Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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O Ralph, stöhnte Carolyn. Clint Eastwood? Schon wieder?
Nein, nicht Clint Eastwood. Und auch nicht Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger. Nicht einmal John Wayne. Er war kein großer Action-Held oder Filmstar; er war nur der gute alte Ralph Roberts aus der Harris Avenue. Aber deshalb war der Groll, den er gegen den Doc mit dem rostigen Skalpell hegte, nicht weniger real. Und bei diesem Groll ging es um wesentlich mehr als einen streunenden Hund und einen alten Geschichtslehrer, der die letzten zehn Jahre oder so ein Stockwerk unter ihm gewohnt hatte. Ralph mußte immerzu an den Salon in High Ridge denken, und an die Frauen, die unter dem Plakat von Susan Day an die Wand gelehnt worden waren. Aber vor seinem geistigen Auge tauchte nicht der Bauch der schwangeren Merrilee auf, sondern Gretchen Tillburys Haar -ihr wunderschönes blondes Haar, das durch den Schuß aus nächster Nähe, der sie das Leben gekostet hatte, größtenteils verbrannt war. Charlie Pickering hatte abgedrückt, und Ed Deepneau hatte ihm möglicherweise die Waffe in die Hand gegeben, aber Ralph gab Atropos die alleinige Schuld, Atropos dem Springseilräuber, Atropos dem Huträuber, Atropos dem Kammräuber.
Atropos dem Ohrringräuber.
»Komm, Lois«, sagte er. »Gehen -«
Aber sie legte ihm eine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. »Noch nicht – komm wieder rein und mach die Tür zu.«
Er sah sie eindringlich an, dann tat er, was sie gesagt hatte. Sie machte eine Pause, sammelte ihre Gedanken, und als sie weitersprach, sah sie den alten Dor direkt an.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum wir nach High Ridge geschickt worden sind«, sagte sie. »Und das will ich verstehen. Wenn wir hier sein sollten, warum mußten wir dann dorthin. Ich meine, wir konnten einige Menschenleben retten, und darüber bin ich froh, aber ich glaube, Ralph hat recht ein paar Menschenleben sind bedeutungslos für die Leute, die hier das Sagen haben.«
Einen Augenblick herrschte Stille, dann sagte Dorrance: »Sind dir Klotho und Lachesis wirklich weise und allwissend vorgekommen, Lois?«
»Nun… sie waren klug, aber ich glaube, Genies waren sie nicht gerade«, sagte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Einmal haben sie sich Arbeiter genannt, die ganz weit unten auf der Leiter stehen, viel weiter unten als die leitenden Angestellten, die die Entscheidungen treffen.«
Der alte Dor nickte und lächelte. »Klotho und Lachesis sind selbst fast Kurzfristige im großen Weltenplan. Sie haben ihre eigenen Ängste und geistigen toten Winkel. Außerdem können sie falsche Entscheidungen treffen… was letztlich aber keine Rolle spielt, weil sie auch dem Plan dienen. Und dem Ka-tet.«
»Sie haben gedacht, wir würden verlieren, wenn wir Atropos direkt gegenübertreten, richtig?« fragte Ralph. »Darum haben sie sich selbst eingeredet, wir könnten tun, was erforderlich ist, indem wir nach High Ridge gingen, statt hierher zu kommen.«
»Ja«, sagte Dor. »So ist es.«
»Prima«, sagte Ralph. »Ich mag ein offenes Wort. Besonders, wenn es -«
»Nein«, sagte Dor. »Das ist es nicht.«
Ralph und Lois wechselten einen bestürzten Blick.
»Wovon redest du?«
»Es ist beides zugleich. Das ist häufig der Fall mit Sachen innerhalb des Plans. Seht ihr… nun…« Er seufzte. »Ich hasse diese Fragen. Ich beantworte so gut wie niemals Fragen, hab ich das nicht schon gesagt?«
»Ja«, sagte Lois. »Das hast du.«
»Ja. Und jetzt, bingo! So viele Fragen. Schlimm! Und sinnlos!«
Ralph sah Lois an, und sie erwiderte den Blick. Keiner machte Anstalten, aus dem Auto auszusteigen.
Dor stieß einen Seufzer aus. »Nun gut… aber es ist die letzte Auskunft, die ich geben werde, also hört gut zu. Klotho und Lachesis haben euch vielleicht aus den falschen Gründen nach High Ridge geschickt, aber der Plan hat euch aus den richtigen Gründen dorthin geschickt. Ihr habt eure Aufgabe dort erfüllt.«
»Indem wir die Frauen gerettet haben«, sagte Lois.
Aber Dorrance schüttelte den Kopf.
»Was haben wir dann getan?« schrie sie fast. »Was? Haben wir kein Recht zu erfahren, welchen Teil des gottverdammten Plans wir erfüllt haben?« »Nein«, sagte Dorrance. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Weil ihr es noch einmal tun müßt.«
»Das ist verrückt«, sagte Ralph.
»Keineswegs«, antwortete Dorrance. Er drückte For Love jetzt fest an die Brust, knickte es hin und her und sah Ralph ernst an. »Der Zufall ist verrückt. Der Plan ist normal.«
Na gut, dachte Ralph, was haben wir in High Ridge getan, außer die Leute im Keller zu retten? Und natürlich John Leydecker – ich glaube, Pickering hätte ihn genau wie Chris Nell getötet, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Könnte es etwas mit Leydecker zu tun haben?
Möglicherweise schon, aber das schien nicht der Punkt zu sein.
»Dorrance«, sagte er »könntest du uns nicht bitte noch ein paar Informationen geben? Ich meine -«
»Nein«, sagte der alte Dor nicht unfreundlich. »Keine Fragen mehr, keine Zeit. Wenn dies alles vorbei ist, gehen wir zusammen einmal gut essen… das heißt, wenn es uns dann noch gibt.«
»Du weißt echt, wie man jemanden aufmuntert, Dor.« Ralph machte die Tür auf. Lois ebenfalls, und sie stiegen beide aus und standen auf dem Parkplatz. Ralph bückte sich und sah Joe Wyzer an. »Gibt es sonst noch etwas? Etwas, das Ihnen einfällt?«
»Nein, ich glaube nicht -«
Dor beugte sich wieder nach vorne und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Joe hörte stirnrunzelnd zu.
»Nun?« fragte Ralph, als sich Dorrance zurücklehnte. »Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, ihr sollt meinen Kamm nicht vergessen«, sagte Joe. »Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht, aber das ist ja nichts Neues.«
»Schon gut«, sagte Ralph und lächelte verhalten. »Das ist eines der wenigen Dinge, die ich verstehe. Komm mit, Lois sehen wir uns um. Mischen wir uns ein wenig unter das Volk.«
Auf halbem Weg über den Parkplatz stieß sie ihm mit dem Ellbogen so fest in die Rippen, daß Ralph stolperte. »Sieh doch!« flüsterte sie. »Gleich da drüben! Ist das nicht Connie Chung?«
Ralph sah hin. Ja; die Frau im beigen Mantel, die zwischen zwei Technikern mit dem Emblem von CBS an den Jacketts stand, war mit ziemlicher Sicherheit Connie Chung. Er hatte ihr hübsches, intelligentes Gesicht und freundliches Lächeln bei so vielen Tassen Kaffee bewundert, daß kaum ein Zweifel bestehen konnte.
»Entweder sie oder ihre Zwillingsschwester«, sagte er.
Lois schien alles über den alten Dor und High Ridge und die kahlköpfigen Docs vergessen zu haben; in diesem Moment war sie wieder die Frau, die Bill McGovern immer »unsere Lois« genannt hatte… stets mit der sarkastisch hochgezogenen Augenbraue. »Hol’s der Teufel! Was macht sie denn hier?«
»Nun«, begann Ralph, und dann hielt er sich die Hand vor den Mund, um ein gewaltiges Gähnen zu verbergen, »ich schätze, was in Derry los ist, sorgt inzwischen landesweit für Schlagzeilen. Sie muß hier sein, um einen Livebericht vor dem Bürgerzentrum für die Abendnachrichten zu machen. In jedem Fall -«
Plötzlich und ohne Vorwarnung kamen die Auren zurück. Ralph stöhnte.
»Großer Gott! Lois, siehst du das?«
Aber er glaubte es nicht. Wenn sie es gesehen hätte, dann hätte Connie Chung wahrscheinlich nicht einmal ehrenhalber Erwähnung in Lois’ Aufmerksamkeit gefunden. Dies war unsagbar schrecklich, und Ralph wurde zum erstenmal voll und ganz bewußt, daß selbst die helle Welt der Auren ihre Schattenseite hatte, bei der ein normaler Mensch auf die Knie gesunken wäre und Gott für seine eingeschränkte Wahrnehmung gedankt hätte.
Und dabei ist dies nicht einmal ein Schritt auf der Leiter hinauf, dachte er. Jedenfalls glaube ich es nicht. Ich sehe diese größere Welt nur wie ein Mann, der durch ein Fenster schaut. Ich bin nicht in ihr.
Und er wollte auch gar nicht darin sein. Wenn man so etwas nur vor sich sah, wünschte man sich fast, man wäre blind.
Lois sah ihn stirnrunzelnd an. »Was, die Farben? Nein. Sollte ich es versuchen? Stimmt etwas nicht mit ihnen?«
Er versuchte zu antworten, konnte es aber nicht. Einen Augenblick später spürte er, wie sie seinen Arm über dem Ellbogen mit einem schmerzhaften Klammergriff packte, und wußte, daß eine Erklärung nicht mehr nötig war. Ob gut oder schlecht, Lois sah es nun mit eigenen Augen.
»O Gott«, wimmerte sie mit einer atemlosen dünnen Stimme, kurz davor, in Tränen auszubrechen. »O Gott, o Gott, ojeh.«
Vom Dach des Derry Home hatte die Aura, die über dem Bürgerzentrum hing, wie ein riesiger Schirm ausgesehen – wie das Emblem der Travellers’ Insurance, das ein Kind mit Wachsmalstift schwarz angemalt hatte. Hier, auf dem Parkplatz, war es, als stünde man in einem großen und unvorstellbar häßlichen Moskitonetz, so alt und verwahrlost, daß der Gazestoff von schwarz-grünem Mehltau verunstaltet wurde. Die helle Oktobersonne wurde zu einer trüben Scheibe angelaufenen Silbers. Die Atmosphäre wurde düster und verhangen und erinnerte Ralph an Fotos von London gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie sahen nicht nur das Leichentuch des Bürgerzentrums vor sich, nicht mehr; sie waren lebendig darin begraben. Ralph konnte spüren, wie es sich gierig an ihn schmiegte und versuchte, ihn mit Gefühlen von Verlust, Verzweiflung und Niedergeschlagenheit zu ersticken.
Warum das alles? fragte er sich und verfolgte apathisch, wie Joe Wyzers Ford mit dem alten Dor auf dem Rücksitz die Main Street entlangfuhr. Ich meine, wirklich, was soll das? Wir können es nicht verändern, völlig unmöglich. Vielleicht konnten wir in High Ridge etwas ausrichten, aber der Unterschied zwischen dem, was dort vor sich ging, und dem, was sich hier abspielt, ist wie der zwischen einem Klecks und einem schwarzen Loch. Wenn wir versuchen, uns hier einzumischen, werden wir zerquetscht.
Er hörte ein Stöhnen neben sich und stellte fest, daß Lois weinte. Er nahm seine ganze schwindende Energie zusammen und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Durchhalten, Lois«, sagte er. »Wir können es damit aufnehmen.« Aber er hatte seine Zweifel.
»Wir atmen es ein!« schluchzte sie. »Es ist, als würden wir den Tod einatmen! O Ralph, laß uns von hier fortgehen! Bitte, laß uns einfach fortgehen!«
Das klang so verlockend für ihn wie Wasser auf einen Verdurstenden in der Wüste wirken mußte, aber er schüttelte den Kopf. »Heute abend werden hier zweitausend Menschen sterben, wenn wir nichts unternehmen. Ich bin ziemlich verwirrt, was den Rest der Angelegenheit angeht, aber das sehe ich ohne Schwierigkeiten ein.«
»Okay«, flüsterte sie. »Laß nur den Arm um mich gelegt, damit ich mir den Schädel nicht aufschlage, wenn ich ohnmächtig werde.«
Es war die reine Ironie, dachte Ralph. Sie hatten nun Gesichter und Körper von vitalen Menschen mittleren Alters, schlurften aber über den Parkplatz wie zwei alte Leute, deren Muskeln zu Brei und deren Knochen zu Glas geworden sind. Er konnte Lois schwer und keuchend atmen hören, wie eine Frau, die gerade schwer verletzt worden ist.
»Ich bringe dich zurück, wenn du willst«, sagte Ralph, und das war sein Ernst. Er würde sie zum Parkplatz zurückbringen, er würde sie zu der orangefarbenen Bank der Bushaltestelle bringen, die er von hier sehen konnte. Und wenn der Bus kam, wäre es das Einfachste von der Welt, einfach einzusteigen und zur Harris Avenue zurückzufahren. Zwei Vierteldollarmünzen konnten den Trick bewerkstelligen.
Er spürte, wie die tödliche Aura, die diesen Ort umgab, auf ihm lastete, sie wollte ihn ersticken wie ein Plastikbeutel, und ihm fiel etwas ein, das McGovern über May Lochers Emphysem gesagt hatte – daß es eine der Krankheiten sei, von denen man immer etwas hatte. Jetzt hatte er eine ziemlich gute Vorstellung, wie sich May Locher in den letzten Lebensjahren gefühlt haben mußte. Es spielte keine Rolle, wie fest er die schwarze Luft einsog oder wie tief in die Lungen er sie pumpte; sie befriedigte nicht. Sein Herz und sein Kopf pochten unablässig, und er fühlte sich, als hätte er den schlimmsten Kater seines Lebens.
Er wollte gerade den Mund aufmachen und ihr sagen, daß er sie zurückbringen würde, als sie selbst atemlos keuchend das Wort ergriff. »Ich glaube, ich schaffe es… aber ich hoffe… es wird nicht lange dauern. Ralph, wie kommt es, daß wir etwas so Schlimmes nicht spüren können, auch wenn wir die Farben nicht sehen? Warum können sie es nicht?« Sie deutete auf die Presseleute, die sich vor dem Bürgerzentrum drängten. »Sind wir Kurzfristigen so unempfindlich? Der Gedanke gefällt mir nicht.«
Er schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß er es nicht wußte, aber er überlegte sich, daß die Nachrichtensprecher, Videotechniker und das Wachpersonal vor den Türen und unter dem Banner, das vom Baldachin hing, möglicherweise doch etwas spürten. Er sah eine Menge Leute, die Kaffeetassen aus Plastik in den Händen hielten, aber niemand trank tatsächlich etwas davon. Ein Karton mit Krapfen stand auf der Haube eines Kombis, aber nur ein einziger war herausgeholt worden, und der lag angebissen auf einer Serviette daneben. Ralph betrachtete ein Dutzend Gesichter und sah nicht ein einziges Lächeln. Die Nachrichtenleute gingen ihrer Arbeit nach – sie justierten die Kameras, markierten Stellen, wo die Moderatoren ins Bild kamen, verlegten Koaxialkabel und befestigten sie mit Klebeband auf dem Beton -, aber sie taten es ohne die Aufregung, die Ralph bei einer Geschichte dieser Größenordnung erwartet hätte.
Connie Chung kam mit einem bärtigen, gutaussehenden Kameramann unter dem Baldachin hervor – MICHAEL ROSENBERG stand auf dem Namensschild an seiner CBS-Jacke – und hob die Arme, wobei sie mit den Händen einen Rahmen bildete, um ihm zu zeigen, wie sie das Banner aufgenommen haben wollte, das von dem Baldachin herunterhing. Rosenberg nickte. Chungs Gesicht war blaß und ernst, und einmal im Verlauf ihrer Unterhaltung mit dem bärtigen Kameramann sah Ralph, wie sie verstummte und unsicher eine Hand an die Schläfe hielt, als hätte sie den Faden verloren oder fühlte sich schwach.
Er fand, daß sämtlichen Mienen, die er sah, unterschwellig ein Zug gemeinsam war – ein roter Faden gleichsam -, und er glaubte, daß er wußte, was es war: Sie litten alle an etwas, das man Melancholie genannt hatte, als er noch ein Kind war, und Melancholie war nur ein besseres Wort für den Blues.
Ralph erinnerte sich an Zeiten in seinem Leben, als er das emotionale Äquivalent von einer kalten Strömung beim Schwimmen oder Turbulenzen beim Fliegen erlebt hatte. Man schleppte sich so durch seinen Tag, fühlte sich manchmal großartig, manchmal nur so lala, aber man kam zurecht und brachte es hinter sich… und dann stürzte man plötzlich ohne ersichtlichen Grund ab und ging in Flammen auf. Ein Gefühl von Scheiße, was soll’s überkam einen – in dem Moment ohne Zusammenhang mit einem bestimmten Ereignis im Leben, aber trotzdem ungeheuer stark ausgeprägt -, und man wollte einfach nur wieder ins Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen.
Vielleicht wird dieses Gefühl von so etwas verursacht, dachte er. Vielleicht liegt es daran, daß wir mit so etwas konfrontiert werden – ein gewaltiges Chaos von Tod oder Trauer lag in der Luft, das sich ausbreitete wie ein Festzelt aus Spinnweben und Tränen statt Segeltuch und Seilen. Wir sehen es nicht, nicht auf unserer kurzfristigen Ebene, aber wir spüren es. O ja, wir spüren es. Und jetzt…
Jetzt versuchte es, sie auszusaugen. Vielleicht waren sie selbst keine Vampire, wie sie anfangs befürchtet hatten, aber dieses Ding war auf jeden Fall einer. Das Leichentuch verfügte über ein träges, halbintelligentes Leben, und es würde sie aussaugen, wenn es konnte. Wenn sie es zuließen.
Lois stolperte gegen ihn, und Ralph mußte alle Kraft aufbieten, damit sie nicht beide zu Boden fielen. Dann hob sie den Kopf (langsam, als wäre ihr Haar in Zement getaucht worden), bildete mit einer Hand einen Trichter am Mund und atmete tief ein. Gleichzeitig flackerte sie ein wenig. Unter anderen Umständen hätte Ralph dieses Flackern als optische Täuschung abgetan, aber jetzt nicht. Sie war emporgestiegen. Nur ein klein wenig. Nur so weit, daß sie sich gütlich tun konnte.
Er hatte nicht gesehen, wie Lois die Aura der Kellnerin angezapft hatte, aber jetzt spielte sich alles vor seinen Augen ab. Die Auren der Medienleute waren wie kleine, aber hell erleuchtete Papierlampions, die tapfer in einer riesigen, dunklen Höhle strahlten. Nun fuhr ein gebündelter violetter Lichtstrahl aus einem heraus – aus Connie Chungs bärtigem Kameramann Michael Rosenberg. Vor Lois’ Gesicht teilte er sich in zwei Strahle. Der obere teilte sich wieder zweimal und fuhr in ihre Nasenlöcher; der untere zwischen ihre geöffneten Lippen und in den Mund. Er konnte ein schwaches Leuchten hinter ihren Wangen erkennen, das sie von innen erhellte wie eine Kerze eine Kürbislaterne.
Ihr Griff um ihn lockerte sich, und plötzlich war die Last ihres Gewichts von ihm genommen. Einen Moment später verschwand der violette Lichtstrahl. Sie drehte sich zu ihm um.
Ihre bleigrauen Wangen hatten wieder etwas Farbe angenommen – nicht viel, aber etwas.
»Schon besser – viel besser. Jetzt du, Ralph!«
Er zögerte – ihm kam es immer noch wie Diebstahl vor -, aber es mußte sein, wenn er nicht hier und jetzt zusammenbrechen wollte; er konnte fast spüren, wie der letzte Rest der geborgten Energie des Nirvana-Jungen durch seine Poren entwich. Er legte die Hand um den Mund, wie er es heute morgen auf dem Parkplatz des Dunkln Donuts getan hatte, und drehte sich auf der Suche nach einem Opfer leicht nach links. Connie Chung war einige Schritte auf sie zu gekommen; sie sah immer noch zu dem Banner hinauf und unterhielt sich mit Rosenberg darüber (dem es nach Lois’ Anleihe auch nicht schlechter zu gehen schien als vorher). Ohne weiter nachzudenken, inhalierte Ralph heftig durch den Trichter seiner Finger.
Chungs Aura hatte denselben lieblichen Elfenbeinfarbton eines Brautkleids wie die, welche Helen und Nat an dem Tag umgeben hatten, als sie mit Gretchen Tillbury bei ihm zu Hause gewesen waren. Aber statt eines Lichtstrahls schoß so etwas wie ein langes, gerades Band aus Chungs Aura. Ralph spürte, wie ihn fast augenblicklich Kraft durchdrang und die quälende Erschöpfung aus seinen Gelenken und Muskeln vertrieb. Und er konnte wieder klar denken, als wäre eine gewaltige Menge Matsch gerade aus seinem Gehirn gespült worden.
Connie Chung verstummte, sah kurz zum Himmel und unterhielt sich dann weiter mit dem Kameramann. Ralph drehte sich um und stellte fest, daß Lois ihn ängstlich ansah. »Besser?« flüsterte sie.
»Viel besser«, sagte er, »aber ich komme mir immer noch vor wie unter einem Leichentuch.«
»Ich glaube -«, begann Lois, aber dann fiel ihr Blick auf etwas links vom Eingang des Bürgerzentrums. Sie schrie und preßte sich mit so weit aufgerissenen Augen an Ralph, daß es aussah, als würden sie aus ihren Höhlen quellen. Er folgte ihrem Blick, und der Atem schien ihm in der Kehle zu stocken. Die Architekten hatten versucht, die kahlen Backsteinseiten des Gebäudes aufzulockern und immergrüne Büsche daran entlang gepflanzt. Diese waren entweder vernachlässigt worden, oder man hatte sie absichtlich wachsen lassen, so daß sie ineinander verschlungen waren und den schmalen Grasstreifen zwischen sich und dem betonierten Bürgersteig zu überwuchern drohten, der neben der Durchfahrt verlief.
Riesige Insekten, die wie prähistorische Trilobiten aussahen, krabbelten in Scharen durch dieses Gestrüpp, krochen übereinander, stellten sich manchmal auf und hieben mit den Vorderbeinen nacheinander wie Hirsche, die in der Bruftzeit die Geweihe ineinander verkeilen. Sie waren nicht durchsichtig, wie der Vogel auf der Satellitenschüssel, hatten aber dennoch etwas Geisterhaftes und Unwirkliches an sich. Ihre Auren flackerten fiebrig (und hirnlos, fand Ralph) durch das gesamte Farbspektrum; sie waren so grell und dabei so kurzlebig, daß man sie fast für unheimliche Glühwürmchen hätte halten können.
Aber das sind sie nicht. Du weißt, daß sie das nicht sind.
»He!« Das war Rosenberg, Chungs Kameramann, der sie ansprach, aber fast alle vor dem Gebäude sahen her. »Alles in Ordnung mit ihr, Kollege?«
»Ja«, rief Ralph zurück. Er hatte immer noch die zu einer Röhre gekrümmte Hand vor dem Mund, ließ sie aber rasch sinken, weil er sich albern vorkam. »Sie ist nur -«
»Ich habe eine Maus gesehen!« rief Lois, die ein albernes, benommenes Grinsen zustande brachte… ein »Unsere Lois« Grinsen, wie Ralph es noch nicht gesehen hatte. Er war sehr stolz auf sie. Sie deutete mit einem Finger, der fast nicht zitterte, auf die immergrünen Büsche links von der Tür. »Sie ist da rein verschwunden. Mann, war die riesig! Hast du sie gesehen, Norton?«
»Nein, Alice.«
»Bleiben Sie hier, Lady«, rief Michael Rosenberg. »Heute abend werden Sie hier alle möglichen wilden Tiere sehen.« Es folgte ein gekünsteltes, fast gequältes Lachen, worauf sie sich alle wieder an die Arbeit machten.
»O Gott, Ralph!« flüsterte Lois. »Diese… diese Kreaturen…«
Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ganz ruhig, Lois.«
»Sie wissen es, richtig? Deshalb sind sie hier. Sie sind wie die Geier.«
Ralph nickte. Vor seinen Augen kamen mehrere Insekten aus den Büschen heraus und krochen rastlos an der Wand herum. Sie bewegten sich benommen und träge – wie Fliegen im November auf einer Fensterscheibe – und hinterließen farbige Schleimspuren. Diese verblaßten rasch und verschwanden. Andere Insekten krochen unter den Büschen hervor auf den schmalen Grasstreifen.
Der Nachrichtenkommentator eines lokalen Senders schlenderte auf die verseuchte Stelle zu, und als er den Kopf drehte, konnte Ralph sehen, daß es sich um John Kirkland handelte. Er unterhielt sich mit einer gutaussehenden Frau in Bürokleidung Marke »Power Look«, die Ralph unter normalen Umständen extrem sexy gefunden hätte. Er vermutete, daß sie Kirklands Produzentin war, und fragte sich, ob Lisette Bensons Aura in Gegenwart dieser Frau grün werden würde.
»Sie gehen auf diese Käfer zu!« flüsterte Lois ihm panisch zu. »Wir müssen sie aufhalten, Ralph – wir müssen!«
»Wir werden überhaupt nichts tun.«
»Aber -«
»Lois, wir können nicht anfangen, über Insekten zu reden, die außer uns keiner sehen kann. Wir würden in der Klapsmühle enden. Außerdem sind die Käfer für sie gar nicht da.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Hoffe ich.«
Sie sahen zu, wie Kirkland und seine gutaussehende Kollegin auf den Rasen gingen… mitten hinein in einen gallertartigen Klumpen der zuckenden, krabbelnden Trilobiten. Einer glitt über Kirklands auf Hochglanz polierten Halbschuh, verharrte reglos, bis Kirkland einen Moment stehenblieb, und kroch dann sein Hosenbein hinauf.
»Susan Day ist mir ziemlich scheißegal«, sagte Kirkland. »Woman-Care ist die große Story hier, nicht sie – weinende Tussis mit schwarzen Armbinden.«
»Gib acht, John«, sagte die Frau trocken. »Man merkt, wie empfindsam du bist.«
»Wirklich? Gottverdammt.« Der Käfer an Kirklands Hosenbein schien sich seinen Schritt als Ziel vorgenommen zu haben. Ralph kam der Gedanke, wenn Kirkland plötzlich sehen könnte, was da gleich über seine Hoden kriechen würde, würde er wahrscheinlich den Verstand verlieren.
»Okay, aber vergiß nicht, mit den Frauen zu reden, die hier in der Gegend das Sagen haben«, sagte die Produzentin. »Nachdem diese Tillbury tot ist, sind das Maggie Petrowsky, Barbara Richards und Sallyann Rimbar. Rimbar wird heute abend den großen Kahuna ansagen, glaube ich… in diesem Fall wohl besser die große Kahunette.« Die Frau ging einen Schritt vom Bürgersteig herunter und zertrat einen der Käfer mit ihrem hohen Absatz. Ein Regenbogen von Eingeweiden wurde herausgequetscht, zusammen mit einer wachsähnlichen weißen Substanz, die wie verdorbenes Kartoffelpüree aussah. Ralph nahm an, daß es sich bei der weißen Substanz um Eier handelte.
Lois drückte das Gesicht gegen seinen Arm.
»Und halten Sie Ausschau nach einer Frau namens Helen Deepneau«, sagte die Produzentin und machte einen Schritt auf das Gebäude zu. Der Käfer blieb an ihrem Absatz kleben und wand sich und zuckte, während sie ging.
»Deepneau«, sagte Kirkland. Er klopfte sich mit den Knöcheln an die Stirn. »Irgendwo tief da drinnen klingelt es.«
»Nee, das ist nur deine letzte aktive Gehirnzelle, die herumkullert«, sagte die Produzentin. »Ed Deepneaus Frau. Sie leben getrennt. Wenn du Tränen willst, ist sie der sicherste Tip. Sie und Tillbury waren gute Freundinnen. Möglicherweise besonders gute Freundinnen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Kirkland grinste lüstern – ein Ausdruck, der in so krassem Gegensatz zu seiner Bildschirmpersönlichkeit stand, daß Ralph sich leicht desorientiert fühlte. Derweil hatte einer der Farbkäfer den Weg auf den Schuh der Frau gefunden und krabbelte an ihrem Bein hinauf. Ralph beobachtete mit hilfloser Faszination, wie er unter dem Rocksaum verschwand. Er sah, wie die Wölbung unter dem Stoff sich weiterbewegte, und es war, als würde man einem Kätzchen zusehen, das unter ein Badetuch gekrochen ist. Und wieder hatte man den Eindruck, als würde Kirklands Kollegin etwas spüren; sie griff, als sie sich mit ihm über mögliche Interviews während Susan Days Rede unterhielt, nach unten und kratzte geistesabwesend an der Wölbung, die inzwischen fast ihre rechte Hüfte erreicht hatte. Ralph konnte das glibberige Plopp! nicht hören, welches das weiche, empfindliche Geschöpf beim Zerplatzen von sich gab, aber er konnte es sich vorstellen. Schien nicht anders zu können, als es sich vorzustellen. Und er konnte sich vorstellen, wie die Gedärme wie Eiter auf den Nylonstrümpfen am Bein der Frau hinunterliefen. Dort würden sie mindestens bis zur abendlichen Dusche bleiben, unsichtbar, unbemerkt, unbeachtet.
Nun unterhielten die beiden sich darüber, wie sie über die für heute nachmittag angesetzte Demonstration der Abtreibungsgegner berichten sollten… das heißt, sollte sie tatsächlich stattfinden. Die Frau war der Ansicht, nicht einmal die Friends of Life wären dumm genug, nach den Vorfällen in High Ridge vor dem Bürgerzentrum aufzumarschieren. Kirkland sagte ihr, daß man die Dummheit von Fanatikern unmöglich unterschätzen könnte; Leute, die in der Öffentlichkeit soviel Polyester tragen konnten, seien eindeutig eine Kraft, mit der man rechnen müsse. Und die ganze Zeit, während sie sich unterhielten, Tips und Einfälle und Klatsch austauschten, schwärmten weitere bunte, aufgedunsene Läuse an ihren Beinen und Oberkörpern hinauf. Ein Pionier schaffte es bis zu Kirklands roter Krawatte und hatte es offensichtlich auf sein Gesicht abgesehen.
Eine Bewegung rechts von ihm zog Ralphs Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich zu den Türen um und sah gerade noch, wie einer der Techniker einen Kollegen mit dem Ellbogen anstieß und auf ihn und Lois zeigte. Ralph konnte sich plötzlich nur allzugut vorstellen, was sie sahen: zwei Leute, die keinen ersichtlichen Grund hatten, hier zu sein (sie trugen keinen schwarzen Trauerflor und hatten eindeutig nicht mit den Medien zu tun), die einfach am Rand des Parkplatzes herumhingen. Die Lady, die schon einmal geschrien hatte, hatte das Gesicht am Arm des Herrn vergraben… und der fragliche Herr gaffte wie ein Irrer, obwohl es nichts zu sehen gab.
Ralph sprach leise aus dem Mundwinkel wie ein Sträfling, der sich in einem alten Gefängnisstreifen von Warner Brothers über einen Ausbruch unterhält. »Nimm den Kopf hoch. Wir ziehen mehr Aufmerksamkeit auf uns, als wir uns leisten können.«
Einen Augenblick glaubte er nicht, daß sie dazu imstande sein würde… aber dann kam sie zu sich und hob den Kopf. Sie warf den Büschen, die an der Wand wuchsen, einen letzten Blick zu
– einen unwillkürlichen, entsetzten kurzen Blick -, dann sah sie entschlossen wieder Ralph an, und nur Ralph. »Siehst du eine Spur von Atropos, Ralph? Darum sind wir doch hier, oder nicht… um seine Spur aufzunehmen?«
»Vielleicht. Kann sein. Um ehrlich zu sein, ich habe noch gar nicht danach gesucht – hier läuft zuviel anderes ab. Ich glaube, wir sollten ein wenig näher an das Gebäude heran.«
Er war nicht gerade heiß darauf, aber es schien sehr wichtig zu sein, irgend etwas zu unternehmen. Er konnte das Leichentuch um sie herum spüren, eine düstere, erstickende Präsenz, die sich passiv jeder Art von Vorwärtsbewegung widersetzte. Dagegen mußten sie ankämpfen.
»Na gut«, sagte sie. »Ich werde Connie Chung um ein Autogramm bitten, und dabei werde ich ununterbrochen albern kichern. Kannst du das ertragen?«
»Ja.«
»Gut. Denn das bedeutet, wenn sie überhaupt auf uns achten, werden sie alle mich ansehen.«
»Klingt nicht schlecht.«
Er riskierte einen letzten Blick auf Kirkland und die Produzentin. Sie unterhielten sich gerade darüber, welche Ereignisse sie zum Anlaß nehmen könnten, das Abendprogramm des Senders für eine Liveübertragung zu unterbrechen, ohne die trägen Trilobiten zu bemerken, die auf ihren Gesichtern hin und her krochen. Einer krabbelte gerade langsam in John Kirklands Mund.
Ralph wandte sich hastig ab und ließ sich von Lois zu Ms. Chung und dem bärtigen Kameramann ziehen. Er sah, wie die beiden zuerst Lois und dann einander ansahen. Der Blick drückte ein Viertel Erheiterung und drei Viertel Resignation aus
– da kommt eine von denen -, und dann drückte Lois seine Hand kurz und fest, was heißen sollte: Kümmere dich nicht um mich, Ralph, kümmere du dich um deine Angelegenheiten, und ich kümmere mich um meine.
»Pardon, aber sind Sie nicht Connie Chung?« fragte Lois mit ihrer überraschtesten Ja-ist-es-denn-die-Möglichkeit-Stimme. »Ich habe Sie hier gesehen und gleich zu Norton gesagt: >Ist das die Dame, die mit Dan Rather im Fernsehen ist, oder spinn ich?< Und dann -«
»Ich bin Connie Chung, und es ist sehr schön, Sie kennenzulernen, aber ich bereite mich gerade auf die Sendung heute abend vor, wenn Sie mich also bitte entschuldigen würden -«
»Oh, selbstverständlich, mir würde nicht im Traum einfallen, Sie zu behelligen, ich möchte nur gerne ein Autogramm – nur eine kurze Unterschrift würde genügen – weil ich Ihr Fan Nummer eins bin, zumindest in Maine.«
Ms. Chung warf einen Blick auf Rosenberg. Der hielt bereits einen Kugelschreiber in der Hand, so wie eine gute OP-Schwester das Instrument in der Hand hält, das der Arzt als nächstes haben will, noch ehe er danach verlangt hat. Ralph richtete seine Aufmerksamkeit auf den Bereich vor dem Bürgerzentrum und steigerte seine Wahrnehmung noch um eine Winzigkeit.