Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Die anderen warteten einen Moment, dann ging die Frau, die die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Die mit dem kleinen Mädchen gesellte sich zu ihr (das Mädchen lag jetzt in ihren Armen, hob aber trotzdem folgsam die Hände in die Luft). Die anderen folgten, die meisten hustend, alle mit leeren, erhobenen Händen. Als Helen sich am Ende der Parade einreihte, berührte Ralph sie an der Schulter. Sie sah zu ihm auf, und ihre roten Augen blickten gelassen und verwundert zugleich.
»Jetzt warst du zum zweitenmal da, als Nat und ich dich brauchten«, sagte sie. »Bist du unser Schutzengel, Ralph?«
»Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht bin ich das. Hör zu, Helen wir haben nicht viel Zeit. Gretchen ist tot.«
Sie nickte und fing an zu weinen. »Ich wußte es. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber irgendwie habe ich es doch gewußt.«
»Es tut mir sehr leid.« »Wir waren so fröhlich, als sie gekommen sind – ich meine, wir waren nervös, aber wir haben viel gelacht und viel geplaudert. Wir wollten den Rest des Tages damit verbringen, uns auf die Rede vorzubereiten. Die Veranstaltung und Susan Days Rede.«
»Wegen heute abend muß ich mit dir reden«, sagte Ralph so behutsam er konnte. »Glaubst du, sie werden trotzdem -«
»Wir haben Frühstück gemacht, als sie gekommen sind.« Sie sprach weiter, als hätte sie ihn gar nicht gehört; Ralph vermutete, daß sie ihn tatsächlich nicht gehört hatte. Nat sah über Helens Schulter, und obwohl sie noch hustete, hatte sie aufgehört zu weinen. In den schützenden Armen ihrer Mutter sah sie voll lebhafter Neugier von Ralph zu Lois und wieder zu Ralph.
»Helen -«, begann Lois.
»Guckt mal! Seht ihr das?« Helen deutete auf einen alten braunen Cadillac neben dem baufälligen Schuppen, der damals, als Ralph und Carolyn gelegentlich hierher gekommen waren, noch die Apfelpresse gewesen war; wahrscheinlich hatte er High Ridge als Garage gedient. Der Caddy war in einem schlechten Zustand – gesprungene Windschutzscheibe, verbeulte Kotflügel, ein Scheinwerfer mit Paketband geklebt. Die Stoßstange war mit AntiAbtreibungs-Aufklebern übersät.
»Mit dem Auto sind sie gekommen. Sie fuhren hinter das Haus, als wollten sie es in unserer Garage abstellen. Ich glaube, dadurch konnten sie uns zum Narren halten. Sie fuhren einfach nach hinten, als gehörten sie hierher.« Sie betrachtete das Auto einen Moment, dann schaute sie wieder mit vom Rauch geröteten, unglücklichen Augen zu Ralph und Lois auf. »Jemand hätte auf die Aufkleber an der verdammten Karre achten sollen.«
Plötzlich mußte Ralph an Barbara Richards bei Woman-Care denken, Barbie Richards, die sich entspannt hatte, als Lois auf sie zugekommen war. Es hatte sie nicht weiter gekümmert, daß Lois etwas aus ihrer Handtasche holte; Lois war eine Frau, nur das zählte. Eine Schwester. Sandra McKay hatte den Cadillac gefahren; Ralph mußte Helen nicht fragen, um das zu wissen. Sie hatten die Frau gesehen und die Aufkleber nicht mehr beachtet. We are Family, I’ve got all my sisters with me.
»Als Deanie sagte, daß die Leute, die aus dem Auto ausstiegen, Armeekleidung trugen und bewaffnet wären, hielten wir es für einen Witz. Das heißt, alle außer Gretchen. Sie sagte uns, wir sollten, so schnell wir könnten, nach unten. Dann ging sie in den Salon. Um die Polizei anzurufen, vermute ich. Ich hätte bei ihr bleiben sollen.«
»Nein«, sagte Lois und ließ eine Locke von Natalies feinem Haar durch die Finger gleiten. »Sie mußten auf die Kleine hier aufpassen. Das müssen Sie noch.«
»Wahrscheinlich«, sagte Helen düster. »Wahrscheinlich. Aber sie war meine Freundin, Mrs. Chasse. Meine Freundin.«
»Das weiß ich, Liebste.«
Helen verzog das Gesicht und fing an zu weinen. Natalie sah ihre Mutter einen Moment mit einem Ausdruck komischen Erstaunens an, dann fing sie ebenfalls an zu weinen.
»Helen«, sagte Ralph. »Helen, hör mir zu. Ich muß dich etwas fragen. Es ist sehr, sehr wichtig. Hörst du mir zu?«
Helen nickte, hörte aber nicht auf zu weinen. Ralph hatte keine Ahnung, ob sie ihn wirklich hörte oder nicht. Er sah zur Hausecke und fragte sich, wieviel Zeit ihnen noch bleiben würde, bis die Polizisten angestürmt kamen, dann holte er tief Luft. »Glaubst du, es besteht die Möglichkeit, daß die Veranstaltung heute abend trotzdem stattfinden wird? Die geringste Möglichkeit? Du hast Gretchen nähergestanden als jede andere. Sag mir, was du meinst.«
Helen hörte auf zu weinen und sah ihn mit ruhigen, großen Augen an, als könnte sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Dann füllten sich diese Augen allmählich mit einem erschreckend heftigen Zorn.
»Wie kannst du das fragen? Wie kannst du das auch nur fragen?«
»Nun… weil…« Er verstummte, da er nicht weitersprechen konnte. Mit Wut hätte er zu allerletzt gerechnet.
»Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen«, sagte Helen. »Begreifst du das nicht? Gretchen ist tot, Merrilee ist tot, High Ridge ist mit allem, was die meisten Frauen besaßen, bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und wenn sie uns jetzt aufhalten, dann haben sie gewonnen.«
Nun stellte ein Teil von Ralphs Verstand – ein tief verborgener Teil – einen schrecklichen Vergleich an. Ein anderer Teil, der Helen liebte, wollte ihn unterdrücken, aber es war zu spät. Ihre Augen sahen wie die von Charlie Pickering aus, als Pickering neben ihm in der Bibliothek gesessen hatte, und mit einem Kopf, der so einen Blick zustande brachte, konnte man nicht vernünftig reden.
»Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen!« schrie sie. Natalie fing in ihren Armen lauter an zu weinen. »Kapierst du das nicht? Verdammt noch mal, kapierst du das nicht? Wir werden es niemals zulassen! “Niemals! Niemals! Niemals!«
Sie hob unvermittelt die freie Hand in die Höhe und ging um das Gebäude herum. Ralph streckte die Hand nach ihr aus, berührte aber nur ihre Bluse mit den Fingerspitzen. Das war alles.
»Erschießt mich nicht!« rief Helen den Polizisten auf der anderen Seite des Hauses zu. »Erschießt mich nicht, ich bin eine der Frauen! Ich bin eine der Frauen! Ich bin eine der Frauen!«
Ralph lief ihr hinterher – ohne nachzudenken, rein instinktiv -, aber Lois zog ihn am Gürtel zurück. »Du solltest besser nicht da vorgehen, Ralph. Du bist ein Mann, und sie glauben vielleicht -«
»Hallo, Ralph! Hallo, Lois!«
Sie drehten sich beide zu der neuen Stimme um. Ralph erkannte sie auf der Stelle und war gleichzeitig überrascht und nicht überrascht. Hinter der Wäscheleine mit ihrer Last brennender Laken und Kleidungsstücke stand in einer verwaschenen Flannellhose und Converse-Turnschuhen, die mit Isolierband geklebt worden waren, Dorrance Marstellar. Sein Haar, so fein wie das von Natalie (aber weiß statt braun), wurde vom Oktoberwind, der über den Hügel fegte, aus seinem Gesicht geweht. Wie üblich hielt er ein Buch in der Hand.
»Kommt schon, ihr beiden«, sagte er und winkte ihnen lächelnd. »Beeilt euch und kommt mit. Wir haben nicht viel Zeit.«
Er führte sie einen zugewachsenen, wenig benutzten Trampelpfad entlang, der in westlicher Richtung vom Haus wegführte. Anfangs wand er sich durch einen einigermaßen großen Garten, in dem alles abgeerntet worden war, außer
Kürbissen und Melonen, dann in einen Hain, wo die Äpfel gerade zu voller Reife gelangten, und durch eine dichte Brombeerhecke, wo Dornen überall nach ihrer Kleidung zu greifen schienen. Als sie aus dem Brombeerdickicht in ein düsteres Wäldchen mit Fichten und Rottannen kamen, überlegte sich Ralph, daß sie sich inzwischen auf der Newport zugewandten Seite des Hügels befinden mußten.
Dorrance schritt für einen Mann seines Alters kräftig aus, und das durchgeistigte Lächeln verschwand nie von seinem Gesicht. Das Buch, das er bei sich trug, war von Love, Poems 1950-1960 von einem Autor namens Robert Creeley. Ralph hatte noch nie von ihm gehört, aber er ging davon aus, daß Mr. Creeley auch noch nie von Elmore Leonard, Ernest Haycox oder Louis L’Amour gehört haben dürfte. Er versuchte nur einmal, den alten Dor anzusprechen, als die drei schließlich den Fuß eines Hangs erreicht hatten, wo Kiefernnadeln einen glatten und trügerischen Teppich bildeten. Direkt vor ihnen floß ein kalter Bach schäumend vorbei.
»Dorrance, was machst du hier? Wie bist du hergekommen, da wir schon dabei sind? Und wo, um alles in der Welt, willst du hin?«
»Oh, ich beantworte selten Fragen«, entgegnete der alte Dor breit grinsend. Erbetrachtete den Bach, dann hob er einen Finger und deutete auf das Wasser. Eine kleine braune Forelle sprang in die Luft, schüttelte helle Tropfen von der Schwanzflosse und fiel ins Wasser zurück. Ralph und Lois sahen einander mit identischen Habe-ich-das-gerade-wirklich-gesehen?Mienen an.
»Nee, nee«, fuhr Dor fort und trat vom Ufer auf einen feuchten Stein. >Kaum je. Zu schwierig. Zu viele Möglichkeiten. Zu viele Ebenen… was, Ralph? Die Welt ist voller Ebenen, oder nicht? Wie geht es dir, Lois?«
»Prima«, sagte sie geistesabwesend und beobachtete Dorrance, der auf einer Reihe geschickt plazierter Steine den Bach überquerte. Das tat er mit seitlich ausgestreckten Armen, wodurch er wie der älteste Akrobat der Welt aussah. Gerade als er das andere Ufer erreicht hatte, ertönte ein heftiges Aufwallen vom Hügel hinter ihnen – nicht ganz eine Explosion.
Soviel zu den Öltanks, dachte Ralph.
Dor drehte sich auf der anderen Seite des Bachbetts zu ihnen um und lächelte sein verklärtes Buddha-Lächeln. Ralph stieg ohne bewußte Absicht und ohne das Gefühl eines geistigen Blinzeins auf. Farben strömten in den Tag ein, aber er bemerkte es kaum; seine ganze Aufmerksamkeit galt Dorrance, und er vergaß zehn Sekunden lang sogar zu atmen.
Ralph hatte in den vergangenen Monaten Auren vieler Farben gesehen, aber keine kam auch nur in die Nähe der prunkvollen Hülle um den alten Mann, den Don Veazie einmal als »ausgesprochen nett, aber wirklich ein ziemlicher Narr« beschrieben hatte. Es war, als wäre Dorrance’ Aura durch ein Prisma gebrochen worden… oder einen Regenbogen. Er versprühte Licht in blendenden Farben: Blau folgte Magenta, Magenta folgte Rot, Rot folgte Rosa, Rosa folgte das cremige Gelb-Weiß einer reifen Banane.
Er spürte, wie Lois’ Hand nach seiner tastete, und ergriff sie.
[»Mein Gott, Ralph, siehst du es? Siehst du, wie wunderschön er ist?«]
[»Aber sicher.«]
[»Was ist er? Ist er überhaupt ein Mensch?«]
[»Ich weiß n -«]
[»Hört auf, alle beide. Kommt wieder runter.«]
Dorrance lächelte immer noch, aber die Stimme, die sie in ihren Köpfen hörten, war befehlsgewohnt und kein bißchen verschwommen. Und bevor Ralph sich mittels bewußter Gedankenanstrengung nach unten zurückversetzen konnte, spürte er einen Stoß. Die Farben und die gesteigerte Besonderheit der Geräusche verschwanden sofort aus dem Tag.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Dor. »Es ist schon Mittag.«
»Mittag?« fragte Lois. »Das kann nicht sein! Es war nicht einmal neun, als wir hierher gekommen sind, und das kann höchstens eine halbe Stunde her sein!«
»Die Zeit vergeht schneller, wenn man höher ist«, sagte der alte Dor. Er sprach feierlich, aber seine Augen funkelten. »Fragt jemand, der Samstagabends Bier trinkt und Country-Musik hört. Kommt jetzt! Beeilt euch! Die Uhr tickt! Überquert den Bach!«
Lois ging als erste, sie hüpfte vorsichtig von Stein zu Stein und breitete dabei wie Dorrance die Arme aus. Ralph folgte ihr und hielt die Hände zu ihren beiden Seiten in Hüfthöhe, damit er sie halten könnte, falls sie stürzte, aber letztendlich war er derjenige, der beinahe gestolpert und ins Wasser gefallen wäre. Er konnte es vermeiden, aber nur, indem er einen Fuß bis zum Knöchel durchnäßte. Ihm war, als könnte er irgendwo in einem entlegenen Winkel seines Kopfes Carolyn lachen hören.
»Kannst du uns gar nichts sagen, Dor?« fragte er, als sie die andere Seite erreicht hatten. »Wir tappen ziemlich im Dunkeln.« Und nicht nur geistig oder seelisch, dachte er. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in diesem Wald gewesen, nicht einmal als junger Mann, um Wild oder Rebhühner zu jagen. Wenn der Weg, auf dem sie gingen, einfach aufhören sollte, oder falls der alte Dor das verlor, was bei ihm als Orientierung galt, was dann?
»Ja«, antwortete Dor sofort. »Ich kann dir eines sagen, und das ist absolut sicher.«
»Was?«
»Dies hier sind die besten Gedichte, die Robert Creeley je geschrieben hat«, sagte der alte Dor und hielt seine Ausgabe von For Love in die Höhe, und bevor einer von ihnen drauf antworten konnte, drehte er sich um und folgte wieder dem schmalen Pfad, der nach Westen durch den Wald führte.
Ralph sah Lois an. Lois erwiderte den Blick gleichermaßen ratlos. Dann zuckte sie die Achseln. »Komm, alter Junge«, sagte sie. »Wir sollten ihn besser nicht aus den Augen verlieren. Ich habe die Brotkrumen vergessen.«
Sie erklommen einen weiteren Hügel, und von dessen Kuppe konnte Ralph sehen, daß der Pfad, dem sie folgten, zu einem alten Holzfällerweg mit einem Grasstreifen in der Mitte führte. Der endete etwa fünfzig Meter weiter als Sackgasse an einer alten, zugewucherten Kiesgrube. Direkt vor dem Zugang zu der Kiesgrube wartete ein Auto im Leerlauf, ein völlig anonymer Ford neueren Baujahrs, der Ralph trotzdem bekannt vorkam. Als die Tür aufging und der Fahrer ausstieg, fügten sich plötzlich alle Teile zusammen. Selbstverständlich kannte er das Auto; er hatte es zuletzt Dienstag nachts von Lois’ Wohnzimmerfenster aus gesehen. Da hatte es schräg mitten auf der Harris Avenue gestanden, während der Fahrer im Licht der Scheinwerfer kniete… neben dem sterbenden Hund kniete, den er angefahren hatte. Joe Wyzer hörte sie kommen, hob den Kopf und winkte.
Kapitel 23
»Er hat gesagt, ich sollte fahren«, sagte Joe Wyzer, als er das Auto vorsichtig an der Zufahrt zur Kiesgrube wendete.
»Wohin?« fragte Lois. Sie saß mit Dorrance auf dem Rücksitz. Ralph saß vorne bei Joe Wyzer, der aussah, als wäre er nicht ganz sicher, wo er war oder wer er war. Ralph war ein Stück in die Höhe gestiegen – nur eine Winzigkeit -, als er dem Apotheker die Hände geschüttelt hatte, weil er einen Blick auf Wyzers Aura werfen wollte. Aura und Ballonschnur waren da und sahen völlig gesund aus… aber ihm kam das helle Gelborange leicht gedämpft vor. Ralph vermutete, daß das wahrscheinlich auf den Einfluß des alten Dor zurückzuführen war.
»Gute Frage«, sagte Wyzer. Er stieß ein kurzes, verwirrtes Lachen aus. »Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung. Das war der merkwürdigste Tag in meinem ganzen Leben. Daran kann absolut kein Zweifel bestehen.«
Der Waldweg endete an einer zweispurigen, asphaltierten Straße. Wyzer hielt an, sah vorschriftsmäßig nach links und rechts und bog dann links ab. Sie passierten Sekunden später ein Schild mit der Aufschrift ZUR 195, und Ralph vermutete, daß Wyzer, sobald sie die Interstate erreichten, nach Norden abbiegen würde. Jetzt wußte er, wo sie waren – etwa drei Meilen südlich der Route 33. Von hier aus konnten sie in weniger als einer halben Stunde wieder in Derry sein, und Ralph hatte keine Zweifel, daß sie genau dorthin unterwegs waren.
Ralph fing unvermittelt an zu lachen. »Nun sind wir also alle glücklich versammelt«, sagte er. »Drei glückliche Schlaflose bei einer Spritztour. Möglicherweise auch vier. Willkommen in der wunderbaren Welt der Hyperrealität, Joe.«
Joe warf ihm einen scharfen Blick zu, aber dann entspannte er sich und grinste. »Ist sie das?« Und ehe Ralph oder Lois antworten konnten, sagte er: »Ja, ich nehme an, daß sie es ist.« »Hast du das Gedicht gelesen?« fragte Dorrance hinter Ralph. »Das anfängt: >Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann«
Ralph drehte sich um und sah, daß Dorrance immer noch sein breites, verklärtes Lächeln sehen ließ. »Ja, das habe ich. Dor -«
»Ist das nicht ein Knüller? Es ist so gut. Stephen Dobyns erinnert mich an Hart Crane ohne das Prätentiöse. Vielleicht meine ich auch Stephen Crane, aber das glaube ich nicht. Selbstverständlich fehlt ihm das Melodische von Dylan Thomas, aber ist das wirklich so schlimm? Wahrscheinlich nicht. Die moderne Dichtung hat nichts mit Musik zu tun. Sie handelt von Mut – wer ihn hat und wer ihn nicht hat.«
»O Mann«, sagte Lois. Sie verdrehte die Augen.
»Er könnte uns wahrscheinlich alles sagen, was wir wissen müssen, wenn wir ein paar Ebenen aufsteigen würden«, sagte Ralph. »Aber das möchtest du nicht, Dor, oder? Weil die Zeit schneller vergeht, wenn man oben ist.«
»Bingo«, antwortete Dorrance. Weiter vorne konnten sie die blauen Schilder der Interstateauffahrt sehen. »Ihr werdet später aufsteigen müssen, nehme ich an, du und Lois, darum ist es wichtig, daß ihr jetzt soviel Zeit wie möglich spart. Zeit… spart.« Er machte eine seltsam sinnträchtige Geste, indem er mit dem knorrigen Daumen und dem Zeigefinger durch die Luft fuhr und sie dabei zusammenführte, als wollte er einen Durchgang andeuten, der immer schmaler wird.
Joe Wyzer schaltete den Blinker ein, bog links ab und fuhr die nördliche Auffahrt Richtung Derry hinauf.
»Wie sind Sie in das alles verwickelt worden, Joe?« fragte Ralph ihn. »Warum hat Dorrance von allen Leuten in der West Side ausgerechnet Sie als Chauffeur ausgewählt?«
Wyzer schüttelte den Kopf, und als das Auto den Highway erreicht hatte, fuhr es sofort auf die Überholspur. Ralph streckte rasch die Hand aus und nahm eine Kurskorrektur vor, wobei er sich daran erinnerte, daß Joe in letzter Zeit wahrscheinlich auch nicht viel Schlaf bekommen hatte. Glücklicherweise war der Highway zumindest so weit von der Stadt entfernt weitgehend verlassen. Das ersparte ihm immerhin eine Angst, und davon hatte er heute weiß Gott schon genug gehabt.
»Wir sind alle durch den Plan zusammengebunden«, sagte Dorrance unvermittelt. »Das ist Ka-tet, was bedeutet eines aus vielen. So, wie viele Reime ein einziges Gedicht bilden. Verstanden?«
»Nein.« Ralph und Lois und Joe sagten es gleichzeitig, ein perfekter Chor, und dann lachten sie nervös. Die drei Schlaflosen der Apokalypse, dachte Ralph. Gott steh uns bei.
»Schon gut«, sagte Dor mit seinem breiten Grinsen. »Glaubt es mir einfach. Du und Lois… Helen und ihre kleine Tochter… Bill… Faye Chapin… Trigger Vachon… ich! Alle Teil des Plans.«
»Das ist schön, Dor«, sagte Lois, »aber wohin bringt uns der Plan jetzt? Und was sollen wir tun, wenn wir dort sind?«
Dorrance beugte sich nach vorne und flüsterte Joe Wyzer etwas ins Ohr, wobei er den Mund mit einer knotigen Hand voller Altersflecke abschirmte. Dann lehnte er sich wieder zurück und schien ungeheuer zufrieden mit sich selbst zu sein.
»Er sagt, wir fahren zum Bürgerzentrum«, sagte Joe.
»Zum Bürgerzentrum!« rief Lois erschrocken aus. »Nein, das kann nicht richtig sein! Die beiden kleinen Männer haben gesagt -«
»Vergiß sie vorerst mal«, sagte Dorrance. »Vergiß nur nicht, worum es geht – Mut. Wer ihn hat, und wer nicht.«
Fast eine Meile herrschte Schweigen in Joe Wyzers Ford. Dorrance schlug sein Buch mit Gedichten von Robert Creeley auf und fing an zu lesen, wobei er die Zeilen mit dem gelben Nagel eines Fingers nachfuhr. Ralph mußte an ein Spiel denken, das sie manchmal als Kinder gespielt hatten – kein besonders schönes. Es hieß Schnepfenjagd. Man nahm sich Kinder, die jünger und wesentlich leichtgläubiger als man selbst waren, tischte ihnen ein Lügenmärchen über die sagenhafte Schnepfe auf, und dann gab man ihnen Jutesäcke und ließ sie einen ganzen Nachmittag unter Mühen und Plagen durch Wald und Flur ziehen, um nach nicht existierenden Vögeln Ausschau zu halten. Dieses Spiel nannte man auch »Such die Wildgans«, und er hatte plötzlich das unausweichliche Gefühl, daß Klotho und Lachesis es auf dem Dach des Krankenhauses mit ihnen gespielt hatten.
Er drehte sich auf dem Sitz herum und sah den alten Dor direkt an. Dorrance knickte die obere Ecke der Seite um, die er gerade las, und betrachtete Ralph mit höflichem Interesse.
»Sie haben uns gesagt, wir sollten nicht mal in die Nähe von Ed Deepneau oder Doc Nr. 3 kommen«, sagte Ralph. Er sagte es langsam und sehr deutlich. »Sie haben uns unmißverständlich klargemacht, daß wir nicht einmal daran denken sollten, weil die die beiden in dieser Situation mit außergewöhnlichen Kräften versehen worden seien und wir zerquetscht würden wie die Fliegen. Ich glaube, Lachesis hat sogar angedeutet, wenn wir versuchen würden, uns Ed oder Atropos zu nähern, würden wir vielleicht Besuch von einem der Bosse der höheren Ebenen bekommen… jemand, den Ed den Scharlachroten König nennt. Nach allem, was man so hört, nicht unbedingt ein netter Kerl.«
»Ja«, sagte Lois mit schwacher Stimme. »Das haben sie uns auf dem Dach des Krankenhauses gesagt. Sie haben gesagt, wir sollten statt dessen nach High Ridge. Um die verantwortliche Frau davon zu überzeugen, daß sie die Veranstaltung mit Susan Day absagt.«
»Und ist Ihnen das gelungen?« fragte Wyzer.
»Selbstverständlich nicht! Eds verrückte Freunde sind vor uns dort gewesen, haben das Haus angezündet und mindestens zwei Frauen ermordet. Erschossen. Ich glaube, eine war genau die Frau, mit der wir reden sollten.«
»Gretchen Tillbury«, sagte Ralph.
»Ja«, stimmte Lois zu. »Aber wir müssen ganz bestimmt nichts mehr tun – ich kann mir nicht vorstellen, daß die Veranstaltung stattfinden wird. Ich meine, wie könnten sie das jetzt noch tun? Mein Gott, mindestens vier Menschen wurden getötet! Sie müssen die Rede absagen oder verschieben. Ist es nicht so?«
Weder Dorrance noch Joe antworteten. Ralph antwortete auch nicht – er mußte an Helens blutunterlaufene, wütende Augen denken. Wie kannst du das fragen? hatte sie gesagt. Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen.
Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen.
Gab es eine rechtliche Möglichkeit, daß die Polizei es ihnen verbieten konnte? Wahrscheinlich nicht. Der Stadtrat? Vielleicht. Vielleicht konnten sie eine Sondersitzung einberufen und die Genehmigung widerrufen, die sie Woman-Care erteilt hatten. Aber würden sie das tun? Wenn zwei-oder dreitausend erboste, trauernde Frauen vor dem Rathaus auf und ab marschierten und unisono brüllten: Wenn sie uns jetzt aufhalten haben sie gewonnen, würde der Stadtrat es dann wagen, die Genehmigung zu widerrufen?
Ralph spürte, wie allmählich eine tiefe Niedergeschlagenheit von ihm Besitz ergriff.
Helen hielt die Veranstaltung heute abend eindeutig für wichtiger denn je, und damit stand sie sicher nicht allein. Es ging nicht mehr nur um freie Entscheidung und wer das Recht hatte, zu bestimmen, was eine Frau mit ihrem eigenen Körper tat; jetzt ging es um Belange, die wichtig genug waren, dafür zu sterben, und das Andenken der Freunde zu ehren, die bereits gestorben waren. Die Einsätze des Pokerspiels waren sprunghaft in die Höhe geschnellt. Jetzt ging es nicht mehr um Politik, sondern um eine Art weltliche Totenmesse für die Gefallenen.
Lois packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn heftig. Ralph kehrte ins Hier und Jetzt zurück, aber langsam, wie ein Mann, der mitten in einem unglaublich wirklichkeitsnahen Traum geweckt wird.
»Sie werden doch absagen, oder nicht? Und selbst wenn nicht, wenn sie es aus einem verrückten Grund nicht tun, wird kaum jemand hingehen, richtig? Nach allem, was in High Ridge passiert ist, werden sie Angst davor haben, zu kommen.«
Ralph dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Die meisten werden denken, daß die Gefahr vorüber ist. In den Nachrichten werden sie sagen, daß zwei der Radikalen, die den Anschlag begangen haben, tot sind, und daß der dritte katatonisch ist, oder so was.«
»Aber Ed! Was ist mit Ed?« schrie sie. »Er ist derjenige, der sie zu dem Anschlag angestiftet hat, um Himmels willen! Er ist doch derjenige, der sie überhaupt erst dorthin geschickt hat!«
»Das mag stimmen, wird wahrscheinlich stimmen, aber wie könnten wir es beweisen?« fragte Ralph. »Weißt du, was die Cops meiner Meinung nach in Charlie Pickerings Bleibe finden werden? Einen Abschiedsbrief, in dem steht, daß alles seine Idee war. Ein Brief, der Ed wahrscheinlich unter dem Vorwand einer Anklage völlig entlasten wird… wie Ed sie im Stich gelassen hat, als sie ihn am nötigsten brauchten. Und wenn sie diesen Brief nicht bei Charlie Pickering finden, dann bei Frank Feiton. Oder Sandra McKay.«
»Aber das… das -« Lois verstummte und biß sich auf die Unterlippe. Dann sah sie mit hoffnungsvollem Blick zu Wyzer. »Was ist mit Susan Day? Wo ist sie? Weiß das jemand? Sie? Ralph und ich werden sie anrufen und ihr sagen -«
»Sie ist schon in Derry«, sagte Wyzer, »aber ich bezweifle, daß selbst die Polizei genau weiß, wo sie sich aufhält. Aber als der alte Mann und ich dorthin gefahren sind, habe ich in den Nachrichten gehört, daß die Veranstaltung heute abend stattfinden wird… und das angeblich aus dem Mund der Dame höchstpersönlich.«
Klar, dachte Ralph. Logisch. Die Show geht weiter, die Show muß weitergehen, und das weiß sie. Jemand, der all die Jahre auf der Welle der Frauenbewegung reitet – verdammt, seit der Convention in Chicago 1968 -, weiß genau, wann ein entscheidender Augenblick gekommen ist. Sie hat das Risiko abgeschätzt und akzeptabel gefunden. Entweder das, oder sie hat sich überlegt, daß der Verlust der Glaubwürdigkeit untragbar wäre, wenn sie einfach wieder abzieht. Vielleicht von beidem etwas. Wie ckm auch sei, sie ist genauso Gefangene der Ereignisse – des Ka-tet – wie wir alle.
Sie hatten die Randbezirke von Derry erreicht. Ralph konnte das Bürgerhaus am Horizont sehen.
Jetzt wandte sich Lois an den alten Dor. »Wo ist sie? Weißt du das? Es spielt keine Rolle, wieviel Leibwächter sie um sich hat; Ralph und ich können unsichtbar sein, wenn wir es wollen… und wir können sehr überzeugend auf die Leute wirken.«
»Oh, es würde überhaupt nichts ändern, wenn ihr Susan Day umstimmen würdet«, sagte Dor. Er stellte immer noch das breite, nervtötende Grinsen zur Schau. »Sie werden zum Bürgerzentrum kommen, was auch geschehen mag. Und wenn sie vor verschlossenen Türen stehen, werden sie sie aufbrechen und ihre Veranstaltung trotzdem abhalten. Um zu zeigen, daß sie keine Angst haben.«
»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, sagte Ralph düster.
»Richtig, Ralph!« sagte Dor fröhlich und tätschelte Ralphs Arm.
Fünf Minuten später fuhr Joe mit dem Ford an der scheußlichen Plastikstatue von Paul Bunyan vorbei, die vor dem Bürgerzentrum stand, und bog an einem Schild mit der Aufschrift KOSTENLOS PARKEN BEI IHREM BÜRGERZENTRUM! ab.
Der einen Morgen große Parkplatz lag zwischen dem Gebäude des Bürgerzentrums selbst und der Rennbahn des Bassey Parks. Wäre die heutige Veranstaltung ein Rock-Konzert oder eine Bootsschau oder ein Ringkampf gewesen, hätten sie den Parkplatz um diese Zeit noch ganz für sich allein gehabt, aber das Ereignis des heutigen Abends war offensichtlich meilenweit von einem Basketballspiel oder einem Monstertruck-Rennen entfernt. Sechzig bis siebzig Autos standen bereits auf dem Parkplatz, überall standen kleine Gruppen beisammen und betrachteten das Gebäude. Die meisten waren Frauen. Einige hatten Picknickkörbe dabei, manche weinten, fast alle trugen einen schwarzen Trauerflor am Arm. Ralph sah eine Frau mittleren Alters mit einem erschöpften, intelligenten Gesicht und einem dichten grauen Haarschopf, die die schwarzen Bänder aus einer Tragetasche verteilte. Sie trug ein T-Shirt mit dem Gesicht von Susan Day darauf und dem Schriftzug
WE SHALL VERC ME.
Auf der Durchfahrt vor den Eingangstüren des Bürgerhauses herrschte noch emsigere Betriebsamkeit als auf dem Parkplatz. Nicht weniger als sechs Übertragungswagen diverser Fernsehsender parkten dort, und verschiedene Techniker standen in kleinen Gruppen unter dem dreieckigen Baldachin und unterhielten sich darüber, wie sie das Ereignis des heutigen Abends anpacken wollten. Und laut dem bettlakengroßen Banner, das von dem Baldachin herabhing und träge im Wind flatterte, würde ein Ereignis stattfinden. GROSSVERANSTALTUNG, stand in großen, verschwommenen Buchstaben aus Spraydosenfarben darauf. 20:00 UHR. BEWEISEN SIE IHRE SOLIDARITÄT, ZEIGEN SIE IHRE WUT, TRÖSTEN SIE IHRE SCHWESTERN.
Joe schob den Schalthebel des Ford auf Parken, dann drehte er sich zu dem alten Dor um und zog die Brauen hoch. Dor nickte, worauf Joe Ralph ansah. »Ich schätze, hier müssen Sie und Lois aussteigen, Ralph. Viel Glück. Ich würde mit Ihnen kommen, wenn ich könnte – ich habe ihn sogar darum gebeten -, aber er sagt, ich bin nicht richtig ausgerüstet.« »Schon gut«, sagte Ralph. »Wir danken Ihnen für alles, was Sie getan haben, nicht wahr, Lois?«
»Ganz bestimmt«, sagte Lois.
Ralph griff nach der Türklinke, dann ließ er sie wieder los. Er drehte sich zu Dorrance um. »Worum geht es hier? Ich meine, wirklich? Es geht nicht darum, die zweitausend Menschen zu retten, die laut Klotho und Lachesis heute abend hier anwesend sein werden, soviel steht fest. Für diese ewigen Mächte, von denen sie gesprochen haben, sind zweitausend Menschenleben wahrscheinlich nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein. Also worum geht es? Warum sind wir hier?«
Nun verschwand Dorrance’ Grinsen endlich; ohne das sah er jünger und seltsam eindrucksvoll aus. »Hiob hat Gott dieselbe Frage gestellt«, sagte er, »und keine Antwort bekommen. Du wirst auch keine bekommen, aber so viel kann ich dir verraten: Du bist zum Angelpunkt gewaltiger Ereignisse und Kräfte geworden. Das Wirken des höheren Universums ist fast vollständig zum Stillstand gekommen, da sowohl der Plan wie auch der Zufall ihr Augenmerk darauf richten, welche Fortschritte du machst.«
»Das ist prima, aber ich verstehe es nicht«, sagte Ralph mehr resigniert als wütend.
»Ich ebensowenig, aber zweitausend Menschenleben sind ausreichend für mich«, sagte Lois leise. »Ich könnte nicht mehr weiterleben, wenn ich nicht mindestens versuchen würde, zu verhindern, was geschehen soll. Ich würde den Rest meines Lebens vom Leichentuch um dieses Gebäude herum träumen. Selbst wenn ich nur eine Stunde pro Nacht schlafen könnte, würde ich davon träumen.«
Ralph dachte darüber nach, dann nickte er. Er machte die Tür auf und schwang einen Fuß heraus. »Das ist ein gutes Argument. Außerdem wird Helen da sein. Möglicherweise bringt sie sogar Nat mit. Vielleicht ist das für unbedeutende kurzfristige Fürze wie uns schon genug.«
Und vielleicht, dachte er, möchte ich eine Revanche mit Doc Nr. 3.