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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

,

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Текущая страница: 17 (всего у книги 50 страниц)

Ralph atmete weiter tief durch und dachte (Apfel Birne Stück Zitronentorte) an Nahrungsmittel, während er vorsichtig die Abdeckung wieder auf das Fernglas schob. Seine Hände zitterten immer noch, aber nicht so sehr, daß er sie nicht benützen konnte. Als das Fernglas wieder in seinem Etui verstaut war, hob Ralph zaghaft den linken Arm und betrachtete den Verband. In der Mitte befand sich ein roter Fleck so groß wie eine Aspirintablette, aber der schien nicht größer zu werden. Gut.

Es ist überhaupt nicht gut, Ralph.

Richtig, aber das würde ihm nicht bei der Klärung helfen, was genau geschehen war und was er deswegen unternehmen wollte. Der erste Schritt bestand darin, den gräßlichen Traum von Carolyn vorerst zu verdrängen und sich darüber klarzuwerden, was sich tatsächlich zugetragen hatte.

»Ich bin wach, seit ich auf den Boden gefallen bin«, sagte Ralph in das verlassene Zimmer. »Das weiß ich, und ich weiß, daß ich diese Männer gesehen habe.«

Ja. Er hatte sie wirklich gesehen, ebenso die grüngoldenen Auren um sie herum. Und damit war er nicht allein; Ed Deepneau hatte ebenfalls mindestens einen von ihnen gesehen. Ralph hätte seine Farm darauf gewettet, hätte er eine Farm zum Verwetten besessen. Es war freilich nicht sehr beruhigend, daß ein Paranoider aus der Nachbarschaft, der seine Ehefrau verprügelte, dieselben kleinen kahlen Typen sah.

Und die Auren, Ralph – hat er nicht auch etwas von Auren gesagt?

Nun, er hatte nicht gerade dieses Wort benutzt, aber Ralph war ziemlich sicher, daß er trotzdem mindestens zweimal von den Auren gesprochen hatte. Ralph, manchmal ist die Welt voller Farben. Das war im August gewesen, kurz bevor John Leydecker Ed wegen häuslicher Tätlichkeiten verhaftet hatte, einer Ordnungswidrigkeit. Dann, fast einen Monat später, als er Ralph angerufen hatte: Siehst du die Farben schon?

Zuerst die Farben, jetzt die kleinen kahlköpfigen Ärzte; mit Sicherheit konnte der Scharlachrote König nicht mehr weit sein. Und von alledem einmal abgesehen, was wollte er in der Sache unternehmen, deren Zeuge er gerade geworden war?

Die Antwort fiel ihm in einem unerwarteten, aber willkommenen Anflug von Erleuchtung ein. Das Thema, dachte er, war nicht sein Geisteszustand, nicht die Auren, nicht die kleinen kahlköpfigen Ärzte, sondern May Locher. Er hatte gerade die beiden Fremden mitten in der Nacht aus May Lochers Haus kommen gesehen… und einer hatte eine Schere in der Hand gehabt.

Ralph griff mit der Hand an dem Fernglas vorbei, nahm das Telefon und wählte 911.

»Hier spricht Officer Hagen.« Eine Frauenstimme. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Indem Sie genau zuhören und rasch handeln«, sagte Ralph kurz angebunden. Der Ausdruck benommener Unentschlossenheit, den er in diesem Sommer so häufig zur Schau gestellt hatte, war jetzt völlig verschwunden; er saß aufrecht in seinem Sessel, hatte das Telefon auf dem Schoß, und sah nicht mehr wie siebzig aus, sondern wie ein gesunder und kräftiger Fünfundfünfzigjähriger. »Dann können Sie vielleicht einer Frau das Leben retten.«

»Sir, würden Sie mir bitte Ihren Namen und -« »Bitte unterbrechen Sie mich nicht, Officer Hagen«, sagte der Mann, der sich nicht mehr an die letzten vier Ziffern der Telefonnummer des Kino-Centers erinnern konnte. »Ich bin vor kurzer Zeit aufgewacht, konnte nicht mehr einschlafen und beschloß, eine Weile aufzubleiben. Von meinem Wohnzimmer aus kann ich den oberen Abschnitt der Harris Avenue überblicken. Ich habe gerade gesehen -«

Hier geriet Ralph einen Sekundenbruchteil ins Stocken, dachte aber nicht darüber nach, was er gesehen hatte, sondern was er Officer Hagen erzählen sollte. Die Antwort kam ihm so schnell und mühelos wie der Entschluß, 911 anzurufen.

»Ich habe zwei Männer gesehen, die aus einem Haus auf der Straßenseite des Red Apple gekommen snd. Es gehört einer Frau namens May Locher. Ich buchstabiere: LO-C-H-E-R, mit einem L wie Lexington. Mrs. Locher ist schwer krank. Ich habe die beiden Männer vorher noch nie gesehen.« Er machte wieder eine Pause, diesmal jedoch absichtlich, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. »Einer hatte eine Schere in der Hand.«

»Adresse?« fragte Officer Hagen. Sie war vollkommen ruhig, aber Ralph spürte, daß eine Menge Lämpchen bei ihr angegangen waren.

»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Schlagen Sie sie im Telefonbuch nach, Officer Hagen, oder sagen Sie den Beamten auf Streife, sie sollen einfach nach dem gelben Haus mit den rosa Verzierungen etwa einen halben Block vom Red Apple entfernt Ausschau halten. Wahrscheinlich müssen sie es mit einer Taschenlampe suchen, wegen dieser verfluchten orangefarbenen Straßenlaternen, aber sie werden es finden.«

»Ja, Sir, ich bin ganz sicher, aber ich brauche trotzdem Ihren Namen und Ihre Anschrift für unsere Unterla…«

Ralph legte den Hörer behutsam auf. Er betrachtete das Telefon fast eine ganze Minute und rechnete damit, daß es läuten würde. Als es stumm blieb, kam er zum Ergebnis, daß sie entweder nicht über die raffinierten Geräte verfügten, mit denen man einen Telefonanruf zurückverfolgen konnte, wie man sie in True-Crime-Sendungen im Fernsehen immer sah, oder sie waren nicht eingeschaltet gewesen. Das war gut. Es löste nicht das Problem, was er tun oder sagen sollte, wenn sie May Locher in Fetzen aus ihrem scheußlichen gelb-rosa Haus schleppten, aber es verschaffte ihm wenigstens etwas Zeit zum Nachdenken.

Unter ihm blieb die Harris Avenue still und stumm im Licht der grellen Lampen, die sich in beide Richtungen erstreckten wie der Traum eines Surrealisten von Perspektive. Das Schauspiel kurz, aber voller Dramatik – schien vorbei zu sein. Die Bühne war wieder verlassen. Sie -

Nein, doch nicht ganz verlassen. Rosalie kam aus der Gasse zwischen dem Red Apple und dem Tru-Value-Eisenwarenladen daneben herausgehinkt. Das verblaßte Taschentuch flatterte um ihren Hals. Es war kein Donnerstag, daher standen keine Mülltonnen draußen, die Rosalie untersuchen konnte, und so ging sie rasch den Bürgersteig entlang bis zu May Lochers Haus. Dort blieb sie stehen und senkte die Nase (als er die lange und hübsche Schnauze sah, dachte Ralph, daß sich ein Collie unter Rosalies Vorfahren befunden haben mußte).

Ralph stellte fest, daß dort etwas glänzte.

Er holte das Fernglas wieder aus der Hülle und richtete es auf Rosalie. Dabei schweifte sein Denken wieder zum zehnten

September ab – diesmal zum Treffen mit Bill und Lois vor dem Eingang des Strawford Park. Er erinnerte sich, wie Bill Lois den Arm um die Taille gelegt und sie die Straße entlanggeführt hatte; wie Ralph, als er die beiden zusammen sah, an Ginger Rogers und Fred Astaire hatte denken müssen. Am deutlichsten aber erinnerte er sich an die gespenstischen Spuren, die die beiden hinterlassen hatten – Spuren, die ihn an die alten Tanzunterrichtsdiagramme von Arthur Murray erinnert hatten. Die von Lois waren grau gewesen; die von Bill olivgrün. Damals hatte er sie für Halluzinationen gehalten – in der guten alten Zeit, bevor er die Aufmerksamkeit von Irren wie Charlie Pickering auf sich gezogen und mitten in der Nacht kleine kahlköpfige Ärzte gesehen hatte.

Rosalie schnupperte an einer ähnlichen Spur. Sie hatte dieselbe grüngoldene Farbe wie die Auren, die Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 umgeben hatten. Ralph schwenkte das Fernglas langsam von dem Hund weg und sah weitere Spuren, zwei Linien, die in Richtung des Parks den Bürgersteig entlangführten. Sie verblaßten – er konnte fast sehen, wie sie vor seinen Augen verblaßten -, aber sie waren da.

Ralph richtete das Fernglas wieder auf Rosalie und verspürte plötzlich eine ungeheure Zuneigung zu dem räudigen alten Streuner… warum auch nicht? Wenn er einen letzten, endgültigen Beweis gebraucht hätte, daß er tatsächlich gesehen hatte, was er gesehen zu haben glaubte, dann war es Rosalie.

Wenn die kleine Natalie hier wäre, würde sie sie auch sehen, dachte Ralph… Und dann bestürmten ihn wieder sämtliche Zweifel. Würde sie sie sehen? Wirklich? Er hatte geglaubt, daß das Baby nach den schwachen Auren gegriffen hatte, die seine Finger hinterließen, und er war sicher, sie hatte den geisterhaften grünen Dunst bestaunt, der von den Blumen in der Küche aufgestiegen war, aber wie konnte er sicher sein? Wie konnte überhaupt jemand mit Sicherheit wissen, was ein Baby sah oder anzufassen versuchte?

Aber Rosalie… schau doch, da unten, siehst du sie?

Das Problem war nur, überlegte Ralph, er hatte die Spuren erst gesehen, nachdem Rosalie angefangen hatte, auf dem Bürgersteig zu schnuppern. Vielleicht schnupperte sie ja an einem leckeren Hauch des Briefträgers, und was er sah, gaukelte ihm lediglich sein übermüdeter, schlafloser Geist vor… wie die kleinen kahlköpfigen Ärzte selbst.

Im vergrößerten Bereich des Fernglases hinkte Rosalie nun mit der Schnauze am Boden und langsam wedelndem, struppigem Schwanz die Harris Avenue entlang. Sie ging von der grüngoldenen Spur von Doc Nr. 1 zu der von Doc Nr. 2 und dann wieder zu der von Doc Nr. 1 zurück.

Warum sagst du mir nicht, was diese streunende Hündin verfolgt, Ralph? Hältst du es für möglich, daß ein Hund eine verfluchte Halluzination wittert? Es ist keine Halluzination; es sind Spuren. Richtige Spuren. Die Spuren des weißen Mannes, auf die du achten sollst, wie Carolyn gesagt hat. Das weißt du. Du siehst es.

»Es ist trotzdem verrückt«, sagte er sich. »Verrückt!«

Aber war es das? Wirklich? Der Traum war möglicherweise mehr als ein Traum gewesen. Wenn es so etwas gab wie Hyperrealität – und das konnte er mittlerweile beschwören -, dann konnte es auch so etwas wie Präkognition geben. Oder Gespenster, die in Träumen erschienen und die Zukunft vorhersagten. Wer weiß? Es war, als wäre eine Tür in der Mauer der Wirklichkeit geöffnet worden… und jetzt konnten alle möglichen unerwünschten Erscheinungen durchkommen.

Eines wußte er mit Sicherheit: Die Spuren waren wirklich da. Er sah sie, Rosalie roch sie, und das war alles. Ralph hatte in den sechs Monaten seiner Schlaflosigkeit eine Anzahl seltsamer und interessanter Dinge herausgefunden, darunter auch, daß die Fähigkeit, sich selbst etwas vorzumachen, zwischen drei und sechs Uhr morgens ihren Tiefststand erreicht zu haben schien, und jetzt war es…

Ralph beugte sich nach vorne, damit er die Uhr an der Küchenwand sehen konnte. Kurz nach halb vier. Hm-hmm.

Er hob das Fernglas wieder hoch und sah, daß Rosalie immer noch den Spuren der kahlköpfigen Ärzte folgte. Sollte jemand jetzt die Harris Avenue entlanggeschlendert kommen -unwahrscheinlich um diese Tageszeit, aber nicht ausgeschlossen -, würde er nur einen streunenden Köter mit schmutzigem Fell sehen, der ziellos wie unerzogene, herrenlose Hunde überall auf dem Bürgersteig herumschnupperte. Aber Ralph konnte sehen, was Rosalie schnupperte, und darum glaubte er nun endlich seinen Augen. Möglicherweise änderte sich das wieder, wenn die Sonne aufging, aber im Augenblick wußte er hundertprozentig, was er sah.

Rosalie hob plötzlich den Kopf. Sie spitzte die Ohren. Einen Moment war sie fast schön anzusehen, so wie ein vorstehender Jagdhund schön ist. Dann ging sie, Sekunden bevor die Scheinwerfer eines Autos, das sich der Kreuzung Harris Avenue und Witcham Street näherte, die Straße ausleuchteten, den Weg zurück, den sie gekommen war – mit ihrem hinkenden, schwankenden Gang, und sie tat Ralph leid. Wenn man es recht überlegte, war Rosalie nicht auch eine der Harris Avenue Altvorderen, der nicht einmal ab und zu der Trost einer Partie Romme oder Poker um Pennys mit ihresgleichen vergönnt war? Sie verschwand in der Gasse zwischen dem Red Apple und dem Eisenwarenladen, und Sekunden später bog ein Streifenwagen der Polizei von Derry um die Ecke und rollte langsam die Straße entlang. Die Sirene war nicht eingeschaltet, wohl aber das Blinklicht. Es ließ die schlafenden Häuser und kleinen Geschäfte in diesem Teil der Harris Avenue abwechselnd rot und blau aufleuchten.

Ralph legte das Fernglas auf den Schoß, beugte sich auf dem Sessel nach vorne, stützte die Unterarme auf die Oberschenkel und wartete gespannt. Sein Herz schlug so fest, daß er es in den Schläfen spüren konnte.

Vor dem Red Apple bremste der Streifenwagen auf Schritttempo. Der Suchscheinwerfer an der rechten Seite wurde eingeschaltet, der Lichtstrahl wanderte an den Fassaden der schlafenden Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. In den meisten Fällen glitt er auch über Hausnummern neben Türen oder an Verandabalken. Als er die Nummer von May Lochers Haus anstrahlte (86, sah Ralph, und er brauchte das Fernglas nicht, um es zu entziffern), leuchteten die Bremslichter auf, und der Wagen kam zum Stillstand.

Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus und näherten sich dem Fußweg zum Haus, ohne etwas von dem Mann zu ahnen, der sie von einem dunklen Fenster im ersten Stock auf der anderen Straßenseite beobachtete, und ohne die gold-grünen Fußspuren zu sehen, über die sie schritten. Sie unterhielten sich miteinander, und Ralph hob das Fernglas erneut, damit er sie besser sehen konnte. Er war ziemlich sicher, daß es sich bei dem jüngeren der beiden um den uniformierten Beamten handelte, der mit Leydecker bei Ed gewesen war, als sie Ed festgenommen hatten. Knoll? War das sein Name gewesen?

»Nein«, murmelte Ralph. »Nell. Chris Nell. Oder vielleicht Jess.«

Nell und sein Partner schienen ein ernstes Gespräch über etwas zu führen – viel ernster als das der beiden kahlköpfigen Ärzte, bevor sie fortgegangen waren. Das Gespräch endete damit, daß die beiden Polizisten ihre Schußwaffen zogen und dann nacheinander die schmale Treppe von Mrs. Lochers Haus hinaufgingen, Nell voraus. Er läutete an der Tür, wartete, läutete noch einmal. Diesmal hielt er den Knopf gute fünf Sekunden lang gedrückt. Sie warteten noch einen Moment, dann drängte sich der zweite Polizist an Nell vorbei und versuchte selbst sein Glück an der Klingel.

Vielleicht beherrscht der ja die geheime Kunst des Läutens, dachte Ralph. Hat er wahrscheinlich gelernt, indem er einen Kurs der Rosenkreuzer besucht hat.

Wenn ja, zeitigte seine Technik diesmal keine Wirkung. Sie bekamen immer noch keine Antwort, und das überraschte Ralph nicht im geringsten. Er bezweifelte, ob May Locher überhaupt aus dem Bett steigen konnte, seltsame kahlköpfige Männer mit Scheren hin oder her.

Aber wenn sie bettlägerig ist, muß sie eine Hilfe haben, jemanden, der ihr die Mahlzeiten zubereitet, ihr zur Toilette hilft oder die Bettpfanne gibt…

Chris Nell – oder möglicherweise auch Jess – trat wieder vor zur Tür. Diesmal jedoch zog er der Klingel die alte Poch-poch-poch-Im-Namen-des-Gesetzes-aufmachen-Methode vor. Dazu nahm er die linke Faust. Mit der rechten Hand hielt er immer noch die Waffe, den Lauf an das Bein seiner Uniformhose gepreßt.

Ein schreckliches Bild, so klar und deutlich wie die Auren, die er gesehen hatte, kam Ralph plötzlich in den Sinn. Er sah eine Frau mit einer durchsichtigen Sauerstoffmaske über Mund und Nase im Bett liegen. Über der Maske starrten die weit aufgerissenen Augen blicklos aus den Höhlen. Darunter klaffte der Hals zu einem breiten, gezackten Lachen auf. Bettzeug und Nachthemd der Frau waren blutgetränkt. Ganz in der Nähe lag eine zweite Frau Gesicht nach unten auf dem Boden – die Mitbewohnerin. Ein halbes Dutzend Stichwunden der spitzen Schere von Doc Nr. 1 verunzierten den Rücken des rosa Flanellnachthemds dieser Frau. Und Ralph wußte, würde man das Nachthemd hochheben, würde jede Wunde genau wie die unter seinem eigenen Arm aussehen… mit anderen Worten, wie der übergroße Punkt eines Kindes, das gerade Schreiben lernt.

Ralph versuchte, die gräßliche Vision wegzublinzeln. Sie wollte nicht verschwinden. Er verspürte dumpfe Schmerzen in den Händen und stellte fest, daß er sie zu Fäusten geballt hatte; die Nägel gruben sich in seine Handflächen. Er spreizte die Finger und umklammerte seine Oberschenkel. Jetzt sah er vor seinem geistigen Auge, wie die Frau im rosa Nachthemd leicht zuckte -sie war noch am Leben. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Mit Sicherheit nicht mehr lange, wenn diese beiden Trottel nicht etwas Produktiveres unternahmen, als nur vor der Tür zu stehen und abwechselnd zu klopfen und zu läuten.

»Los doch, Jungs«, sagte Ralph und umklammerte seine Oberschenkel noch fester. »Kommt schon, kommt schon, unternehmt etwas, was meint ihr?«

Du weißt, daß du dir das alles nur eingebildet hast, oder nicht? fragte er sich unbehaglich. Ich meine, sicher, es könnten zwei tote Frauen da drüben liegen, könnte sein, aber das weißt du nicht, richtig? Das ist nicht wie bei den Auren oder den Spuren…

Nein, es war nicht wie bei den Auren oder den Spuren, das wußte er, ja. Aber er sah auch, daß da drüben in Nummer 86 niemand die Tür aufmachte, und das sah nicht gerade gut aus für Bill McGoverns alte Klassenkameradin aus Cardville. Er hatte kein Blut an der Schere von Doc Nr. 1 gesehen, aber angesichts der fragwürdigen Qualität des alten Zeiss bewies das nichts. Außerdem hätte der Typ sie abwischen können, bevor er das Haus verlassen hatte. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, fügte seine Phantasie dem Bild ein blutiges Handtuch hinzu, das neben der toten Mitbewohnerin im rosa Nachthemd lag.

»Los doch, ihr beiden!« rief Ralph mit leiser Stimme. »Herrgott, wollt ihr die ganze Nacht da stehenbleiben?«

Zwei neue Scheinwerfer leuchteten die Harris Avenue aus. Es handelte sich um eine Ford-Limousine mit rotem Blinklicht auf dem Armaturenbrett. Der Mann, der ausstieg, trug Zivil – graue Popelinwindjacke und eine blaue Strickmütze. Ralph hatte kurz gehofft, der Neuankömmling würde sich als Johnny Leydecker entpuppen, obwohl Leydecker ihm gesagt hatte, daß er erst um die Mittagszeit kommen würde, aber er brauchte das Fernglas nicht, um sich zu vergewissern, daß er es nicht war. Dieser Mann war viel schlanker und trug einen dunklen Schnurrbart. Cop Nr. 2 kam ihm auf dem Fußweg entgegen, während Chris-oder Jess Nell um die Ecke von Mrs. Lochers Haus verschwand.

Es folgte eine der Pausen, die im Film erfreulicherweise geschnitten wurden. Cop Nr. 2 steckte die Waffe ein. Er und der gerade eingetroffene Detective standen vor der Treppe zu Mrs. Lochers Veranda, unterhielten sich anscheinend und warfen ab und zu einen Blick auf die geschlossene Tür. Einmal machte der uniformierte Polizist einen Schritt in die Richtung, in die Nell gegangen war. Der Detective hielt ihn am Arm fest und hinderte ihn daran. Sie redeten weiter miteinander. Ralph stieß einen leisen Grunzlaut der Hilflosigkeit aus.

Ein paar Minuten krochen dahin, und dann geschah alles gleichzeitig auf diese verwirrende, sich überschlagende, unschlüssige Weise, mit der sich Notfallsituationen zu entwickeln scheinen. Ein drittes Polizeiauto traf ein (Mrs. Lochers Haus und die benachbarten Häuser wurden jetzt wechselweise in rotes und gelbes Licht getaucht). Zwei weitere uniformierte Beamte stiegen aus, öffneten den Kofferraum und holten einen klobigen Apparat heraus, der für Ralph wie ein tragbares Folterinstrument aussah. Er glaubte, daß man dieses Gerät als »Jaws of Life« bezeichnete. Nach dem schweren Sturm des Jahres 1985, einem Sturm, bei dem über vierzig Menschen ums Leben gekommen waren – von denen viele in ihren Autos feststeckten und ertranken -, hatten die Schulkinder von Derry Geld gesammelt, um eines zu kaufen.

Während die beiden neuen Cops die Jaws of Life über den Bürgersteig trugen, ging die Eingangstür des Hauses oberhalb von Mrs. Lochers auf, und die Eberlys, Stan und Georgina, kamen auf ihre Veranda heraus. Ihre Haare standen zerzaust vom Kopf ab, wobei Ralph an Charlie Pickering denken mußte. Er hob das Fernglas, betrachtete kurz ihre neugierigen, aufgeregten Gesichter und legte es wieder in den Schoß.

Als nächstes kam ein Krankenwagen vom Derry Home Hospital. Die Sirene war mit Rücksicht auf die frühe Morgenstunde nicht eingeschaltet, wie bei den Streifenwagen, aber das ganze Dach schien voller Rotlichter zu sein, und die blinkten allesamt hektisch. Für Ralph sah die Szene auf der anderen Straßenseite wie aus einem seiner geliebten Dirty-Harry-Filme aus – mit abgestelltem Ton.

Die beiden Cops schleppten die Jaws of Life halb über den Rasen, dann stellten sie sie ab. Der Detective mit der Windjacke und der Strickmütze drehte sich zu ihnen um und hob die Hände mit ausgebreiteten Handflächen auf Schulterhöhe, als wollte er sagen: Was habt ihr denn mit dem Ding vorgehabt? Die gottverdammte Tür aufbrechen? Im selben Augenblick kam Officer Nell wieder hinter dem Haus hervor. Er schüttelte den Kopf.

Der Detective mit der Mütze drehte sich unvermittelt um, ging an Nell und seinem Partner vorbei die Treppe hinauf, hob einen Fuß und trat May Lochers Eingangstür ein. Er wartete einen Moment, machte den Reißverschluß der Jacke auf, wahrscheinlich, damit er an seine Waffe herankam, und betrat das Haus dann, ohne sich noch einmal umzusehen.

Ralph hätte am liebsten applaudiert.

Nell und sein Partner sahen einander unsicher an, dann folgten sie dem Detective die Treppe hinauf und zur Tür hinein. Ralph beugte sich nach weiter in seinem Sessel nach vorne, so weit, daß seine Nasenlöcher kleine Nebelwölkchen auf der Scheibe erzeugten. Drei Männer, deren weiße Anzüge im Schein der grellen orangefarbenen Laternen leuchteten, stiegen aus dem Krankenwagen aus. Einer machte die Hecktür auf, und danach standen die drei einfach nur mit den Händen in den Hosentaschen herum und warteten darauf, ob man sie brauchte. Die beiden Polizisten, die die Jaws of Life halb über Mrs. Lochers Rasen getragen hatten, sahen einander an, zuckten die Achseln, hoben sie wieder auf und trugen sie zu dem Streifenwagen zurück. Mehrere tiefe Druckstellen waren im Rasen zu sehen, wo sie sie abgestellt hatten.

Hoffentlich ist ihr nichts geschehen, dachte Ralph. Hoffentlich geht es ihr gut – und allen anderen, die bei ihr im Haus gewesen sind.

Der Detective erschien wieder unter der Tür, und Ralphs Hoffnung sank, als er den Männern winkte, die hinter dem Krankenwagen standen. Zwei zogen eine Bahre mit ausklappbarem Fahrgestell heraus; der dritte blieb, wo er war. Die Männer mit der Bahre gingen schnellen Schrittes den Fußweg entlang zum Haus, aber sie rannten nicht, und als der Sanitäter, der zurückgeblieben war, eine Packung Zigaretten aus der Tasche holte und sich eine anzündete, da wußte Ralph plötzlich – und ohne jeden Zweifel -, daß May Locher tot war.

Stan und Georgina Eberly gingen zu der niederen Hecke, die ihren Vorgarten von Mrs. Lochers trennte. Sie hatten einander die Arme um die Taillen gelegt und sahen für Ralph wie die alt und fett und ängstlich gewordenen Bobbsey Zwillinge aus.

Nun kamen auch andere Nachbarn heraus, die entweder von den Blinklichtern angelockt wurden, oder weil das Telefonnetz in diesem kurzen Abschnitt der Harris Avenue schon heißlief. Die meisten Leute, die Ralph sah, waren alt (»Wir Leute im goldenen Alter«, pflegte Bill McGovern zu sagen, selbstverständlich immer mit seiner sardonisch hochgezogenen Braue), Männer und Frauen, deren Schlaf schon unter günstigsten Bedingungen oberflächlich und leicht zu stören war. Plötzlich wurde ihm klar, daß Ed, Helen und die kleine Natalie die jüngsten Anwohner zwischen hier und der Extension gewesen waren… und jetzt waren die Deepneaus fort.

Ich könnte da runtergehen, dachte er. Ich würde zu ihnen passen. Einer von Bills Leuten im goldenen Alter.

Aber das konnte er nicht. Seine Beine fühlten sich an wie von schwachen Fäden gehaltene Teebeutel, und er war überzeugt, wenn er aufzustehen versuchte, würde er zu Boden stürzen, als wären seine Knochen weich geworden. Daher blieb er sitzen, beobachtete alles von seinem Fenster aus und verfolgte, wie sich das Stück auf der Bühne entwickelte, die zu dieser Zeit stets einsam und verlassen gewesen war… das heißt, abgesehen von den vereinzelten Auftritten Rosalies. Es war ein Schauspiel, das er selbst mit einem einzigen anonymen Telefonanruf inszeniert hatte. Er sah die Notärzte wieder mit der Bahre herauskommen, aber diesmal bewegten sie sich langsamer, weil eine Gestalt unter einem Laken auf der Bahre festgeschnallt war. Rotes und gelbes Licht flackerte abwechselnd über das Laken und die Umrisse von Beinen, Hüften, Armen, Hals und Kopf darunter.

Plötzlich wurde Ralph in seinen Traum zurückversetzt. Er sah seine Frau unter diesem Laken – nicht May Locher, sondern Carolyn Roberts, deren Kopf jeden Moment aufplatzen würde, so daß die schwarzen Käfer, die von ihrem kranken Gehirn fett geworden waren, herausquellen konnten.

Ralph drückte die Handflächen auf die Augen. Ein Laut ein unartikulierter Laut von Trauer und Wut, Grauen und Erschöpfung – entrang sich ihm. So saß er lange Zeit da, wünschte sich, er hätte das alles nie gesehen, und hoffte, daß er den Tunnel niemals würde betreten müssen, sollte es doch einen geben. Die Auren waren seltsam und wunderschön, aber nicht so schön, daß sie den schrecklichen Augenblick seines Traums wettmachen konnten, als er seine am Strand begrabene Frau entdeckt hatte; nicht schön genug, um das Grauen seiner verlorenen, schlaflosen Nächte auszugleichen, ganz zu schweigen vom Anblick der verhüllten Gestalt, die aus dem Haus auf der anderen Straßenseite gerollt wurde.

Aber er wünschte sich nicht nur, daß das Schauspiel zu Ende gehen würde; während er dasaß und die Handflächen auf die geschlossenen Lider preßte, wünschte er sich, daß alles vorbei wäre – einfach alles. Zum erstenmal in den fünfundzwanzigtausend Tagen seines Lebens wünschte sich Ralph Roberts, er wäre tot.

Kapitel 9

An einer Wand des winzigen Zimmers, das Detective John Leydecker als Büro diente, hing ein Filmplakat, das er wahrscheinlich für zwei oder drei Dollar von einer der hiesigen Videotheken bekommen hatte. Es zeigte Dumbo, den Elefanten, der mit ausgestreckten Zauberohren flog. Ein Foto von Susan Days Gesicht war über das von Dumbo geklebt worden, sorgfältig ausgeschnitten, damit der Rüssel erhalten blieb. Der gezeichneten Landschaft darunter hatte jemand ein Hinweisschild hinzugefügt, auf dem stand: DERRY 250.

»Oh, reizend«, sagte Ralph.

Leydecker lachte. »Politisch nicht besonders korrekt, was?«

»Das halte ich für eine Untertreibung«, sagte Ralph und fragte sich, was Carolyn von dem Plakat gehalten hätte – und was Helen davon halten würde. Es war Viertel vor zwei an einem wolkenverhangenen, kalten Montagnachmittag, und er und Leydecker waren gerade aus dem gegenüberliegenden Gerichtsgebäude von Derry zurückgekommen, wo Ralph seine Zeugenaussage über seine Begegnung mit Charlie Pickering tags zuvor abgelegt hatte. Er war von einem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt verhört worden, der für Ralph ausgesehen hatte, als würde er sich in etwa einem oder zwei Jahren zum erstenmal rasieren.

Leydecker hatte ihn begleitet, wie versprochen; er saß in einer Ecke im Büro des Bezirksstaatsanwalts und sagte nichts. Sein Angebot, Ralph zu einer Tasse Kaffee einzuladen, entpuppte sich als leere Versprechung-das teuflisch aussehende Gebräu stammte aus einer Silex in einer Ecke des völlig überfüllten Aufenthaltsraums im ersten Stock des Polizeireviers. Ralph kostete es vorsichtig und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß es etwas besser schmeckte, als es aussah.

»Zucker? Sahne?« fragte Leydecker. »Eine Waffe, damit sie darauf schießen können?«

Ralph schüttelte lächelnd den Kopf. »Schmeckt gut… aber es wäre wahrscheinlich ein Fehler, meinem Urteilsvermögen zu trauen. Ich habe meinen Konsum letzten Sommer auf zwei Tassen am Tag eingeschränkt, und seither schmeckt mir jeder Kaffee ziemlich gut.«

»So geht es mir mit Zigaretten – je weniger ich rauche, desto besser schmecken sie. Laster haben es in sich.« Leydecker holte sein Päckchen Zahnstocher heraus, nahm sich einen und steckte ihn in den Mundwinkel. Dann stellte er seine Tasse auf seinen Computer, ging zu dem Dumbo-Plakat und zog die Reißzwecken heraus, die die Ecken festhielten.

»Meinetwegen müssen Sie das nicht tun«, sagte Ralph. »Es ist Ihr Büro.«

»Falsch.« Leydecker zog das sorgfältig ausgeschnittene Foto von Susan Day von dem Plakat, knüllte es zusammen und warf es in den Mülleimer. Dann rollte er das Plakat selbst zu einem engen Zylinder zusammen.

»Oh? Und wie kommt es dann, daß Ihr Name an der Tür steht und die Kinder auf diesem Foto Ähnlichkeit mit Ihnen haben?« Ralph deutete auf ein Foto, das eine untersetzte, hübsche Frau mit zwei Jungs zeigte, schätzungsweise zehn und acht. Die Frau lächelte; die Jungs sahen ernst in die Kamera.

»Es ist mein Name und meine Familie, aber das Büro gehört Ihnen und den anderen Steuerzahlern, Ralph. Und darüber hinaus jedem Nachrichten-Vidioten, der mit einer Minicam hier reinspaziert, und wenn dieses Plakat in den Nachrichten am Mittag auftauchen würde, würde ich eine Menge Ärger bekommen. Ich habe vergessen, es abzuhängen, als ich Freitag abend gegangen bin, und ich hatte fast das ganze Wochenende über frei – was hier ziemlich selten vorkommt, das kann ich Ihnen sagen.«

»Ich nehme an, Sie haben es nicht aufgehängt.« Ralph entfernte einen Stapel Unterlagen vom einzigen Stuhl des Büros und setzte sich darauf.

»Nee. Ein paar Jungs haben am Freitag nachmittag eine Party für mich organisiert. Mit Kuchen, Eis und Geschenken.« Leydecker kramte in seiner Schreibtischschublade und brachte ein Gummiband zum Vorschein. Er schlang es um das Plakat, damit es sich nicht wieder aufrollen konnte, sah amüsiert mit einem Auge durch die Röhre auf Ralph und warf es dann in den Mülleimer. »Ich habe einen Satz Unterhöschen mit den Wochentagen drauf und ausgeschnittenem Schritt bekommen, eine Intimwaschlotion mit Erdbeergeschmack, ein Paket AntiAbtreibungsliteratur der Friends of Life, einschließlich eines Comics mit dem Titel >Denise’ ungewollte Schwangerschaft<, und dieses Plakat.«

»Ich schätze, es war keine Geburtstagsparty, hm?« »Nee.« Leydecker ließ die Knöchel knacken und seufzte zur Decke. »Die Jungs haben gefeiert, daß ich für einen Spezialauftrag eingeteilt wurde.«

Ralph konnte das Flackern einer blauen Aura um Leydeckers Gesicht und Schultern sehen, aber in diesem Fall mußte er nicht erst versuchen, sie zu lesen. »Es ist Susan Day, nicht? Sie haben den Auftrag bekommen, sie zu beschützen, solange sie in der Stadt ist.«


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