Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
Жанр:
Ужасы
сообщить о нарушении
Текущая страница: 77 (всего у книги 100 страниц)
58
Fran und Larry saßen in der Wohnung von Stu und Fran am Küchentisch und tranken Kaffee. Unten spielte Leo auf der Gitarre, die Larry bei Earthly Sounds für ihn ausgesucht hatte. Es war eine schöne Gibson aus handpoliertem Kirschbaumholz für sechshundert Dollar. Dann hatte er noch einen batteriebetriebenen Plattenspieler und ungefähr ein Dutzend Folk– und Blues-Alben mitgenommen. Jetzt war Lucy unten bei ihm, und eine erstaunlich gute Version von Dave van Ronks »Backwater Blues« drang zu ihnen herauf.
»Well it rained five days
and the sky turned black as night...
There's trouble takin place,
on the bayou tonight.«
Durch den Türbogen zum Wohnzimmer konnten Fran und Larry Stu in seinem Lieblingssessel sitzen sehen. Harolds Hauptbuch lag offen auf seinem Schoß. Seit vier Uhr nachmittags saß er schon so. Jetzt war es neun und dunkel. Er hatte nichts gegessen. Als Frannie hinübersah, blätterte er eine weitere Seite um.
Unten war Leo mit dem »Backwater Blues« fertig; es folgte eine Pause.
»Er spielt gut, nicht?« sagte Fran.
»Besser, als ich je werde«, antwortete Larry. Er trank einen Schluck Kaffee.
Von unten erklang plötzlich ein vertrauter Rhythmus, ein rascher Lauf am Griffbrett, eine nicht ganz standardisierte Blues-Folge, bei der Larry mit der Kaffeetasse innehielt. Und dann Leos Stimme, leise und einschmeichelnd, die den Text zu dem langsamen, treibenden Beat beisteuerte:
»Hey baby I come down bere tonight
And l didn't come to get in no fight,
I just want to say if you can,
Tell me once and I'll understand,
Baby, can you dig your man?
He's a righteous man,
Baby, can you dig your man?«
Larry verschüttete seinen Kaffee.
»O je«, sagte Fran, stand auf und holte einen Lappen.
»Laß mich das machen«, sagte er, »wenn ich mich schon so dämlich anstelle. «
»Nein, bleib sitzen.« Sie nahm das Tuch und wischte rasch den Fleck weg. »An den Song erinnere ich mich. Kurz vor der Grippe war er ein Hit. Er muß sich die Single in der Stadt besorgt haben.«
»Sicher.«
»Wie hieß der Typ noch? Der Sänger, der die Platte gemacht hat?«
»Das weiß ich nicht mehr«, sagte Larry. »Die Pop-Musik ist so schnell gekommen und gegangen.«
»Ja, aber er kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte sie und wrang den Lappen über der Spüle aus. »Komisch, wie einem so was auf der Zunge liegen kann, nicht?«
»Ja«, sagte Larry.
Stu klappte das Hauptbuch mit einem leisen Schnappen zu, und zu Larrys Erleichterung sah Fran nun ihn an, als er in die Küche kam. Ihr Blick fiel zuerst auf den Revolver an seiner Hüfte. Er trug ihn seit seiner Wahl zum Marshal und hatte eine Menge Witze darüber gemacht, daß er sich einmal in den Fuß schießen würde. Fran fand diese Witze überhaupt nicht komisch.
»Nun?« fragte Larry.
Stus Gesicht zeigte tiefe Verstörung. Er legte das Hauptbuch auf den Tisch und setzte sich. Fran wollte ihm eine Tasse Kaffee bringen, aber er schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Liebes«, sagte er. Er sah Larry zerstreut, fast abwesend an. »Ich habe es ganz durchgelesen, und jetzt habe ich elende Kopfschmerzen. Ich bin es nicht gewöhnt, soviel zu lesen. Das letzte Buch, das ich auf einmal durchgelesen habe, war diese Kaninchengeschichte. Watership Down. Ich habe es für einen Neffen gekauft und einfach zu lesen angefangen ...«
Er schwieg einen Augenblick und dachte nach.
»Das habe ich auch gelesen«, sagte Larry. »Tolles Buch.«
»Da gab es diesen einen Kaninchenbau«, sagte Stu, »da hatten sie es alle gut. Sie waren groß und wohlgenährt, und sie lebten immer nur an einem Ort. Dort stimmte etwas nicht, aber kein Kaninchen wußte, was es war. Es schien, als wollten sie es nicht wissen. Nur... nur, wißt ihr, da war dieser Farmer...«
Larry sagte: »Er ließ den Bau in Ruhe, damit er jederzeit ein Kaninchen für den Kochtopf bekam, wenn er eins wollte. Oder er hat sie verkauft. Jedenfalls hatte er seine eigene kleine Kaninchenfarm.«
»Ja. Und da gab es ein Kaninchen, es hieß Silverweed, und es machte Gedichte über den glänzenden Draht – die Schlinge, in der der Farmer sie gefangen hat, vermute ich. Darüber machte Silverweed Gedichte.« Er schüttelte langsam, müde und ungläubig den Kopf. »Und daran erinnert Harold mich. An das Kaninchen Silverweed.«
»Harold ist krank«, sagte Fran.
»Ja.« Stu zündete sich eine Zigarette an. »Und gefährlich.«
»Was sollen wir tun? Ihn verhaften?«
Stu klopfte auf das Hauptbuch. »Er und diese Cross planen etwas, das ihnen im Westen einen freundlichen Empfang garantiert. Aber in diesem Buch steht nicht, was es ist.«
»Es werden eine Menge Leute erwähnt, nach denen er nicht gerade verrückt ist«, sagte Larry.
»Werden wir ihn verhaften?« fragte Fran noch einmal.
»Ich weiß es einfach nicht. Ich möchte es vorher im Komitee besprechen. Was liegt denn für morgen vor, Larry?«
»Nun, die Sitzung gliedert sich in zwei Hälften, öffentliche Angelegenheiten und private. Brad will über sein Elektrogeräte-Team sprechen. AI Bundell will einen vorläufigen Bericht des JustizKomitees abgeben. Mal sehen... George Richardson über Sprechzeiten in Dakota Ridge, dann Chad Norris. Danach gehen sie, und wir sind unter uns.«
»Wenn wir AI Bundell bitten, noch zu bleiben, und ihn über diese Sache mit Harold informieren, können wir sicher sein, daß er den Mund hält?«
»Da bin ich ganz sicher«, sagte Fran.
Stu sagte verdrossen: »Ich wünschte, der Richter wäre hier. Dem Mann habe ich vertraut.«
Sie schwiegen einen Augenblick, dachten an den Richter und fragten sich, wo er heute nacht sein würde. Von unten konnte man Joe hören, der »Sister Kate« wie Tom Rush spielte.
»Aber wenn es nun mal AI sein muß, na gut. Ich sehe sowieso nur zwei Möglichkeiten. Wir müssen die beiden aus dem Verkehr ziehen. Aber ich will sie nicht einsperren, verdammt.«
»Was bleibt dann?« fragte Larry.
Fran antwortete. »Verbannung.«
Larry drehte sich zu ihr um. Stu nickte langsam und zog an der Zigarette.
»Ihn einfach wegjagen?« fragte Larry.
»Ihn und sie«, sagte Stu.
»Aber wird Flagg sie einfach so nehmen?« fragte Frannie. Da sah Stu zu ihr auf. »Liebes, das ist nicht unser Problem.«
Sie nickte und dachte: Oh, Harold, ich habe nicht gewollt, daß es so endet. In einer Million Jahre wollte ich nicht, daß es so endet.
»Eine Ahnung, was er im Schilde führen könnte?« fragte Stu. Larry zuckte die Achseln. »Dazu müßte man die Meinung des ganzen Komitees hören, Stu. Aber ein paar Sachen fallen mir ein.«
»Zum Beispiel?«
»Das Kraftwerk. Sabotage. Ein Anschlag auf dich und Frannie. Die beiden fallen mir zuerst ein.«
Fran sah blaß und entsetzt drein.
Larry fuhr fort: »Er hat es zwar nicht offen ausgesprochen, aber ich glaube, er hat sich nur an der Suche nach Mutter Abagail beteiligt, weil er gehofft hat, er könnte dich allein erwischen und umbringen.«
Stu sagte: »Die Chance hatte er.«
»Vielleicht hat er Schiß gekriegt.«
»Könnt ihr denn nicht aufhören?« fragte Fran dumpf. »Bitte.«
Stu stand auf und ging ins Wohnzimmer zurück. Dort war ein CB an eine Die-Hard-Batterie angeschlossen. Nach einigen Bemühungen erreichte er Brad Kitchner.
»Brad, alter Junge! Stu Redman. Hör zu. Kannst du ein paar Leute zusammentrommeln, die heute nacht das Kraftwerk bewachen?«
»Klar«, sagte Brads Stimme. »Aber warum, in Gottes Namen?«
»Eine heikle Angelegenheit, Bradley. Ich habe hie und da munkeln hören, daß jemand dort was anstellen könnte.«
Brads Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Stu nickte dem Mikro zu und lächelte. »Ich kann dich verstehen. Es ist nur für heute abend, vielleicht für morgen, soweit ich es beurteilen kann. Dann haben wir die Sache wahrscheinlich ausgebügelt.«
Brad sagte ihm, er könne zwölf Leute vom Kraftwerkskomitee auftreiben, ohne weiter als zwei Blocks zu laufen, und jeder einzelne würde es gerne mit jedem Unruhestifter aufnehmen. »Geht es um Rieh Moffat?«
»Nein, nicht Rieh. Hör mal, ich erzähl' dir alles später, okay?«
»Okay, Stu. Ich lasse Wachen aufstellen.«
Stu schaltete das CB-Gerät aus und ging in die Küche zurück. »Die Leute fragen nicht einmal nach, und das macht mir Angst. Der alte kahle Soziologe hat recht. Wir könnten uns hier wie Könige etablieren, wenn wir wollten.«
Fran legte ihre Hand auf seine. »Du mußt mir etwas versprechen. Ihr beide. Versprecht mir, daß wir es in der Sitzung morgen abend ein für allemal klären. Ich will, daß es vorbei ist.«
Larry nickte. »Verbannung. Ja. Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber ich halte das für die beste Lösung. Nun, jetzt nehme ich Lucy und Leo und gehe nach Hause.«
»Wir sehen uns morgen, Stu.«
»Ja.« Er ging hinaus.
Bevor es am Morgen des 2. September dämmerte, stand Harold am Rand des Sunrise Amphitheater und schaute nach unten. Die Stadt lag im Dunkeln. Nadine schlief hinter ihm in dem kleinen Zwei-MannZelt, das sie sich zusammen mit anderer Camping-Ausrüstung besorgt hatten, als sie aus der Stadt geschlichen waren.
Wir werden zurückkommen. Mit Streitwagen.
Aber insgeheim zweifelte Harold daran. In mehr als einer Hinsicht lag Finsternis über ihm. Die elenden Dreckskerle hatten ihm alles genommen – Frannie, seine Selbstachtung, sein Hauptbuch und jetzt auch noch seine Hoffnung. Er sah seinen Niedergang kommen. Der Wind wehte heftig, zerzauste sein Haar und schlug die straffe Zeltplane unablässig wie Maschinengewehrfeuer flatternd hin und her. Hinter ihm stöhnte Nadine im Schlaf. Es war ein furchteinflößender Laut. Harold dachte, daß sie so schlimm wie er dran war, vielleicht schlimmer. Die Laute, die sie im Schlaf von sich gab, waren nicht die eines Menschen, der glückliche Träume hatte.
Aber ich kann geistig gesund bleiben. Das kann ich. Wenn ich dem, was mich erwartet, mit klarem Verstand gegenübertreten kann, das ist schon mal was. Ja, das ist was.
Er fragte sich, ob sie momentan da unten waren, Stu und seine Freunde, und sein kleines Haus umzingelten, darauf warteten, dass er nach Hause kam, damit sie ihn festnehmen und in den Bunker werfen konnten. Er würde in die Geschichtsbücher eingehen – das hieß, wenn einer von diesen Jammerlappen übrigblieb, um sie zu schreiben – als erster Knastbruder der Freien Zone. Willkommen, harte Zeiten. HAWK GEFANGEN, brabbel, brabbel, lesen Sie die Hintergründe. Nun, da konnten sie lange warten. Das große Abenteuer hatte begonnen, und er sah noch zu deutlich vor sich, wie Nadine die Hand auf das schlohweiße Haar gelegt und gesagt hatte: Zu spät, Harold. Ihre Augen waren wie die einer Leiche gewesen.
»Also gut«, flüsterte Harold. »Wir ziehen es durch.« Um ihn herum und über ihm trommelte der dunkle Septemberwind in den Bäumen.
Die Versammlung des Komitees der Freien Zone Boulder wurde etwa vierzehn Stunden später im Wohnzimmer des Hauses von Ralph Brentner und Nick Andros feierlich eröffnet. Stu saß in einem Ohrensessel und pochte mit einer Bierdose auf den Tisch. »Okay, Leute, wir sollten anfangen.«
Glen saß mit Larry auf dem Sims des freistehenden Kamins; sie hatten dem bescheidenen Feuer, das Ralph dort gemacht hatte, den Rücken zugewandt. Nick, Susan Stern und Ralph selbst saßen auf dem Sofa. Nick hielt den unvermeidlichen Block nebst Bleistift in der Hand. Brad Kitchner stand mit einer Dose Coors in der Hand unter der Tür und unterhielt sich mit AI Bundeil, der an einem Scotch mit Soda tätig war. George Richardson und Chad Norris saßen am großen Fenster und betrachteten den Sonnenuntergang über den Flatirons.
Frannie saß gemütlich mit dem Rücken an der Schranktür, wo Nadine die Bombe versteckt hatte. Den Rucksack mit Harolds Hauptbuch darin hatte sie zwischen den überkreuzten Beinen.
»Ruhe, bitte, Ruhe!« sagte Stu und klopfte fester. »Läuft das Band, Platte?«
»Prima«, sagte Glen. »Wie ich sehe, funktioniert dein Mundwerk auch bestens, Ost-Texaner.«
»Ich öle es immer gut, dann läuft es wie geschmiert«, sagte Stu lächelnd. Er betrachtete die elf Menschen, die sich im Wohn/Eßzimmer verteilt hatten. »Okay, wir haben eine Menge zu tun, aber vorher möchte ich mich bei Ralph bedanken, der uns das Dach über dem Kopf, Fusel und Cracker liefert...«
Er wird wirklich ziemlich gut, dachte Frannie. Sie versuchte abzuschätzen, wie sehr sich Stu verändert hatte, seit sie und Harold ihm begegnet waren, konnte es aber nicht. Man beurteilt das Verhalten von Menschen, denen man nahe ist, zu subjektiv, entschied sie. Aber sie wußte, als sie ihn kennengelernt hatte, hätte die Vorstellung, den Vorsitz über eine Versammlung von elf Menschen führen zu müssen, ihn in Panik versetzt, und angesichts der Vorstellung, eine Versammlung von mehr als tausend Mitbürgern der Freien Zone zu leiten, wäre er wahrscheinlich durch die Decke gegangen. Sie sah jetzt einen Stu vor sich, den es ohne die Seuche nie gegeben hätte.
Sie hat dich befreit, Liebster, dachte sie. Ich kann um die anderen weinen und trotzdem stolz auf dich sein und dich so sehr lieben...
Sie ruckte ein Stück und preßte den Rücken fester gegen die Schranktür.
»Zuerst werden unsere Gäste sprechen«, sagte Stu, »danach halten wir eine kurze nichtöffentliche Sitzung ab. Einwände?«
Es gab keine.
»Okay«, sagte Stu. »Ich erteile Brad Kitchner das Wort, und ihr solltet ihm besser zuhören, denn seinetwegen habt ihr in drei Tagen wieder Eiswürfel für euren Bourbon.«
Das löste eine herzhafte Runde spontanen Applaus aus. Brad errötete heftig, zupfte an der Krawatte und ging in die Mitte des Zimmers. Unterwegs stolperte er beinahe über ein Sitzkissen.
»Ich bin wirklich glücklich hier zu sein«, begann Brad mit zitternder, monotoner Stimme. Er sah aus, als hätte er sich überall wohler gefühlt, sogar am Südpol vor einer Versammlung von Pinguinen.
»Der... äh...« Er verstummte, studierte seine Notizen und strahlte dann. »Der Strom!« rief er dann aus, als hätte er gerade eine bedeutende Entdeckung gemacht. »Der Strom ist fast wieder an. Richtig.«
Er fummelte noch einmal mit seinen Notizen, dann sprach er weiter.
»Gestern hatten wir zwei Generatoren laufen, und wie ihr alle wißt, war einer überlastet und hat den Geist aufgegeben. Sozusagen. Ich will damit sagen, er ist durchgebrannt. Durchgeschmort, besser gesagt. Nun... ihr wißt ja, was ich meine.«
Sie kicherten alle, worauf sich Brad ein wenig zu entspannen schien.
»Das ist passiert, weil durch die Seuche eine Menge Elektrogeräte eingeschaltet geblieben sind und wir die anderen Generatoren nicht zugeschaltet hatten, um die Überlastung abzufangen. Die Gefahr der Überlastung können wir bannen, indem wir mehr Generatoren einschalten – schon drei oder vier hätten die Überlastung mühelos absorbiert -, aber das löst nicht das Problem der Feuergefahr. Also müssen wir alles abschalten, was wir können. Elektroherde, Heizdecken, und so weiter. Ich hatte mir folgendes gedacht: Die schnellste Möglichkeit wäre wahrscheinlich, in jedes Haus zu gehen, wo keiner wohnt, und einfach die Sicherungen rauszudrehen oder die Hauptschalter auszuschalten. Klar? Wenn wir also zum Einschalten bereit sind, sollten wir aber trotzdem ein paar grundlegende Feuerverhütungsmaßnahmen treffen. Ich habe mir die Freiheit genommen, die Feuerwache von East Boulder zu überprüfen...«
Das Feuer knackte gemütlich. Alles wird gut, dachte Fran. Harold und Nadine haben sich von alleine aus dem Staub gemacht, und das war vielleicht am besten so. Das löst das Problem, und Stu ist vor ihnen sicher. Armer Harold, du hast mir leid getan, aber zuletzt hatte ich mehr Angst als Mitleid. Das Mitleid ist immer noch da, und ich habe Angst davor, was dir zustoßen könnte, aber ich bin froh, dass dein Haus verlassen ist und du und Nadine gegangen seid. Ich bin froh, daß ihr uns in Frieden laßt.
Harold saß auf einem mit Graffiti verkritzelten Picknicktisch, der einer Seite aus dem Zen-Handbuch eines Wahnsinnigen glich. Seine Beine waren gekreuzt. Seine Augen waren distanziert, verträumt, nachdenklich. Er war wieder an jenem kalten fremden Ort, wohin Nadine ihm nicht folgen konnte, und sie hatte Angst. In den Händen hielt er das Gegenstück des Walkie-talkie im Schuhkarton. Vor ihnen lagen in atemberaubender Schönheit die steil abfallenden Hänge und die mit Fichten gesäumten Schluchten der Berge. Meilen im Osten – vielleicht zehn, vielleicht vierzig – ging das Land in die Ebene des Mittelwestens über und erstreckte sich bis zum blassen, blauen Horizont. Über diesen Teil der Welt hatte sich schon die Nacht gesenkt. Hinter ihnen war die Sonne gerade hinter den Bergen untergegangen und überzog sie mit Gold, das abblättern und verschwinden würde.
»Wann?« fragte Nadine. Sie war schrecklich aufgedreht und mußte dringend zur Toilette.
»Ziemlich bald«, sagte Harold. Sein Grinsen war zu einem weichen Lächeln geworden. Sie konnte den Ausdruck nicht recht deuten, denn sie hatte ihn bei Harold noch nie gesehen. Sie brauchte ein paar Minuten, um ihn richtig einzuordnen. Harold sah glücklich aus.
Das Komitee ermächtigte Brad 7:0, zwanzig Männer und Frauen für sein Elektrogeräte-Team zu rekrutieren. Ralph Brentner erklärte sich bereit, zwei alte Tankwagen der Feuerwehr am Boulder Reservoir mit Wasser zu füllen und am Kraftwerk bereitzustellen, wenn Brad wieder einschaltete.
Chad Norris war der nächste. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und berichtete mit leiser Stimme von der Arbeit des Beerdigungskomitees während der letzten drei Wochen. Er sagte ihnen, sie hätten die unglaubliche Zahl von fünfundzwanzigtausend Leichen begraben, also mehr als achttausend pro Woche, und er glaubte, sie hätten das Gröbste geschafft.
»Wir haben entweder Glück gehabt, oder ein Wunder ist geschehen«, sagte er. »Dieser Massenexodus – ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll – hat uns die meiste Arbeit abgenommen. In jeder anderen Stadt von der Größe Boulders hätten wir sonst ein ganzes Jahr gebraucht. Wir glauben, daß wir bis zum ersten Oktober noch etwa zwanzigtausend Seuchenopfer begraben müssen, und wahrscheinlich werden wir noch lange danach über die eine oder andere Leiche stolpern, aber ihr sollt wissen, die Arbeit geht zügig weiter, und ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen mehr machen, daß von den noch unbegrabenen Toten Seuchen ausgehen werden.«
Fran drehte sich um, so daß sie den letzten Rest des Tages sehen konnte. Das Gold um die Gipfel verwandelte sich schon in ein weniger spektakuläres Zitronengelb. Sie verspürte plötzlich einen Anflug von Heimweh.
Es war fünf Minuten vor acht.
Wenn sie nicht in die Büsche ging, würde sie in die Hose machen. Sie ging hinter einen Strauch, kauerte sich hin und ließ strömen. Als sie zurückkam, saß Harold immer noch mit dem Walkie-talkie in der Hand auf dem Picknicktisch. Er hatte die Antenne herausgezogen.
»Harold«, sagte sie. »Es wird spät. Es ist schon nach acht.«
Er sah sie gleichgültig an. »Sie werden die halbe Nacht dort sein und sich auf die Schultern klopfen. Ich werde rechtzeitig den Stecker ziehen. Mach dir keine Sorgen.«
» Wann?«
Harolds Lächeln wurde breit und leer. »Sobald es ganz dunkel ist.«
Fran unterdrückte ein Gähnen, während AI Bundell selbstbewußt neben Stu trat. Es würde spät werden, und plötzlich wünschte sie sich, sie wären in der Wohnung, nur sie beide. Es lag nicht nur an der Müdigkeit und auch nicht nur am Gefühl von Heimweh. Sie wollte plötzlich nicht mehr in diesem Haus sein. Es gab keinen Grund für das Gefühl, aber es war stark. Sie wollte raus. Sie wollte sogar, dass alle rausgingen. Ich habe gerade meine fröhlichen Gedanken für den Abend verloren, dachte sie. Schwangerschaftsdepression, mehr nicht.
»Das Gesetzes-Komitee hat letzte Woche vier Sitzungen abgehalten«, sagte AI, »und ich will mich so kurz wie möglich fassen. Wir haben uns als System für eine Art Tribunal entschieden. Mitglieder werden durch eine Lotterie bestimmt, so wie früher junge Männer eingezogen wurden...«
»Zisch! Buuuh!« sagte Susan, was freundschaftliches Gelächter erntete.
AI lächelte. »Aber, wollte ich hinzufügen, der Dienst in diesem Tribunal dürfte für die Auserwählten wesentlich erträglicher sein als für diejenigen, die dienen mußten. Das Tribunal soll aus drei Erwachsenen bestehen – achtzehn und darüber -, die sechs Monate berufen werden. Ihre Namen werden aus einer großen Trommel gezogen, die die Namen aller Erwachsenen in Boulder enthält.«
Larry winkte mit der Hand. »Gibt es Ablehnungs– oder Entschuldigungsgründe?«
AI runzelte die Stirn ob dieser Unterbrechung und sagte: »Darauf wollte ich gerade kommen. Es müßte...«
Fran regte sich unbehaglich, und Sue Stern zwinkerte ihr zu. Fran zwinkerte nicht zurück. Sie hatte Angst – Angst vor ihrer eigenen unbegründeten Furcht, falls so etwas möglich war. Woher kam dieses erstickende Gefühl der Klaustrophobie? Sie wußte, man sollte gar nicht auf unbegründete Gefühle achten... jedenfalls in der alten Welt. Aber was war mit Tom Cullens Trance? Mit Leo Rockway?
Raus hier, schrie ihre innere Stimme plötzlich. Schaff sie alle hier raus!
Aber es war verrückt. Sie reckte sich noch einmal und beschloß, nichts zu sagen.
»...eine kurze Begründung der Person geben, die sich entschuldigen möchte, aber ich glaube nicht...«
»Jemand kommt«, sagte Fran plötzlich und stand auf. Es folgte eine Pause. Sie konnten alle Motorräder hören, die rasch auf der Baseline in ihre Richtung kamen. Hupen erklangen. Und plötzlich lief Frannies Panik über.
»Hört zu«, sagte sie, »alle!«
Überraschte, besorgte Gesichter drehten sich zu ihr um.
»Frannie, bist du...« Stu wollte auf sie zukommen. Sie schluckte. Ihr war, als hätte sie eine schwere Last auf der Brust, die sie erstickte. »Wir müssen hier raus. Auf... der Stelle.«
Es war acht Uhr fünfundzwanzig. Das letzte Licht war vom Himmel verschwunden. Es war Zeit. Harold setzte sich etwas gerader hin und hielt das Walkie-talkie an den Mund. Sein Daumen ruhte leicht auf der Sendetaste. Es würde sie alle zur Hölle sprengen, wenn er sie drückte und sagte...
»Was ist das?«
Nadines Hand an seinem Arm lenkte ihn ab; sie deutete in die Nacht. Tief unten schlich eine helle Lichterkette die Baseline hinauf. In der Ferne hörten sie das entfernte Dröhnen von vielen Motorrädern. Harold verspürte leichte Unruhe, schüttelte sie ab.
»Laß mich«, sagte er. »Jetzt ist es soweit.«
Ihre Hand fiel von seiner Schulter. Ihr Gesicht war ein weißer Fleck in der Dunkelheit. Harold drückte die Sendetaste.
Sie wußte nicht, ob die Motorräder oder ihre Worte die anderen in Bewegung setzten. Aber sie bewegten sich nicht schnell genug. Das würde ihr immer auf der Seele liegen; sie bewegten sich nicht schnell genug.
Stu war als erster draußen; das Dröhnen wurde ohrenbetäubend. Sie kamen mit gleißenden Scheinwerfern über die Brücke, die den ausgetrockneten Wasserlauf an Ralphs Haus überspannte. Stu griff nach der Waffe.
Hinter ihm ging die Tür auf, und er drehte sich in Erwartung von Frannie um. Sie war es nicht; es war Larry.
»Was ist los, Stu?«
»Ich weiß nicht. Aber wir sollten uns besser bereithalten.«
Dann fuhren die Motorräder in die Einfahrt, und Stu entspannte sich etwas. Er sah Dick Vollman, den jungen Gehringer, Teddy Weizak und andere, die er kannte. Jetzt konnte er sich eingestehen, was seine größte Angst gewesen war: daß die grellen Scheinwerfer und brüllenden Motoren die Vorhut von Flaggs Streitkräften sein könnten, daß der Krieg begonnen hatte.
»Dick«, rief Stu. »Was denn?«
»Mutter Abagail!« brüllte Dick über den Motorradlärm hinweg. Immer mehr Motorräder fuhren auf den Hof, und die Mitglieder des Komitees drängten aus dem Haus. Es war ein Karneval aufblitzender Scheinwerfer und kreisender Schatten.
»Was?« schrie Larry. Hinter ihm und Stu tauchten Glen, Ralph und Chad Norris auf und drängten Larry und Stu die Stufen hinunter.
» Sie ist zurückgekommen!« Dick mußte brüllen, um sich über die Motorfäder Gehör zu verschaffen. » Aber sie ist in schrecklicher Verfassung! Wir brauchen einen Arzt... mein Gott, wir brauchen ein Wunder!«
George Richardson schob sich nach vorn. »Die alte Frau? Wo?«
»Los doch, Doc!« rief Dick ihm zu. » Keine Fragen! Aber um Himmels willen, machen Sie schnell!«
Richardson stieg hinter Dick auf das Motorrad. Dick fuhr einen engen Kreis und schlängelte sich zwischen den anderen Maschinen hindurch.
Stu sah Larry in die Augen. Larry sah so bestürzt aus, wie Stu zumute war... aber eine Wolke zog in Stus Kopf auf, und plötzlich hatte er das schreckliche Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe.
»Nick, komm! Komm doch!« schrie Fran und packte ihn an der Schulter. Nick stand mit starrem Gesicht im Wohnzimmer.
Er konnte nicht sprechen, aber er wußte es plötzlich. Er wußtees. Es kam von nirgendwo, von überall.
Etwas war im Schrank.
Er versetzte Frannie einen gewaltigen Stoß.
»Nick...«
GEH!! gestikulierte er.
Sie ging. Er ging an den Schrank, riß die Tür auf, wühlte in dem Haufen Sachen darin und betete zu Gott, daß er nicht zu spät kam.
Plötzlich war Frannie neben Stu; ihr Gesicht war fahl, die Augen weit aufgerissen. Sie klammerte sich an ihn. »Stu... Nick ist noch da drin... etwas... etwas...«
»Frannie, wovon redest du?«
» Tod!« schrie sie ihn an. » Ich spreche vom Tod, und NICK IST IMMER NOCH DA DRIN!«
Er zog eine Handvoll Schals und Handschuhe zur Seite und spürte etwas. Ein Schuhkarton. Er griff danach, und in diesem Augenblick tönte wie eine grausige Totenbeschwörung Harold Lauders Stimme daraus.
» Was ist mit Nick?« schrie Stu und packte sie an den Schultern.
»Wir müssen ihn rausholen – Stu – etwas wird passieren – etwas Schreckliches...«
AI Bundell rief: »Was, zum Teufel, geht hier vor, Stuart?«
»Keine Ahnung«, sagte Stu.
» Stu, bitte, wir müssen Nick da rausholen!« kreischte Frannie.
In diesem Augenblick flog das Haus hinter ihnen in die Luft.
Als Harold die Sendetaste gedrückt hatte, verschwanden die statischen Geräusche und machten einer weichen dunklen Stille Platz. Leere, die nur darauf wartete, daß er sie ausfüllte. Mit gekreuzten Beinen saß Harold auf dem Picknicktisch und konzentrierte sich.
Dann hob er den Arm, und oben an seinem Arm ragte ein Finger aus der Faust hervor, und in diesem Moment war er wie Bäbe Ruth, alt und fast verbraucht, der auf die Stelle zeigt, wo er einen Home-Run machen will, es allen Spöttern und Lästermäulern im Yankee-Stadion zeigt und ihnen ein für allemal das Maul stopft.
Mit fester aber leiser Stimme sprach er in das Gerät: »Hier spricht Harold Emery Lauder. Ich tue dies aus freiem Willen.«
Bei Hier sprichtsprühte ein blauweißer Funke. Bei Harold Emery Lauderschoß eine Flamme hoch. Bei ich tue dies hörten sie einen schwachen, gedämpften Knall, wie von einem in eine Blechdose gesteckten Kanonenschlag, und als er aus freiem Willengesagt und das jetzt nutzlose Walkie-talkie weggeschleudert hatte, sahen sie am Fuße des Flagstaff Mountain eine Rose aus Feuer erblühen.
»Treffer, Treffer, eine volle Breitseite, Ende und aus«, sagte Harold leise.
Nadine klammerte sich an ihn, wie Fran sich vor Sekunden an Stu geklammert hatte. »Wir müssen sicher sein. Wir müssen sicher sein, daß wir sie erwischt haben.«
Harold sah sie an und deutete auf die blühende Rose der Zerstörung. »Glaubst du im Ernst, daß jemand das überlebt haben kann?«
»Ich... ich weiß n-n-nicht... oh, Harold, ich bin...« Nadine wandte sich ab, umklammerte den Magen und fing an zu würgen. Es war ein tiefes, gleichmäßiges, gurgelndes Geräusch. Harold beobachtete sie mit verhaltener Verachtung.
Schließlich drehte sie sich keuchend und blaß wieder zu ihm um und wischte sich den Mund mit einem Kleenex-Tuch ab. Schrubbte sich den Mund. »Was jetzt?«
»Jetzt fahren wir nach Westen, denke ich«, sagte Harold. »Es sei denn, du möchtest da runter und feststellen, wie die Stimmung in der Gemeinde ist.«
Nadine erschauerte.
Harold glitt vom Picknicktisch und zuckte zusammen, weil Nadeln in seine Füße stachen, als sie den Boden berührten. Sie waren eingeschlafen.
»Harold...« Sie wollte ihn berühren, aber er riß sich los. Ohne sie auch nur anzusehen, fing er an, das Zelt abzubrechen.
»Ich dachte, wir wollten bis morgen warten«, sagte sie ängstlich.
»Klar doch«, höhnte er. »Damit zwanzig oder dreißig von ihnen sich auf ihre Motorräder schwingen, ausschwärmen und uns fangen. Hast du je gesehen, was sie mit Mussolini gemacht haben?«
Sie zuckte zusammen. Harold rollte das Zelt zusammen und verschnürte es.
»Und wir berühren uns nicht mehr. Das ist vorbei. Es hat Flagg gebracht, was er wollte. Wir haben das Komitee der Freien Zone ausgelöscht. Sie sind erledigt. Vielleicht gelingt es ihnen noch, den Strom einzuschalten, aber als funktionierende Gruppe sind sie erledigt. Er wird mir eine Frau besorgen, neben der du aussiehst wie ein Kartoffelsack, Nadine. Und du... du bekommst ihn. Glückliche Zeiten, was? Aber wenn ich in deinen Hush Puppies stecken würde, würde ich darin ganz schön zittern.«
»Harold... bitte...« Ihr war elend, sie weinte. Er konnte ihr Gesicht im trüben Feuerschein sehen, und sie tat ihm leid. Er drängte das Gefühl aus seinem Herzen wie einen unerwünschten Trunkenbold, der sich in eine nette kleine Vorstadtkneipe gewagt hat, wo jeder jeden kennt. Die nicht wiedergutzumachende Tatsache des Mordens war ihr auf ewig ins Herz gebrannt – das sah man überdeutlich in ihren Augen. Na und? In seines auch. Es würde für alle Zeiten darauf liegen, schwer wie Steine.
»Gewöhn dich daran«, sagte Harold brutal. Er warf das Zelt hinten auf das Motorrad und band es fest. »Für die da unten ist alles vorbei und für uns auch und für alle, die an der Seuche gestorben sind. Gott ist auf einen himmlischen Angelausflug gegangen, und er wird lange fortbleiben. Es ist völlig dunkel. Der dunkle Mann sitzt jetzt auf dem Fahrersitz. Er. Also gewöhn dich daran.«
Sie gab einen winselnden, stöhnenden Kehllaut von sich.
»Komm schon, Nadine. Dies ist seit zwei Minuten kein Schönheitswettbewerb mehr. Hilf mir, diese Scheiße zusammenzupacken. Ich möchte vor Sonnenaufgang noch hundert Meilen hinter uns bringen.«
Sie drehte der Zerstörung den Rücken zu – einer Zerstörung, die aus dieser Höhe fast nebensächlich wirkte – und half ihm, die restliche Ausrüstung in den Satteltaschen und auf dem Gepäckträger zu verstauen. Fünfzehn Minuten später hatten sie die Feuer-Rose hinter sich gelassen und fuhren in der kalten und stürmischen Dunkelheit nach Westen.
Für Fran Goldsmith endete dieser Tag schmerzlos und unkompliziert. Sie spürte einen warmen Luftzug am Rücken und flog plötzlich durch die Nacht. Sie war aus den Sandalen geschleudert worden.