Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Plötzlich stießen die beiden Räder zusammen, obwohl die Jungs es bisher erfolgreich geschafft hatten, einander auszuweichen. Beide Jungs fielen zu Boden, sprangen aber sofort wieder auf die Füße. Ralph stellt erleichtert fest, daß keinem etwas geschehen war; ihre Auren flackerten nicht einmal.
»Verdammte Pißnelke!« rief derjenige im Nirvana T-Shirt seinem Freund ärgerlich zu. Er war etwa elf. »Was, zum Teufel, ist los mit dir? Du fährst wie alte Leute ficken!«
»Ich hab was gehört«, sagte der andere und setzte sich die Mütze penibel wieder auf das schmutzige blonde Haar, »‘n verdammt lauten Knall. Willst du behaupten, du hast nichts gehört? Ey, Mann!«
»Einen Scheiß hab ich gehört«, sagte der Nirvana-Junge. Er hielt die Handflächen hoch, die jetzt schmutzig waren (oder auch nur schmutziger) und aus zwei oder drei unbedeutenden Aufschürfungen bluteten. »Sieh dir diesen Scheiß-Asphaltschorf an!«
»Du wirst es überleben«, sagte sein Freund mit bemerkenswert wenig Mitgefühl.
»Klar, aber -« Der Nirvana-Junge bemerkte Ralph, der an seinem rostigen Oldsmobile lehnte, die Hände in den Taschen, und sie beobachtete. »Was gibts’n anzugaffen?«
»Dich und deinen Freund«, sagte Ralph. »Mehr nicht.«
»Mehr nicht, hm?«
»Jawohl – das ist alles.«
Der Nirvana-Junge sah seinen Freund an, dann Ralph. In seinen Augen leuchtete ein unverhohlener Argwohn, wie man ihn, fand Ralph, nur in Old Cape finden konnte. »Haben Sie’n Problem?«
»Ich nicht«, sagte Ralph. Er hatte ziemlich viel von der Aura des Nirvana-Jungen inhaliert und fühlte sich jetzt ein wenig wie Superman auf Speed. Außerdem fühlte er sich wie ein Kinderschänder. »Ich habe mir nur überlegt, daß wir nicht wie du und dein Freund geredet haben, als wir noch Kinder waren.«
Der Nirvana-Junge betrachtete ihn frech. »Ach ja? Und wie haben Sie geredet?«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte Ralph, »aber ich glaube nicht, daß wir uns so sehr wie Pißköpfe angehört haben.« Er wandte sich von ihnen ab, als er das Fliegengitter zuschlagen hörte. Lois kam mit einem großen Becher Kaffee in jeder Hand aus dem DunkinDonuts heraus. Derweil sprangen die Jungs auf ihre neonfarbenen Fahrräder und brausten davon, wobei der Nirvana-Junge Ralph einen letzten mißtrauischen Blick über die Schulter zuwarf.
»Kannst du das hier trinken und gleichzeitig Auto fahren?« fragte Lois und gab ihm einen Kaffee.
»Ich denke schon«, sagte Ralph, »aber ich brauche ihn eigentlich nicht mehr. Mir geht es blendend, Lois.«
Sie sah den beiden Jungs nach und nickte. »Gehen wir.«
Die Welt rings um sie herum leuchtete grell, als sie auf der Route 33 zum ehemaligen Barrets Orchards fuhren, und sie mußten auf der Leiter der Wahrnehmung nicht eine einzige Stufe hinauf, um das zu sehen. Die Stadt blieb hinter ihnen zurück, sie fuhren durch einen Wald, der in Herbstfarben lichterloh brannte. Der Himmel war ein blaues Band über der Straße, und der Schatten des Oldsmobile folgte ihnen seitlich und flackerte über Blätter und Äste.
»O Gott, es ist so wunderschön«, sagte Lois. »Ist das nicht wunderbar, Ralph?«
»Ja. Ist es.«
»Weißt du, was ich mir wünsche? Mehr als alles andere?«
Er schüttelte den Kopf.
»Daß wir einfach an den Straßenrand fahren könnten – das Auto abstellen, aussteigen und ein Stück in den Wald hineingehen. Eine Lichtung suchen, in der Sonne sitzen und zu den Wolken hinauf schauen. Du würdest sagen: >Schau dir die an, Lois, die sieht aus wie ein Pferd. < Und ich würde sagen: >Schau da rüber, Ralph, da ist en Mann mit einem Besen. < Wäre das nicht schön?«
»Ja«, sagte Ralph. Links von ihnen tat sich ein schmaler Korridor im Wald auf; Strommasten marschierten den steilen Hang hinunter wie Soldaten. Dazwischen glänzten Hochspannungsleitungen silbern im Sonnenlicht, fein wie Spinnweben. Die Ansätze der Masten waren in dichten Sumach-Stauden verborgen, und als Ralph in die Höhe schaute, sah er einen Falken über der Schneise kreisen, der mit einem Aufwind segelte, so unsichtbar wie die Welt der Auren. »Ja«, sagte er noch einmal. »Das wäre schön. Vielleicht kommen wir sogar einmal dazu, es zu tun. Aber…«
»Aber was?«
»>Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann<«, sagte Ralph.
Sie sah ihn etwas betroffen an. »Was für eine schreckliche Vorstellung!« sagte sie.
»Ja. Ich glaube, die meisten wahren Einsichten sind schrecklich. Es stammt aus einem Gedichtband mit dem Titel Cemetery Nights. Dorrance Marstellar hat ihn mir an dem Tag gegeben, als er in mein Apartment geschlichen ist und die Spraydose Bodyguard in meine Jackentasche gesteckt hat.«
Er sah in den Rückspiegel und konnte mindestens zwei Meilen der Route 33 hinter ihnen sehen, ein schwarzer Streifen durch die lodernden Wälder. Sonnenlicht funkelte auf Chrom. Ein Auto. Möglicherweise zwei. Und wie es aussah, holten sie schnell auf.
»Der alte Dor«, sagte sie.
»Ja. Weißt du, Lois, ich glaube, er gehört auch dazu. Ich weiß, daß er die Auren auch sieht – als ich zu verhindern versuchte, daß Ed und der andere Typ einander an dem besagten Tag die Nasen blutig prügelten, sagte Dor, ich sollte Ed nicht berühren. Ich glaube, er hat schon damals das Leichentuch um Ed herum gesehen.«
»Vielleicht«, sagte sie. »Und wenn Ed ein Sonderfall ist, ist Dorrance vielleicht auch einer.«
»Ja, der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Das Interessanteste an ihm – dem alten Dor, meine ich, nicht Ed -, ist die Tatsache, daß Klotho und Lachesis scheinbar nichts von ihm wissen. Als würde er aus einer völlig anderen Gegend stammen.«
»Was meinst du damit?« »Ich bin nicht sicher, nicht ganz. Aber Mr. K. und Mr. L. haben ihn nicht einmal erwähnt, und das… das scheint… «
Er sah in den Rückspiegel. Jetzt sah er ein viertes Auto hinter den anderen, das allerdings rasch aufholte, und er konnte blaue Blinklichter auf den drei anderen erkennen. Polizeiautos. Unterwegs nach Newport? Nein, wahrscheinlich zu einem etwas näher gelegenen Ort.
Vielleicht sind sie hinter uns her, überlegte Ralph. Vielleicht hat Lois’ Einflüsterung, die Richards sollte vergessen, daß wir je dort gewesen sind, nicht standgehalten.
Aber würde die Polizei vier Streifenwagen hinter zwei alten Leutchen in einem rostigen Oldsmobile herschicken? Das glaubte Ralph nicht. Plötzlich tauchte Helens Gesicht vor seinem geistigen Auge auf. Er verspürte ein flaues Gefühl im Magen, als er den Olds an den Straßenrand steuerte.
»Ralph? Was…?« Dann hörte sie die anschwellenden Sirenen, drehte sich auf dem Sitz um und riß erschrocken die Augen auf. Die ersten drei Streifenwagen donnerten mit über achtzig Meilen pro Stunde an ihnen vorbei, ließen Geröll auf Ralphs Auto niederregnen und wirbelten das Laub hinter sich zu tanzenden Derwischen auf.
»Ralph!« kreischte sie fast. »Wenn es nun High Ridge ist? Helen ist da draußen! Helen und das Baby!«
»Ich weiß«, sagte Ralph, und als das vierte Polizeiauto so schnell an ihnen vorbeiraste, daß der Olds auf den Stoßdämpfern schwankte, spürte er dieses innere Blinzeln wieder. Er streckte die Hand nach dem Schalthebel aus, aber sie blieb zehn Zentimeter darüber in der Luft stehen. Sein Blick war auf den Horizont gerichtet. Der Fleck dort sah nicht so geisterhaft aus wie der schwarze Schirm, den sie über dem Bürgerhaus gesehen hatten, aber Ralph wußte, daß er genau dasselbe darstellte: ein Leichentuch.
»Schneller!« schrie Lois ihn an. »Fahr schneller, Ralph!«
»Ich kann nicht«, sagte er. Er hatte die Zähne zusammengebissen, die Worte kamen gepreßt heraus. »Ich fahre schon Bleifuß.« Außerdem, fügte er nicht hinzu, bin ich seitfiinfunddreißig Jahren nicht mehr so schnell gefahren, und ich habe eine Heidenangst.
Die Geschwindigkeitsanzeige zitterte eine Haaresbreite über der 80 auf dem Tachometer; der Wald sauste als gelbe und rote und magentafarbene Schlieren vorbei; der Motor unter der Haube tickte nicht mehr nur, er hämmerte wie eine ganze Schwadron Schmiede auf einem Amboß. Trotzdem holten drei weitere Polizeiautos, die Ralph jetzt im Rückspiegel sah, mühelos auf.
Vor ihnen machte die Straße eine scharfe Rechtskurve. Gegen jeden Instinkt machte Ralph keinerlei Anstalten zu bremsen. Er nahm den Fuß vom Gas, als sie in die Kurve rasten… dann trat er das Pedal wieder durch, als er spürte, wie der Wagen hinten wegschmieren wollte. Er saß jetzt über das Lenkrad gekauert, biß sich mit den oberen Zähnen fest auf die Unterlippe, und die weit aufgerissenen Augen quollen ihm unter den buschigen Brauen fast aus den Höhlen. Die Hinterreifen der Limousine quietschten, und Lois, die verzweifelt an der Rückenlehne des Sitzes Halt suchte, kippte gegen ihn. Ralph klammerte sich mit verschwitzten Fingern an das Lenkrad und wartete darauf, daß der Wagen sich überschlagen würde. Der Olds war jedoch eines der letzten wahren Straßenungeheuer aus Detroit, breit und schwer und tiefliegend. Er schaffte es durch die Kurve, und auf der anderen Seite sah Ralph links ein rotes Farmhaus. Zwei Scheunen standen dahinter.
»Ralph, da ist die Abzweigung!«
»Ich sehe sie.«
Die neue Kolonne von Polizeiautos hatte sie eingeholt und scherte zum Überholen aus. Ralph fuhr so weit rechts, wie er konnte, und hoffte, daß keiner der Streifenwagen ihn bei dieser Geschwindigkeit streifen würde. Nichts passierte; sie sausten in dichter Formation vorbei, fast Stoßstange an Stoßstange, bogen links ab und den langgezogenen Hügel hinauf, der zu High Ridge führte.
»Festhalten, Lois.«
»Oh, das tue ich, das tue ich«, sagte sie. »Ich halte mich fest wie verrückt.«
Der Olds schlitterte fast seitwärts weg, als Ralph auf die Straße nach links bog, die er und Carolyn stets Orchard Road genannt hatten. Wäre der schmale Feldweg geteert gewesen, wäre das große Automobil wahrscheinlich umgekippt wie ein Stuntwagen in einer Motorshow. Aber sie war nicht geteert, und daher überschlug sich der Olds nicht, sondern rutschte nur wie wild und wirbelte Staubwolken auf. Lois stieß einen schrillen, atemlosen Schrei aus, und Ralph warf ihr einen raschen Blick zu.
»Fahr zu!« Sie deutete ungeduldig auf die Straße vor ihnen, und in diesem Augenblick sah sie Carolyn auf so unheimliche Weise ähnlich, daß Ralph fast glaubte, er hätte ein Gespenst neben sich sitzen. Er fragte sich, was Carolyn, die in ihren letzten fünf Lebensjahren fast eine Weltanschauung daraus gemacht hatte, ihm zu sagen, daß er schneller fahren sollte, von dieser kleinen Spritztour aufs Land gehalten hätte. »Nimm keine Rücksicht auf mich, achte auf die Straße!«
Jetzt bogen noch mehr Polizeiautos auf die Orchard Road ab. Wie viele waren es insgesamt? Ralph wußte es nicht; er hatte den Überblick verloren. Möglicherweise alles in allem ein Dutzend. Er steuerte den Olds nach rechts bis die beiden äußeren Reifen am Rand eines gefährlich aussehenden Straßengrabens dahinrollten, und die Verstärkung – drei Streifenwagen mit der goldenen Aufschrift DERRY POLICE auf den Seiten – rauschte vorbei und wirbelte erneute Schauer von Staub und Kies auf. Einen Augenblick sah Ralph einen uniformierten Polizisten, der sich aus einem der Streifenwagen lehnte und ihm zuwinkte, und dann verschwand der Olds in einer gelben Staubwolke. Ralph kämpfte den erneuten und stärkeren Impuls nieder, auf die Bremse zu treten, indem er an Helen und Nat dachte. Einen Augenblick später konnte er wieder sehen – jedenfalls mehr oder weniger. Die letzte Staffel Polizeiautos war schon fast halb den Hügel hinauf.
»Dieser Cop hat dich zurückgewunken, oder?« fragte Lois.
»Klar.«
»Sie werden uns nicht einmal in die Nähe lassen.« Sie sah den schwarzen, schmierigen Fleck auf dem Hügel mit großen, betroffenen Augen an.
»Wir werden so nahe rankommen wie nötig.« Ralph sah in den Rückspiegel nach weiteren Fahrzeugen, konnte aber nur noch schwebenden Straßenstaub erkennen.
»Ralph?«
»Was?« »Bist du oben? Siehst du die Farben?«
Er sah sie kurz an. Sie sah immer noch wunderschön aus, und unfaßbar jugendlich, aber von einer Aura war keine Spur zu sehen. »Nein«, sagte er. »Du?«
»Ich weiß nicht. Das da sehe ich immer noch.« Sie deutete durch die Windschutzscheibe auf den dunklen Fleck über dem Hügel. »Was ist das? Wenn es kein Leichentuch ist, was dann?«
Er machte den Mund auf, um in Worte zu fassen, was sie auf einer bestimmten Ebene bereits wissen mußte – es war Rauch, und da oben konnte höchstwahrscheinlich nur eines brennen -, aber bevor er ein Wort sagen konnte, ertönte ein gewaltiger, überhitzter Knall aus dem Motorblock des Oldsmobile. Die Haube erzitterte und wölbte sich sogar an einer Stelle, als hätte eine Faust wütend von innen dagegen geschlagen. Das Auto schnellte einmal ruckartig vorwärts, was sich wie ein Schluckauf anfühlte; die roten Warnlichter gingen an, und der Motor starb ab.
Er steuerte den Olds an die weiche Böschung, und als der Rand unter den rechten Reifen nachgab und das Auto in den Graben kippte, verspürte Ralph die deutliche, klare Vorahnung, daß er gerade seine letzte Dienstfahrt als Betreiber eines Motorfahrzeugs hinter sich gebracht hatte. Bei diesem Gedanken verspürte er nicht das geringste Bedauern.
»Was ist passiert?« fragte Lois mit einem Anflug von Hysterie.
»Kolbenfresser«, sagte er. »Sieht aus, als müßten wir den Rest des Weg auf Schusters Rappen zurücklegen, Lois. Steig auf meiner Seite aus, damit du nicht im Schlamm versinkst.«
Eine frische Brise wehte von Westen, und als sie aus dem Auto ausgestiegen waren, nahmen sie den Geruch von Rauch, der von der Hügelkuppe herunterwehte, deutlich wahr. Die letzten fünfhundert Meter legten sie zurück, ohne darüber zu sprechen, sie gingen Hand in Hand, und sie gingen schnell. Als sie den Streifenwagen sahen, der quer über die Straße stand, stiegen ganze Rauchwolken über den Bäumen auf, und Lois rang keuchend nach Luft.
»Lois? Alles in Ordnung?«
Plötzlich überkam ihn die gräßliche Erinnerung an das Bild, das Lachesis ihnen in dem Fächer aus Licht zwischen seinen Fingern gezeigt hatte: Bill McGovern, der zuerst hinter dem Mann mit der pflaumenfarbenen Aura zurückblieb und sich dann mit einer Hand an der Wand abstützte und sich bückte wie ein ausgepumpter Läufer. Wie fühlte sich der Beginn eines Herzanfalls an? Wie ein rostiges Skalpell in der Brust, das sucht, sich dreht, alle wichtigen Leitungen und Röhren durchschneidet, die die Maschine versorgen? Ralph vermutete, daß es sich so verhielt. Und wenn Lois so etwas zustoßen sollte…
»Ja?« wollte er wissen, packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. »Hast du Schmerzen in der -«
»Mir geht es gut«, keuchte sie. »Ich wiege nur zu -«
Peng-peng-peng: Pistolenschüsse hinter dem Auto, das die Straße versperrte. Ihnen folgte ein heiserer, hustender Laut, den Ralph mühelos aus Nachrichtensendungen über Bürgerkriege in Ländern der Dritten Welt und über Schießereien in amerikanischen Städten der Dritten Welt kannte: eine auf Schnellfeuer gestellte automatische Waffe. Weitere Pistolenschüsse, dann der lautere, rauhere Knall einer Schrotflinte. Darauf folgte ein Schmerzensschrei, bei dem Ralph zusammenzuckte und sich die Ohren zuhalten wollte. Er nahm an, daß es der Schrei einer Frau war, und da fiel ihm plötzlich wieder ein, woran er sich nicht mehr hatte erinnern können: der Nachname der Frau, die John Leydecker erwähnt hatte. Sandra McKay.
Daß ihm das gerade in diesem Augenblick wieder einfiel, erfüllte ihn mit unbegründetem Entsetzen. Er versuchte sich einzureden, daß jeder x-beliebige geschrien haben konnte selbst Männer hörten sich manchmal wie Frauen an, wenn sie verletzt worden waren -, aber er wußte es besser. Sie war es. Sie waren es alle. Eds Irre. Sie hatten einen Anschlag auf High Ridge verübt.
Hinter ihnen weitere Sirenen. Der Geruch von Rauch, jetzt dicker. Lois sah ihn mit erschrockenen, ängstlichen Augen an und rang weiter nach Luft. Ralph sah bergauf und erblickte einen silbernen Briefkasten am Wegesrand. Selbstverständlich stand kein Name darauf; die Frauen von High Ridge hatten sich größte Mühe gegeben, unauffällig zu bleiben und ihre Anonymität zu wahren, was ihnen heute freilich wenig genützt hatte. Die Flagge des Briefkastens zeigte nach oben. Jemand hatte einen Brief für den Briefträger eingeworfen. Da mußte Ralph an den Brief denken, den Helen ihm von High Ridge geschrieben hatte – ein zurückhaltender Brief, aber dennoch voller Hoffnung.
Weitere Schüsse. Das Heulen eines Querschlägers. Berstendes Glas. Ein Aufschrei, der Wut ausdrücken konnte, wahrscheinlicher aber Schmerzen. Das hungrige Prasseln heißer Flammen, die trockenes Holz verschlangen. An-und abschwellende Sirenen. Und Lois’ dunkle spanische Augen, die auf ihn gerichtet waren, denn er war der Mann, und sie war in dem Glauben erzogen worden, daß Männer wußten, was in solchen Situationen zu tun war.
Dann tu etwas! schrie er sich selbst an. Um Himmels willen, tu etwas!
Aber was? Vernunft und logisches Denken verschwanden hinter einer Windhose durcheinanderwirbelnder Bilder: Bills Panamahut mit der angebissenen Krempe; leuchtende Spuren -die Spuren des weißen Mannes – auf dem Bürgersteig vor May Lochers Haus; Trigger Vachons Brieftasche, die aufund zuklappte, als er Ralph winkte, damit er anhalten sollte; ein fliegender Dumbo, zwischen dessen übergroße, ausgebreitete Ohren das Bild von Susan Day geklebt worden war.
»PICKERING!« bellte eine lautsprecherverstärkte Stimme hinter der Stelle, wo sich der Weg in eine Schonung junger, weihnachtsbaumgroßer Fichten verzweigte. Ralph konnte jetzt rote Funken und orangefarbene Flammenzungen in dem dichten Rauch über den Fichten sehen. »PICKERING! ES SIND FRAUEN DA DRIN! LASSEN SIE UNS DIE FRAUEN IN SICHERHEIT BRINGEN!«
»Er weiß, daß Frauen da drin sind«, murmelte Lois. »Ist ihnen nicht klar, daß er das weiß? Sind sie dumm, Ralph?«
Ein seltsam bebender Schrei antwortete dem Polizisten mit der Flüstertüte, und Ralph merkte erst nach einer oder zwei Sekunden, daß es sich bei der Antwort um eine Art Gelächter handelte. Eine weitere Salve automatischen Gewehrfeuers ertönte. Sie wurde von einem Bombardement von Pistolen-und Flintenschüssen beantwortet.
Lois drückte Ralphs Hand mit kalten Fingern. »Was sollen wir tun, Ralph? Was sollen wir jetzt tun?«
Er betrachtete die grauschwarzen Rauchschwaden über den Bäumen, dann die Polizeiautos, die den Hügel heraufgerast kamen – diesmal mehr als ein halbes Dutzend – und zuletzt Lois’ blasses, verhärmtes Gesicht. Sein Denken klärte sich ein kleines bißchen – nicht sehr, aber soweit, daß ihm klar wurde, es gab nur äne mögliche Antwort auf ihre Frage.
»Wir gehen rauf«, sagte er.
Blinzel! und die Flammen, die über dem Fichtenhain loderten, wurden von Orange zu Grün. Das gierige Prasseln klang gedämpfter, wie Kracher, die in einer geschlossenen Kiste explodieren. Ralph, der immer noch Lois’ Hand hielt, führte sie an der vorderen Stoßstange des Polizeiautos vorbei, das als Straßensperre quergestellt worden war.
Die neu eingetroffenen Streifenwagen hielten vor der Straßensperre. Männer in blauen Uniformen stiegen aus, noch ehe sie richtig zum Stillstand gekommen waren. Mehrere trugen Tränengaspistolen, fast alle dicke schwarze Westen. Einer von ihnen sprintete durch Ralph hindurch wie ein warmer Windstoß, bevor er beiseite springen konnte: ein junger Mann namens David Wilbert, der glaubte, daß seine Frau eine Affäre mit ihrem Boss im Maklerbüro hatte, wo sie als Sekretärin arbeitete. Aber die Frage seiner Frau war, zumindest vorübergehend, von David Wilberts fast unerträglichem Drang zu pinkeln und dem fortwährenden ängstlichen Gesang verdrängt worden, der sich wie eine Schlange durch sein ganzes Denken wand:
[»Du wirst dich nicht blamieren, du wirst dich nicht blamieren, nein, nein, nein.«]
»PICKERING!« bellte die Megaphonstimme, und Ralph stellte fest, daß er die Worte tatsächlich im Mund schmecken konnte, wie kleine Silberkügelchen. »IHRE FREUNDE SIND TOT, PICKERING! WERFEN SIE DIE WAFFE WEG UND KOMMEN SIE AUF DEN HOF! LASSEN SIE UNS DIE FRAUEN IN SICHERHEIT BRINGEN!«
Ralph und Lois, unsichtbar für die Männer, die um sie herum liefen, gingen um die Ecke und kamen zu einem Knäuel von Polizeiautos an einer Stelle, wo die Straße zur auf beiden Seiten von Blumenkästen mit bunten Herbstblumen gesäumten Einfahrt wurde.
Die weibliche Note, welch freundlicher Bote, dachte Ralph.
Die Einfahrt führte zum Hof eines geräumigen, mindestens siebzig Jahre alten Farmhauses. Es war zweistöckig und hatte zwei Flügel und eine große Veranda, die an der gesamten Länge des Gebäudes verlief und einen herrlichen Ausblick nach Westen bot, wo dunstige blaue Berge im Morgenlicht aufragten. In diesem Haus mit seiner friedlichen Aussicht hatte einmal die Familie Barrett mit ihrem Apfelgeschäft gewohnt, und in neuerer Zeit Dutzende geprügelter, ängstlicher Frauen, aber ein Blick verriet Ralph, daß morgen früh niemand mehr hier wohnen würde. Der Südflügel brannte lichterloh, und diese Seite der Veranda fing ebenfalls gerade Feuer; Flammenzungen stießen zu den Fenstern heraus und leckten gierig an den Erkern entlang, so daß Schindeln als feurige Splitter in die Luft stoben. Am anderen Ende der Veranda sah er einen Schaukelstuhl aus geflochtenem Peddigrohr brennen. Ein halb gestrickter Schal lag auf einer Armlehne; die Stricknadeln, die daran herunterbaumelten, waren weißglühend. Irgendwo ließ ein Glockenspiel eine nervtötend monotone Melodie erklingen.
Eine tote Frau im grünen Drillichanzug und einer Fliegerjacke lag kopfunter auf der Verandatreppe und sah durchblutverschmierte Brillengläser himmelwärts. Sie hatte Schmutz im Haar, eine Pistole in der Hand und ein unregelmäßiges schwarzes Loch in der Bauchgegend. Am nördlichen Ende der Veranda hing ein Mann über dem Geländer, der einen Fuß auf der Hollywood-Schaukel aufgestützt hatte. Auch er trug Drillichzeug und eine Fliegerjacke. Unter ihm im Blumenbeet lag ein Sturmgewehr mit aufgestecktem Magazin. Blut rann an seinen Fingern hinab und tropfte von den Nägeln. In Ralphs gesteigerter Wahrnehmung sahen die Tropfen schwarz und tot aus.
Feiton, dachte er. Wenn die Polizisten noch Pickerings Namen rufen – falls er sich im Inneren des Hauses aufhält -, dann muß das Frank Feiton sein. Und was ist mit Susan Day? Ed hält sich irgendwo an der Küste auf-Lois schien ganz sicher zu sein, und ich denke, sie hat recht -, aber wenn Susan Day da drinnen ist? Herrgott, wäre das möglich?
Es wäre sicher möglich, aber diese Möglichkeit war im Augenblick zweitrangig. Helen und Natalie waren mit Sicherheit da drinnen, zusammen mit weiß Gott wie vielen hilflosen und verängstigten Frauen, und daraufkam es an.
Aus dem Innern des Hauses ertönte das Geräusch von splitterndem Glas, gefolgt von einer leisen Explosion – fast einem Seufzen. Ralph sah neue Flammen hinter der Glasscheibe der Eingangstür emporlodern.
Molotowcocktails, dachte er. Charlie Pickering hat endlich die Möglichkeit bekommen, ein paar zu werfen. Wie schön für ihn.
Ralph wußte nicht, wieviele Polizisten sich hinter den am Ende der Einfahrt geparkten Autos duckten – es schienen knapp dreißig zu sein -, aber die beiden, die Ed Deepneau verhaftet hatten, sah er gleich. Chris Nell kauerte hinter dem Vorderreifen des am nächsten beim Haus geparkten Autos, und John Leydecker, der eine Baseballjacke der Maine Black Bears und Chino-Hosen und trug, hockte auf einem Knie neben ihm. Nell war derjenige mit dem Megaphon, und als Ralph und Lois sich der Polizeifestung näherten, sah er Leydecker an. Leydecker nickte, deutete auf das Haus und zeigte Nell dann die Handflächen, eine Geste, die Ralph mit Leichtigkeit deuten konnte: Sei vorsichtig. In Chris Nells Aura las er etwas Beunruhigenderes: der junge Mann war zu aufgeregt, um vorsichtig zu sein. Zu aufgekratzt. Und fast als wäre Ralphs Gedanke der Auslöser dafür gewesen, veränderte Chris Nells Aura die Farbe. Sie pulsierte mit unerbittlicher Geschwindigkeit von Hellblau über Dunkelgrau zu einem toten Schwarz.
»GEBEN SIE AUF, PICKERING!« schrie Nell, der nicht wußte, daß er ein toter Mann war, der noch atmete.
Der Metallschaft eines Sturmgewehrs wurde im Erdgeschoß des Nordflügels durch eine Fensterscheibe gestoßen und verschwand wieder. Im selben Augenblick explodierte die Lampe über der Eingangstür; Glasscherben regneten auf die Veranda. Flammen loderten brüllend aus der Öffnung heraus. Eine Sekunde später brach das Dach selbst auf, als hätte eine unsichtbare Hand es geschüttelt. Nell beugte sich weiter nach vorne – möglicherweise dachte er, daß der Schütze endlich zur Vernunft gekommen war und aufgab.
Ralph, schreiend: [»Ziehen Sie ihn zurück, Johnny! ZIEHEN SIE IHN ZURÜCK!«]
Das Gewehr wurde wieder herausgestreckt, diesmal mit dem Lauf zuerst.
Leydecker griff nach Nells Kragen, aber er war zu langsam. Die automatische Waffe hustete schnell und trocken, und Ralph hörte das metallische Boing!Boing!Boing! von Kugeln, die durch das dünne Stahlblech des Streifenwagens schlugen. Chris Nells Aura war jetzt völlig schwarz – sie war zu einem Leichentuch geworden. Er wurde seitwärts geschleudert, als ihn eine Kugel am Hals traf und aus Leydeckers Griff riß, und als er zu Boden fiel, zuckte ein Fuß krampfhaft. Das Megaphon fiel ihm mit dem kurzen Pfeifen einer Rückkopplung aus der Hand. Einer der Polizisten hinter den anderen Autos schrie vor Schreck und Überraschung. Lois’ Aufschrei war viel lauter.
Weitere Kugeln mähten eine Bahn über den Hof auf Nell zu und schlugen winzige Löcher in die Schenkel seiner blauen Uniformhose. Ralph konnte den Mann gerade noch in dem Leichentuch erkennen, das ihn erstickte; er unternahm vergebliche Versuche, sich herumzuwälzen und aufzustehen. Sein Bemühen hatte etwas unaussprechlich Gräßliches – für Ralph war es, als würde er eine Kreatur in einem Fischernetz sehen, die in seichtem, schmutzigem Wasser ertrank.
Leydecker schnellte hinter dem Polizeiauto hervor, und als seine Finger in der schwarzen Membran versanken, die Chris Nell einhüllte, hörte Ralph den alten Dor sagen: Ich an deiner Stelle würde ihn nicht mehr anfassen. Ich kann deine Hände nicht sehen.
Lois: [»Nicht! Nicht, er ist tot, er ist schon tot!«]
Die Waffe die aus dem Fenster ragte, war nach rechts geschwenkt worden. Nun glitt sie langsam wieder in Leydeckers Richtung – offenbar war der Mann dahinter unverletzt, der Kugelhagel von den anderen Polizisten hatte ihn nicht abschrecken und ihm offenbar auch nichts anhaben können. Ralph hob die rechte Hand und ließ sie wieder wie bei einem Karateschlag heruntersausen, aber diesmal erzeugte er keinen Lichtstrahl, sondern etwas, das wie eine große blaue Träne aussah. Sie breitete sich über Leydeckers gelbe Aura aus, als mit dem zum Fenster herausragenden Gewehr gerade wieder das Feuer eröffnet wurde. Ralph sah zwei Kugeln in den Baum rechts von Leydecker einschlagen; Rindensplitter flogen in die Luft, schwarze Löcher erschienen im gelblichweißen Holz der Fichte. Eine dritte prallte gegen den blauen Schutzschirm, der Leydeckers Aura umhüllte – Ralph sah ganz kurz etwas Rotes links von der Schläfe des Detective aufleuchten und hörte ein kurzes Heulen, als die Kugel als Querschläger davonsauste, der wegsprang wie ein flacher Stein auf der Oberfläche eines Sees.
Leydecker zog Nell hinter das Auto, sah ihn an, riß die Fahrertür auf und warf sich auf den Vordersitz. Ralph konnte ihn nicht mehr sehen, hörte aber, wie er jemanden über Funk anbrüllte, wo, zum Teufel, denn die Rettungswagen blieben.
Wieder zerbarst Glas, und Lois zupfte hektisch an Ralphs Ärmel und deutete auf etwas – auf einen Backstein, der, sich überschlagend, auf den Hof fiel. Er kam aus einem der niederen, schmalen Fenster am Anfang des Nordflügels. Diese Fenster wurden fast von den Blumenbeeten rings um das Haus herum verdeckt.
»Helft uns!« schrie eine Stimme durch das geborstene Fenster, während der Mann mit dem Gewehr unwillkürlich auf den fliegenden Stein feuerte, worauf roter Staub aufwirbelte und der Backstein in drei Teile zerbrach. Weder Ralph noch Lois hatten diese Stimme jemals zu einem schrillen Kreischen erhoben gehört, aber beide erkannten sie dennoch sofort; es war Helen Deepneaus Stimme. »Helft uns, bitte! Wir sind im Keller! Wir haben Kinder bei uns! Bitte laßt uns nicht verbrennen, WIR HABEN KINDER BEI UNS!«
Ralph und Lois sahen sich mit weit aufgerissenen Augen kurz an, dann rannten sie auf das Haus zu.
Zwei uniformierte Gestalten, die in ihren unförmigen kugelsicheren Westen mehr Ähnlichkeit mit Footballspielern als mit Cops hatten, schnellten hinter einem der Streifenwagen hervor und liefen mit erhobenen Waffen schnurstracks auf die Veranda zu. Als sie den Hof diagonal überquerten, beugte sich Charlie Pickering unbändig lachend, das graue Haar zerzauster denn je, aus seinem Fenster heraus. Der Kugelhagel, der ihn begrüßte, war gewaltig, er überschüttete ihn mit Splittern der Fensterrahmen und riß sogar die rostige Dachrinne über seinem Kopf herunter – sie landete mit einem hohlen Bong auf der Veranda -, aber keine einzige Kugel traf ihn.
Wie können sie ihn verfehlen? dachte Ralph, während er und Lois auf die Veranda stiegen und den limonenf arbenen Flammen entgegentraten, die zur offenen Eingangstür herausloderten. Herrgott, sie sind fast vor seiner Nase, wie können sie ihn verfehlen?
Aber er wußte wie… und warum. Klotho hatte ihnen erzählt, daß Atropos und Ed Deepneau von Kräften umgeben seien, die zwar böse seien, aber auch einen gewissen Schutz bedeuteten. War es nicht wahrscheinlich, daß diese Kräfte nun Charlie Pickering beschützten, so wie Ralph selbst John Leydecker abgeschirmt hatte, als der die Deckung des Polizeiautos verließ, um seinen Kollegen aus dem Schußfeld zu ziehen?
Pickering eröffnete das Feuer auf die heranstürmenden Polizeibeamten. Er zielte tief, womit die kugelsicheren Westen so gut wie wertlos waren, und schlug die Beine unter ihnen weg. Einer stürzte und blieb reglos liegen; der andere kroch zurück, woher er gekommen war, und schrie dabei, er sei getroffen, er sei getroffen, Scheiße, er sei schwer getroffen.
»Barbecue!« schrie Pickering mit seiner kreischenden, lachenden Stimme zum Fenster hinaus. »Barbecue! Barbecue! Heiliges Grillfest! Verbrennt die Weiber! Gottes Feuer! Gottes heiliges Feuer!«
Jetzt ertönten noch mehr Schreie, scheinbar direkt unter Ralphs Füßen, und als er nach unten sah, stellte er etwas Schreckliches fest: ein Potpourri von Auren quoll zwischen den Dielen der Veranda herauf wie Dampf, aber die Vielfalt der Farben wurde durch das scharlachrote Blutleuchten gedämpft, das mit ihnen emporstieg… und sie umgab. Dieser blutrote Umriß glich nicht hundertprozentig der Gewitterwolke, die sich beim Kampf zwischen dem grünen Jungen und dem orangefarbenen Jungen vor dem Red Apple gebildet hatte, aber Ralph fand, daß sie eng mit ihr verwandt sein mußte; der einzige Unterschied bestand darin, daß diese hier aus Angst entstanden war, nicht aus Wut oder Aggression.