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The Stand. Das letze Gefecht
  • Текст добавлен: 24 сентября 2016, 05:37

Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы


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56

Stu verbrachte den nächsten Tag im Kraftwerk, wickelte Motoren und fuhr nach der Arbeit mit dem Motorrad nach Hause. Er war bei dem kleinen Park gegenüber der First National Bank, als Ralph ihn zu sich winkte. Er stellte das Motorrad ab und ging zum Musikpavillon, wo Ralph saß.

»Ich habe auf dich gewartet, Stu. Hast du eine Minute Zeit?«

»Aber nur eine. Ich komme zu spät zum Abendessen. Frannie wird sich Sorgen machen.«

»Ja. Warst wieder im Kraftwerk und hast Kupfer gewickelt, wie deine Hände aussehen?« Ralph sah zerstreut und besorgt aus.

»Ja. Da helfen nicht einmal Arbeitshandschuhe. Meine Hände sind kaputt.«

Ralph nickte. Im Park waren vielleicht noch ein halbes Dutzend andere Leute; einige sahen sich die Schmalspureisenbahn an, die früher zwischen Boulder und Denver gefahren war. Ein Trio junger Frauen hatte ein Picknick gerichtet. Stu fand es sehr angenehm, einfach mit den zerschundenen Händen im Schoß hier zu sitzen. Vielleicht ist es doch nicht so schlimm, Marshal zu sein, dachte er. Wenigstens brauche ich dann nicht mehr an dem verdammten Fließband zu stehen.

»Wie läuft es da draußen?« fragte Ralph.

»Das kann ich dir nicht sagen – ich bin nur Hilfsarbeiter, wie alle anderen. Brad Kitchner sagt, es wird losgehen wie ein brennendes Haus. Er sagt, Ende der ersten Septemberwoche sind die Lichter wieder an, möglicherweise früher, Mitte des Monats haben wir wieder Heizung. Er ist natürlich ziemlich jung und seine Vorhersagen vielleicht nicht...«

»Ich würde mein Geld auf Brad setzen«, sagte Ralph. »Ich vertraue ihm. Er hat jede Menge Praxisausbildung bekommen.« Ralph versuchte zu lachen; aber das Lachen wurde zu einem Seufzer, der von den Schuhsohlen des großen Mannes heraufzukommen schien.

»Warum bist du so niedergeschlagen, Ralph?«

»Ich habe Neuigkeiten über Funk bekommen«, sagte Ralph.

»Manche sind gut, manche sind... nun, manche sind nicht so gut, Stu. Ich möchte, daß du es weißt, weil man es nicht geheimhalten kann. Viele Leute in der Zone haben CB. Ich denke mir, sie haben zugehört, als ich mit den Neuen gesprochen habe, die unterwegs sind.«

»Wie viele?«

»Über vierzig. Einer ist Arzt und heißt George Richardson. Klingt nach einem guten Mann. Auf dem Boden der Tatsachen.«

»Das ist ja eine gute Nachricht!«

»Er stammt aus Derbyshire, Tennessee. Die meisten Leute in seiner Gruppe kommen aus dem Süden. Sie hatten eine schwangere Frau bei sich, die vor zehn Tagen niedergekommen ist, am dreizehnten. Der Arzt hat sie entbunden – es waren Zwillinge -, und die Kinder waren gesund. Zuerst waren sie gesund.« Ralph verfiel wieder in sein Schweigen, seine Kiefer mahlten.

Stu packte ihn an den Schultern. »Sind sie gestorben? Sind die Babys gestorben? Willst du mir das sagen? Daß sie gestorben sind?Sprich, verdammt noch mal!«

»Sie sind gestorben«, sagte Ralph mit leiser Stimme. »Eins nach zwölf Stunden. Einfach erstickt. Das andere starb zwei Tage später. Richardson konnte sie nicht retten. Die Frau wurde verrückt. Sie schrie von Tod und Vernichtung und keine Kinder mehr. Du solltest darauf achten, daß Frannie nicht dabei ist, wenn sie ankommen, Stu. Das wollte ich dir nur sagen. Und du solltest sie es gleich wissen lassen. Denn wenn du es nicht machst, macht es ein anderer.«

Stu ließ langsam Ralphs Hemd los.

»Dieser Richardson wollte wissen, wie viele schwangere Frauen wir haben, und ich sagte, unseres Wissens nur eine. Er wollte wissen, in welchem Monat sie sei, und ich sagte im vierten. Stimmt das?«

»Sie ist im fünften Monat. Aber Ralph, ist er sicher, daß die Babys an der Supergrippe gestorben sind. Ist er sicher

»Nein, ist er nicht, und das mußt du Frannie auch sagen, damit sie es weiß. Er sagt, es hätte alles mögliche sein können... was die Mutter gegessen hat... etwas Erbliches... eine Infektion der Atemwege... oder vielleicht waren es einfach, du weißt schon, lebensunfähige Babys. Er sagte, es könnte der Rhesus-Faktor gewesen sein, was immer das ist. Er wußte es einfach nicht, schließlich wurden sie auf einem Acker neben der verdammten Interstate 70 geboren. Er sagte, daß er und drei andere, die die Gruppe leiteten, bis spät in die Nacht zusammen gesessen und den Vorfall diskutiert hätten. Richardson hat den anderen erklärt, was es bedeutet, wennCaptain Trips die Babys getötet hat, und wie wichtig es wäre, das eindeutig festzustellen.«

»Glen und ich haben uns darüber unterhalten«, sagte Stu tonlos.

»An dem Tag, als wir uns kennengelernt haben. Wenn wirklich die Supergrippe die Babys umgebracht hat, bedeutet das wahrscheinlich, wir können in vierzig oder fünfzig Jahren die ganze Meschpoke den Ratten und Stubenfliegen und Spatzen überlassen.«

»Ich glaube, das ist so ziemlich das, was Richardson ihnen gesagt hat. Jedenfalls waren sie zu der Zeit etwa vierzig Meilen westlich von Chicago, und er überredete sie, am nächsten Tag zurückzufahren, um die Leichen in ein großes Krankenhaus zu bringen, wo er eine Autopsie machen konnte. Er sagte, dann würde er genau wissen, ob es die Supergrippe war. Die hat er ja Ende Juni zur Genüge erlebt. Wie alle anderen Ärzte wahrscheinlich auch.«

»Ja.«

»Aber am nächsten Morgen waren die Babys verschwunden. Diese Frau hatte sie beerdigt, wollte aber nicht sagen wo. Sie haben zwei Tage gegraben, weil sie glaubten, so kurz nach der Niederkunft hätte die Frau sie weder sehr weit entfernt noch sehr tief vergraben können. Aber sie fanden sie nicht, und obwohl sie der Frau immer wieder beteuerten, wie wichtig es sei, hat sie die Stelle nicht verraten. Die arme Frau war vollkommen außer sich.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Stu und dachte daran, wie sehr Fran sich ihr Baby wünschte.

»Der Doktor sagte, auch wenn die Babys an der Supergrippe gestorben sind, könnten zwei immune Leute möglicherweise ein immunes Kind zeugen«, sagte Ralph hoffnungsvoll.

»Die Chancen, daß der leibliche Vater von Frans Baby immun war, stehen etwa eins zu einer Milliarde«, sagte Stu. »Jedenfalls ist er nicht hier.«

»Ja, das ist kaum möglich, was? Tut mir leid, daß ich dir das sagen mußte, Stu. Aber ich fand, du mußt es wissen. Damit du sie darauf vorbereiten kannst.«

»Darauf freue ich mich wirklich nicht«, sagte Stu. Aber als er nach Hause kam, mußte er erfahren, daß ihm schon jemand zuvorgekommen war.

»Frannie?«

Keine Antwort. Das Essen stand auf dem Kocher – das meiste davon angebrannt -, aber die Wohnung war dunkel und still. Stu ging ins Wohnzimmer und sah sich um. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher mit zwei Zigarettenkippen, aber Fran rauchte nicht, und seine Marke war es nicht.

»Baby?«

Er ging ins Schlafzimmer, und da fand er sie; sie lag im Halbdunkel auf dem Bett und starrte zur Decke hinauf. Ihr Gesicht war verquollen und tränenfeucht. »Hi, Stu«, sagte sie leise.

»Wer hat es dir gesagt?« fragte er wütend. »Wer konnte es nicht abwarten, die gute Nachricht zu verbreiten? Wer immer es war, ich breche ihm den verdammten Arm.«

»Es war Sue Stern. Sie weiß es von Jack Jackson. Er hat ein CB und konnte mithören, als Ralph mit dem Arzt gesprochen hat. Sie wollte es mir sagen, bevor jemand anders ungeschickt damit herausplatzt. Arme kleine Frannie. Vorsicht, zerbrechlich. Erst zu Weihnachten öffnen!« Sie lachte kurz. Es klang so verzweifelt, dass Stu zum Weinen zumute war.

Er ging durch das Zimmer, legte sich neben sie auf das Bett und strich ihr das Haar aus der Stirn. »Liebes, es ist nicht sicher. Es ist überhaupt nicht sicher.«

»Das weiß ich. Und vielleicht können wir trotzdem eigene Kinder haben.« Sie sah ihn mit blutunterlaufenen, unglücklichen Augen an.

»Aber ich will dieses Kind. Ist das so schlimm?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Ich habe die ganze Zeit gelegen und darauf gewartet, daß er sich bewegt. Er hat sich nicht mehr bewegt, seit Larry hier war und nach Harold gefragt hat. Weißt du noch?«

»Ja.«

»Ich habe gespürt, wie sich das Baby bewegte, und wollte dich nicht wecken. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan.« Sie fing wieder an zu weinen und hielt einen Arm übers Gesicht, damit er es nicht sah.

Stu nahm den Arm weg, streckte sich neben ihr aus, küßte sie. Sie umarmte ihn wild und lag dann reglos neben ihm. Als sie sprach, klangen die Worte gedämpft an seinem Hals.

»Nichts zu wissen macht es viel schlimmer. Ich kann nur abwarten. Und das Warten dauert so lange, wenn man damit rechnen muß, daß das Baby stirbt, bevor es noch einen Tag alt ist.«

»Du wartest nicht allein«, sagte er.

Sie umarmte ihn dankbar, und sie blieben lange still nebeneinander liegen.



Nadine Cross war fast fünfzehn Minuten im Wohnzimmer ihrer alten Wohnung und sammelte ihre Sachen ein, als sie ihn im Sessel in der Ecke sitzen sah; nackt bis auf die Unterhose und mit dem Daumen im Mund betrachtete er sie mit seinen seltsam grau-grünen Chinesenaugen. Sie erschrak so sehr sowohl über die Erkenntnis, daß er die ganze Zeit da gesessen haben mußte, wie über seinen tatsächlichen Anblick -, daß ihr Herz einen furchtsamen Sprung in der Brust machte und sie aufschrie. Die Taschenbücher, die sie gerade in den Rucksack stopfen wollte, fielen mit Papierrascheln zu Boden.

»Joe... ich meine, Leo...«

Sie legte eine Hand zwischen Brust und Hals, als wollte sie das irre Pochen ihres Herzens beruhigen. Aber ihr Herz wollte sich noch nicht beruhigen lassen, mit oder ohne Hand. Ihn plötzlich zu sehen war schlimm; ihn halbnackt und so zu sehen, wie er sich benommen hatte, als sie ihn in New Hampshire kennenlernte, war noch schlimmer. Es glich zu sehr einer Rückkehr, als hätte ein irrationaler Gott sie plötzlich in der Zeit zurückversetzt und dazu verdammt, die letzten sechs Wochen noch einmal zu durchleben.

»Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt«, sagte sie leise. Joe sagte nichts.

Sie ging langsam zu ihm und rechnete halb damit, ein langes Küchenmesser in seiner Hand zu sehen, wie in alten Zeiten, aber die Hand, die er nicht am Mund hatte, lag unschuldig in seinem Schoß. Sie sah, daß das Kaffeebraun seiner Haut milchig geworden war. Die alten Narben und Kratzer waren nicht mehr da. Aber die Augen waren dieselben... Augen, die einen verfolgten. Was in ihnen gewesen war, jeden Tag ein bißchen mehr, seit er Larry am Feuer Gitarre spielen gehört hatte, war jetzt vollkommen verschwunden. Seine Augen waren wie bei ihrer ersten Begegnung, und das erfüllte sie mit einer Art schleichendem Entsetzen.

»Was machst du hier?«

Joe sagte nichts.

»Warum bist du nicht bei Larry und Lucy-Mom?«

Keine Antwort.

»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden, aber bevor sie weitersprechen konnte, überlegte sie, wie lange er tatsächlichschon hier war.

Es war der Morgen des 24. August. Sie hatte die beiden letzten Nächte bei Harold verbracht. Der Gedanke kam ihr, daß er seit vierzig Stunden mit dem Daumen im Mund hier sitzen mochte. Das war natürlich eine lächerliche Vorstellung, er mußte essen und trinken (oder nicht?), aber als Gedanke und Bild erst einmal da waren, ließen sie sich nicht mehr abschütteln. Das schleichende Grauen kam wieder über sie, und ihr wurde mit einem Anflug von Verzweiflung klar, wie sehr sie sich verändert hatte: früher hatte sie ohne Furcht neben diesem kleinen Wilden geschlafen, als er noch bewaffnet und gefährlich war. Jetzt hatte er keine Waffen mehr, aber sie empfand ihm gegenüber Todesangst.

Sie hatte gedacht, ( Joe? Leo?) seine frühere Persönlichkeit wäre ein für allemal abgetötet worden. Jetzt war sie wieder da. Und er war hier.

»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie. »Ich bin nur gekommen, um ein paar Sachen zu holen. Ich ziehe aus. Ich ziehe zu... zu einem Mann.«

Ach istHarold das, spöttelte eine innere Stimme. Ich dachte, er wäre nur ein Werkzeug, um etwas zu erreichen.

»Leo, hör mal...«

Er schüttelte sacht aber wahrnehmbar den Kopf. Seine ernsten, glitzernden Augen waren auf ihr Gesicht gerichtet.

»Du bist nicht Leo?«

Wieder das sachte Kopfschütteln.

»Bist du Joe?«

Ein ebenso schwaches Nicken.

»Na gut. Aber du mußt einsehen, daß es keine Rolle spielt, wer du bist«, sagte sie und versuchte, geduldig zu sein. Das irre Gefühl, dass sie eine Zeitreise hinter sich hatte, daß sie wieder auf dem Ausgangsfeld stand, ging nicht weg. Sie fühlte sich unwirklich und ängstlich. »Dieser Teil unseres Lebens der Teil, als wir allein und nur auf uns gestellt waren – ist vorbei. Du hast dich verändert, ich habe mich verändert, wir können uns nicht zurückverwandeln.«

Aber seine seltsamen Augen blickten weiterhin starr in die ihren und schienen das zu bestreiten.

»Hör auf, mich so anzusehen«, schnappte sie. »Es ist sehr unhöflich, Leute so anzustarren.«

Nun schienen seine Augen leicht vorwurfsvoll zu werden. Sie schienen anzudeuten, daß es auch unhöflich war, Menschen im Stich zu lassen, und noch unhöflicher, Menschen seine Liebe zu entziehen, die sie noch brauchten und darauf angewiesen waren.

»Es ist nichtso, daß du auf dich allein gestellt wärest«, sagte sie, drehte sich um und hob die Bücher auf, die sie fallen gelassen hatte. Sie kniete linkisch und ohne Anmut, und ihre Knie knackten dabei wie Holzscheite im Feuer. Sie stopfte die Bücher kunterbunt in den Rucksack zu den Monatsbinden und dem Aspirin und ihrer Unterwäsche – schlichte Baumwollunterwäsche, ganz anders als die Sachen, die sie trug, um Harolds ungestüme Lust anzustacheln.

»Du hast Larry und Lucy. Du magst sie, und sie mögen dich. Nun, Larrymag dich, und darauf kommt es an, weil sie alles will, was er auch will. Sie ist wie ein Blatt Blaupapier. Für mich ist jetzt alles anders, Joe, und das ist nicht meine Schuld. Überhaupt nicht meine Schuld. Also hör gefälligst auf zu versuchen, mir Schuldgefühle zu machen.«

Sie versuchte, die Riemen des Rucksacks zuzuschnüren, aber ihre Finger zitterten unbeherrscht, und es fiel ihr schwer. Das Schweigen um sie herum wurde immer schwerer und schwerer.

Schließlich stand sie auf und schnallte den Rucksack auf die Schultern.

»Leo.« Sie versuchte, ruhig und vernünftig zu sprechen wie mit den Problemkindern in ihrer Klasse, wenn sie Anfälle gehabt hatten. Es war einfach unmöglich. Ihre Stimme klang kieksig und zittrig, und sein schwaches Kopfschütteln angesichts des Wortes Leo machte es noch schlimmer.

»Es ist nicht wegen Larry und Lucy«, sagte sie nachdrücklich. »Das hätte ich verstehen können, wenn es nur das gewesen wäre. In Wirklichkeit war es die alte Schlampe, für die du mich aufgegeben hast, oder nicht? Diese dumme alte Frau in ihrem Schaukelstuhl, die mit ihren falschen Zähnen in die Welt gegrinst hat. Jetzt ist sie fort, und du kommst wieder zu mir gerannt. Aber ich spiele nicht mit, hast du verstanden? Ich spiele nicht mit

Joe sagte nichts.

»Und als ich Larry angefleht habe... als ich auf die Knie gefallen bin und ihn angeflehthabe... wollte er nicht belästigt werden. Er war zu sehr damit beschäftigt, den großen Mann zu spielen. Du siehst also, es ist nicht meine Schuld. Nichts ist meine Schuld!«

Der Junge sah sie nur gleichgültig an.

Ihr Entsetzen kam zurück und begrub ihre unschuldige Wut unter sich. Sie wich vor ihm zur Tür zurück und tastete hinter ihrem Rücken nach der Klinke. Schließlich fand sie sie, drückte sie nieder und riß die Tür auf. Der kalte Luftstrom von draußen an ihren Schultern war mehr als angenehm.

»Geh zu Larry«, murmelte sie. »Lebwohl, Junge.«

Sie ging linkisch hinaus, blieb einen Augenblick auf der obersten Stufe stehen und versuchte, den Kopf wieder klar zu bekommen. Plötzlich fiel ihr ein, das Ganze könnte eine Halluzination gewesen sein, hervorgerufen durch ihre eigenen Schuldgefühle...

Schuldgefühle, weil sie den Jungen im Stich ließ, weil sie Larry zu lange hatte warten lassen, Schuldgefühle wegen dem, was sie und Harold miteinander trieben, und dem viel Schlimmeren, was ihnen noch bevorstand. Vielleicht war gar kein echter Junge in dem Haus gewesen. Er war ebenso wenig real wie die Hirngespinste von Poe – der Herzschlag des alten Mannes, der sich wie eine in Watte verpackte Uhr anhörte, oder der Rabe, der auf der Büste von Pallas Athene kauerte.

»Als klopfe – klopfe jemand sacht ans Tor«, flüsterte sie laut und ohne nachzudenken, und darauf stieß sie ein entsetztes, krächzendes Lachen aus, das sich wahrscheinlich nicht sehr von den Schreien eines Raben unterschied.

Aber sie mußte es wissen.

Sie ging zum Fenster neben der Eingangstreppe und sah ins Wohnzimmer ihres ehemaligen Hauses. Nicht, daß es jemals wirklich ihres gewesen wäre. Wenn man irgendwo wohnte und auszog und alles, was man mitnehmen wollte, in einen Rucksack paßte, war es im Grunde nie wirklich ein Zuhause gewesen. Als sie hineinsah, erblickte sie Teppiche, Vorhänge und Tapeten einer toten Frau, die Pfeife eines toten Mannes und Ausgaben von Sports Illustrated, die achtlos auf dem Kaffeetischchen lagen. Bilder von toten Kindern auf dem Kaminsims. Und im Sessel in der Ecke der kleine Junge einer toten Frau, der nur eine Unterhose trug und immer noch saß, immer noch saß, saß wie zuvor...

Nadine floh stolpernd und wäre beinahe über den niedrigen Drahtzaun gefallen, der das Blumenbeet rechts von dem Fenster umgab, wo sie hineingesehen hatte. Sie warf sich auf die Vespa und ließ sie an. Die ersten paar Blocks fuhr sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, fuhr Slalom zwischen den liegengebliebenen Fahrzeugen, die immer noch die Nebenstraßen unsicher machten, aber allmählich beruhigte sie sich wieder.

Als sie wieder vor Harolds Haus war, hatte sie sich einigermaßen unter Kontrolle. Aber sie wußte, ihres Bleibens hier in der Zone ward nicht mehr lange. Wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte, mußte sie sich, so schnell es ging, auf den Weg machen.



Die Versammlung im Munzinger Auditorium nahm einen guten Verlauf. Sie fingen wieder damit an, daß sie die Nationalhymne sangen, aber diesmal blieben die meisten Augen trocken; es wurde einfach zum Teil eines Rituals. Die Wahl des Volkszählungskomitees wurde routinemäßig durchgezogen und Sandy DuChiens zur Vorsitzenden ernannt. Sie und ihre vier Helfer gingen gleich durchs Publikum, zählten Köpfe und schrieben Namen auf. Am Ende der Versammlung verkündete sie unter anhaltenden Jubelrufen, dass mittlerweile 814 Seelen in der Freien Zone lebten, und versprach (vorschnell, wie sich herausstellen sollte), sie würde bis zur nächsten Versammlung der Zone ein vollständiges Bevölkerungsverzeichnis zusammengestellt haben – ein Verzeichnis, das sie Woche für Woche aktualisieren wollte, welches die Namen in alphabetischer Folge enthielt, ebenso Alter, Anschrift in Boulder, vorherige Anschrift und den ehemaligen Beruf. Wie sich herausstellte, erfolgte der Zustrom in die Zone so stark und unregelmäßig, daß sie ständig zwei oder drei Wochen hinterherhinkte.

Dann kam die Dauer der Amtsperiode des Komitees der Freien Zone zur Sprache, und nach einigen extravaganten Vorschlägen (einer lautete auf zehn Jahre, ein anderer auf lebenslänglich, und Larry brachte das ganze Haus zum Lachen, als er sagte, das würde sich eher nach Gefängnisstrafen als nach Amtsperioden anhören) wurde die Dauer der Amtsperiode auf ein Jahr festgesetzt. Hinten im Saal winkte Harry Dunbarton mit der Hand, und Stu erteilte ihm das Wort.

Harry brüllte, um verstanden zu werden: »Selbst ein Jahr mag zu lange sein. Ich habe nichts gegen die Damen und Herren vom Komitee, ich glaube, sie haben hervorragende Arbeit geleistet« – Beifall und Pfiffe – »aber wenn die Bevölkerung weiter zunimmt, wächst uns bald alles über den Kopf.«

Glen hob die Hand. Stu erteilte ihm das Wort.

»Herr Vorsitzender, das steht zwar nicht auf der Tagesordnung, aber ich glaube, Mr. Dunbarton hat recht.«

Ich wette, daß du das glaubst, Platte, dachte Stu, du hast es schließlich selbst vor einer Woche zur Sprache gebracht.

»Ich beantrage, ein repräsentatives Regierungs-Komitee einzusetzen, damit wir die Verfassung wirklich wieder einführen können. Ich finde, Harry Dunbarton sollte Vorsitzender dieses Komitees werden, und ich selbst werde mitarbeiten, es sei denn, jemand würde einen Interessenkonflikt vermuten.«

Wieder Beifall.

In der letzten Reihe drehte Harold sich zu Nadine und flüsterte ihr ins Ohr: »Ladies and Gentlemen, das öffentliche Liebesritual der Freien Zone nimmt seinen demokratischen Lauf.«

Stu wurde durch donnernden Zuruf zum Marshal der Freien Zone gewählt.

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte er. »Einige von Ihnen, die mir heute Beifall spenden, werden das vielleicht noch bereuen, wenn ich sie bei etwas Verbotenem erwische. Verstanden, Rieh Moffat?«

Brüllendes Gelächter. Rieh, der voll wie eine Haubitze war, lachte fröhlich mit.

»Aber ich sehe keinen Grund, warum wir hier ernsthafte Schwierigkeiten bekommen sollten. Wie ich es sehe, besteht die Hauptaufgabe eines Marshals darin, zu verhindern, daß die Leute sich etwas antun. Und keiner von uns will das. Es sind schon genügend Leute zu Schaden gekommen. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Die Menge applaudierte anhaltend.

»Jetzt zum nächsten Punkt«, sagte Stu, »es hat gewissermaßen mit meinem Amt als Marshal zu tun. Wir brauchen ein Justiz-Komitee mit etwa fünf Leuten, denn wenn es soweit kommt, daß ich jemand einsperren muß, muß es rechtens geschehen. Höre ich Nominierungen?«

»Was ist mit dem Richter?« schrie jemand.

»Ja, genau, der Richter!« brüllte ein zweiter.

Hälse wurden gereckt, die Leute wollten sehen, daß der Richter irgendwo im Saal aufstand, um die Verantwortung in seinem üblichen Rokoko-Stil zu übernehmen; ein Murmeln ging durch den Saal, als die Leute noch einmal die Geschichte erzählten, wie der Richter den Verrückten mit seinen fliegenden Untertassen lächerlich gemacht hatte. Sie legten schon die Tagesordnung aus der Hand, um zu applaudieren. Stu und Glen sahen einander mit beiderseitigem Mißbehagen an: Jemand im Komitee hätte das voraussehen müssen.

»Nicht da«, sagte jemand.

»Wer hat ihn gesehen?« fragte Lucy Swann erschrocken. Larry sah sie unbehaglich an, aber sie sah sich immer noch im Saal nach dem Richter um.

»Ich habe ihn gesehen.«

Ein interessiertes Raunen, als Teddy Weizak im hinteren Viertel aufstand und sich mit dem Taschentuch nervös und zwanghaft die Nickelbrille putzte.

»Wo?«

»Wo ist er, Teddy?«

»War er in der Stadt?«

»Was hat er gemacht?«

Teddy Weizak zuckte unter dem Bombardement der Fragen sichtlich zusammen.

Stu schlug mit dem Hammer auf. »Kommt schon, Leute. Ruhe.«

»Ich habe ihn vor zwei Tagen gesehen«, sagte Teddy. »Er fuhr einen Landrover. Sagte, er wollte nach Denver. Warum, hat er nicht gesagt. Wir haben Witze gemacht. Er schien bester Laune zu sein. Mehr weiß ich nicht.« Er setzte sich wieder, putzte weiter seine Brille und wurde krebsrot.

Wieder bat Stu um Ruhe. »Ich bedaure, daß der Richter nicht hier ist. Er wäre der geeignete Mann für den Job gewesen. Aber da er nun einmal nicht hier ist, bitte ich um weitere Nominierungen...«

»Nein, lassen wir es nicht dabei bewenden!« protestierte Lucy und stand auf. Sie trug einen engen blauen Overall, der die interessierten Blicke der meisten Männer im Saal auf sich zog. »Richter Farris ist ein alter Mann. Wenn er nun in Denver krank geworden ist und nicht mehr zurückfahren kann?«

»Lucy«, sagte Stu. »Denver ist groß.«

Eine seltsame Stille senkte sich über den Saal, als die Leute darüber nachdachten. Lucy setzte sich wieder; sie sah blaß aus, und Larry legte seinen Arm um sie. Er sah Stu an, aber Stu wich seinem Blick aus.

Ein halbherziger Antrag wurde gestellt, die Frage des JustizKomitees erst nach der Rückkehr des Richters zu behandeln, und nach einer Diskussion von zwanzig Minuten abgelehnt. Unter den Anwesenden war ein Anwalt, ein junger Mann um die sechsundzwanzig namens AI Bundell, der am Spätnachmittag mit Dr. Richardsons Gruppe angekommen war; er übernahm den Vorsitz, als er ihm angeboten wurde, gab jedoch der Hoffnung Ausdruck, daß in den nächsten vier Wochen niemand schreckliche Missetaten begehen würde, da es mindestens so lange dauern würde, eine Art rotierendes Gerichtssystem einzurichten. Richter Farris wurde in Abwesenheit in das Komitee gewählt. Brad Kitchner, der blaß, nervös und mit Anzug und Krawatte ein bißchen albern aussah, trat ans Rednerpult, verlor seine Notizen, sammelte sie in verkehrter Reihenfolge wieder auf und begnügte sich dann damit, zu sagen, sie hofften und erwarteten, den Strom am zweiten oder dritten September wieder einschalten zu können. Diese Bemerkung erntete so viel Beifall, daß er mit Stil zum Ende kam und sich sogar ein wenig in die Brust warf, als er das Podium verließ.

Der nächste war Chad Nords, und Stu sagte später zu Frannie, dass er die Sache genau richtig angegangen war: Sie begruben die Toten aus Anstand; bis das geschehen war und das Leben wieder seinen gewohnten Gang nahm, würde sich keiner richtig wohl fühlen, und wenn sie vor der Regenzeit fertig waren, würde es allen besser gehen. Er bat um ein paar Freiwillige und hätte gut drei Dutzend haben können, wenn er gewollt hätte. Dann bat er die Mitglieder der Spatenschwadron (wie er sie nannte), sich zu erheben und zu verbeugen.

Harold Lauder stand nur kurz auf und setzte sich wieder, und als die Versammlung sich auflöste, sagte der eine oder andere, was für ein intelligenter und so bescheidener junger Mann er doch sei. In Wirklichkeit hatte Nadine ihm einiges ins Ohr geflüstert, und er hatte Angst, mehr zu tun, als eine Verbeugung anzudeuten. Er hatte unter der Hose ein ziemlich großes Zelt am Unterleib gebaut. Als Norris das Rednerpult verließ, trat Ralph Brentner an seine Stelle. Er sagte ihnen, daß sie endlich einen Arzt hatten. George Richardson stand auf (unter gewaltigem Applaus; Richardson machte mit beiden Händen das Peace-Zeichen, da wurde der Applaus zu Jubel) und sagte, daß seines Wissens weitere sechzig Leute in den nächsten Tagen eintreffen würden.

»Soweit die Tagesordnung«, sagte Stu. Er sah über die Versammlung. »Ich werde Sandy DuChiens bitten, noch einmal heraufzukommen und uns zu sagen, wie viele wir sind, aber vorher möchte ich fragen, ob es heute abend noch etwas zu besprechen gibt?«

Er wartete. Er sah Glens Gesicht in der Menge und das von Sue Stern und Larry und Nick und natürlich von Frannie. Sie wirkten alle ein wenig abgespannt. Wenn jemand die Sprache auf Flagg bringen wollte, um zu fragen, was das Komitee seinetwegen unternommen hatte, wäre dies der Zeitpunkt gewesen. Aber es herrschte Schweigen. Nach fünfzehn Sekunden erteilte Stu Sandy das Wort, die für ein gelungenes Ende sorgte. Als die Leute den Saal verließen, dachte Stu: Das hätten wir wieder geschafft.

Mehrere Leute gratulierten ihm nach der Versammlung, darunter der neue Arzt. »Das haben Sie gut gemacht, Marshal«, sagte er, und Stu hätte fast hinter sich gesehen, wen Richardson meinte. Dann fiel es ihm ein, und er hatte plötzlich Angst. Ein Mann des Gesetzes?Er war ein Hochstapler.

Ein Jahr, sagte er sich. Ein Jahr, nicht länger. Aber er hatte immer noch Angst.

Stu, Fran, Sue Stern und Nick gingen gemeinsam Richtung Innenstadt; ihre Schritte klangen hohl auf dem Betonweg, als sie den Campus der Universität Richtung Broadway überquerten. Unter leisen Gesprächen strömten um sie herum auch die anderen Leute nach Hause. Es war fast elf Uhr dreißig.

»Es ist kühl«, sagte Fran. »Wenn ich bloß eine Jacke angezogen hätte, nicht nur den Pullover.«

Nick nickte. Er fror auch. Die Abende in Boulder waren immer kühl, aber heute hatte es höchstens zehn Grad. Das zeigte, daß dieser seltsame und schreckliche Sommer sich dem Ende zuneigte. Nicht zum erstenmal wünschte er, Mutter Abagails Gott oder Muse oder was es auch sei hätte Miami oder New Orleans den Vorzug gegeben. Aber dann fiel ihm ein, daß das vielleicht auch nicht besonders gut gewesen wäre. Hohe Luftfeuchtigkeit, viel Regen... und viele Leichen. Wenigstens war Boulder trocken.

»Sie haben mich total aus der Fassung gebracht, als sie den Richter für das Justiz-Komitee wollten«, sagte Stu. »Damit hätten wir rechnen müssen.«

Frannie nickte, und Nick kritzelte hastig auf seinen Block: »Klar. Sie werden auch Tom & Dayna vermissen, gebt 8.«

»Glaubst du, die Leute schöpfen Verdacht, Nick?« fragte Stu. Nick nickte. »Sie werden sich fragen, ob sie nach Westen sind. Für immer. «

Sie dachten alle darüber nach, und Nick holte sein Gasfeuerzeug aus der Tasche und verbrannte den Zettel.

»Das ist schlimm«, sagte Stu schließlich. »Glaubst du wirklich?«

»Klar, er hat recht«, sagte Sue finster. »Was sollten sie sonst denken? Daß Richter Farris zum Far-Rockaway-Rummelplatz ist, um Achterbahn zu fahren?«

»Wir können von Glück sagen, daß wir heute abend keine große Diskussion bekommen haben, was im Westen los ist«, sagte Fran. Nick schrieb: »Unbedingt. Ich glaube, nächstes Mal müssen wir es dreist selber ansprechen. Darum will ich die nächste Versammlung so lange wie möglich rauszögern. Vielleicht drei Wochen. 15.September?«

Sue sagte: »So lange halten wir durch, wenn Brad den Strom einschalten kann.«

»Ich glaube, das schafft er«, sagte Stu.

»Ich geh' nach Hause«, sagte Sue zu ihnen. »Morgen ist ein großer Tag. Dayna bricht auf. Ich begleite sie bis Colorado Springs.«

»Glaubst du, das ist sicher, Sue?«

Sie zuckte die Achseln. »Für sie sicherer als für mich.«

»Wie hat sie es aufgenommen?« fragte Fran sie.

»Sie ist ein komisches Mädchen. Am College war sie die Wucht, wißt ihr. Besonders gut war sie im Tennis und Schwimmen, obwohl sie alle Sportarten gemacht hat. Sie besuchte ein kleines College in Georgia, aber die ersten beiden Jahre war sie noch mit ihrem Freund von der High School zusammen. Er war ein großer Lederjackentyp, ich Tarzan, du Jane, also ab in die Küche und laß Töpfe und Pfanne klappern. Dann hat ihre Zimmergenossin, eine große Emanze, sie mit zu verschiedenen Frauentreffen geschleppt.«

»Und als Reingeschmeckte war sie am Ende eine noch größere Emanze als ihre Zimmergenossin«, vermutete Fran.

»Erst Emanze, dann Lesbierin«, sagte Sue.

Stu blieb wie vom Donner gerührt stehen, und Fran sah ihn verhalten amüsiert an. »Komm, du schöne Blume im Gras«, sagte sie.

»Versuch mal, das Scharnier an deinem Mund zu reparieren.«

Stu klappte hörbar den Mund zu.

Sue fuhr fort: »Sie hat ihrem Höhlenmenschen beides zusammen vor den Latz geknallt. Er ist total ausgerastet und mit einem Gewehr wiedergekommen. Sie hat ihn entwaffnet. Sie sagt, das sei der wichtigste Wendepunkt in ihrem Leben gewesen. Sie erzählte mir, sie hätte immer gewußt, daß sie stärker und wendiger war als er – das hätte sie intellektuellgewußt. Es hat aber lange gedauert, bis sie den Mut dazu fand.«


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