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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

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Текущая страница: 8 (всего у книги 50 страниц)

»Lois!« rief McGovern, sank vor ihr auf ein Knie und breitete theatralisch die Arme aus. »Wäre unser beider Leben doch durch das Sternenband der Liebe verknüpft! Verknüpfe dein Schicksal mit meinem und laß dich im goldenen Wagen meiner Leidenschaft in andere Breiten hinforttragen!«

»Herrje, sprichst du von Flitterwochen oder von einer Nacht?« fragte Lois und lächelte unsicher.

Ralph stieß McGovern in den Rücken. »Steh auf, du Narr«, sagte er und nahm Lois die kleine Tüte ab. Er sah hinein und fand drei Dosen Bier.

McGovern stand auf. »Entschuldige, Lois«, sagte er. »Es lag am Licht der Abenddämmerung und deiner Schönheit. Mit anderen Worten, ich plädiere auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit.«

Lois lächelte ihm zu, dann wandte sie sich an Ralph. »Ich habe gerade gehört, was passiert ist«, sagte sie, »und da bin ich so schnell ich konnte hergekommen. Ich war den ganzen Nachmittag in Ludlow und hab mit den Mädchen gepokert.« Ralph mußte McGovern nicht ansehen, um zu wissen, daß dessen linke Augenbraue – die sagte: Mit den Mädchen gepokert! Wie wunderbar, typisch, ganz unsere Lois! – bis zum Anschlag in die Höhe gezogen sein würde. »Geht es Helen einigermaßen?«

»Ja«, sagte Ralph. »Vielleicht nicht unbedingt gut – sie behalten sie über Nacht im Krankenhaus -, aber sie ist nicht in Lebensgefahr oder so.«

»Und das Baby?«

»Ausgezeichnet. Ist bei einer Freundin von Helen.«

»Na gut, kommt auf die Veranda, ihr beiden, und erzählt mir alles darüber.« Sie hakte sich mit einem Arm bei McGovern und mit dem anderen bei Ralph unter und ging mit ihnen zurück. Und so stiegen sie die Stufen hinauf, wie zwei in die Jahre gekommene Musketiere, die die Dame, um deren Gunst sie in ihrer Jugend gebuhlt hatten, wohlbehalten zwischen sich führten, und als sich Lois auf den Schaukelstuhl setzte, gingen in der Harris Avenue die Lampen an und leuchteten in der Dämmerung wie eine doppelte Perlenkette.

Ralph schlief in dieser Nacht ein, als sein Kopf noch nicht einmal richtig auf dem Bässen lag, und am Freitag morgen wachte er pünktlich um 3:30 Uhr wieder auf. Er wußte sofort, daß es keinen Zweck haben würde, noch einmal einschlafen zu wollen; ebenso gut konnte er sich gleich in den Ohrensessel am Fenster setzen.

Er blieb aber noch einen Moment liegen, sah in die Dunkelheit und versuchte, sich an den Traum zu erinnern, den er gehabt hatte. Es gelang ihm nicht. Er erinnerte sich nur, daß Ed darin vorgekommen war… und Helen… und Rosalie, die Hündin, die er manchmal durch die Harris Avenue hinken sah, bevor Pat, der Zeitungsjunge, kam.

Dorrance kam auch darin vor. Dorrance Marstellar. Vergiß den nicht.

Ja, richtig. Und als wäre ein Schlüssel im Schloß gedreht worden, erinnerte sich Ralph plötzlich an die seltsame Bemerkung von Dorrance, als Ed sich letztes Jahr mit dem vierschrötigen Mann gestritten hatte… woran er sich heute abend nicht hatte erinnern können, als McGovern den Namen des alten Mannes erwähnt hatte.

Er hatte Ed aufhalten wollen und ihn so lange an die eingedrückte Haube seines Autos gedrückt, bis er sich wieder beruhigt hatte, und Dorrance hatte gesagt,

(Ich würde das nicht tun) daß Ralph ihn nicht anfassen sollte.

»Er sagte, daß er meine Hände nicht mehr sehen könnte«, murmelte Ralph und schwang die Füße aus dem Bett. »Das war es.«

Er blieb noch eine Weile sitzen, hielt den Kopf gesenkt und die Finger zwischen den Schenkeln gefaltet, und sein Haar stand zerzaust in die Höhe. Schließlich stand er auf und schlurfte ins Wohnzimmer. Es wurde Zeit, auf den Sonnenaufgang zu warten.

Kapitel 4

Obwohl sich Zyniker immer plausibler als die blauäugigen Optimisten dieser Welt anhörten, irrten sie sich nach Ralphs Erfahrung zumindest in fünfzig Prozent aller Fälle, und er freute sich, daß McGovern sich hinsichtlich Helen Deepneau geirrt hatte – in ihrem Fall schien eine Strophe des »Heartbreak-Prügel-Blues« auszureichen.

Am Mittwoch der darauffolgenden Woche, als Ralph sich gerade überlegt hatte, daß es besser wäre, die Frau aufzuspüren, von der Helen im Krankenhaus gesprochen hatte (Tillbury, ihr Name war Gretchen Tillbury), um sich zu vergewissern, daß mit Helen alles in Ordnung war, bekam er einen Brief von ihr. Der Absender war schlicht – nur Helen und Nat, High Ridge -, aber er reichte aus, Ralph sichtlich zu erleichtern. Er setzte sich in seinen Sessel auf der Veranda, riß das Ende des Umschlags auf und schüttelte zwei Blätter heraus, die mit Helens schräger Handschrift vollgeschrieben waren.

»Lieber Ralph«, begann der Brief, »ich nehme an, inzwischen mußt Du denken, daß ich doch wütend auf Dich bin, aber das bin ich wirklich nicht. Es ist nur so, daß wir die ersten paar Tage mit niemand Verbindung aufnehmen sollen weder telefonisch noch brieflich. Hausvorschriften. Es gefällt nur hier ausgezeichnet, und Nat ebenfalls. Logisch – es sind mindestens sechs Kinder in ihrem Alter hier, mit denen sie herumkrabbeln kann. Was mich betrifft, ich habe hier mehr Frauen kennengelernt, die wissen, was ich durchgemacht habe, als ich mir je hätte träumen lassen. Ich meine, man sieht die Fernsehsendungen – Oprah im Gespräch mit Frauen, die Männer lieben, die sie als Punchingbälle gebrauchen -, aber wenn es einem selbst passiert, dann nimmt man immer an, es passierte auf eine Weise wie keiner anderen vorher, auf eine Weise, die brandneu auf der Welt ist. Die Erleichterung darüber, daß das nicht stimmt, war das Beste, das mir seit langer, langer Zeit widerfahren ist… «

Sie erzählte von den Aufgaben, die sie übertragen bekommen hatte – Gartenarbeit, Mithilfe beim Streichen eines Geräteschuppens, die Sturmläden mit Essig und Wasser abwaschen -, und von Nats Abenteuern beim Laufenlernen. Der Rest des Briefes handelte davon, was passiert war und was sie unternehmen wollte, und da spürte Ralph zum erstenmal die emotionale Aufgewühltheit, die Helen empfinden mußte, ihre Angst vor der Zukunft und, als Gegengewicht zu dem allen, die feste Entschlossenheit, das Richtige für Nat zu tun… und für sich selbst auch. Helen schien gerade herauszufinden, daß sie auch ein Anrecht auf das Richtige hatte. Ralph war froh, daß sie das herausgefunden hatte, aber traurig, wenn er an die finstere Zeit dachte, die sie hatte durchmachen müssen, um zu dieser simplen Einsicht zu kommen.

»Ich werde mich von ihm scheiden lassen«, schrieb sie. »Ein Teil in mir (er hört sich an wie meine Mutter, wenn er spricht) heult lauthals auf, wenn ich es so unverblümt ausdrücke, aber ich habe es satt, mir wegen meiner Situation etwas vorzumachen. Hier finden jede Menge Therapien statt, bei denen Leute im Kreis sitzen und binnen einer Stunde vier Packungen Kleenex verbrauchen, aber alles scheint darauf hinauszulaufen, daß man seine Lage besser erkennt. In meinem Falle sieht es schlicht und einfach so aus, daß aus dem Mann, den ich geheiratet habe, ein gefährlicher Paranoiker geworden ist. Daß er manchmal liebevoll und zärtlich sein kann, ist nicht das Wesentliche, sondern lenkt nur davon ab. Ich darf nicht vergessen, daß der Mann, der mir selbstgepflückte Blumen brachte, heute manchmal auf der Veranda sitzt und mit jemandem redet, der gar nicht da ist, einem Mann, den er > den kleinen kahlköpfigen Arzt< nennt. Ist das nicht allerliebst? Ich glaube, ich weiß, wie das alles angefangen hat, und wenn ich Dich sehe, werde ich es Dir erzählen, wenn Du es wirklich hören willst.

Mitte September dürfte ich (zumindest eine Weile) wieder in dem Haus in der Harris Avenue sein, und sei es nur, um einen Job zu suchen… aber davon nichts mehr, das ganze Thema versetzt mich in Todesangst! Ich habe eine Nachricht von Ed bekommen – nur ein Absatz, aber trotzdem eine Erleichterung -, in der er mir mitteilt, daß er in einer der Hütten auf dem Gelände der Hawking Labors in Fresh Harbor wohnt und das Besuchsverbot der Bewährungsvorschriften einhalten würde. Er schreibt, daß ihm alles leid täte, aber daß er das wirklich ernst meint, konnte ich nicht feststellen. Nicht, daß ich Tränenflecken auf dem Brief oder ein Päckchen mit seinem Ohr darin erwartet hätte, aber… ich weiß auch nicht. Es war, als wollte er sich überhaupt nicht wirklich entschuldigen, sondern es nur fürs Protokoll erwähnen. Ergibt das einen Sinn? Außerdem hat er einen Scheck über 750 Dollar beigelegt, was darauf hinzudeuten scheint, daß er sich seiner Verpflichtungen bewußt ist. Das ist gut, aber ich glaube, ich wäre glücklicher gewesen, wenn er sich wegen seiner seelischen Probleme ärztliche Hilfe gesucht hätte. Das müßte seine Strafe sein, weißt Du: achtzehn Monate intensive Therapie. Das habe ich in der Gruppe gesagt, und einige haben gelacht, als wäre es ein Witz. Es war aber keiner.

Wenn ich an die Zukunft denke, sehe ich manchmal nur furchterregende Bilder vor mir. Ich stelle mir vor, wie wir im Manna in der Schlange stehen, um eine kostenlose Mahlzeit zu bekommen, oder wie ich mit der in eine Decke gewickelten Nat unter dem Arm das Obdachlosenasyl in der Third Street betrete. Wenn ich an so etwas denke, fange ich an zu zittern, und manchmal weine ich. Ich weiß, das ist dumm; ich habe einen Abschluß in Bibliothekswissenschaft, Herrgott noch mal, aber ich kann nichts dafür. Und weißt Du, was mir wieder Halt gibt, wenn diese schrecklichen Bilder kommen? Was Du zu mir gesagt hast, als Du mich im Red Apple hinter den Tresen geführt und auf den Sessel gesetzt hattest. Du hast mir gesagt, daß ich eine Menge Freunde in der Nachbarschaft hätte, und daß ich es überstehen würde. Ich weiß, daß ich mindestens einen Freund habe. Einen wahren Freund.«

Unterschrieben war der Brief mit: Alles Liebe, Helen.

Ralph wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln – in letzter Zeit schien es, als würde er wegen verschütteter Milch weinen, wahrscheinlich lag das daran, daß er so gottverdammt müde war – und las das P.S., das sie an den unteren und rechten Rand des Briefs gequetscht hatte: »Ich würde mich freuen, wenn Du mich hier besuchen könntest, aber aus Gründen, die Du sicher einsiehst, haben Männer hier keinen Zutritt. Sie möchten nicht einmal, daß wir die genaue Lage verraten! H.«

Ralph blieb eine oder zwei Minuten mit Helens Brief auf dem Schoß sitzen und sah über die Harris Avenue hinaus. Inzwischen schrieb man Ende August, noch Sommer, aber die Blätter der Pappeln schimmerten silbern, wenn der Wind darüberstrich, und der erste kühle Hauch lag in der Luft. Ein Schild im Schaufenster des Red Apple verkündete: SCHULBEDARF JEDER ART! FRAGEN SIE ZUERST HIER! Und irgendwo an der Stadtgrenze von Newport wusch Helen Deepneau in einem großen alten Farmhaus, wo mißhandelte Ehefrauen Zuflucht suchten und versuchten, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, die Sturmläden und machte sie für einen weiteren langen Winter bereit.

Er schob den Brief behutsam wieder in den Umschlag und versuchte sich zu erinnern, wie lange Ed und Helen verheiratet gewesen waren. Sieben oder acht Jahre, dachte er. Carolyn hätte es genau gewußt. Wieviel Mut ist erforderlich, einen Traktor zu nehmen und Frucht umzupflügen, die man sieben oder acht Jahre gehegt hat? fragte er sich. Wieviel Mut, das zu tun, wenn man die ganze Zeit damit verbracht hat herauszufinden, wie man den Boden vorbereitet, wann man pflanzt, wieviel Wasser erforderlich ist und wann man erntet? Wieviel Mut kostete es, einfach zu sagen: »Ich muß diese Erbsen aufgeben, Erbsen sind nichts für mich. Ich versuche es lieber mit Mais oder Bohnen.«

»Eine Menge«, sagte er und wischte sich wieder die Augen.

»Verdammt viel, das ist meine Meinung.«

Plötzlich wollte er Helen unbedingt wiedersehen, wollte wiederholen, woran sie sich so gut erinnerte und woran er selbst sich kaum erinnern konnte: Du wirst das prima überstehen, du hast eine Menge Freunde in der Nachbarschaft.

»Bring das auf die Bank«, sagte Ralph. Daß er von Helen gehört hatte, schien ihm eine große Last von der Seele genommen zu haben. Er stand auf, steckte den Brief in die Gesäßtasche und ging die Harris Avenue entlang zum Picknickplatz an der Extension. Wenn er Glück hatte, fand er Faye Chapin oder Don Veazie und konnte eine Partie Schach spielen.

Seine Erleichterung darüber, von Helen zu hören, konnte Ralphs Schlaflosigkeit nicht lindern; er wachte auch weiterhin vorzeitig auf, und am Labor Day schlug er die Augen gegen 2:45 Uhr auf. Am zehnten September – dem Tag, an dem Ed Deepneau wieder verhaftet wurde, diesmal zusammen mit fünfzehn anderen – schlief Ralph noch rund drei Stunden pro Nacht, und er fühlte sich fast wie etwas auf einem Objektträger unter dem Mikroskop. Nur ein einsamer Einzeller, das bin ich, dachte er, als er in seinem Sessel saß und auf die Harris Avenue hinaussah, und er wünschte sich, er hätte lachen können.

Seine Liste todsicherer, zuverlässiger Hausmittel wuchs, und er hatte sich schon mehr als einmal überlegt, daß er ein heiteres kleines Buch zum Thema hätte schreiben können… das hieß, sollte er jemals wieder genug Schlaf bekommen, daß ihm zusammenhängendes Denken möglich wäre. Diesen Spätsommer war er schon froh, wenn es ihm gelang, jeden Tag ein Paar zusammenpassende Socken anzuziehen, und sein Denken kehrte immer wieder zu der höllischen Anstrengung zurück, an dem Tag, als Helen verprügelt worden war, eine Packung Cup-A-Soup im Küchenschrank zu finden. Soweit war es seither nicht wieder gekommen, weil es ihm gelungen war, jede Nacht zumindest etwas Schlaf zu bekommen, aber Ralph hatte schreckliche Angst, es würde bald wieder soweit sein -wenn nicht noch schlimmer -, sollte sein Zustand nicht besser werden. Es gab Zeiten (für gewöhnlich wenn er um halb fünf Uhr morgens im Sessel saß), da hätte er schwören können, daß er spüren konnte, wie sein Gehirn langsam austrocknete.

Das Spektrum der Hausmittel reichte vom Erhabenen bis zum Lächerlichen. Zu ersterem gehörte eine vierfarbige Broschüre, die die Wunder des Minnesota Institute for Sleep Studies in St. Paul anpries. Ein hinreichend gutes Beispiel für letzteres war das »Magische Auge«, ein Allzweckamulett, das über Anzeigen in Boulevardblättern wie dem National Enquirer und Inside View vertrieben wurde. Sue, die Kassiererin im Red Apple, kaufte eines und überreichte es ihm eines Nachmittags. Ralph betrachtete das schlecht gezeichnete blaue Auge, das von dem Medaillon (das sein Leben wahrscheinlich einmal als Pokerchip begonnen hatte) zu ihm aufsah und spürte, wie unbändiges Lachen in ihm emporwallte. Irgendwie gelang es ihm, dieses Gelächter zu unterdrücken, bis er wohlbehalten auf der anderen Straßenseite in seinem Apartment im ersten Stock eingetroffen war, und dafür war er mehr als dankbar. Der Ernst, mit dem Sue es ihm überreicht hatte – und die teuer aussehende Goldkette, die sie durch die Öse gezogen hatte -, deuteten darauf hin, daß sie eine Stange Geld dafür hingelegt haben mußte. Seit dem Tag, als sie beide Helen gerettet hatten, betrachtete sie Ralph fast ehrfürchtig. Das machte Ralph verlegen, aber er wußte nicht, was er dagegen tun sollte. Vorläufig entschied er, konnte es nicht schaden, das Medaillon zu tragen, damit sie seinen Umriß unter seinem Hemd erkennen konnte. Beim Einschlafen half es ihm allerdings nicht.

Nachdem er Ralphs Aussage zu den häuslichen Problemen der Deepneaus aufgenommen hatte, hatte Detective John Leydecker den Bürostuhl zurückgeschoben, die Finger hinter seinem nicht unerheblich starken Nacken verschränkt und ihm eröffnet, McGovern hätte ihm verraten, daß Ralph an Schlaflosigkeit leide. Ralph gab es zu. Leydecker nickte, rollte den Stuhl wieder vorwärts, verschränkte die Hände auf dem Durcheinander von Papieren, unter denen sein Schreibtisch größtenteils verborgen war, und sah Ralph ernst an.

»Honigwabe«, sagte er. Sein Tonfall erinnerte Ralph an McGoverns Ton, als er Whiskey als Heilmittel empfohlen hatte, und Ralphs Antwort darauf fiel genau gleich aus.

»Pardon?«

»Mein Großvater hat darauf geschworen«, sagte Leydecker. »Ein kleines Stück Honigwabe vor dem Schlafengehen. Saugen Sie den Honig aus den Waben, kauen Sie das Wachs ein wenig

– wie einen Kaugummi -, und spucken Sie es dann in den Abfall.

Bienen scheiden eine Art natürliches Schlafmittel aus, wenn sie Honig machen. Das hilft Ihnen garantiert.«

»Ohne Flachs«, sagte Ralph, der es gleichzeitig für völligen Unsinn hielt und jedes Wort glaubte. »Was meinen Sie, wo könnte man Honigwaben bekommen?«

»Nutra – der Naturkostladen draußen im Einkaufszentrum. Versuchen Sie es. Nächste Woche um diese Zeit hat sich Ihr Problem erledigt.«

Ralph genoß das Experiment – die Honigwabe war so süß und würzig, daß sie sein gesamtes Wesen zu durchdringen schien -, aber er wachte trotzdem nach der ersten Dosis um 3:07 Uhr, nach der zweiten um 3:08 und nach der dritten um 3:06 Uhr auf. Da war das kleine Stück Honigwabe verbraucht, das er gekauft hatte, und er ging sofort wieder zu Nutra und holte ein neues. Sein Wert als Schlafmittel mochte gleich Null sein, aber es war ein wunderbarer Snack; er wünschte nur, er wäre füher darauf gekommen.

Er versuchte es damit, die Füße in warmes Wasser zu stellen. Lois kaufte ihm etwas, das Allzweck-Gelmanschette hieß, im Versandhandel – man sollte sie um den Hals legen, wo sie gegen Arthritis wirkte und einem beim Schlafen half (bei Ralph tat sie beides nicht, aber er hatte sowieso nur einen milden Fall von Arthritis gehabt). Nach einer zufälligen Begegnung mit Trigger Vachon am Tresen von Nicky’s Lunch versuchte er es mit Kamillentee. »Das Kraut wirkt wahre Wunder«, erzählte ihm Trig. »Du wirst schlafen wie ein Murmeltier, Ralphie.« Und Ralph schlief tatsächlich – bis 2:58 Uhr.

Das waren die Hausmittel und homöopathischen Arzneien, mit denen es Ralph versuchte. Zu denen, die er nicht versuchte, gehörten Multivitamintabletten, die mehr kosteten, als sich Ralph mit seinem beschränkten Einkommen leisten konnte, eine Yogastellung namens »Der Träumer« (wie der Briefträger sie beschrieb, hörte sich »Der Träumer« nach einer ausgezeichneten Methode an, sich seine eigenen Hämorrhoiden anzusehen) und Marihuana. Ralph dachte lange und gründlich über letzteres nach, bis er zum Ergebnis kam, daß es sich wahrscheinlich nur um eine illegale Version von Whiskey und Honigwabe und Kamillentee handelte. Außerdem, wenn McGovern herausfand, daß Ralph Pot auchte, würde er es sich bis an sein Lebensende anhören müssen.

Und während der ganzen Experimente fragte ihn eine Stimme in seinem Kopf, ob er es wirklich mit Lurchaugen und Krötenzungen versuchen mußte, bevor er endlich zu einem Arzt ging. Diese Stimme war mehr neugierig als kritisch. Ralph selbst war ziemlich neugierig geworden.

Am zehnten September, der ersten Demonstration der Friends of Life vor Woman-Care, entschied Ralph, daß er es mit etwas aus der Drogerie versuchen würde… aber nicht unten im Rexall, wo er Carolyns Rezepte geholt hatte. Dort kannten sie ihn, kannten ihn gut, und Ralph wollte nicht, daß Paul Durgin, der Drogist von Rexall, ihn dabei sah, wie er Schlaftabletten kaufte. Wahrscheinlich war das albern – als würde man quer durch die ganze Stadt fahren, um Kondome zu kaufen -, änderte aber nichts an seiner Einstellung. Er war noch nie im Rite Aid gegenüber des Strawford Park gewesen, daher wollte er es dort versuchen. Und wenn die Apothekenversion von Lurchaugen und Krötenzungen nicht wirkte, würde er wirklich zu einem Doktor gehen.

Ist das wahr, Ralph? Ist das wirklich dein Ernst?

»Ja«, sagte er laut, während er langsam im hellen Septembersonnenschein die Harris Avenue entlangging. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich das noch lange mitmache.«

Große Worte, Ralph, erwiderte die Stimme skeptisch.

Bill McGovern und Lois Chasse standen vor dem Park und schienen in eine angeregte Unterhaltung vertieft zu sein. Bill sah auf, erkannte ihn und winkte ihn herüber. Ralph ging hin, aber ihre Mienen gefielen ihm nicht: sichtliches Interesse bei McGovern, Besorgnis und Beunruhigung bei Lois.

»Hast du von der Sache beim Krankenhaus gehört?« fragte sie, als Ralph bei ihnen war.

»Es war nicht beim Krankenhaus und es war keine >Sache<«, sagte McGovern ärgerlich. »Es war eine Demonstration – so haben sie es jedenfalls genannt -, und die fand bei Woman-Care statt, das eigentlich hinter dem Krankenhaus liegt. Sie haben ein paar Leute ins Gefängnis gesperrt – zwischen sechs und zwei Dutzend, niemand scheint es genau zu wissen.«

»Einer davon war Ed Deepneau!« sagte Lois atemlos, worauf McGovern ihr einen mißfälligen Blick zuwarf. Er war eindeutig der Meinung, daß es ihm zugestanden hätte, diese Information zu überbringen.

»Ed!« sagte Ralph erstaunt. »Er ist in Fresh Harbor!«

»Falsch«, sagte McGovern. Der ausgebeulte Fedora, den er trug, verlieh ihm ein etwas verwegenes Aussehen, wie ein Reporter in einem Kriminalfilm aus den vierziger Jahren. Ralph fragte sich, ob der Panama immer noch verschwunden oder nur bis zum Herbst in den Ruhestand versetzt worden war. »Heute kühlt er sich sein Mütchen wieder in unserem malerischen Stadtgefängnis ab.«

»Was ist genau passiert?«

Aber das wußten sie beide im Grunde genommen nicht. Im momentanen Zustand war die Geschichte wenig mehr als ein Gerücht, das sich durch den Park verbreitet hatte wie eine ansteckende Kopfgrippe, ein Gerücht, das in diesem Viertel auf besonderes Interesse stieß, da Ed Deepneaus Name darin vorkam. Marie Callan hatte Lois erzählt, daß Pflastersteine geworfen worden waren, darum hatten sie die Demonstranten festgenommen. Laut Stan Eberly, der McGovern die Geschichte erzählt hatte, kurz bevor McGovern Lois getroffen hatte, hatte jemand – möglicherweise Ed, möglicherweise auch einer der anderen – zwei Ärzte mit Tränengas besprüht, als diese den Fußweg zwischen Woman-Care und dem Hintereingang des Krankenhauses benutzt hatten. Dieser Weg war rechtlich gesehen öffentliches Gelände und in den sieben Jahren, seit Woman-Care Abtreibungen auf Verlangen durchführte, zu einem Lieblingsplatz für demonstrierende Abtreibungsgegner geworden.

Die beiden Versionen der Geschichte waren so vage und widersprüchlich, daß Ralph hinreichend Hoffnung aufbringen konnte, keine davon würde sich als wahr erweisen, daß es sich vielleicht nur um ein paar übereifrige Leute gehandelt hätte, die wegen Hausfriedensbruchs oder so etwas verhaftet worden wären. In Städten wie Derry kam so etwas vor; Geschichten wurden aufgeblasen wie Wasserbälle, wenn sie weitererzählt wurden.

Aber er konnte das Gefühl nicht abschütteln, daß es diesmal ernster wäre, und zwar weil in der Version von Bill und in der von Lois Ed Deepneau vorkam, und Ed war keineswegs der normale, durchschnittliche Abtreibungsgegner. Immerhin handelte es sich um den Mann, der seiner Frau ein Büschel Haare ausgerissen, ihr das Gebiß neu eingerichtet und ihr einen Wangenknochen gebrochen hatte, und das nur, weil er ihren Namen auf einer Petition von Woman-Care fand. Es handelte sich um den Mann, der allen Ernstes davon überzeugt war, daß jemand, der sich der Scharlachrote König nannte -toller Name für einen Profi-Catcher, fand Ralph -, in Derry herumspazierte, und daß seine Untergebenen ihre ungeborenen Opfer mit Lastwagen aus der Stadt schafften (und ein paar Pickups, auf denen die Embryos in Fässern mit der Aufschrift DÜNGER versteckt waren). Nein, er hatte das Gefühl, wenn Ed dort gewesen war, ging es wahrscheinlich nicht nur darum, daß jemand aus Versehen mit einem Protestschild auf den Kopf geschlagen worden war.

»Gehen wir zu mir nach Hause«, schlug Lois plötzlich vor. »Ich rufe Simone Castonguay an. Ihre Nichte ist tagsüber an der Rezeption von Woman-Care. Wenn jemand genau weiß, was heute morgen dort passiert ist, dann Simone – sie wird Barbara angerufen haben.«

»Ich war gerade auf dem Weg zum Supermarkt«, sagte Ralph. Das war selbstverständlich eine Lüge, aber sicher eine kleine; der Markt befand sich im Einkaufszentrum einen halben Block vom Park entfernt gleich neben dem Rite Aid. »Kann ich auf dem Rückweg vorbeikommen?«

»Na klar«, sagte Lois und lächelte ihm zu. »Wir erwarten dich in ein paar Minuten, nicht, Bill?«

»Ja«, sagte McGovern und zog sie plötzlich in seine Arme. Es war eine ziemliche Strecke, aber es gelang ihm. »Bis dahin habe ich dich ganz für mich alleine. Oh, Lois, wie diese süßen Minuten dahinfliegen werden!«

Direkt innerhalb des Parks hatte eine Gruppe junger Frauen mit Babys in Kinderwagen (Mütterklatsch, dachte Ralph) sie beobachtet – wahrscheinlich von Lois’ Gesten angelockt, die einen Hang zum Grandiosen hatten, wenn sie aufgeregt war. Als McGovern Lois nun nach hinten kippte und sich mit der gespielten Leidenschaft eines schlechten Schauspielers am Ende eines Bühnentangos über sie beugte, sagte eine der Mütter etwas zu einer anderen, worauf sie beide lachten. Es war ein schrilles, freudloses Geräusch, bei dem Ralph an Kreide auf einer Tafel und Gabeln denken mußte, die über Porzellan kratzten. Seht euch die komischen alten Leute an, sagte das Lachen. Seht euch die komischen alten Leute an, die so tun, als wären sie wieder jung.

Ralph sah sie durchdringend an und versuchte, ihnen einen Gedanken zu senden: Das blüht euch auch noch. Vielleicht glaubt ihr es jetzt noch nicht, aber es ist so.

»Hör auf, Bill«, sagte Lois. Sie errötete, aber möglicherweise nicht nur, weil Bill seine üblichen Albernheiten abzog. Sie hatte das Gelächter aus dem Park auch gehört. McGovern zweifellos auch, aber McGovern glaubte sicher, daß sie mit ihm lachten, nicht über ihn. Manchmal, überlegte sich Ralph, konnte ein etwas aufgeblasenes Ego ein Selbstschutz sein.

McGovern ließ sie los, dann nahm er den Fedora ab und schwenkte ihn über die Taille, während er eine übertriebene Verbeugung machte. Lois war zu sehr damit beschäftigt, sich zu vergewissern, daß ihre Seidenbluse noch im Rocksaum steckte, um auf ihn zu achten. Ihre Röte verblaßte schon wieder, und Ralph sah, daß sie müde und nicht besonders gut aussah. Er hoffte, daß sie keine Krankheit ausbrütete.

»Komm vorbei, wenn du kannst«, sagte sie leise zu Ralph.

»Mach ich, Lois.«

McGovern legte ihr einen Arm um die Taille, eine diesmal freundschaftlich und ehrlich gemeinte Geste der Zuneigung, und sie gingen gemeinsam über die Straße. Als Ralph sie beobachtete, überkam ihn plötzlich ein starkes Gefühl des deja vu, als hätte er sie an einem anderen Ort schon einmal so gesehen. Oder in einem anderen Leben. Dann, als McGovern gerade den Arm sinken ließ und die Illusion zerstörte, fiel es ihm ein: Fred Astaire, der eine dunkelhaarige und etwas plumpe Ginger Rogers in eine Kleinstadtfilmkulisse führte, wo sie gemeinsam zu einer Melodie von Jerome Kern oder vielleicht Lerner und Loewe tanzen würden.

Das ist unheimlich, dachte er und drehte sich wieder dem kleinen Einkaufszentrum auf halbem Wege am Up-Mile Hill zu. Das ist sehr unheimlich, Ralph. Bill McGovern und Lois Chasse sind so weit von Fred Astaire und Ginger Rogers entf…

»Ralph?« rief Lois, und er drehte sich um. Eine Kreuzung und fast ein ganzer Block lagen nun zwischen ihnen. Autos fuhren auf der Elizabeth Street hin und her, so daß Ralph sie nur mit stotternden Unterbrechungen sehen konnte.

»Was?« rief er zurück.

»Du siehst besser aus! Ausgeruhter! Kannst du endlich wieder schlafen?«

»Ja!« antwortete er und dachte: Noch eine kleine Notlüge für einen guten Zweck.

»Habe ich dir nicht gesagt, daß es dir wieder besser gehen würde, wenn das Wetter umschlägt? Wir sehen uns gleich!«

Lois winkte ihm mit den Fingern, und Ralph sah zu seinem Erstaunen, daß hellblaue diagonale Linien von den kurzen, aber sorgfältig manikürten Nägeln ausgingen. Sie sahen wie Kondensstreifen aus.

Was, zum Teufel -?

Er preßte die Augen fest zu und riß sie wieder auf. Nichts. Nur Bill und Lois, die ihm die Rücken zukehrten und die Straße entlang zu Lois’ Haus gingen. Keine hellblauen Diagonalen in der Luft, nichts dergleichen – Ralphs Blick fiel auf den Bürgersteig, und er stellte fest, daß Lois und Bill Spuren auf dem Beton zurückließen, Spuren, die haargenau wie die Fußabdrücke in den alten Tanzkursen von Arthur Murray aussahen, die man per Post bestellen konnte. Die von Lois waren grau. McGoverns – größer, aber dennoch seltsam zierlich – waren von einem dunklen Olivgrün. Sie leuchteten auf dem Bürgersteig, und Ralph, der auf der anderen Seite der Elizabeth Street stand und das Bonn fast bis zum Brustbein hängen ließ, stellte plötzlich fest, daß er kleine Kringel bunten Rauchs von ihnen aufsteigen sehen konnte. Möglicherweise war es auch Dampf.

Ein städtischer Bus Richtung Old Cape schnarchte vorbei und versperrte ihm vorübergehend die Sicht auf die Straße, und als der Bus vorbei war, waren die Spuren verschwunden. Nichts war auf dem Bürgersteig zu sehen, abgesehen von einer Kreidebotschaft in einem verblaßten rosa Herz: Sam + Deanie 4-ever.

Diese Spuren sind nicht verschwunden, Ralph; sie waren nie da. Das weißt du doch, oder nicht?

Ja, er wußte es. Der Gedanke, daß Bill und Lois wie Fred Astaire und Ginger Rogers aussahen, war ihm zu Kopf gestiegen; es hatte eine seltsame bizarre Logik, sich nach diesem Gedanken Fußspuren einzubilden, die wie Schritte in alten Arthur Murray-Tanzdiagrammen aussahen. Dennoch war es beängstigend. Sein Herz schlug zu schnell, und als er einen Moment die Augen zumachte und versuchte, sich zu beruhigen, sah er die Linien von Lois’ winkenden Fingern ausgehen wie hellblaue Kondensstreifen.

Ich muß mehr schlafen, dachte Ralph. Ich muß. Wenn ich nicht bald schlafen kann, werde ich alles mögliche sehen.

»Das stimmt«, murmelte er, als er sich wieder zur Drogerie umdrehte. »Alles mögliche.«

3

Zehn Minuten später stand Ralph vor der Drogerie Rite Aid und betrachtete das Schild, das an einer Kette von der Decke hing: FÜHLEN SIE SICH BESSER MIT RITE AID! stand darauf, was den Anschein zu erwecken schien, als wäre sich besser zu fühlen ein Ziel, das jeder vernünftige, hart arbeitende Konsument erreichen konnte. Ralph hatte da seine Zweifel.

Das, dachte sich Ralph, war Einzelhandel mit Arzneimitteln im größten Maßstab – dagegen sah das Rexall, wo er normalerweise kaufte, wie ein Souterrain aus. Die hellen, neonbeleuchteten Gänge schienen so lang wie Bowlingbahnen zu sein und enthielten alles von Toastern bis Puzzlespielen. Nach kurzer Erkundung kam Ralph zum Ergebnis, daß Gang 3 den größten Teil der Arzneimittel enthielt und wahrscheinlich am ehesten einen Versuch wert war. Er schlenderte langsam durch ein Regal mit der Aufschrift MAGENHEILMITTEL, verweilte kurz im Königreich der SCHMERZMITTEL und durchquerte hastig das Land der ABFÜHRMITTEL. Zwischen ABFÜHRMITTEL und VERSTOPFUNGSZÄPFCHEN blieb er stehen.


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