Текст книги "The Stand. Das letze Gefecht"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ужасы
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»Harold Lauder hat das Wort.«
Köpfe wurden gedreht und Hälse gereckt, um Harold besser zu sehen.
»Ich beantrage, daß wir die Liste des Ad-hoc-Komitees in toto als ständiges Komitee akzeptieren«, sagte Harold. »Das heißt, wenn sie der Wahl zustimmen.«
Einen Augenblick herrschte Stille. Stu dachte entgeistert Toto? Toto? Ist das nicht der Hund in Der Zauberer Oz?
Dann erfüllte wieder Beifall den Saal, Dutzende Rufe »Ich unterstütze!« wurden laut. Harold hatte wieder Platz genommen, lächelte und unterhielt sich mit Leuten, die ihm auf die Schulter klopften.
Stu schlug ein paarmal mit dem Hammer auf das Pult, um sich Gehör zu verschaffen.
Das hat er geplant, dachte Stu. Die Leute werden uns wählen, aber an Harold werden sie sich erinnern. Er hat das Problem von einer Seite angepackt, an die wir gar nicht gedacht haben, nicht einmal Glen. Es war geradezu ein Geniestreich. Warum sollte er sich also aufregen? War er vielleicht eifersüchtig? Gingen seine guten Vorsätze hinsichtlich Harold, die er gestern erst gefaßt hatte, schon wieder über Bord?
»Es liegt ein Antrag vor«, plärrte er ins Mikrofon, und diesmal achtete er nicht auf die Rückkopplung. »Es liegt ein Antrag vor, Leute!« Er schlug wieder mit dem Hammer, und der Lärm wurde zu einem Murmeln. »Es wurde beantragt und unterstützt, das Ad-hoc-Komitee, so wie es steht, als ständiges Komitee der Freien Zone zu akzeptieren. Bevor wir den Antrag diskutieren oder abstimmen, sollte ich fragen, ob ein Mitglied des Komitees dagegen Einwände hat oder zurücktreten möchte.«
Stille im Saal.
»Gut«, sagte Stu. »Wollen wir den Antrag diskutieren?«
»Ich glaube, wir können auf eine Diskussion verzichten, Stu«, sagte Dick Ellis. »Es ist ein ausgezeichneter Vorschlag. Laß uns abstimmen!«
Dem folgte Applaus, und Stu mußte sich nicht mehr drängen lassen. Charlie Impening winkte mit der Hand und bat ums Wort, aber Stu ignorierte ihn – Glen Bateman hätte das ein Musterbeispiel von selektiver Wahrnehmung genannt – und rief zur Abstimmung auf.
»Wer Harold Lauders Antrag zustimmt, möge mit ja antworten.«
» Ja!!« brüllten sie, und die Schwalben gerieten wieder in helle Aufregung.
» Gegenstimmen?«
Es gab keine; nicht einmal von Charlie Impening – jedenfalls nicht laut. Nicht ein Nein im Saal. Stu rief den nächsten Punkt der Tagesordnung auf, aber er fühlte sich leicht benommen, als hätte sich jemand – nämlich Harold Lauder – hinter ihn geschlichen und ihm mit einem großen Gummihammer auf den Kopf geschlagen.
»Laß uns absteigen und ein Stück schieben, ja?« sagte Fran. Ihre Stimme klang müde.
»Klar.« Er stieg vom Fahrrad und ging neben ihr her. »Alles okay, Fran? Ist es das Baby?«
»Nein, ich bin nur müde. Es ist Viertel vor eins, falls du das noch nicht gemerkt hast.«
»Ja, es ist spät«, gab Stu zu, dann schoben sie ihre Räder in einträchtigem Schweigen nebeneinander her. Die Versammlung hatte bis vor einer Stunde gedauert, am längsten war über die Suche nach Mutter Abagail diskutiert worden. Die übrigen Punkte waren alle nach kurzer Diskussion abgehakt, obwohl Richter Farris mit interessanten Informationen aufgewartet hatte, die erklärten, warum es in Boulder relativ wenige Leichen gab. Laut den letzten vier Ausgaben der Camera, der in Boulder erscheinenden Tageszeitung, hatte es in der Gemeinde wilde Gerüchte gegeben, nach denen die Supergrippe von Boulders Meteorologischem Institut am Broadway ausgegangen sei. Sprecher des Instituts – die wenigen, die noch auf den Beinen waren – erklärten das für kompletten Unsinn, jeder könne sich selbst davon überzeugen, aber bei einem Besuch des Instituts würde man nichts Gefährlicheres finden als Meßgeräte zur Ermittlung der Luftverschmutzung. Dennoch hielt sich das Gerücht hartnäckig, wozu die hysterische Stimmung jener entsetzlichen Tage im späten Juni wahrscheinlich beigetragen hatte. Auf das Meteorologische Institut war ein Bomben– oder Brandanschlag verübt worden, und die meisten Einwohner Boulders waren geflüchtet.
Beerdigungskomitee und Energiekomitee waren mit einem Abänderungsvorschlag Harold Lauders, der sich offenbar ausgezeichnet auf die Versammlung vorbereitet hatte, angenommen worden: Beide Komitees sollten bei einem Bevölkerungszuwachs der Freien Zone von je hundert um zwei Mitglieder erweitert werden. Auch der Suchtrupp wurde ohne Gegenstimmen verabschiedet, aber die Diskussion um Mutter Abagails Verschwinden zog sich in die Länge. Glen hatte Stu vor der Versammlung den Rat gegeben, die Diskussion über dieses Thema nur einzuschränken, wenn es sich ganz und gar nicht vermeiden ließ; es beunruhigte sie alle, besonders die Vorstellung, daß sich ihre geistige Leiterin in dem Glauben wog, sie habe eine Art Sünde begangen. Am besten, man ließ die Leute sich alles von der Seele reden.
Auf die Rückseite ihres Briefes hatte die alte Frau zwei Bibelhinweise gekritzelt: Sprüche 11-3 und Sprüche 21, 28-31. Richter Farris hatte sie mit der sorgfältigen Aufmerksamkeit eines Anwalts nachgeschlagen, der ein Plädoyer vorbereitet, und am Anfang der Diskussion stand er auf und las sie mit seiner brüchigen und apokalyptischen Altherrenstimme vor. Die Zeilen im elften Kapitel der Sprüche lauteten: »Falsche Waage ist dem Herrn ein Greuel; aber völliges Gewicht ist sein Wohlgefallen. Wo Stolz ist, da ist auch Schmach; aber Weisheit ist bei den Demütigen. Unschuld wird die Frommen leiten; aber die Bosheit wird die Verächter verstören.« Das Zitat aus dem einundzwanzigsten Kapitel hatte denselben Tenor:
»Ein lügenhafter Zeuge wird umkommen; aber wer sich sagen läßt, den läßt man auch allezeit wiederum reden. Der Gottlose fährt mit dem Kopf hindurch; aber wer fromm ist, des Weg wird bestehen. Es hilft keine Weisheit, kein Verstand, kein Rat wider den Herrn. Rosse werden zum Streittage bereitet; aber der Sieg kommt vom Herrn.«
Die Diskussion, nachdem der Richter diese beiden Verse feierlich deklamiert hatte (anders konnte man es nicht nennen), überspannte breitgefächerte – und manchmal komische – Themenpaletten. Ein Mann verkündete geheimnisvoll, wenn man die Kapitelzahlen zusammenzähle, komme man auf einunddreißig, die Zahl der Kapitel in der Offenbarung. Richter Farris stand erneut auf und sagte, die Offenbarung habe nur zweiundzwanzig Kapitel, jedenfalls in seiner Bibel, und überhaupt ergab elf und einundzwanzig zweiunddreißig und nicht einunddreißig. Der aufstrebende Numerologe murrte, sagte aber nichts mehr.
Ein anderer Mann verkündete, er habe in der Nacht vor Mutter Abagails Verschwinden Lichter am Himmel gesehen, und der Prophet Jesaja habe ja schon die Existenz fliegender Untertassen bestätigt... also sollten sie auch darüber besser einmal zusammen nachdenken, oder nicht? Wieder stand Richter Farris auf; diesmal legte er dar, daß sein geneigter Vorredner Jesaja mit Hesekiel verwechselt habe, daß der genaue Hinweis nicht fliegenden Untertassen, sondern einem »Rad innerhalb eines Rades« galt und er, der Richter, der Meinung wäre, die einzigen wirklich bewiesenen fliegenden Untertassen wären die, die manchmal während eines Ehekrachs flogen.
Der größte Teil der nachfolgenden Diskussion kreiste um die Träume, die mittlerweile völlig aufgehört hatten und manchen selbst nur noch traumgleich schienen. Einer nach dem anderen stand auf und entkräftete die Vorwürfe, die Mutter Abagail gegen sich selbst erhoben hatte, namentlich den des Stolzes. Sie sprachen von ihrer Höflichkeit und der Gabe, jemanden mit nur einem einzigen Wort zu beruhigen. Ralph Brentner, der die Menschenmenge ehrfürchtig bestaunte und einen Kloß im Hals hatte, aber entschlossen schien, seinen Teil zu sagen, stand auf und sprach fast fünf Minuten in dieser Tonlage; am Schluß fügte er hinzu, daß er seit dem Tod seiner Mutter keine so gute Frau mehr gesehen hätte. Als er sich setzte, schien er fast den Tränen nahe zu sein.
Alles in allem erinnerte die Diskussion Stu unangenehm an eine Totengedenkfeier. Sie sagte ihm, daß sie sie im Herzen schon halb abgeschrieben hatten. Wenn sie jetzt wiederkehrte, würde Abby Freemantle willkommen sein, man würde sie immer noch aufsuchen, immer noch anhören... aber, dachte Stu, sie würde auch feststellen, daß sich ihre Stellung unmerklich verschoben hatte. Wenn es zu einer Konfrontation zwischen ihr und dem Komitee der Freien Zone kommen sollte, würde längst nicht mehr feststehen, daß sie die Oberhand behalten würde, Vetorecht hin oder her. Sie war weggegangen, und die Gemeinschaft hatte weiterexistiert. Das würde die Gemeinschaft nicht vergessen, wie sie bereits halb die Macht vergessen hatte, welche die Träume kurze Zeit über ihr Leben gehabt hatten.
Nach der Versammlung saßen mehr als zwei Dutzend Menschen eine Weile auf dem Rasen hinter der Chautauqua Hall; es hatte aufgehört zu regnen, die Wolken rissen auf, der Abend war angenehm kühl. Stu und Frannie saßen bei Larry, Lucy, Leo und Harold.
»Heute abend hättest du uns um ein Haar die Schau gestohlen«, sagte Larry zu Harold. Er stieß Frannie mit dem Ellbogen an. »Ich hab' dir gleich gesagt, daß er ein Pfundskerl ist, oder nicht?«
Harold hatte lediglich gelächelt und bescheiden die Schultern gezuckt. »Ein paar Vorschläge, mehr nicht. Ihr sieben habt wieder was ins Rollen gebracht. Ihr solltet wenigstens die Möglichkeit haben, auch alles bis zum Ende vom Anfang in der Hand zu behalten.«
Jetzt, fünfzehn Minuten später, hatten die beiden diese spontane Zusammenkunft verlassen, und immer noch zehn Minuten von Zuhause entfernt, wiederholte Stu: »Sicher, daß alles in Ordnung ist?«
»Ja. Meine Beine sind ein wenig müde, das ist alles.«
»Nimm's nicht so schwer, Frances.«
»Nenn mich nicht so, du weißt genau, daß ich es nicht leiden kann.«
»Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor, Frances.«
»Alle Männer sind Dreckskerle.«
»Ich werde versuchen, mich zu bessern, Frances – wirklich.«
Sie zeigte ihm die Zunge, was zu einem interessanten Gespräch führte, aber er sah, daß sie nicht mit dem Herzen bei dem Geplänkel dabei war, daher ließ er es sein. Sie sah blaß und apathisch aus, ein verblüffender Kontrast zu der Frannie, die vor ein paar Stunden aus vollem Herzen die Nationalhymne gesungen hatte.
»Bedrückt dich was, Liebes?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf, aber er dachte, daß er Tränen in ihren Augen sah.
»Was ist es? Sag's mir.«
»Nichts. Das ist es ja gerade. Nichts bedrückt mich. Es ist vorbei, das ist mir endlich klar geworden, das ist alles. Weniger als sechshundert Menschen, die >Star-Spangled Banner< singen. Es ist mir eben auf einmal klar geworden. Keine Würstchenbuden. Das Riesenrad auf Coney Island dreht sich heute abend nicht. Niemand trinkt einen Betthupfer in der Space Needle in Seattle. Jemand hat endlich einen Weg gefunden, das Drogenproblem in der Combat Zone von Boston und die Kinderprostitution am Times Square zu unterbinden. Das alles war schrecklich, aber ich glaube, das Heilmittel war in dem Fall viel schlimmer als die Krankheit. Weißt du, was ich meine?«
»Klar.«
»In meinem Tagebuch habe ich immer kleine Abschnitte mit der Überschrift >Zur Erinnerung< eingefügt. Damit das Baby einmal weiß... oh, was es nie erleben wird. Und wenn ich daran denke, bin ich niedergeschlagen. Ich hätte die Überschrift >Was aus und vorbei ist< wählen sollen.« Sie schluchzte leise und hielt mit dem Fahrrad an, damit sie die Hand vor den Mund legen und es unterdrücken konnte.
»Das geht allen so«, sagte Stu und legte einen Arm um sie. »Heute abend werden viele Leute sich in den Schlaf weinen. Das darfst du mir glauben.«
»Ich verstehe nicht, wie man um ein ganzes Land trauern kann«, sagte sie und weinte noch lauter, »aber es geht wohl. Kleinigkeiten... Kleinigkeiten gehen mir immerzu durch den Kopf. Autohändler. Frank Sinatra. Old Orchard Beach im Juli, voller Menschen, die meisten aus Quebec. Dieser dumme Kerl bei MTV – ich glaube, sein Name war Randy. Die Zeiten... O Gott, ich höre mich an wie ein fa-faverdammtes Gedicht von Rod Me-McKuen!«
Er hielt sie fest, tätschelte ihren Rücken, erinnerte sich, wie seine Tante Betty einmal einen Weinkrampf wegen einem Brotteig gehabt hatte, der nicht aufgegangen war; damals war sie schon dick und rund mit Vetter Laddie gewesen, im siebten Monat oder so, und Stu konnte sich erinnern, wie sie die Augen mit dem Zipfel eines Geschirrtuchs abgewischt und gesagt hatte, er solle sich nichts daraus machen, schwangere Frauen seien immer einen Schritt von der Irrenanstalt entfernt, weil die Säfte, die ihre Drüsen produzierten, immer zu einem schrecklichen Allerlei wurden.
Nach einer Weile sagte Frannie: »Okay. Okay. Besser. Gehen wir.«
»Frannie, ich liebe dich«, sagte er. Sie schoben ihre Fahrräder weiter.
Sie fragte ihn: »Woran erinnerst du dich am besten? Was ist dieses Spezielle?«
»Nun, weißt du...«, sagte er, dann lachte er kurz auf.
»Nein, ich weiß nicht, Stuart.«
»Es ist verrückt.«
»Sag es mir.«
»Ich weiß nicht, ob ich will. Du wirst nach den Typen mit den Schmetterlingsnetzen suchen.«
» Sag es mir!« Sie hatte Stu in vielen Stimmungen gesehen, aber diese seltsame, verlegene Nervosität war ihr neu.
»Ich habe es nie jemandem erzählt«, sagte er, »aber in den letzten Wochen habe ich oft daran gedacht. Mir ist 1982 etwas passiert. Ich habe damals in Bill Hapscombs Tankstelle Benzin gepumpt. Er hat mich beschäftigt, wenn er konnte und ich keine Arbeit in der Taschenrechnerfabrik in der Stadt hatte. Er hatte mich als Teilzeitkraft, elf Uhr bis Ladenschluß, was damals um drei Uhr morgens war. Wenn die Leute der Schicht von drei bis elf in der DixiePapierfabrik getankt hatten, war nicht mehr viel zu tun... in vielen Nächten hat zwischen zwölf und drei nicht ein Auto gehalten. Ich habe herumgesessen, Bücher oder Zeitschriften gelesen und bin häufig eingenickt. Klar?«
»Ja.« Sie verstand es. Sie sah ihn vor dem geistigen Auge, den Mann, der im Lauf der Zeit und der eigentümlichen Ereignisse ihr Mann werden sollte, ein Mann mit breiten Schultern, der auf einem Woolco-Plastikstuhl schlief und ein aufgeschlagenes Buch verkehrt herum auf dem Schoß liegen hatte. Sie sah ihn in einer Insel aus weißem Licht schlafen, einer Insel, die vom großen Meer der texanischen Nacht umgeben war. Sie liebte ihn in diesem Bild, wie überhaupt in allen Bildern, die ihr Verstand von ihm entwarf.
»Nun, in dieser speziellen Nacht war es etwa Viertel nach zwei, ich saß mit aufgelegten Füßen hinter Haps Schreibtisch und las einen Western – Louis L'Amour, Elmore Leonard, so jemanden, und da kommt ein riesiger Pontiac angefahren, wo sämtliche Fensterscheiben heruntergekurbelt waren und der Cassettenrekorder wie verrückt plärrte, Hank Williams. Ich kann mich sogar noch an das Stück erinnern, >Movin' On<. Der Bursche, weder jung noch alt, war ganz allein. Ein gutaussehender Mann, aber auf eine etwas beängstigende Weise – ich meine, er hat ausgesehen, als könnte er gefährliche Sachen machen, ohne weiter darüber nachzudenken. Er hatte buschiges, dunkles Lockenhaar. Zwischen den Beinen hatte er eine Flasche Wein eingeklemmt, Würfel aus Styropor hingen am Rückspiegel. Er sagt: >Super<, und ich sagte okay, aber ich stand eine Weile nur da und habe ihn angesehen. Weil er vertraut aussah. Ich habe das Gesicht gesucht.«
Jetzt waren sie an der Ecke; ihr Haus lag auf der anderen Straßenseite. Sie blieben stehen. Frannie sah ihn eingehend an.
»Also sagte ich: >Kennen wir uns nicht? Stammen Sie nicht aus Corbett oder Maxin?< Aber ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, als würde ich ihn aus diesen beiden Orten kennen. Und er sagte:
>Nein, aber ich bin mal mit meiner Familie durch Corbett gekommen, als ich noch ein Kind war. Ich glaube, als Kind bin ich durch ziemlich jede Stadt in Amerika gekommen. Mein Dad war bei der Luftwaffe. Ich habe sein Auto vollgetankt, und dabei habe ich die ganze Zeit an ihn gedacht und versucht, das Gesicht einzuordnen, und plötzlich fiel es mir ein. Plötzlich wußte ich es. Ich hätte mir beinahe in die Hosen gemacht, denn der Mann am Steuer des Pontiac galt als tot.«
»Wer war es, Stu? Wer war es?«
»Nein, laß es mich auf meine Weise erzählen, Frannie. Es ist eine verrückte Geschichte, ganz gleich, wie man sie erzählt. Ich ging ans Fenster zurück und hab' gesagt: >Das macht sechs Dollar und dreißig Cent.< Er gab mir zwei Fünfer und hat gesagt, den Rest könnte ich behalten. Und ich sagte: >Ich glaube, jetzt weiß ich, wer Sie sind.< Und er antwortete: >Nun, vielleicht<, und lächelte mich seltsam und beunruhigend an, während die ganze Zeit Hank Williams sang, daß er in die Stadt wollte. Ich sagte: >Wenn Sie sind, wer ich glaube, müßten Sie eigentlich tot sein.< Er sagt: >Sie sollten nicht alles glauben, was Sie lesen, Mann.< Ich sagte: >Sie mögen Hank Williams, was?< Mehr fiel mir nicht ein. Mir war klar, Frannie, wenn ich nicht irgend etwas sagte, würde er einfach das Fenster hochkurbeln und weiterfahren... und ich wollte, daß er geht, aber auch wieder nicht. Noch nicht. Erst wenn ich sicher war. Damals wußte ich noch nicht, daß man in manchen Dingen nie sicher sein kann, so sehr man es sich auch wünscht.
Er sagte: >Hank Williams ist einer der besten. Ich mag RoadhouseMusik.< Dann sagt er: >Ich fahre nach New Orleans, fahre die ganze Nacht, schlafe den ganzen Tag und ziehe dann die ganze Nacht durch die Kneipen. Ist es noch dasselbe? New Orleans?< Und ich sage: >Wie was?< Worauf er sagt: >Sie wissen schon.< Und ich sage: >Nun, es ist eben der Süden. Aber da unten hat es viel mehr Bäume.< Das bringt ihn zum Lachen. Er sagt: >Vielleicht sehen wir uns wieder.< Aber ich wollte ihn nicht wiedersehen, Frannie. Denn er hatte die Augen eines Mannes, der lange Zeit versucht hat, ins Dunkel zu sehen und allmählich eine Vorstellung bekommt, wie es dort aussieht. Ich glaube, wenn ich diesen Flagg jemals zu Gesicht bekomme, werde ich feststellen, daß seine Augen ähnlich aussehen.«
Stu schüttelte den Kopf, während sie die Räder über die Straße schoben und abstellten. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich habe mich damals gefragt, ob ich ein paar seiner Platten kaufen sollte, aber ich wollte sie nicht. Seine Stimme... es ist eine gute Stimme, aber ich bekomme eine Gänsehaut davon.«
»Stuart, von wem redest du?«
»Erinnerst du dich an eine Rockgruppe namens The Doors? Der Mann, der in jener Nacht in Arnette getankt hat, war Jim Morrison. Ich bin ganz sicher.«
Sie sperrte den Mund auf. »Aber der ist gestorben! Er ist in Frankreich gestorben! Er...« Dann verstummte sie. Denn Morrisons Tod war irgendwie komisch gewesen, oder nicht? Geheimnisvoll.
»Wirklich?« fragte Stu. »Ich weiß nicht. Vielleicht, und der Typ, den ich getroffen habe, hat ihm nur ähnlich gesehen, aber...«
»Glaubst du wirklich, daß er es war?« fragte sie.
Sie waren jetzt auf der Haustreppe und stießen mit den Schultern zusammen wie zwei kleine Kinder, die darauf warten, daß ihre Mutter sie zum Essen ruft.
»Ja«, sagte er. »Ja, das glaube ich. Und bis zu diesem Sommer habe ich immer gedacht, das wäre das Seltsamste, das mir je zustoßen würde. Mann, so kann man sich täuschen.«
»Und das hast du nie jemandem erzählt«, staunte sie. »Du hast Jim Morrison Jahre nach seinem angeblichen Tod gesehen und es nie einem Menschen gesagt. Stuart Redman, Gott hätte dir ein Zahlenschloß statt eines Munds geben sollen, als er dich in die Welt geschickt hat.«
Stu lächelte. »Nun, die Jahre zogen dahin, wie es in Büchern so schön heißt, und wenn ich an diese Nacht dachte – was von Zeit zu Zeit vorgekommen ist-, wurde ich jedesmal sicherer, daß er es doch nicht gewesen war. Nur jemand, der ihm ähnlich gesehen hat, weißt du. Ich dachte nicht besonders viel über das Thema nach. Aber in den vergangenen Wochen habe ich wieder angefangen, darüber nachzugrübeln. Und jetzt komme ich immer mehr zur Überzeugung, daß er es wirklich war. Verdammt, vielleicht ist er jetzt noch am Leben. Das wäre ein echter Lachschlager, was?«
»Wenn«, sagte sie, »ist er nicht hier.«
»Nein«, stimmte Stu zu. »Ich könnte mir auch nicht vorstellen, daß er hier ist. Weißt du, ich habe seine Augen gesehen.«
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Eine tolle Geschichte.«
»Ja – und in diesem Land lebten wahrscheinlich zwanzig Millionen Menschen, die eine ähnliche zu erzählen hatten... nur über Elvis Presley oder Howard Hughes.«
»Aber jetzt nicht mehr.«
»Nein – nicht mehr. Harold hat heute abend losgelegt, was?«
»Ich glaube, so was nennt man Themenwechsel.«
»Ich glaube, du hast recht.«
»Ja«, sagte sie. »Das hat er.«
Er lächelte über ihren besorgten Tonfall und das Stirnrunzeln, das ihr Gesicht verdüsterte. »Hat dir etwas zu schaffen gemacht, was?«
»Ja, aber das werde ich nicht sagen. Du bist ja jetzt in Harolds Mannschaft.«
»Das ist nicht fair, Fran. Ich habe mir auch meine Gedanken gemacht. Wir haben diese beiden vorbereitenden Versammlungen abgehalten... haben alles zu einer befriedigenden Lösung gebracht – dachten wir jedenfalls -, und dann kommt Harold des Wegs. Er läßt hier was los und da was los und sagt: >Habt ihr nicht eigentlich das gemeint?< Und wir sagen: >Ja, danke, Harold. So ist es.<« Stu schüttelte den Kopf. »Alle für eine Gesamtabstimmung aufzustellen – warum sind wir nicht darauf gekommen, Fran ? Das war schlau. Und wir haben nicht einmal darüber gesprochen.«
»Nun, keiner konnte wissen, in welcher Stimmung sie sein würden. Ich habe gedacht besonders, nachdem Mutter Abagail fortgegangen ist, sie würden düster, vielleicht sogar aggressiv sein. Und dann dieser Impening, der immer wie ein Schwarzseher daherschwätzt...«
»Ich frage mich, ob man den nicht irgendwie mundtot machen sollte«, sagte Stu nachdenklich.
»Aber es war ganz anders. Sie waren so... fröhlich, weil sie zusammen sein konnten. Hast du das gespürt?«
»Ja, habe ich.«
»Fast wie bei der Zeltmission. Ich glaube, Harold hat das nicht geplant. Er hat einfach die Gunst der Stunde genutzt.«
»Ich weiß einfach nicht, was ich von ihm halten soll«, sagte Stu. »An dem Abend, als wir nach Mutter Abagail gesucht haben, hat er mir regelrecht leid getan. Als Glen und Ralph erschienen sind, hat er schrecklich ausgesehen, als würde er ohnmächtig werden oder so. Aber als wir eben noch auf dem Rasen beisammen waren und alle ihm gratuliert haben, war er aufgebläht wie eine Kröte. Als hätte er äußerlich gelächelt und innerlich gedacht, da, jetzt seht ihr, was euer Komitee wert ist, ihr dummes Narrenpack. Er ist wie eines dieser Puzzle, die man als Kind nie lösen konnte. Chinesische Kästchen oder die drei Ringe, die auseinandergingen, wenn man richtig daran gezogen hat.«
Fran streckte die Füße aus und sah sie an. »Da wir von Harold sprechen, fällt dir etwas Komisches an meinen Füßen auf, Stuart?«
Stu betrachtete sie eingehend. »Nee. Nur daß du diese komischen Bioschuhe aus dem Geschäft da vorne trägst. Und was für große.«
Sie schlug nach ihm. »Bioschuhe sind ausgezeichnet für die Füße. Das steht in den besten Fachzeitschriften. Und zu deiner Information, ich habe Größe zweiundvierzig. Das ist eigentlich ziemlich normal.«
»Und was haben deine Füße mit Harold zu tun? Es ist spät, Liebling.« Er schob sein Rad weiter, und sie folgte ihm.
»Nichts, denke ich. Harold hat nur immer meine Füße angesehen. Nach der Versammlung, als wir im Gras gesessen und uns über alles unterhalten haben.« Sie schüttelte den Kopf und runzelte leicht die Stirn. »Warum sollte sich Harold Lauder für meine Füße interessieren?« fragte sie.
Larry und Lucy gingen Hand in Hand allein nach Hause. Leo war schon vor einiger Zeit in das Haus gegangen, in dem er mit »NadineMom« wohnte. Als sie zu ihrer Haustür gingen, sagte Lucy: »Das war eine Versammlung. Ich hätte nie gedacht...« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Veranda löste. Larry spürte, wie ihm heiße Angst im Hals emporschnellte. Er ist es, dachte er panisch. Er ist gekommen, um mich zu holen... ich werde sein Gesicht sehen.
Aber dann fragte er sich, wie er das gedacht haben konnte, denn es war Nadine Cross, sonst niemand. Sie trug ein Kleid aus weichem blaugrauen Material; das Haar fiel ihr lose über die Schultern, schwarzes Haar mit Strähnen von reinstem Weiß.
Neben ihr sieht Lucy wie ein Gebrauchtwagen auf einer Verkaufsausstellung aus, dachte er, ehe er es verhindern konnte, und verabscheute sich dafür. Das war der alte Larry... der alte Larry? Man könnte genausogut sagen, der alte Adam.
»Nadine«, sagte Lucy mit zitternder Stimme und einer Hand auf der Brust. »Du hast mir den Schreck meines Lebens verpaßt. Ich habe gedacht... ach, ich weiß nicht, was ich gedacht habe.«
Sie beachtete Lucy nicht. »Kann ich mit dir reden?« fragte sie Larry.
»Was? Jetzt?« Er sah Lucy von der Seite an, oder glaubte es jedenfalls... später wußte er nicht mehr, wie Lucy in diesem Augenblick ausgesehen hatte. Es war, als wäre sie von einer Eklipse verdeckt worden, aber von einem dunklen Stern, nicht von einem hellen.
»Jetzt. Es muß jetzt sein.«
»Morgen früh wäre...«
»Es muß jetzt sein, Larry. Oder nie.«
Er sah wieder zu Lucy, und diesmal sah er sie, sah die Resignation in ihrem Gesicht, als sie von Larry zu Nadine und wieder zurück blickte. Er sah, wie gekränkt sie war.
»Ich komm' gleich wieder, Lucy.«
»Nein, wirst du nicht«, sagte sie betrübt. Tränen glitzerten in ihren Augen. »O nein, das bezweifle ich.«
»Zehn Minuten.«
»Zehn Minuten, zehn Jahre«, sagte Lucy. »Sie will dich holen. Hast du auch Hundehalsband und Maulkorb mitgebracht, Nadine?«
Für Nadine existierte Lucy Swann nicht. Ihre Augen waren auf Larry fixiert, diese großen, dunklen Augen. Für Larry würden es immer die seltsamsten und schönsten Augen bleiben, die er je gesehen hatte, Augen, die einen ruhig und tief ansahen, wenn man litt oder Schwierigkeiten hatte oder vor Kummer außer sich war.
»Ich komme gleich, Lucy«, sagte er mechanisch.
»Sie...«
»Geh schon mal.«
»Ja, das werde ich wohl. Sie ist gekommen. Ich habe ausgedient.«
Sie lief die Stufen hoch, stolperte über die oberste, behielt das Gleichgewicht, zog die Tür auf und schlug sie hinter sich zu und schnitt damit das Schluchzen ab, als es gerade anfing. Nadine und Larry sahen einander wie in Trance an. So passiert es, dachte er. Wenn man in Augen sieht, die man nie wieder vergißt, oder im Gedränge auf dem Bahnsteig der U-Bahn plötzlich jemanden sieht, der ein Doppelgänger sein könnte, oder auf der Straße ein Lachen hört, das das Lachen des ersten Mädchens gewesen sein könnte, mit dem man geschlafen hat.
Aber er hatte einen so bitteren Geschmack im Mund.
»Laß uns zur Ecke und zurück gehen«, sagte Nadine mit leiser Stimme. »Würdest du das für mich tun?«
»Ich sollte lieber zu ihr gehen. Du hast dir einen verdammt ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht.«
»Bitte? Nur zur Ecke und zurück? Wenn du willst, werde ich vor dir knien und dich anflehen. Hier. Siehst du?«
Zu seinem Entsetzen sank sie tatsächlich auf die Knie, wobei sie den Rock ein Stück hochschieben mußte, ihm die nackten Beine zeigte und ihm die eigenartige Gewißheit vermittelte, daß darunter auch alles andere nackt war. Warum dachte er das? Er wußte es nicht. Ihre Augen sahen ihn an, daß sein Kopf wirbelte, und irgendwo schwang hier ein ekelerregendes Gefühl der Macht mit, das damit zu tun hatte, daß sie hier vor ihm auf den Knien lag und den Mund auf einer Ebene hatte mit...
»Steh auf!« sagte er grob. Er nahm ihre Hände und zerrte sie hoch und versuchte, nicht zu sehen, wie der Rock noch weiter hinaufrutschte, bevor er wieder herunterfiel, daß ihre Schenkel cremefarben waren, von jenem weißen Farbton, der nicht blaß und tot ist, sondern voller Leben und gesund und erregend.
»Komm«, sagte er, fast vollkommen entnervt.
Sie gingen nach Westen, in Richtung der Berge, die eine weit entfernte negative Präsenz darstellten, dreieckige Schemen der Dunkelheit, welche die Sterne verdeckten, die nach dem Regen herausgekommen waren. Wenn er nachts auf diese Berge zuging, fühlte er sich immer irgendwie unbehaglich, aber auch irgendwie abenteuerlustig, und jetzt, während Nadine an seiner Seite ging, die Hand leicht auf seinen Ellbogen gelegt, schienen diese Empfindungen noch stärker zu sein. Er hatte immer lebhafte Träume gehabt und vor drei oder vier Nächten von diesen Bergen; er hatte geträumt, daß Trolle darin hausten, tückische Kreaturen mit hellgrünen Augen, unförmigen Wasserköpfen und kräftigen Händen mit kurzen Fingern. Würgerhände. Geistlose Trolle, welche die Gebirgspässe bewachten. Die warteten, bis seine Zeit gekommen war – die Zeit des dunklen Mannes.
Ein leichter Windhauch wehte mäanderförmig die Straße entlang und blies Papierschnipsel vor sich her. Sie kamen am King Sooper's vorbei, wo ein paar Einkaufswagen wie tote Wachtposten auf dem großen Parkplatz standen, und er mußte an den Lincoln-Tunnel denken. Im Lincoln-Tunnel waren Trolle gewesen. Sie waren tot, aber das bedeutete nicht, daß alle Trolle in dieser neuen Welt tot waren.
»Es ist schwer«, sagte Nadine immer noch mit leiser Stimme. »Sie hat es schwergemacht, weil sie recht hat. Ich will dich jetzt. Und ich fürchte, ich komme zu spät. Ich möchte hier bleiben.«
»Nadine...«
» Nein!« sagte sie aufbrausend. »Laß mich ausreden. Ich will hier bleiben, kannst du das nicht verstehen? Und wenn wir zusammen sind, kann ich es. Du bist meine letzte Chance«, sagte sie mit brechender Stimme. »Joe ist auch weg.«
»Aber das stimmt nicht«, sagte Larry und kam sich begriffsstutzig und dumm und langsam vor. »Wir haben ihn auf dem Rückweg vor deinem Haus abgeliefert. Ist er nicht da?«
»Nein. Ein Junge namens Leo Rockway schläft in seinem Bett.«
»Was willst du...«
»Hör zu«, sagte sie. »Hör mir zu, kannst du nicht zuhören? Solange ich Joe hatte, war alles in Ordnung. Ich konnte... so stark sein, wie ich sein mußte. Aber er braucht mich nicht mehr. Und ich muss gebraucht werden.«
»Er braucht dich!«
»Natürlich«, sagte Nadine, und Larry hatte wieder Angst. Sie sprach nicht mehr von Leo; er wußte nicht, von wem sie sprach. »Er braucht mich. Davor habe ich Angst. Deshalb bin ich zu dir gekommen.« Sie trat vor ihn und sah mit zurückgelegtem Kopf zu ihm auf. Er roch ihren heimlichen, sauberen Geruch und begehrte sie. Aber ein Teil von ihm wandte sich Lucy zu. Das war der Teil von ihm, den er brauchte, wenn er es hier in Boulder schaffen wollte. Wenn er ihn verleugnete und mit Nadine ging, konnten sie sich genausogut gleich heute nacht aus Boulder hinausschleichen. Dann wären sie fertig mit ihm. Der alte Larry würde triumphieren.