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The Stand. Das letze Gefecht
  • Текст добавлен: 24 сентября 2016, 05:37

Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы


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Er streckte die Hände vom Körper ab. Beide waren zu Fäusten geballt und so fest und hart wie Knoten an einem Apfelbaum. Sein Grinsen blieb, fröhlich und unsagbar böse. Blutstropfen fielen von den Fäusten herab.

In ihrem Verstand versiegten die Worte. Ihre Finger vergaßen, wie man spielte; es folgte ein letzter mißtönender Akkord, dann Stille.

Gott! Gott!schrie sie, aber Gott hatte Sein Antlitz abgewendet. Dann stand Ben Conveigh mit rotem, flammendem Gesicht auf, und seine kleinen Schweinsäuglein funkelten. Niggerhure! schrie er. Was hat die Niggerbure auf der Bühne verloren? Keine Niggerhure hat je Musik aus der Luft gezaubert! Keine Niggerhure hat je Wasser aus dem Fels sprudeln lassen!

Ungestüme Schreie der Zustimmung. Leute drängten nach vorne. Sie sah, wie ihr Mann aufstand und versuchte, auf die Bühne zu klettern. Eine Frau traf ihn am Mund, er kippte nach hinten.

Schafft die dreckigen Coons nach hinten!brüllte Bill Arnold, und jemand stieß Rebecca Freemantle gegen die Wand. Ein anderer – Chet Deacon, wie es aussah – schlang einen der roten Samtvorhänge um Rebecca und fesselte sie dann mit der Goldkordel. Er schrie: Seht euch das an! Coon im Schlafrock! Waschbär im Schlafrock!

Andere liefen zu Chet Deacon hinüber und fingen an, die zappelnde Frau unter dem Vorhang zu schlagen und zu schubsen.

Mama! schrie Abby.

Die Gitarre war aus ihren gefühllosen Fingern geglitten und am Bühnenrand zu Splittern und Saiten zerschellt.

Sie suchte panisch nach dem dunklen Mann hinten im Saal, aber die Maschine war in Gang gebracht worden und lief heiß und reibungslos; er war schon anderswo hingegangen.

Mama! schrie sie wieder, dann zerrten grobe Hände sie von der Bühne, wanderten unter ihr Kleid, begrabschten sie, fummelten, zwickten sie in den Po. Jemand riß brutal ihre Hand herum und verrenkte den Arm im Gelenk. Sie wurde gegen etwas Hartes, Heißes gedrückt.

Ben Conveighs Stimme in ihrem Ohr: Wie gefällt dir MEIN >Rock of Ages<, Niggerhure?«

Der Saal drehte sich um sie herum. Sie sah, wie ihr Vater versuchte, zur leblosen Gestalt ihrer Mutter zu gelangen, und sie sah eine weiße Hand, die eine Flasche an der Lehne eines Klappstuhls zerschlug. Ein Rasseln und Klirren, dann wurde der gezackte Flaschenhals, der im warmen Schein der Lampen funkelte, ins Gesicht ihres Vaters geschlagen. Sie sah seine aufgerissenen, hervorquellenden Augen wie Trauben platzen.

Sie schrie, und die Heftigkeit ihres Schreis schien den Saal entzweizureißen, die Dunkelheit hereinzulassen, und sie war wieder Mutter Abagail, hundertundacht Jahre alt, zu alt, o Herr, zu alt (aber Dein Wille geschehe), und sie ging im Mais spazieren, dem mystischen Mais, der flach in der Erde wurzelte, aber breit; sie hatte sich im Mais zwischen silbernem Mondlicht und schwarzen Schatten verirrt; sie konnte den Sommernachtwind hören, der sanft darin raschelte, sie konnte seinen lebenden Wachstumsgeruch riechen, den sie ihr ganzes Leben gerochen hatte (sie hatte oft gedacht, dass dies die Pflanze war, die dem ganzen Leben am nächsten kam, der Mais, dessen Geruch der Geruch des Lebens selbst war, der Anfang des Lebens, oh, sie hatte drei Männer geheiratet und an ihren Gräbern gestanden, David Trotts, Henry Hardesty und Nate Brooks, sie hatte drei Männer im Bett gehabt, hatte sie empfangen, wie eine Frau einen Mann empfangen mußte, indem sie sich ihnen fügte, und sie hatte stets sehnsüchtige Freude empfunden, den Gedanken: O Gott, welchen Spaß es mir bereitet, Sex mit meinem Mann zu machen, und wie ich es genieße, wenn er Sex mit mir macht, wenn er mir gibt, was er zu geben hat, wenn er es in mich hineinspritzt;und manchmal hatte sie im Augenblick des Höhepunkts an den Mais gedacht, den Mais mit seinen flachen, aber breiten Wurzeln, sie dachte an Fleisch und dann an den Mais, und wenn es vorbei war und ihr Mann neben ihr lag, hing der Sex -Geruch im Zimmer, der Geruch des Samens, den der Mann in sie hineingespritzt hatte, der Geruch ihrer eigenen Säfte, die sein Eindringen erleichterten, und es war ein Geruch wie geschälter Mais, mild und lieblich, ein guter Geruch).

Und dennoch hatte sie Angst, schämte sich eben dieser intimen Verbundenheit mit Erde und Sommer und Fruchtbarkeit, weil sie nicht allein war. Er war hier bei ihr, zwei Reihen links oder rechts, immer ein Stück voraus oder zurück. Der dunkle Mann war da; seine staubigen Stiefel gruben sich ins Fleisch des Bodens und schleuderten es in Klumpen weg; er grinste in der Nacht wie eine Sturmlampe.

Dann sprach er, zum ersten Mal sprach er laut, und sie konnte seinen Mondschatten sehen, groß und geduckt und grotesk fiel er in die Reihe, in der sie ging. Seine Stimme war wie der Nachtwind, der im Oktober durch die alten und fleischlosen Maisstauden stöhnt, wie das Rasseln der alten, weißen, unfruchtbaren Maispflanzen selbst, wenn sie von ihrem eigenen Ende zu sprechen scheinen. Es war eine sanfte Stimme. Es war die Stimme des Untergangs.

Sie sagte: Ich habe dein Blut in den Fäusten, alte Frau. Wenn du zu Gott betest, dann bete, daß er dich holt, bevor du jemals meine Schritte deine Stufen hinaufkommen hörst. Nicht du hast Wasser aus dem Fels sprudeln lassen, und ich habe dein Blut in den Fäusten.

Dann wachte sie auf, wachte auf in der Stunde vor der Dämmerung und dachte zuerst, sie hätte ins Bett gemacht, aber es war nur nächtlicher Schweiß, so schwer wie Tau im Mai. Ihr magerer Körper zitterte hilflos, jeder Teil von ihr sehnte sich nach Ruhe.

O Gott, o Gott, laß diesen Kelch an mir vorübergehen. 

Ihr Gott antwortete nicht. Nur der sanfte Morgenwind klopfte an die Fensterscheiben, die lose waren und frischen Kitt vertragen konnten. Schließlich stand sie auf, machte Feuer im alten Holzofen und stellte Kaffeewasser auf.

In den nächsten Tagen hatte sie viel zu tun, denn sie erwartete Gäste. Träume oder nicht, sie hatte immer gern Gäste gehabt, und das sollte auch so bleiben. Aber sie mußte alles bedächtig tun, sonst vergaß sie wieder etwas – sie vergaß in letzter Zeit vieles – oder verlegte etwas, bis sie nicht mehr wußte, wo ihr der Kopf stand.

Als erstes mußte sie zu Addie Richardsons Hühnerstall gehen, und das war ein weiter Weg, vier oder fünf Meilen. Sie fragte sich, ob ihr der Herr einen Adler schicken würde, mit dem sie diese vier Meilen fliegen konnte, oder ob er Elias schicken würde, der sie in seinem Flammenwagen mitnahm. »Gotteslästerung«, sagte sie. »Der Herr gibt Kraft, kein Taxi.« Als sie das wenige Geschirr abgewaschen hatte, zog sie ihre derben Schuhe an und nahm den Stock. Sie benutzte den Stock selten, aber heute brauchte sie ihn. Vier Meilen hin, vier Meilen zurück. Mit sechzehn wäre sie den Hinweg gerannt und den Rückweg gelaufen, aber sechzehn war sie schon lange nicht mehr.



Sie ging um acht Uhr morgens los und hoffte, die Farm der Richardsons gegen Mittag zu erreichen und während des heißesten Teils des Tages zu schlafen. Am Spätnachmittag würde sie die Hühner schlachten und in der Dämmerung den Heimweg antreten. Sie würde erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein, und dabei mußte sie an den Traum von gestern nacht denken, aber der Mann war noch weit weg. Ihre Gäste waren viel näher. Sie ging sehr langsam, langsamer noch, als sie glaubte gehen zu müssen, weil selbst jetzt noch, um halb neun am Abend, die Sonne rund und heiß und brütend am Himmel stand. Sie schwitzte nicht viel – sie hatte nicht genügend überflüssiges Fleisch auf den Knochen, den Schweiß herauszuwringen -, aber als sie den Briefkasten der Goodells erreicht hatte, mußte sie ein wenig ausruhen. Sie saß im Schatten ihres Pfefferstrauchs und aß ein paar Feigen. Weder ein Adler noch ein Taxi zu sehen. Darüber kicherte sie etwas, stand auf, wischte sich Krümel vom Kleid und ging weiter. Nee, kein Taxi. Der Herr half denen, die sich selbst halfen. Trotzdem spürte sie schon, wie ihre sämtlichen Gelenke sich einstimmten; heute nacht würde es ein Knochen-Gala-Konzert geben.

Sie bückte sich beim Gehen immer weiter über den Stock, obwohl ihre Handgelenke auch zunehmend Verdruß bereiteten. Ihre Schuhe mit den gelben Wildlederschnürsenkeln schlurften im Staub. Die Sonne schien sengend auf sie herab, und im Lauf der Zeit wurde ihr Schatten immer kürzer. An diesem Morgen sah sie mehr wilde Tiere, als sie seit den zwanziger Jahren gesehen hatte: Füchse, Waschbären, Stachelschweine, Fischreiher, Krähen waren allgegenwärtig, sie krächzten und keiften und zogen Kreise am Himmel. Hätte sie Stu Redman und Glen Bateman gehört, die sich über die willkürliche Weise unterhielten – jedenfalls erschien sie ihnen willkürlich -, wie die Super-Grippe manche Tiergattungen getötet und andere verschont hatte, dann hätte sie gelacht. Die Grippe hatte Haustiere hinweggerafft und wilde Tiere verschont, so einfach war das. Ein paar Haustiergattungen hatten zwar überlebt, aber als Faustregel galt: Die Grippe hatte die Menschen und deren beste Freunde ausgerottet. Sie hatte die Hunde geholt, aber die Wölfe in Ruhe gelassen, weil die Wölfe wild waren und die Hunde nicht.

Rotglühende Schmerzzentren waren tief in ihren Hüften, hinter jedem Knie, in den Knöcheln und den Handgelenken entstanden, mit denen sie sich auf den Stock stützte. Sie schritt aus und sprach mit ihrem Gott, ohne sich bewußt zu sein, daß sie manchmal leise, manchmal laut redete. Und sie mußte wieder über ihre Vergangenheit nachdenken. 1902 war das beste Jahr gewesen, das stimmte. Es schien, als hätte die Zeit sich danach beschleunigt; die Seiten eines dicken Abreißkalenders waren umgeblättert worden, ohne Pause. Das Leben eines Körpers ging so schnell vorbei... wie kam es, daß ein Körper es so müde sein konnte zu leben?

Sie hatte fünf Kinder von Davy Trotts bekommen; eines, Maybelle, war im alten Haus im Garten an einem Stück Apfel erstickt. Abby hatte Wäsche aufgehängt, sich umgedreht und das Baby auf dem Rücken gesehen, wo es die Händchen um den Hals krallte und purpurn anlief. Sie hatte das Apfelstück schließlich herausbekommen, aber da war die kleine Maybelle schon still und kalt gewesen, ihre einzige Tochter und das einzige ihrer vielen Kinder, das Opfer eines Unfalls geworden war.

Jetzt saß sie im Schatten einer Ulme am Zaun der Nauglers; zweihundert Meter entfernt sah sie den Staub in Asphalt übergehen – dort wurde die Freemantle Road zur Polk County Road. Die Tageshitze erzeugte ein Flimmern über dem Teer; der Horizont war Quecksilber und schimmernd wie Wasser in einem Traum. An einem heißen Tag sah man dieses Quecksilber immer ganz am Ende seines Sichtfeldes, konnte es aber nie einholen. Sie jedenfalls nie.

David war 1913 gestorben, an einer ähnlichen Grippe wie dieser jetzt, die viele Menschenleben gekostet hatte. 1916, als sie vierunddreißig gewesen war, hatte sie Henry Hardesty geheiratet, einen schwarzen Farmer aus Wheeler County im Norden. Er war eigens zur Brautwerbung gekommen. Henry war Witwer mit sieben Kindern, die bis auf zwei erwachsen und eigene Wege gegangen waren. Er war sieben Jahre älter als Abagail. Er hatte ihr zwei Jungen geschenkt, bevor er im Spätsommer unter seinen eigenen Traktor geriet und starb.

Ein Jahr danach hatte sie Nate Brookes geheiratet, und die Leute hatten geredet – o ja, die Leute reden, die Leute reden so gern, manchmal schien es, als hätten sie gar nichts anderes zu tun. Nate war Henry Hardestys Hilfskraft gewesen, und er war ihr ein guter Ehemann. Vielleicht nicht so lieb wie Henry und ganz sicher nicht so zäh, aber ein guter Mann, der meistens das gemacht hatte, was sie ihm sagte. Wenn eine Frau in die Jahre kam, war es tröstlich zu wissen, wer die Hosen anhatte.

Ihre sechs Jungs hatten ihr eine Schar von zweiunddreißig Enkelkindern beschert. Ihre zweiunddreißig Enkel hatten wiederum einundneunzig Urenkel hervorgebracht. Es wären mehr gewesen ohne die Pille, die die Mädchen heutzutage nahmen, damit sie keine Babys bekamen. Es schien, als wäre Sex für sie nur ein Spielplatz, auf dem sie sich austobten. Abagail hatte nichts für die modernen Lebensweisen der Jungen übrig, sagte aber niemals etwas. Es lag an Gott zu entscheiden, ob sie mit diesen Pillen sündigten oder nicht (und nicht an diesem kahlköpfigen alten Furz in Rom – Mutter Abagail war ihr ganzes Leben lang Methodistin gewesen und verdammt stolz darauf, daß sie nichts mit diesen verklemmten Katholiken am Hut hatte), aber Abagail wußte, was ihnen entging: die Ekstase, die man empfindet, wenn man am Eingang des Tals der Schatten steht; die Ekstase, die man empfindet, wenn man sich seinem Mann und seinem Gott hingibt, wenn man sagt, dein Wille geschehe und DeinWille geschehe; die endgültige Ekstase von Sex im Angesicht Gottes, wenn Mann und Frau die alte Sünde von Adam und Eva neu durchlebten, die jetzt aber vom Blut des Lammes reingewaschen und geläutert worden war.

Ja, ja...

Sie wollte ein Glas Wasser, sie wollte daheim in ihrem Schaukelstuhl sein, sie wollte in Ruhe gelassen werden. Jetzt konnte sie sehen, wie sich die Sonne im Dach des Hühnerstalles vorne links spiegelte. Eine Meile, mehr nicht. Es war Viertel nach zehn, und sie kam für ihre alten Tage gar nicht schlecht voran. Sie würde hineingehen und schlafen, bis der Abend kühler würde. Das war keine Sünde. In ihrem Alter nicht. Sie schlurfte an der Böschung entlang; inzwischen waren ihre schweren Schuhe von Straßenstaub überzogen.

Nun, sie hatte viele Verwandte als Trost ihres hohen Alters, das war immerhin etwas. Manche, wie Linda und der fahrende Händler, den sie geheiratet hatte, kamen nicht zu Besuch, aber es gab auch Gute wie Molly und Jim und David und Cathy, und die machten mehr als tausend Lindas und fahrende Händler wett, die von Tür zu Tür gingen und Kochtöpfe ohne Wasser verkauften. Luke, ihr letzter Bruder, war 1949 im Alter von achtzigundirgendwas gestorben, und das letzte ihrer Kinder, Samuel, 1974 im Alter von vierundfünfzig. Sie hatte alle Kinder überlebt, und das sollte eigentlich nicht sein, aber es schien, als hätte der Herr besondere Pläne mit ihr.

1984, als sie hundert geworden war, war ihr Bild in der Zeitung von Omaha abgebildet gewesen, und sie hatten einen Fernsehreporter geschickt, der einen Bericht über sie machte. »Welcher Tatsache schreiben Sie Ihr hohes Alter zu?« hatte der junge Mann sie gefragt, und er schien enttäuscht über die kurze, beinahe schroffe Antwort zu sein: »Gott.« Die Leute wollten hören, daß sie Bienenwachs aß oder kein gebratenes Schweinefleisch anrührte oder daß sie die Beine beim Schlafen hochlegte. Aber das alles machte sie nicht, warum sollte sie lügen? Gott gibt Leben und nimmt es, wenn es ihm gefällt.

Cathy und David hatten ihr einen Fernseher geschenkt, damit sie sich selbst in den Nachrichten sehen konnte, und sie bekam einen Brief von Präsident Reagan persönlich (auch nicht mehr der Jüngste), der ihr zu ihrem »fortgeschrittenen Alter« und der Tatsache gratulierte, daß sie, seit sie das Stimmrecht besaß, republikanisch gewählt hatte. Nun, für wen hätte sie sonst stimmen sollen? Roosevelt und seine Bande waren allesamt Kommunisten gewesen. Und als Abby die Hundert vollgemacht hatte, hatte ihr die Stadt Hemingford Home die Steuern »auf Dauer« erlassen, und zwar wegen demselben »fortgeschrittenen Alter«, zu dem Ronald Reagan ihr gratuliert hatte. Sie bekam eine Urkunde, auf der stand, daß sie die älteste lebende Einwohnerin von Nebraska wäre, als wäre das etwas, das kleine Kinder auch werden wollten, wenn sie gross wurden. Das mit den Steuern jedenfalls war gut, auch wenn der Rest reine Narretei gewesen war – hätten sie das mit den Steuern nicht getan, hätte sie das bißchen Land, das ihr geblieben war, auch noch verloren. Das meiste war sowieso schon lange fort; der Grundbesitz der Freemantles und die Macht der Farmervereinigung hatten beide im magischen Jahr 1902 die Hochwassermarke erreicht, und danach war es stetig bergab gegangen. Fünfzehn Hektar, mehr war es nicht mehr. Der Rest war entweder wegen Steuerschulden verkauft oder im Lauf der Jahre zu Geld gemacht worden ... und ihre eigenen Söhne hatten einen Großteil verkauft, wie Abby beschämt zugeben mußte.

Letztes Jahr hatte sie einen Brief von einer Gesellschaft in New York bekommen, die sich American Geriatrics Society nannte. In dem Brief stand, sie wäre der sechstälteste Mensch in den Vereinigten Staaten, die drittälteste Frau. Der älteste US-Bürger war ein Mann in Santa Rosa, Kalifornien. Der Mann in Santa Rosa war hundertzweiundzwanzig. Sie hatte sich diesen Brief von Jim einrahmen lassen und neben den Brief des Präsidenten gehängt. Dazu war Jim erst im Februar gekommen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte – damals hatte sie Molly und Jim zuletzt gesehen.

Sie hatte nun die Farm der Richardsons erreicht. Sie lehnte sich fast völlig erschöpft an den Zaunpfahl dicht bei der Scheune und betracht ete sehnsüchtig das Haus. Drinnen war es kühl, kühl und angenehm. Ihr war, als könnte sie eine Ewigkeit schlafen. Aber bevor sie das konnte, mußte sie noch etwas tun. Viele Tiere waren auch an der Krankheit eingegangen – Pferde, Hunde, Ratten -, und sie mußte wissen, ob Hühner auch dazu gehörten. Es wäre ein bitterer Witz, zu erfahren, daß sie den weiten Weg zurückgelegt hatte, nur um festzustellen, daß es hier bloß tote Hühner gab.

Sie schlurfte zum Hühnerstall, der an die Scheune angrenzte, und blieb stehen, als sie die Hühner drinnen gackern hören konnte. Einen Moment später krähte gereizt ein Hahn.

»Na also«, murmelte sie. »Soweit, so gut.«

Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie den Leichnam beim Holzstoß sah. Eine Hand lag auf dem Gesicht des Toten. Es war Bill Richardson, Addies Schwager. Hungrige Tiere hatten sich ausgiebig über ihn hergemacht.

»Armer Mann«, sagte Abagail. »Armer, armer Mann. Engelscharen mögen dich singend zur letzten Ruhe betten, Billy Richardson.«

Sie wandte sich wieder dem kühlen, einladenden Haus zu. Es schien Meilen entfernt zu sein, obwohl es sich in Wirklichkeit nur auf der anderen Hofseite befand. Sie war nicht sicher, ob sie es bis dahin schaffen würde; sie war vollkommen erschöpft.

»Der Wille des Herrn geschehe«, sagte sie und setzte sich in Bewegung.

Die Sonne schien durch das Fenster des Gästezimmers, wo sie sofort eingeschlafen war, als sie die Schuhe ausgezogen und sich hingelegt hatte. Eine Zeitlang begriff sie gar nicht, warum das Licht noch so hell war; es war ungefähr so ein Gefühl, wie es Larry Underwood gehabt hatte, als er neben der Steinmauer in New Hampshire aufgewacht war.

Sie setzte sich auf, und die angestrengten Muskeln und schwachen Knochen ihres Körpers schrien vor Schmerz. »Allmächtiger Gott, muß den Nachmittag und die ganze Nacht geschlafen haben!«

Wenn das so war, mußte sie wirklich müde gewesen sein. Sie fühlte sich so lahm, daß sie fast zehn Minuten brauchte, um aus dem Bett aufzustehen und ins Bad zu gehen; weitere zehn, urn die Schuhe anzuziehen. Das Gehen war eine Qual, aber sie wußte, daß sie gehen mußte. Wenn sie es nicht tat, würde sie starr wie ein Stück Eisen werden.

Hinkend und lahmend ging sie zum Hühnerhaus, trat ein und verzog das Gesicht angesichts der explosiven Hitze, des Geruchs von Geflügel und des unvermeidlichen Gestanks nach Verwesung. Die Wasserversorgung funktionierte automatisch, eine Schwerkraftpumpe holte es aus Richardsons artesischem Brunnen, aber es war fast kein Futter mehr da, und viele Tiere waren an der Hitze eingegangen. Die schwächeren waren schon lange verhungert oder totgepickt worden; sie lagen zwischen Futter und Dreck herum wie Schneereste, die traurig vor sich hinschmolzen.

Die meisten Hühner liefen flügelschlagend vor ihr davon, aber die brütigen blinzelten sie nur mit ihren dummen Augen an, während Abby langsam auf sie zuschlurfte. So viele Krankheiten waren tödlich für Hühner, daß sie schon Angst gehabt hatte, sie könnten an der Grippe eingegangen sein, aber diese sahen gesund aus. Gott hat's gegeben.

Sie nahm drei der fettesten Tiere und steckte ihnen die Köpfe unter die Flügel. Sie schliefen sofort ein. Abby steckte sie in einen Sack und stellte fest, sie war so steif, daß sie den Sack nicht heben konnte. Sie mußte ihn über den Boden schleifen.

Die anderen Hennen äugten mißtrauisch von ihren Stangen herab, bis die alte Frau verschwunden war, dann setzten sie ihren Streit um das schwindende Futter fort.

Es war jetzt fast neun Uhr vormittags. Sie setzte sich auf die Bank, die Richardson auf dem Hof um seine große Eiche herumgebaut hatte, und dachte ein wenig nach. Es schien ihr am günstigsten, erst bei Einbruch der Dämmerung nach Hause zu gehen, wie sie es sich ursprünglich vorgenommen hatte. Sie hatte einen Tag verloren, aber ihre Gäste waren noch unterwegs. Sie konnte den Tag nutzen, die Hühner schlachten und rupfen und sich ausruhen.

Ihre Muskeln ließen sich schon etwas besser bewegen, und sie hatte ein lange vermißtes, nagendes, aber angenehmes Gefühl unter dem Brustbein. Sie brauchte einige Zeit, bis ihr klar war, was es war... sie hatte Hunger! Heute morgen hatte sie tatsächlich Hunger, gelobt sei Gott, und wie lange war es her, seit sie zuletzt aus einem anderen Grund als der Macht der Gewohnheit gegessen hatte? Sie war wie der Heizer einer Lokomotive gewesen, der Kohlen schaufelte, mehr nicht. Aber wenn sich diese drei Hühner von ihren Köpfen verabschiedet hatten, würde sie nachsehen, was Addie noch in der Speisekammer hatte, und beim gesegneten Herrn, sie würde genießen, was sie fand. Siehst du? ermahnte sie sich selbst. Der Herr weiß es eben am besten. Gesegnete Zuversicht, Abagail, gesegnete Zuversicht.

Ächzend und schnaufend schleppte sie den Sack zum Haublock, der zwischen Scheune und Holzschuppen stand. Gleich hinter der Tür des Schuppens hing Billy Richardsons Hackbeil an einem Holzpflock, dazu ein Gummihandschuh. Sie nahm das Beil und ging wieder nach draußen.

»O Herr«, sagte sie, als sie in ihren staubigen gelben Stiefeln neben dem Sack stand und zum wolkenlosen Sommerhimmel aufsah, »Du hast mir die Kraft gegeben, den langen Weg zu gehen, und ich glaube, Du wirst mir auch die Kraft geben, den Rückweg zu schaffen. Dein Prophet Jesaja hat gesagt, wenn ein Mann oder eine Frau an den Herrn der Heerscharen glaubt, dann soll er aufsteigen mit Adlerschwingen. Ich verstehe nicht viel von Adlern, o Herr, außer, daß sie bösartige Vögel sind, die weit sehen können, aber ich habe drei Brathühner in diesem Sack, und ich will ihnen die Köpfe abhacken und nicht meine eigene Hand. Dein Wille geschehe, Amen.«

Sie nahm den Sack, öffnete ihn und sah hinein. Eine der Hennen hatte immer noch den Kopf unter dem Flügel und schlief. Die beiden anderen hatten sich aneinandergedrängt und bewegten sich kaum. Im Sack war es dunkel, die Hennen glaubten, es wäre Nacht. Nur ein New Yorker Demokrat konnte dümmer sein als eine brütige Henne. Abagail nahm eine heraus und legte sie auf den Block, bevor sie wußte, wie ihr geschah. Sie schlug kräftig mit dem Beil zu und zuckte wie immer zusammen, als sie hörte, wie die Schneide endgültig und häßlich ins Holz fuhr. Der Kopf fiel auf einer Seite des Hackklotzes in den Staub. Die enthauptete Henne rannte blutspritzend und flügelschlagend über Richardsons Hof. Nach einer Weile stellte sie schließlich fest, daß sie tot war, und legte sich hin, wie es sich gehört. Brütige Hennen und New Yorker Demokraten, mein Gott, mein Gott.

Dann war sie fertig, und ihre Sorge, sie könnte es vielleicht nicht schaffen oder sich dabei verletzen, war für die Katz gewesen. Gott hatte ihr Gebet erhört. Drei gute Hühner, und sie mußte sie nur noch nach Hause bringen.

Sie verstaute die Tiere wieder im Sack und hängte Billy Richardsons Beil wieder auf. Dann ging sie ins Haus, um etwas Eßbares zu suchen.



Sie schlief den frühen Nachmittag über und träumte, daß ihre Gäste sich allmählich näherten; sie waren jetzt südlich von New York und fuhren in einem alten Kleintransporter. Es waren sechs, darunter ein taubstummer junger Mann. Aber dennoch ein gescheiter Junge. Er war derjenige, mit dem sie reden mußte.

Sie wachte gegen halb vier auf, ein wenig steif, aber sonst fühlte sie sich ausgeruht und erfrischt. In den nächsten zweieinhalb Stunden rupfte sie die Hennen, machte Pause, wenn die Arbeit den arthritischen Fingern zuviel Schmerz bereitete, und fing wieder an. Bei der Arbeit sang sie fromme Lieder – »Seven Gates to the City (My Lord Hallelu')«, »Trust and Obey« und ihr Lieblingslied »In the Garden«.

Als sie mit der letzten Henne fertig war, hatte sie Migräne in jedem Finger, und das Tageslicht hatte jenen stillen goldenen Glanz angenommen, der den Vorboten der Dämmerung ankündigt. Es war Ende Juli, die Tage wurden kürzer.

Sie ging ins Haus und aß noch etwas. Das Brot war alt, aber nicht schimmlig-kein Schimmel würde es wagen, in Addie Richardsons Küche sein grünes Gesicht zu zeigen -, und sie fand ein angebrochenes Glas Erdnußbutter. Sie aß ein Erdnußbutterbrot und machte noch eins, das sie in die Tasche ihres Kleides steckte – für den Fall, daß sie später Hunger bekommen sollte.

Jetzt war es zwanzig vor sieben. Sie ging wieder nach draußen, nahm den Sack auf und ging vorsichtig die Verandastufen hinunter. Sie hatte die Federn ordentlich in einen anderen Sack gerupft, aber ein paar waren davongeflogen und hingen jetzt in Richardsons Hecke, die vor Wassermangel vertrocknete.

Abagail seufzte schwer und sagte: »Ich mache mich auf den Weg, Herr. Nach Hause. Ich werde langsam gehen und wohl erst gegen Mitternacht ankommen, aber die Schrift sagt, fürchtet nicht die Schrecken der Nacht noch die Gefahren des Tages. Ich erfülle Deinen Willen, so gut ich kann. Begleite mich auf meinem Weg. Um Jesu willen, Amen.«

Als sie die Stelle erreichte, wo der Asphalt aufhörte und der Sandweg anfing, war es schon dunkel. Grillen zirpten, Frösche quakten an einer Wasserstelle, wahrscheinlich Cal Coodells Tränke. Der Mond würde groß und rot wie Blut aufgehen, bis er höher am Himmel stand.

Sie setzte sich, um sich auszuruhen, und aß ihr Erdnußbutterbrot (sie hätte viel für Johannisbeergelee gegeben, damit es nicht so klebrig schmeckte, aber Addie bewahrte ihr Eingemachtes im Keller auf, und das waren einfach zu viele Stufen). Der Sack stand neben ihr. Sie hatte wieder Schmerzen, und ihre Kraftreserven schienen fast verbraucht, obwohl sie noch zweieinhalb Meilen vor sich hatte... aber sie empfand eine seltsame Heiterkeit. Wie lange war es her, daß sie in der Dunkelheit draußen gewesen war, unter dem Baldachin der Sterne? Sie schienen so hell wie immer, und wenn sie Glück hatte, sah sie vielleicht eine Sternschnuppe und konnte sich etwas wünschen. Eine warme Nacht wie heute, die Sterne und der Mond, der mit seinem roten Liebhabergesicht über den Horizont sah, erinnerten sie an ihre Mädchenzeit mit ihrer Unruhe, ihren Temperamentsausbrüchen und der Verletzbarkeit, als die Zeit des Mysteriums nahte. Oh, auch sie war ein junges Mädchen gewesen. Es gab viele Leute, die das nicht glauben wollten, so wenig wie die Tatsache, daß jeder Mammutbaum einmal ein grüner Schößling war. Aber sie war ein Mädchen gewesen, und zu der Zeit war die kindliche Angst vor der Nacht ein wenig zurückgetreten, und die Angst, die Erwachsene in der Nacht empfinden, wenn alles leise ist und man die Stimme seiner ewigen Seele hören kann, lag noch in der Ferne. In der kurzen Zeit, die dazwischenlag, war die Nacht ein duftendes Rätsel gewesen, eine Zeit, wenn man zum sternenübersäten Himmel hinaufsah und der Brise lauschte, die so berauschende Düfte herantrug, und man fühlte sich dem Herzschlag des Universums nahe, der Liebe und dem Leben. Es erschien, als würde man ewig jung bleiben und –  Dein Blut ist in meinen Fäusten.

Sie spürte, wie heftig an dem Sack gezerrt wurde, und zuckte zusammen.

» He!« schrie sie mit ihrer brüchigen alten Stimme. Sie zog den Sack zu sich heran und sah, daß er unten einen Riß hatte.

Dann hörte sie ein leises Knurren. Am Straßenrand, zwischen Schotterböschung und Maisfeld, saß ein großes braunes Wiesel. Es sah sie mit rollenden Augen an, in denen sich das rote Licht des Mondes spiegelte. Dann kam noch eins. Noch eins. Noch eins.

Sie sah zur anderen Straßenseite und stellte fest, daß dort eines neben dem anderen hockte. Sie witterten die Hühner im Sack. Wie hatten sich so viele um sie herumschleichen können? fragte sie sich mit wachsender Angst. Sie war einmal von einem Wiesel gebissen worden; sie hatte den Arm unter die Veranda des großen Hauses gestreckt, um einen roten Gummiball zu holen, der dorthin gerollt war, und etwas, das sich wie ein Mundvoll Nadeln angefühlt hatte, hatte sich in ihren Unterarm verbissen. Die unerwartete Tücke, der Schmerz, rotglühend und plötzlich und grell, hatte sie aus dem täglichen Einerlei gerissen, und das Erschrecken hatte ebenso wie die körperlichen Schmerzen dazu geführt, daß sie schrie. Sie hatte den Arm zurückgezogen, und das Wiesel war daran hängengeblieben; ihr eigenes Blut war ihm über das braune Fell geperlt, und der Körper des Wiesels hatte in der Luft hin und her gezuckt wie der einer Schlange. Sie hatte geschrien und mit dem Arm gerudert, aber das Wiesel hatte nicht losgelassen; es schien ein Teil von ihr geworden zu sein.

Ihre Brüder Micah und Matthew waren im Hof gewesen, ihr Vater auf der Veranda, wo er in einem Versandhauskatalog blätterte. Sie waren alle herangestürmt, und einen Augenblick standen sie wie vom Donner gerührt, als sie Abagail sahen, gerade zwölf, die auf der Lichtung herumhüpfte, wo bald die neue Scheune gebaut werden sollte, während das braune Wiesel, dessen Pfoten in der Luft nach Halt suchten, wie eine Stola von ihrem Arm hing. Blutspritzer waren auf ihrem Kleid, ihren Beinen und Schuhen.

Ihr Vater hatte als erster gehandelt. John Freemantle hatte ein Stück Feuerholz neben dem Hackklotz aufgehoben und gebrüllt: » Bleib stehen, Abby!« Seine Stimme, schon seit ihrer frühesten Kindheit die Stimme absoluter Befehlsgewalt, drang durch das Zetern und Schnattern der Panik in ihren Verstand, wo alles andere wahrscheinlich ungehört geblieben wäre. Sie blieb still stehen, das Holzscheit sauste herunter, stechende Schmerzen rasten bis hinauf in ihre Schulter (sie hatte gedacht, daß der Arm ganz sicher gebrochen war), dann lag das braune DING, das derartigen Schmerz und Schock in ihr bewirkt hatte – in der gräßlichen Hitze dieser wenigen Augenblicke waren die beiden Empfindungen untrennbar miteinander verbunden -, auf dem Boden, sein Fell war mit ihrem Blut verschmiert, und dann sprang Micah in die Luft und landete mit beiden Füßen darauf; man hörte ein letztes, häßliches, endgültiges Knirschen, als würde man eine Zuckerstange mit den Zähnen zerbeißen, und wenn es bis dahin nicht tot gewesen war, dann war es jetzt ganz bestimmt tot. Abagail hatte nicht das Bewußtsein verloren, aber sie war in schluchzende, kreischende Hysterie verfallen.


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