Larry betrachtete ihn fasziniert. Er hatte dem Jungen das Messer weggenommen und es ins Wasser geworfen; jetzt hatte der Junge die Gitarre. Gut, sollte er sie haben. Mit einer Gitarre konnte man niemanden erstechen, obwohl sie, wie Larry vermutete, immerhin eine brauchbare stumpfe Waffe abgeben würde. Er schlief wieder ein.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, saß Joe mit der Gitarre im Schoß auf einem Felsen, ließ die nackten Füße in die Gischt baumeln und spielte »Sally's Fresno Blues«. Er war besser geworden. Nadine wachte zwanzig Minuten später auf und lächelte ihn strahlend an. Larry stellte fest, daß sie eine hübsche Frau war, und ihm fiel eine Zeile aus einem Song von Chuck Berry ein: Nadine, honey is that you?
Laut sagte er: »Mal sehen, was wir zum Frühstück haben?«
Er zündete das Feuer wieder an, und die drei setzten sich dicht darum, um die nächtliche Kälte aus den Knochen zu vertreiben. Nadine machte Haferbrei mit Milchpulver, und sie tranken starken Tee, nach Landstreicherart in einer Konservendose aufgebrüht.
Joe hatte beim Essen die Gibson auf dem Schoß liegen. Und zweimal überraschte Larry sich dabei, daß er den Jungen anlächelte. Jemanden, der die Gitarre liebt, kann man nicht hassen, dachte er.
Sie fuhren auf der US 1 weiter nach Süden. Joe fuhr mit seinem Rad direkt auf dem Mittelstreifen, manchmal bis zu einer Meile voraus. Als sie ihn einmal einholten, schob er sein Rad am Straßenrand entlang und aß auf amüsante Weise Brombeeren – er warf jede einzelne Beere in die Luft und fing sie dann unfehlbar mit dem Mund auf. Eine Stunde später sahen sie ihn auf einem historischen Gedenkstein des Unabhängigkeitskriegs sitzen und »Jim Dandy« auf der Gitarre spielen.
Kurz vor elf Uhr kamen sie vor einer kleinen Stadt namens Ogunquit an eine bizarre Straßensperre. Drei orangerote Wagen von der städtischen Müllabfuhr blockierten die Straße in ihrer ganzen Breite. Hinten in einem der Müllbehälter lag die von Krähen angefressene Leiche eines Mannes. Die Hitze der letzten zehn Tage war nicht ohne Wirkung geblieben. Wo der Körper nicht bekleidet war, wimmelten Maden.
Nadine wandte sich ab. »Wo ist Joe?« fragte sie.
»Ich weiß nicht. Irgendwo da vorn.«
»Ich wünschte, ihm wäre der Anblick erspart geblieben. Oder ob er's schon gesehen hat?«
»Wahrscheinlich«, sagte Larry. Ihm war aufgefallen, daß die Route 1 für eine Hauptverkehrsader reichlich verödet war, seit sie Wells verlassen hatten – nicht mehr als ein Dutzend liegengebliebener Autos unterwegs. Jetzt wurde ihm der Grund dafür klar. Sie hatten die Straße gesperrt. Wahrscheinlich standen auf der anderen Seite der Stadt Hunderte, möglicherweise Tausende Autos. Er wußte, was Nadine für Joe empfand. Es wäre gut gewesen, dem Jungen das zu ersparen.
»Warum hat man die Straße gesperrt?« fragte sie ihn. »Warum hat man das getan?«
»Weil die Leute wahrscheinlich versucht haben, ihre Stadt abzuriegeln. Ich könnte mir vorstellen, daß wir am anderen Ende ebenfalls eine Straßensperre finden.«
»Sind da noch mehr Leichen?«
Larry stellte das Rad auf den Klappständer und sah nach.
»Drei«, sagte er.
»Drei. Ich will sie nicht zu Gesicht kriegen.«
Er nickte. Sie schoben die Räder an den Autos vorbei und fuhren weiter. Der Highway führte jetzt wieder am Meer entlang, es war kühler. Ferienhäuser standen in langen, tristen Reihen zusammengedrängt. In solchen Unterkünften verbrachten Leute ihren Urlaub? fragte Larry sich verwundert. Warum nicht gleich nach Harlem gehen und die Kinder unter dem Spritzwasser der Hydranten spielen lassen?
»Nicht sehr hübsch, was?« fragte Nadine. Auf beiden Straßenseiten sahen sie die Quintessenz eines schäbigen Strandbadeorts: Tankstellen, Verkaufsstände für fritierte Muscheln, Eisbuden, in fiebernden Pastellfarben gestrichene Motels, Minigolfanlagen. Der Anblick war für Larry in zweifacher Hinsicht schmerzlich. Zum einen beklagte er die triste und schreiende Häßlichkeit der Umgebung und die kranken Hirne der Menschen, die aus diesem großartigen wilden Küstenstreifen einen einzigen riesigen Vergnügungspark für Familien in Kombiwagen gemacht hatten. Aber ein umsichtiger, tieferer Teil von ihm flüsterte von den Leuten, die diesen Ort und diese Straße sonst im Sommer mit Leben erfüllt hatten. Damen in Sonnenhüten und in Shorts, die viel zu eng waren für ihre gewaltigen Hinterteile. College-Studenten in rotschwarzgestreiften Rugbyhemden. Mädchen in knappen Strandanzügen und Riemensandalen. Schreiende kleine Kinder, die Eiscreme im Gesicht verschmiert. Allesamt Amerikaner, und wenn sie in Gruppen auftraten, ging eine gewisse schmutzige, rührende Romantik von ihnen aus – ganz gleich, ob die Gruppe sich in einer Skihütte in Aspen befand oder an der US 1 in Maine ihren prosaischen Sommerritualen folgte. Und jetzt waren all diese Amerikaner fort. Ein Gewittersturm hatte einen Ast von einem Baum gerissen, und dieser hatte die riesige Plastikreklame »Dairy Treet« der Eisbude auf den Parkplatz gestoßen, wo sie wie eine verblichene Narrenkappe lag. Das Gras auf dem Minigolfplatz wucherte. Dieses Straßenstück zwischen Portland und Portsmouth war früher ein siebzig Meilen langer Vergnügungspark gewesen, aber jetzt war es nur noch eine verlassene Geisterbahn.
»Nicht sehr hübsch, nein«, sagte er, »aber es hat einmal uns gehört, Nadine. Einmal hat es uns gehört, auch wenn wir noch nie hier gewesen sind. Und jetzt ist es dahin.«
»Aber nicht für immer«, sagte sie, und er sah sie an, ihr sauberes, strahlendes Gesicht. Ihre Stirn, aus der das erstaunliche Haar mit den weißen Strähnen nach hinten gekämmt war, leuchtete wie eine Lampe. »Ich bin nicht religiös, aber wenn ich es wäre, würde ich das, was geschehen ist, eine Strafe Gottes nennen. In zweihundert Jahren wird alles wieder uns gehören.«
»Diese Lastwagen werden auch in zweihundert Jahren nicht verschwunden sein.«
»Nein, aber die Straße. Die Lastwagen werden mitten auf einem Feld oder in einem Wald stehen, und wo früher ihre Reifen waren, werden Rittersporn und Frauenschuh wachsen. Es werden keine Lastwagen mehr sein. Es werden Relikte sein.«
»Ich glaube, Sie irren sich.«
»Warum sollte ich mich irren?«
»Weil wir andere Menschen suchen«, sagte Larry. »Und warum machen wir das? Was meinen Sie?«
Sie sah ihn besorgt an. »Nun... weil es das Richtige ist«, sagte sie.
»Menschen brauchenandere Menschen. Haben Sie das nicht auch gespürt? Als Sie allein waren?«
»Doch«, sagte Larry. »Wenn wir einander nicht haben, werden wir vor Einsamkeit verrückt. Und wenn wir zusammen sind, dann werden wir verrückt, weilwir zusammen sind. Wenn wir zusammen sind, bauen wir meilenlange Sommerhäuserzeilen und bringen einander samstagsabends in Bars um.« Er lachte. Es war ein kalter, unglücklicher und völlig humorloser Laut, und er hing noch ziemlich lange in der Luft. »Es gibt keine Antwort. Es ist, als würde man im Innern eines Eisblocks stecken. Kommen Sie – Joe dürfte uns schon weit voraus sein.«
Sie stand noch einen Moment breitbeinig über dem Fahrrad und sah mit besorgtem Blick Larrys Rücken nach. Dann folgte sie ihm. Er konnte unmöglich recht haben. Unmöglich. Wenn etwas so Monströses wie das hier passiert war, ohne einen Grund, was hatte dann alles andere für einen Sinn? Warum waren sie dann überhaupt noch am Leben?
Joe war doch nicht so weit vorausgefahren. Sie fanden ihn in einer Einfahrt auf der hinteren Stoßstange eines Ford. Er blätterte in einem Sex-Magazin, das er irgendwo gefunden hatte, und Larry stellte peinlich berührt fest, daß der Junge eine Erektion hatte. Er warf Nadine einen raschen Blick zu, aber sie sah in eine andere Richtung – vielleicht absichtlich.
Als sie die Einfahrt erreichten, fragte Larry: »Kommst du?« Joe legte das Magazin weg, aber statt aufzustehen, stieß er einen gutturalen, fragenden Laut aus und deutete in die Luft. Larry sah hektisch hoch und glaubte zuerst, der Junge habe ein Flugzeug gesehen. Dann rief Nadine: »Nicht der Himmel, die Scheune!« Ihre Stimme klang belegt und gepreßt vor Aufregung. »An der Scheune! Gott sei Dank, dass wir dich haben, Joe. Wir hätten es nie gesehen!«
Sie ging zu Joe und nahm ihn in die Arme. Larry wandte sich zur Scheune, wo sich große weiße Buchstaben deutlich von dem verwitterten Schindeldach abhoben.
SIND NACH STOVINGTON, VT. SEUCHENZENTRUM
Darunter standen Wegbeschreibungen. Und ganz unten:
ABFAHRT VON OGUNQUIT AM 2. JULI 1990
HAROLD EMERY LAUDER
FRANCES GOLDSMITH
»Mein lieber Mann, der muß mit dem Hintern ganz schön hoch im Wind gehangen haben, als er die letzte Zeile geschrieben hat«, sagte Larry. »Das Seuchenzentrum«, sagte Nadine, ohne ihn zu beachten. »Warum habe ich daran nicht gleich gedacht? Ich habe vor nicht mal drei Monaten in der Sonntagsbeilage einen Artikel darüber gelesen! Dorthin sind sie also!«
»Wenn sie noch leben.«
»Noch leben? Natürlich leben sie noch. Am 2. Juli war die Seuche vorbei. Und wenn sie auf das Scheunendach steigen konnten, waren sie nicht krank.«
»Einer der beiden muß jedenfalls ganz schön munter gewesen sein«, stimmte Larry zu und spürte, wie sich eine fast widerwillige Aufregung in seinem Magen ausbreitete. »Wenn ich daran denke, daß ich selbst durch Vermont gefahren bin.«
»Stovington liegt ein ganzes Stück nördlich des Highway 9«, sagte Nadine, die immer noch zur Scheune sah, abwesend. »Trotzdem müssen sie inzwischen dort sein, Larry. Der 2. Juli war heute vor zwei Wochen.« Ihre Augen glänzten. »Glauben Sie, es sind noch andere im Seuchenzentrum, Larry? Wäre doch möglich, meinen Sie nicht auch? Dort weiß man doch alles über Quarantäne und sterile Kleidung. Die Leute arbeiten bestimmt an einem Gegenmittel, oder?«
»Ich weiß nicht«, sagte Larry vorsichtig.
»Ganz bestimmt«, sagte sie ungeduldig und ein wenig aufgebracht. Larry hatte sie noch nie so erregt gesehen, nicht einmal als Joe seine erstaunliche Darbietung von Mimikry auf der Gitarre vorgeführt hatte. »Ich wette, Harold und Frances haben Dutzende Leute getroffen, vielleicht Hunderte. Wir brechen sofort auf. Der kürzeste Weg...«
»Warten Sie«, sagte Larry und faßte sie an den Schultern.
»Was heißt warten? Wissen Sie überhaupt...«
»Ich weiß, daß die Nachricht zwei Wochen darauf gewartet hat, dass wir vorbeikommen, und sie kann noch ein wenig länger warten. Zuerst werden wir essen. Und der gute Joe, der süchtige Gitarrenspieler, schläft schon im Stehen ein.«
Sie drehte sich um. Joe blätterte wieder in dem Sex-Magazin, aber sein Kopf sank herab, und die Augen, unter denen dunkle Ringe lagen, blinzelten glasig.
»Sie haben doch gesagt, daß er gerade eine Infektion überstanden hat«, sagte Larry. »Und Sie haben auch eine weite Reise hinter sich... ganz zu schweigen davon, daß Sie unseren blauäugigen Gitarristen verfolgen mußten.«
»Sie haben recht... daran habe ich nicht gedacht.«
»Er braucht ein gutes Essen und Schlaf.«
»Sicher. Joe, es tut mir leid. Das war dumm von mir.«
Joe grunzte verschlafen und weitgehend desinteressiert. Bei dem, was Larry als nächstes sagen wollte, spürte er einen dicken Kloss Angst im Hals, aber es mußte gesagt werden. Wenn er es nicht sagte, würde es Nadine tun, sobald sie Ruhe zum Nachdenken hatte... und außerdem wurde es Zeit, herauszufinden, ob er sich wirklich so sehr geändert hatte, wie er glaubte.
»Nadine, können Sie fahren?«
»Fahren? Sie meinen, ob ich einen Führerschein habe? Ja, aber ein Auto wäre bei den vielen Hindernissen auf der Straße unpraktisch, oder nicht? Ich meine...«
»Ich hatte nicht an ein Auto gedacht«, sagte er, und Ritas Bild, wie sie hinter dem geheimnisvollen Mann auf dem Soziussitz saß (in seiner Vorstellung wahrscheinlich die symbolische Darstellung des Todes), erschien plötzlich vor seinem inneren Auge: Beide waren dunkel und bleich und rasten auf einer riesigen Harley auf ihn zu, wie unheimliche apokalyptische Reiter. Bei diesem Gedanken wurde sein Mund trocken, und seine Schläfen pochten, aber er sprach mit ruhiger Stimme weiter. Jedenfalls schien Nadine nichts zu bemerken. Seltsamerweise war es Joe, der aus seinem Halbschlaf zu ihm aufsah und eine Veränderung festzustellen schien.
»Ich dachte an Motorräder. Wir könnten mit weniger Anstrengung längere Strecken zurücklegen und sie um... um irgendwelche Hindernisse herumschieben. Wie wir die Fahrräder um die Lastwagen dort hinten geschoben haben.«
Wachsende Erregung in ihren Augen. »Ja, das könnten wir. Ich bin noch nie mit einem Motorrad gefahren, aber das könnten Sie mir ja beibringen, nicht wahr?«
Bei den Worten ich bin noch nie mit einem Motorrad gefahren wuchs Larrys Grauen. »Ja«, sagte er. »Aber ich kann Ihnen für den Anfang nur beibringen, ganz langsam zu fahren, bis Sie das Gefühl für die Maschine bekommen. Sehr langsam. Ein Motorrad verzeiht keinen Fehler, und ich kann Sie nicht zum Arzt bringen, wenn Sie auf dem Highway einen Unfall bauen.«
»Dann machen wir es so. Wir werden... sagen Sie, Larry, sind Sie Motorrad gefahren, bevor Sie uns getroffen haben? Müssen Sie wohl, sonst hätten Sie es nicht so schnell von New York bis hier geschafft.«
»Ich hab' die Maschine stehenlassen«, sagte er ruhig. »Es hat mich nervös gemacht, allein zu fahren.«
»Gut, jetzt sind Sie nicht mehr allein«, sagte Nadine fröhlich. Sie wirbelte zu Joe herum. »Wir fahren nach Vermont, Joe! Wir werden andere Menschen treffen! Ist das nicht schön? Ist das nicht großartig?«
Joe gähnte.
Nadine sagte, sie wäre zu aufgeregt zum Schlafen, würde sich aber mit Joe hinlegen, bis dieser eingeschlafen war. Larry fuhr nach Ogunquit, um eine Motorradhandlung zu suchen. Er fand keine, aber er glaubte, auf der Fahrt durch Wells eine gesehen zu haben. Er fuhr zurück, um es Nadine zu sagen, aber die beiden schliefen im Schatten des blauen Ford, wo Joe das Oui durchgeblättert hatte. Er legte sich ein Stück von ihnen entfernt hin, konnte aber nicht schlafen. Schließlich überquerte er die Straße und ging durch das kniehohe Timoteusgras zur Scheune hinüber, wo sich die Aufschrift befand. Tausende Grashüpfer sprangen ihm panisch aus dem Weg, wenn er sich ihnen näherte, und Larry dachte: lch bin ihre Heimsuchung. Ich bin ihr dunkler Mann.
In der Nähe der breiten Doppeltür fand er zwei leere Pepsidosen und die Kruste eines Sandwichs. In normalen Zeiten hätten sich die Möwen sicher schon die Kruste geholt, aber die Zeiten hatten sich geändert, und die Möwen waren zweifellos besseres Essen gewohnt. Er stieß die Kruste mit der Stiefelspitze an, dann eine der Dosen. Bringen Sie das sofort ins Labor, Sergeant Briggs. Ich glaube, unser Killer hat endlich einen Fehler gemacht.
Sofort, Inspektor Underwood. Der Tag, als Scotland Yard beschlossen hat, Sie zu uns zu schicken, war ein Glückstag für Squinchly-on-the-Green.
Nicht der Rede wert, Sergeant. Ich tue nur meine Pflicht. Larry trat ein – es war dunkel, heiß und vom sanften Flügelschlag der Schwalben erfüllt. Der Heugeruch war angenehm. Es waren keine Tiere im Stall; der Besitzer mußte sie freigelassen haben, damit sie die Supergrippe überlebten oder starben, anstatt sie dem sicheren Hungertod auszuliefern.
Merken Sie das für die Untersuchung des Gerichtsmediziners vor, Sergeant.
Selbstverständlich, Inspektor Underwood.
Er sah auf den Boden und erblickte die Verpackung eines Schokoriegels. Er hob sie auf. Es war einst ein Payday-Riegel darin eingewickelt gewesen. Der Scheunenschreiber hatte Mut gehabt. Aber guten Geschmack? Nein. Wem Payday-Riegel schmeckten, der hatte zu lange in der Sonne gelegen.
Sprossen, die zum Heuboden führten, waren an einen Stützbalken genagelt. Larry, der bereits schweißnaß war und nicht einmal wußte, was er hier suchte, kletterte hinauf. In der Mitte des Heubodens (er ging langsam und hielt nach Ratten Ausschau) führte eine ganz normale Leiter zum Schober hinauf; die Sprossen waren von weißen Farbspritzern übersät.
Ich glaube, Sergeant, wir sind über einen weiteren Fund gestolpert. Inspektor, ich kann es nicht fassen. Ihr ermittlerischer Scharfsinn wird nur noch von Ihrem guten Aussehen und der außergewöhnlichen Länge Ihres Fortpflanzungsorgans übertroffen. Nicht der Rede wert, Sergeant.
Er ging auf den Schober. Dort oben war es noch heißer, drückend heiß.
Wenn Francis und Harold die Farbe nach getaner Arbeit hier oben gelassen hätten, überlegte Larry, wäre die ganze Scheune schon vor einer Woche bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Fenster waren staubig und voll zerrissener Spinnweben, die zweifellos frisch gesponnen worden waren, als Gerald Ford noch Präsident war. Ein Fenster war geöffnet worden, und als sich Larry hinausbeugte, hatte er eine meilenweite, atemberaubende Aussicht über das umliegende Land.
Diese Seite der Scheune lag nach Osten, und Larry befand sich in so großer Höhe, daß die Unfallstellen am Straßenrand, die so abgrundtief häßlich waren, wenn man sie vom Boden aus sah, von hier oben so harmlos wie kleine Abfallhaufen auf dem Straßenbelag wirkten. Jenseits des Highways, erhaben, war das Meer, dessen anstürmende Wogen sauber von dem Wellenbrecher aufgehalten wurden, der von der Nordseite des Hafens hinaus ins Meer verlief. Das Land war ein Ölgemälde des Hochsommers, grün und gold, im ruhigen Dunst des Nachmittags. Er konnte Salz und Tang riechen. Und wenn er über das Dach blickte, konnte er Harolds Schild verkehrt herum sehen.
Wenn er nur daran dachte, so hoch über dem Boden auf dem Dach herumzuklettern, verspürte Larry Übelkeit im Magen. Und der Bursche mußte wirklich über die Regenrinne hinausgehangen haben, um den Namen des Mädchens zu schreiben.
Warum hat er sich diese Mühe gemacht, Sergeant? Ich glaube, diese Frage sollten wir uns selbst stellen.
Wenn Sie meinen, Inspektor Underwood.
Er ging die Treppe hinunter, langsam und mit vorsichtigen Schritten. Bloß kein Bein brechen. Unten fiel ihm etwas anderes auf, etwas, das in einen Stützbalken eingeschnitzt war, erstaunlich frisch und weiß und in deutlichem Kontrast zur ansonsten staubigen Dunkelheit des Schuppens. Er ging zu dem Balken und betrachtete das Geschnitzte, dann strich er mit dem Daumen darüber, teilweise belustigt, teilweise erstaunt, daß ein anderer Mensch das gemacht hatte, während er und Rita nach Norden gereist waren. Er strich noch einmal mit dem Fingernagel über die geschnitzten Buchstaben.
In einem Herz. Mit einem Pfeil.
Ich glaube, Sergeant, der Tölpel muß verliebt gewesen sein.
»Schön für dich, Harold«, sagte Larry und ging aus der Scheune.
Der Motorradladen in Wells war eine Honda-Vertretung, und daran, wie die Motorräder aufgereiht waren, erkannte Larry, daß zwei fehlten. Auf einen zweiten Fund war er noch stolzer – ein zerknülltes Süßigkeitenpapier neben dem Papierkorb. Ein Payday-Riegel. Es sah aus, als hätte jemand – höchstwahrscheinlich der verliebte Harold Lauder – einen Schokoriegel gegessen, während er überlegt hatte, welche Motorräder für ihn und seine Angebetete am geeignetsten sein würden. Er hatte das Papier zusammengeknüllt und in Richtung Abfallkorb gezielt. Und ihn verfehlt. Nadine hielt Larrys Schlußfolgerungen für stichhaltig, war aber nicht so beeindruckt davon wie Inspektor Underwood selbst. Sie betrachtete die verbliebenen Motorräder und konnte es kaum erwarten, aufzubrechen. Joe sass auf den Stufen zum Ausstellungsraum, spielte die zwölfsaitige Gibson und grölte zufrieden.
»Wissen Sie«, sagte Larry, »es ist jetzt fünf Uhr. Es ist ganz unmöglich, vor morgen aufzubrechen.«
»Aber wir haben noch drei Stunden Tageslicht! Wir können nicht einfach herumsitzen! Vielleicht verpassen wir sie!«
»Wenn wir sie verpassen, ist das Pech«, sagte er. »Harold Lauder hat eindeutige Hinweise hinterlassen, bis hin zu den Straßen, auf denen sie fahren wollten. Wenn sie weiterreisen, wird er es wahrscheinlich wieder machen.«
»Aber...«
»Ich weiß, daß Sie es eilig haben«, sagte er und legte ihr die Hände auf die Schultern. Er merkte, wie die alte Ungeduld in ihm aufstieg, und zwang sich, sie zu verdrängen. »Aber Sie haben noch nie auf einem Motorrad gesessen.«
»Aber ich kann radfahren. Und ich weiß, wie man die Kupplung betätigt, das habe ich Ihnen gesagt. Bitte, Larry. Wenn wir keine Zeit vergeuden, können wir heute in New Hampshire übernachten und morgen abend schon fast dort sein. Wir...«
»Es ist aber kein Fahrrad, verdammt noch mal!« brüllte er los, und die Gitarre hinter ihm verstummte mit einem Mißklang. Er sah, dass Joe mit zusammengekniffenen und sofort mißtrauischen Augen über die Schulter zu ihnen blickte. Mein Gott, ich habe aber auch eine Art, mit den Leuten umzugehen, dachte Larry. Das machte ihn noch wütender.
Nadine sagte leise: »Sie tun mir weh.«
Er sah, daß seine Finger sich in das weiche Fleisch ihrer Schultern gegraben hatten, und seine Wut verwandelte sich in dumpfe Scham.
»Verzeihung«, sagte er.
Joe sah ihn immer noch an, und Larry wurde klar, daß er den Boden, den er bei dem Jungen gewonnen hatte, halb wieder verloren hatte.
Vielleicht mehr. Nadine hatte etwas gesagt.
»Was?«
»Ich wollte wissen, warum ein Motorrad nicht wie ein Fahrrad ist.«
Sein erster Impuls war, sie anzuschreien: Wenn du so verdammt schlau bist, dann steig doch auf und versuch's. Du wirst schon sehen, wie die Welt aussieht, wenn dein Kopf plötzlich verkehrtherum auf deinen Schultern sitzt. Aber er beherrschte sich. Er hatte nicht nur bei dem Jungen Boden verloren, auch bei sich selbst. Er war vielleicht auf der anderen Seite herausgekommen, aber mit ihm ein Teil des alten, kindischen Larry, der an ihm klebte und ihm folgte wie ein Schatten, der in der Nachmittagssonne geschrumpft, aber nicht ganz verschwunden ist.
»So eine Maschine ist viel schwerer als ein Rad«, sagte er. »Wenn man aus dem Gleichgewicht kommt, kann man das nicht so leicht abfangen wie bei einem Fahrrad. Eine Dreihundertsechziger wiegt an die dreieinhalb Zentner. Man gewöhnt sich ziemlich schnell an das größere Gewicht, aber man muß sich eben erst daran gewöhnen. In einem normalen Auto betätigt man die Gangschaltung mit der Hand und das Gas mit dem Fuß. Bei einem Motorrad ist es genau umgekehrt: Man betätigt die Gangschaltung mit dem Fuß, das Gas mit der Hand, das ist eine gewaltige Umstellung. Es gibt nicht nur eine Bremse, sondern zwei. Mit dem rechten Fuß bremst man das Hinterrad, mit der rechten Hand das Vorderrad. Wenn man das vergißt und nur die Handbremse betätigt, fliegt man höchstwahrscheinlich in hohem Bogen über den Lenker. Außerdem müssen Sie sich daran gewöhnen, daß Sie einen Passagier hinter sich sitzen haben.«
»Joe? Aber ich dachte, der würde mit Ihnen fahren.«
»Von mir aus gern«, sagte Larry. »Aber ich glaube nicht, daß er mich im Augenblick sonderlich gern hat. Oder sind Sie da anderer Meinung?«
Nadine sah Joe lange bekümmert an. »Nein«, sagte sie und seufzte.
»Vielleicht will er nicht einmal mit mir fahren. Vielleicht hat er Angst.«
»Falls doch, sind Sie für ihn verantwortlich. Ich will nicht erleben, dass Sie stürzen.«
»Ist Ihnen das passiert, Larry? Waren Sie mit jemand unterwegs?«
»Ja«, sagte Larry, »und ich bin auch gestürzt. Aber zu dem Zeitpunkt war die Dame, mit der ich unterwegs war, schon tot.«
»Ist sie mit dem Motorrad verunglückt ?« Nadines Gesicht war ganz ruhig.
»Nein. Ich würde sagen, es war zu siebzig Prozent ein Unfall und zu dreißig Prozent Selbstmord. Was sie von mir brauchte... Freundschaft, bekam sie nicht genug.« Er war jetzt aufgeregt; seine Schläfen pochten dumpf, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er war den Tränen nahe. »Sie hieß Rita. Rita Blakemoor. Ich würde es bei Ihnen gerne besser machen, das ist alles. Bei Ihnen und Joe.«
»Larry, warum haben Sie mir das nicht vorher erzählt?«
»Weil es weh tut, darüber zu reden«, sagte er ohne Umschweife.
»Es tut sehr weh.« Das war die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Da waren noch die Träume. Er fragte sich, ob Nadine Alpträume hatte – letzte Nacht war er kurz aufgewacht, da hatte sie sich unruhig hin und her gewälzt und gemurmelt. Aber sie hatte sich nicht darüber geäußert. Und Joe? Hatte Joe Alpträume? Nun, was die beiden anging, wußte er es nicht, aber der furchtlose Inspektor Larry Underwood von Scotland Yard hatte Angst vor seinen Träumen... und wenn Nadine mit dem Motorrad stürzte, würden sie vielleicht wiederkommen.
»Gut, dann fahren wir morgen«, sagte sie. »Und heute abend bringen Sie es mir bei.«
Aber zuerst stellte sich das Problem, die beiden kleinen Motorräder, die Larry ausgesucht hatte, aufzutanken. Die Vertretung hatte eine Zapfsäule, aber ohne Strom funktionierte sie nicht. Er fand ein weiteres Süßigkeitenpapier neben der Abdeckung, unter der sich der unterirdische Tank befand, und leitete daraus ab, daß der stets findige Harold Lauder die Abdeckplatte erst vor kurzem aufgebrochen haben mußte. Verliebt oder nicht, Payday-süchtig oder nicht, Larry empfand eine Menge Respekt vor Harold, den er beinahe mochte, ohne ihn zu kennen. Er hatte sich im Geiste schon ein Bild von Harold gemacht. Wahrscheinlich Mitte Dreißig, möglicherweise Farmer, groß und braungebrannt, mager, vielleicht nicht besonders helle, aber dafür mit jeder Menge Bauernschläue. Er grinste. Es war albern, sich ein Bild von jemand zu machen, den man nie gesehen hatte, denn die Leute waren nie so, wie man sie sich vorstellte. Schließlich kannte jeder den Witz von dem über dreihundert Pfund schweren Discjockey mit der Fistelstimme. Während Nadine ein kaltes Abendessen zusammenstellte, sah sich Larry auf dem Gelände der Vertretung um. Er fand einen großen Mülleimer aus Blech. Eine Brechstange lehnte daran, am oberen Rand hing ein Stück Gummischlauch heraus.
Hab' ich dich wieder erwischt, Harold! Sehen Sie sich das an, Sergeant Briggs. Unser Mann hat Benzin aus dem unterirdischen Tank geschläuchelt, damit er weiterfahren kann. Überrascht mich, daß er den Schlauch nicht mitgenommen hat.
Vielleicht hat er ein Stück abgeschnitten, und das ist der Rest, Inspektor Underwood – bitte um Verzeihung, aber immerhin ist es in der Mülltonne.
Beim Jupiter, Sergeant, Sie haben recht. Ich werde Sie für eine Beförderung vorschlagen.
Er nahm Brechstange und Gummischlauch mit zur Tankabdeckung.
»Joe, kannst du einen Moment herkommen und mir helfen?«
Der Junge, der Käse und Cracker aß, sah auf und betrachtete Larry mißtrauisch.
»Geh, ist schon gut«, sagte Nadine leise.
Joe kam mit schlurfenden Schritten zu ihm.
Larry schob die Brechstange in den Schlitz der Platte.»Stemm dich drauf, mal sehen, ob wir sie hochkriegen«, sagte er. Einen Moment dachte er, der Junge hätte ihn nicht verstanden oder wollte ihn nicht verstehen. Aber dann nahm er das andere Ende der Stange und drückte darauf. Seine Arme waren dünn, aber sehnig und muskulös, jene Art von Muskeln, die arbeitende Männer aus armen Familien immer zu haben scheinen. Die Platte neigte sich etwas, kam aber nicht so weit aus der Einfassung, daß Larry die Finger darunter stemmen konnte.
»Leg dich drauf«, sagte er.
Die halbwilden Schlitzaugen betrachteten ihn einen Moment gelassen, dann balancierte Joe auf der Brechstange und hob die Füße vom Boden, als er das ganze Gewicht auf die Stange stemmte. Die Platte kam ein Stückchen höher als vorher, so hoch, daß Larry jetzt die Finger darunter schieben konnte. Während er die Platte zu packen versuchte, schoß es ihm durch den Kopf, daß der Junge jetzt die beste Gelegenheit hatte zu beweisen, ob er ihn immer noch nicht leiden konnte. Wenn Joe das Gewicht von der Brechstange nahm, würde die Platte herunterknallen und ihm bis auf die Daumen sämtliche Finger zerquetschen. Das war auch Nadine klar geworden, wie Larry bemerkte. Sie hatte eines der Motorräder betrachtet, drehte sich nun aber um und beobachtete die beiden; ihr ganzer Körper war nervös verkrampft. Ihre dunklen Augen sahen von Larry, der auf einem Knie kauerte, zu Joe, der Larry ansah, während er sein Körpergewicht auf die Stange stemmte. Die Meerwasseraugen waren unergründlich. Und Larry konnte immer noch keinen Halt finden.
»Brauchen Sie Hilfe?« fragte Nadine, deren normalerweise ruhige Stimme jetzt ein klein wenig schrill klang.
Schweiß lief ihm in ein Auge, er blinzelte ihn weg. Immer noch kein fester Griff. Er konnte Benzin riechen.
»Ich glaube, wir schaffen es«, sagte Larry und blickte sie direkt an. Einen Augenblick später glitten seine Finger in eine leichte Vertiefung an der Unterseite der Platte. Er stemmte die Schultern dagegen, die Platte hob sich und prallte mit einem dumpfen Scheppern auf den Asphaltboden. Er hörte Nadine seufzen und die Brechstange auf den Boden klirren. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Jungen an.
»Gute Arbeit, Joe«, sagte er. »Wenn du die Stange losgelassen hättest, hätte ich mir für den Rest meines Lebens den Hosenschlitz mit den Zähnen hochziehen müssen. Danke.«
Er erwartete keine Antwort (außer vielleicht einem undefinierbaren Heulen, während Joe wieder zum Motorrad zurückging), aber Joe sagte mit krächzender, angestrengter Stimme: »Gengeschen.«
Larry warf Nadine einen Blick zu, die erst ihn ansah und dann Joe. Ihr Gesicht zeigte Überraschung und Freude, aber irgendwie sah sie aus – warum, konnte er nicht genau sagen -, als hätte sie es erwartet. Es war ein Ausdruck, den er schon einmal gesehen hatte, momentan aber nicht deutlich fassen konnte.