Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
сообщить о нарушении
Текущая страница: 36 (всего у книги 50 страниц)
»Barbecue!« schrie Charlie Pickering, und dann so etwas wie, daß er die Teufelsfotzen umbringen würde. Plötzlich haßte Ralph ihn mehr, als er je in seinem Leben jemanden gehaßt hatte.
[»Komm, Lois – schnappen wir uns das Arschloch!«] Er nahm sie an der Hand und zog sie in das brennende Haus.
Kapitel 22
Die Verandatür führte zu einem zentralen Flur, der von der Vorder-bis zur Rückseite des Hauses verlief und inzwischen auf voller Länge in Flammen stand. Für Ralph waren sie hellgrün, und wenn Lois und er hindurchschritten, waren sie kühl – als würde man durch mentholgetränkte Gazemembranen gehen. Das Prasseln des brennenden Hauses wurde gedämpft; das Gewehrfeuer war so leise und unwichtig geworden wie Donnergrollen für jemanden unter Wasser… und genauso kam ihm das alles hier vor, mehr als alles andere, überlegte Ralph -als wären sie unter Wasser. Er und Lois waren unsichtbare Wesen und schwammen durch einen Fluß aus Feuer.
Er deutete auf eine Tür rechts und sah Lois fragend an. Sie nickte. Er griff nach dem Knauf und verzog ärgerlich das Gesicht, als seine Finger einfach hindurchgingen. Und das war selbstverständlich ganz gut so; hätte er das verdammte Ding tatsächlich festhalten können, wären die beiden obersten Hautschichten seiner Finger als verkohlte Streifen daran hängengeblieben.
[»Wir müssen durch, Ralph!«]
Er sah sie abschätzend an, erblickte eine Menge Angst und Sorge in ihrem Blick, aber keine Panik, und nickte. Sie gingen gemeinsam durch die Tür, als der Leuchter in der Mitte des Flurs mit einem unmelodischen Scheppern von Kristallglas und Eisenketten zu Boden fiel.
Ein Salon lag auf der anderen Seite, und was sie dort erwartete, versetzte Ralph einen Tief schlag. Zwei Frauen waren an die Wand gelehnt worden, direkt unter einem großen Plakat von Susan Day in Jeans und einem Cowboyhemd (LASS DICH NICHT BABY VON IHM NENNEN, WENN DU NICHT WIE EINS BEHANDELT WERDEN WILLST, riet das Plakat). Beiden war aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden; Gehirnmasse, Fetzen der Kopfhaut und Knochensplitter waren auf die Blumentapete und Susan Days schicke Cowboystiefel gespritzt. Eine der Frauen war schwanger gewesen. Die andere war Gretchen Tillbury.
Ralph mußte an den Tag denken, als sie mit Helen zu ihm nach Hause gekommen war, um ihn zu warnen und ihm eine Spraydose namens Bodyguard zu geben; an dem Tag fand er, daß sie wunderschön war, aber an dem Tag war ihr fein geformter Kopf selbstverständlich auch noch unversehrt, und das bildhübsche Gesicht nicht halb durch einen Schrotschuß aus nächster Nähe weggerissen gewesen. Fünfzehn Jahre nachdem sie knapp dem Tod aus der Hand ihres gewalttätigen Mannes entkommen war, hatte ein anderer Mann Gretchen Tillbury eine Waffe an den Kopf gehalten und sie einfach aus dieser Welt gepustet. Sie würde nie mehr einer anderen Frau erzählen können, wie sie zu der Narbe am linken Oberschenkel gekommen war.
Einen schrecklichen Augenblick glaubte Ralph, er würde ohnmächtig werden. Er konzentrierte sich, riß sich aber zusammen, indem er an Lois dachte. Ihre Aura hatte ein dunkles, schockiertes Rot angenommen. Gezackte schwarze Linien Schossen darüber hinweg und durch sie hindurch. Sie sahen wie die EKG-Kurve einer Frau aus, die einen tödlichen Herzanfall erleidet.
[»O Ralph! O Ralph, großer Gott!«]
Etwas explodierte am südlichen Ende des Hauses mit solcher Wucht, daß die Tür, durch die sie gerade gekommen waren, aus den Angeln gerissen wurde. Ralph vermutete, es könnten eine oder mehrere Propangasflaschen gewesen sein… nicht, daß es in dieser Lage eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Brennende Fetzen der Tapete wurden vom Flur hereingewirbelt, und er sah, wie die Vorhänge im Zimmer und die restlichen Haare auf Gretchen Tillburys Kopf zur Tür geweht wurden, als das Feuer die Luft aus dem Zimmer sog, um sich Nahrung zu verschaffen. Wie lange würde es dauern, bis das Feuer die Frauen und Rinder im Keller in verkohltes Fleisch verwandelte? Ralph wußte es nicht und schätzte, daß es auch nicht darauf ankam; die meisten Menschen, die da unten eingeschlossen waren, würden ersticken oder an Rauchvergiftung sterben, bevor sie verbrannten.
Lois starrte die toten Frauen voller Entsetzen an. Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Das geisterhafte graue Licht, das von den Spuren aufstieg, die sie hinterließen, sah wie Dampf von Trockeneis aus. Ralph führte sie durch den Salon zur geschlossenen Doppeltür auf der anderen Seite, verweilte gerade lange genug davor, daß er einmal tief Luft holen konnte, legte Lois einen Arm um die Taille und trat in das Holz.
Es folgte ein Augenblick der Dunkelheit, als nicht nur seine Nase, sondern sein ganzer Körper vom süßlichen Duft von Sägespänen eingehüllt zu sein schien, und dann befanden sie sich im Zimmer dahinter, dem nördlichsten Zimmer des Hauses.
Das war möglicherweise einmal ein Arbeitszimmer gewesen, inzwischen aber zu einem Raum für Gruppentherapiesitzungen umgebaut worden. In der Mitte standen ein rundes Dutzend Klappstühle im Kreis. An den Wänden hingen Tafeln mit Aufschriften wie ICH KANN VON NIEMANDEM RESPEKT ERWARTEN, WENN ICH MICH NICHT SELBST RESPEKTIERE. Auf eine Tafel an einem Ende des Zimmers hatte jemand mit großen Druckbuchstaben geschrieben: WE ARE FAMILY, I’VE GOT ALL MY SISTERS WITH ME. Daneben, an einem der Fenster nach Osten über der Veranda, kauerte Charlie Pickering, der eine kugelsichere Weste über dem Snoopy T-Shirt trug, das Ralph überall wiedererkannt hätte.
»Grillt alle gottlosen Weiber!« schrie er. Eine Kugel pfiff an seiner Schulter vorbei; eine zweite bohrte sich rechts von ihm in den Fensterrahmen, ein Splitter prallte an das Horngestell seiner Brille. Der Gedanke, daß er beschützt wurde, drängte sich Ralph wieder auf, diesmal mit der Macht einer Überzeugung. »Lesbenbraten! Sollen sie ihre eigene Medizin kosten! Damit sie selbst sehen, wie das ist!«
[»Bleib oben, Lois-genau da, wo du jetzt bist.«]
[»Was hast du vor?«]
[»Mich um ihn kümmern,«]
[»Töte ihn nicht, Ralph! Bitte töte ihn nicht!«]
Warum nicht? dachte Ralph verbittert. Ich würde der Welt einen Gefallen tun. Das stimmte zweifellos, aber jetzt war keine Zeit zum Streiten.
[»Na gut, ich werde ihn nicht töten! Und jetzt bleib hier, Lois da fliegen so viele Kugeln herum, daß wir es nicht beide riskieren können, nach unten zu gehen.«]
Bevor sie antworten konnte, konzentrierte Ralph sich, beschwor das Blinzeln herauf und ließ sich auf die Ebene der Kurzfristigen zurückfallen. Diesmal passierte es so schnell und brutal, daß ihm die Luft wegblieb, als wäre er aus einem Fenster im ersten Stock auf harten Beton gesprungen. Teilweise verschwand die Farbe aus der Welt, was durch gesteigerten Lärm wettgemacht wurde: das Prasseln von Feuer, nicht mehr gedämpft, sondern deutlich und nahe; das Knallen eines Schrotschusses; das Knattern von rasch hintereinander abgegebenen Pistolenschüssen. Die Luft roch nach Ruß, und es war unerträglich heiß in dem Zimmer. Etwas, das sich wie ein Insekt anhörte, sauste an Ralphs Ohr vorbei. Er hatte eine Ahnung, als wäre es ein Insekt Kaliber.4 5 gewesen.
Solltest dich besser beeilen, Liebling, riet Carolyn. Vergiß nicht, wenn dich auf dieser Ebene Kugeln treffen, sind sie tödlich.
Er vergaß es nicht.
Ralph lief geduckt auf Pickering zu, der ihm den Rücken zuwandte. Seine Füße knirschten auf Glas und Splittern, aber Pickering drehte sich nicht um. Neben der automatischen Waffe in seiner Hand hatte er einen Revolver an der Hüfte und eine kleine grüne Tragetasche neben dem linken Fuß stehen. Der Reißverschluß der Tasche war offen, und Ralph sah eine Anzahl Weinflaschen darin. Die Öffnungen der Flaschen waren mit feuchten Stoffetzen zugestopft worden.
»Tötet die Weiber!« schrie Pickering und überzog den Hof mit einer erneuten Salve. Er nahm das Magazin heraus, zog das T-Shirt hoch und ließ drei oder vier weitere erkennen, die er in den Gürtel gesteckt hatte. Ralph griff in die offene Tragetasche, ergriff eine der benzingefüllten Weinflaschen am Hals und schwang sie nach Pickerings Schläfe. Dabei sah er den Grund, weshalb Pickering ihn nicht hören konnte, obwohl Ralph jede Menge Lärm gemacht hatte: Der Mann trug Ohrenstöpsel. Bevor Ralph darüber nachdenken konnte, welche Ironie darin lag, daß ein Mann auf einer Selbstmordmission sich die Mühe machte, seine Ohren zu schützen, knallte die Flasche an Pickerings Schläfe und übergoß ihn mit bernsteinfarbener Flüssigkeit und grünem Glas. Pickering taumelte rückwärts und griff sich mit einer Hand zum Kopf, wo die Haut an zwei Stellen aufgeplatzt war. Blut quoll zwischen seinen langen Fingern hervor – Finger, die einem Pianisten oder Maler gehören sollten, dachte Ralph – und lief an seinem Hals hinunter. Als er sich umdrehte, waren seine Augen hinter der verschmierten Brille groß und erschrocken, und die Haare standen ihm zu Berge, wodurch er wie die Karikatur eines Mannes aussah, der gerade einen schweren Stromschlag bekommen hat.
»Du!« schrie er. »Verdammter Zenturio, dich hat der Teufel geschickt! Gottloser Babymörder!«
Ralph dachte an die beiden Frauen im Zimmer nebenan und wurde erneut von Zorn überwältigt… nur war Zorn ein zu mildes Wort, viel zu milde. Er fühlte sich, als würden seine Nerven unter der Haut brennen. Und der Gedanke, der in seinem Gehirn trommelte, war: Eine von ihnen war schwanger, also wer ist der Babymörder, eine von ihnen war schwanger, also wer ist der Babymörder, eine von ihnen war schwanger, also wer ist der Babymörder.
Ein weiteres hochkalibriges Insekt zischte an seinem Kopf vorbei. Ralph bemerkte es gar nicht. Pickering versuchte, das Gewehr zu heben, mit dem er zweifellos Gretchen Tillbury und ihre schwangere Freundin getötet hatte. Ralph riß es ihm aus den Händen und richtete es auf ihn. Pickering winselte vor Angst. Dieser Laut brachte Ralph noch mehr auf, und er vergaß das Versprechen, das er Lois gegeben hatte. Er hob das Gewehr in der vollen Absicht, es auf den Mann leerzufeuern, der winselnd an der Wand kauerte (in der Hitze des Gefechts dachte keiner von beiden daran, daß sich gar kein Magazin darin befand), aber bevor er abdrücken konnte, wurde er von einem gleißenden Lichterspiel abgelenkt, das sich wie Blut neben ihm in die Luft ergoß. Zuerst war es formlos, ein sagenhaftes Kaleidoskop, dessen Farben irgendwie der Röhre entkommen waren, die sie umhüllen sollte, doch dann nahm es die Gestalt einer Frau an, aus deren Kopf ein langer, gazeartiger grauer Streifen aufragte.
»[Töte ihn nicht]
Ralph, bitte töte ihn nicht!«
Einen Augenblick konnte er die Tafel und das darauf geschriebene Zitat durch sie hindurch sehen, und dann wurden die Farben zu ihrer Kleidung und ihrem Haar und ihrer Haut, als sie völlig auf diese Ebene herunterkam. Pickering sah sie vor Entsetzen schielend an. Er schrie noch einmal, und der Schritt seiner Drillichhose färbte sich dunkel. Er streckte sich die Finger in den Mund, als wollte er den Schrei unterdrücken, den er ausstieß. »Ein Gesehenst!« kreischte er mit den Fingern im Mund. »Ein Hennurion und ein Gesehenst!«
Lois beachtete ihn gar nicht, sondern hielt den Lauf der Waffe fest. »Töte ihn nicht, Ralph! Nicht!«
Plötzlich war Ralph auch wütend auf sie. »Verstehst du denn nicht, Lois? Kapierst du nicht? Er hat genau gewußt, was er tat! Auf einer bestimmten Ebene hat er es gewußt – ich habe es in seiner gottverdammten Aura gesehen!«
»Das spielt keine Rolle«, sagte sie und hielt den Lauf der Waffe weiterhin so, daß er auf den Boden zeigte. »Es spielt keine Rolle, was er gewußt hat oder nicht. Wir dürfen nicht so vorgehen wie sie. Wir dürfen nicht sein, was sie sind.«
»Aber -«
»Ralph, ich will diesen Gewehrlauf loslassen. Er ist heiß und verbrennt mir die Finger.«
»Gut«, sagte er und ließ im selben Augenblick los wie sie. Das Gewehr fiel zwischen ihnen auf den Boden, und Pickering, der mit den Fingern im Mund und glänzenden, glasigen Augen, die er unablässig auf Lois gerichtet hielt, an der Wand hinuntergerutscht war, stürzte sich mit der Schnelligkeit einer zustoßenden Klapperschlange darauf.
Was Ralph nun tat, tat er ohne Vorbedacht und mit Sicherheit ohne Wut – er handelte rein instinktiv, griff mit beiden Händen nach Pickerings Gesicht und drückte sie ihm gegen die Wangen. Dabei erstrahlte etwas grell in seinem Verstand, das sich wie die Linse eines gewaltigen Vergrößerungsglases anfühlte. Dann raste er durch die verschiedenen Ebenen hinauf, und zwar den Bruchteil einer Sekunde lang höher, als sie jemals zuvor gewesen waren. Auf dem Höhepunkt seines Aufstiegs spürte er, wie eine gigantische Kraft in seinen Kopf einströmte und explosionsgleich seine Arme entlangraste. Als er wieder tiefer sank, hörte er dann den Knall, ein hohles, aber nachdrückliches Geräusch, das sich völlig anders anhörte als die Waffen, die draußen noch feuerten.
Pickerings Körper zuckte konvulsivisch, seine Beine strampelten so heftig, daß einer seiner Schuhe fortflog. Sein Hintern schnellte in die Höhe und sank wieder zurück. Er biß sich auf die Unterlippe, Blut spritzte ihm aus dem Mund. Einen Augenblick war Ralph überzeugt, daß er blaue Funken an den Spitzen von Pickerings wirrem Haar sehen konnte. Dann verschwanden sie, und Pickering sackte wieder gegen die Wand. Er sah Ralph und Lois mit Augen an, aus denen jegliche Sorge gewichen war.
Lois schrie. Zuerst glaubte Ralph, daß sie deswegen schrie, was er mit Pickering gemacht hatte, aber dann sah er, daß sie sich auf den Kopf schlug. Ein Stück der brennenden Tapete war dort gelandet, und ihre Haare hatten Feuer gefangen.
Er schlang einen Arm um sie, schlug selbst mit der Hand nach den Flammen und schirmte ihren Körper mit seinem ab, als ein neuerlicher Schauer von Gewehr-und Schrotflintenfeuer auf den Nordflügel herniederprasselte. Ralph hatte die freie Hand an die Wand gepreßt, und plötzlich erschien wie bei einem Zaubertrick ein Loch zwischen dem dritten und vierten Finger.
»Aufsteigen, Lois! Sofort [aufsteigen!«]
Sie stiegen gemeinsam auf, wurden vor Charlie Pickerings leeren Augen zu buntem Rauch… und verschwanden.
[»Was hast du mit ihm gemacht, Ralph? Eine Sekunde warst du verschwunden – du warst oben – und dann… was hast du getan?«]
Sie betrachtete Charlie Pickering mit fassungslosem Entsetzen. Der lehnte fast in derselben Haltung wie die toten Frauen im Nebenzimmer an der Wand. Vor Ralphs Augen bildete sich eine große rosa Speichelblase zwischen Pickerings Lippen, wuchs und platzte.
Er drehte sich zu Lois um, ergriff ihren Arm dicht oberhalb des Ellbogens und schuf ein Bild in seinem Geist: der Sicherungskasten in seinem Haus in der Harris Avenue. Hände öffneten den Kasten und stellten rasch sämtliche Sicherungen von AN auf AUS. Er war nicht sicher, ob das richtig war – alles war so schnell geschehen, daß er überhaupt nicht sicher sein konnte -, aber er fand, daß es der Wahrheit ziemlich nahekam.
Lois riß ein wenig die Augen auf, dann nickte sie. Sie sah Pickering an, dann Ralph.
[»Er hat es selbst über sich gebracht, oder? Du hast es nicht mit Absicht getan.«]
Nun nickte Ralph, dann ertönten wieder Schreie unter ihren Füßen, die er ganz sicher nicht mit den Ohren hörte.
[»Lois?«]
[»Ja, Ralph – sofort.«]
Er glitt mit den Händen an ihrem Arm hinab und nahm ihre Hände so, wie sie einander im Krankenhaus zu viert gehalten hatten, aber diesmal stiegen sie nicht auf, sondern sanken nach unten und verschwanden im Fußboden, als wären die Dielen aus Wasser. Ralph sah wieder eine Scheibe Dunkelheit an seinen Augen vorübergleiten, dann befanden sie sich im Keller und sanken langsam dem schmutzigen Betonboden entgegen. Er sah staubbedeckte Heizungsrohre im Schatten, einen mit durchsichtiger Plastikfolie abgedeckten Schneepflug, Gartengeräte an einem unscharf konturierten Zylinder, bei dem es sich wahrscheinlich um den Heißwasserboiler handelte, und Kartons an einer Backsteinwand – Suppe, Bohnen, Spaghettisauce, Kaffee, Müllbeutel, Toilettenpapier. Das alles sah wie in einer Halluzination aus, nicht ganz da, und zuerst glaubte Ralph, das wäre eine weitere Nebenwirkung, weil sie auf die nächste Ebene aufgestiegen waren. Dann stellte er fest, daß nur der Rauch daran schuld war – der Keller füllte sich rapide damit.
Achtzehn oder zwanzig Personen drängten sich an einem Ende des langen, halbdunklen Raums, überwiegend Frauen. Ralph sah auch einen etwa vier Jahre alten Jungen, der sich am Knie seiner Mutter festklammerte (in Moms Gesicht konnte man verblassende Blutergüsse sehen, die möglicherweise auf einen Unfall, wahrscheinlich aber auf Schläge zurückzuführen waren), ein Mädchen von einem oder zwei Jahren, das das Gesicht am Bauch seiner Mutter vergrub… und er sah Helen. Sie hielt Natalie in den Armen und blies dem Kind ihren Atem ins Gesicht, als könnte sie die Luft um sie herum damit frei von Rauch halten. Nat hustete und schrie mit ersticktem, verzweifelten Schluchzen. Hinter den Frauen und Kindern konnte Ralph staubige Treppenstufen erkennen, die in die Dunkelheit emporführten.
[»Ralph? Wir müssen hinunter, richtig?«]
Er nickte, erzeugte das Blinzeln in seinem Kopf, und plötzlich hustete er ebenfalls, als er beißenden Rauch in die Lungen sog. Sie nahmen unmittelbar vor der Gruppe am Fuß der Treppe Gestalt an, aber nur der kleine Junge, der die Arme um die Knie seiner Mutter schlang, reagierte. In diesem Augenblick war Ralph überzeugt, daß er das Kind schon einmal gesehen hatte, wußte aber nicht, wo das gewesen sein könnte der Tag am Ende des Sommers, als der Junge mit seiner Mutter in Strawford Park gespielt hatte, hätte Ralph im Augenblick nicht ferner liegen können.
»Schau mal, Mama!« sagte der Junge und deutete hustend auf sie. »Engel!«
Im Geiste hörte Ralph Klotho sagen: Wir sind keine Engel, Ralph, und dann drängte er sich durch den immer dichteren Rauch auf Helen zu, ohne Lois’ Hand loszulassen. Seine Augen brannten und tränten bereits, und er konnte Lois husten hören. Helen sah ihn benommen an und schien ihn nicht zu erkennen -sie sah ihn an wie an jenem Tag im August, als Ed sie so schlimm verprügelt hatte.
»Helen!«
»Ralph? Ralph?«
»Die Treppe, Helen! Wohin führt sie?«
»Was machst du hier, Ralph? Wie bist du -« Sie bekam einen Hustenanfall und krümmte sich. Natalie wäre ihr fast aus den Armen gefallen, und Lois nahm das schreiende Kind, bevor Helen es tatsächlich fallenlassen konnte.
Ralph sah die Frau neben Helen an, die noch weniger mitzubekommen schien, was um sie herum vor sich ging, packte Helen und schüttelte sie. »Wohin führt diese Treppe?«
Sie sah über die Schulter. »Kellerluke«, sagte sie. »Aber das nützt nichts. Sie ist -« Sie krümmte sich und hustete trocken. Das Geräusch glich auf unheimliche Weise dem Knattern von Charlie Pickerings automatischem Gewehr. »Sie ist abgeschlossen«, sprach Helen zu Ende. »Die dicke Frau hat sie abgeschlossen. Sie hatte das Schloß in der Tasche. Ich hab gesehen, wie sie es angebracht hat. Warum hat sie das gemacht, Ralph? Wie konnte sie wissen, daß wir hier runterkommen würden?«
Wohin hättet ihr schon gehen können? dachte Ralph verbittert, dann drehte er sich zu Lois um. »Würdest du nachsehen, was du tun kannst, ja?«
»Okay.« Sie gab ihm das schreiende, hustende Baby und drängte sich durch die kleine Schar der Frauen. Soweit Ralph erkennen konnte, befand sich Susan Day nicht unter ihnen. Am anderen Ende des Kellers stürzte ein Teil des Bodens mit Funkenflug und einer Welle brütender Hitze ein. Das Mädchen, das das Gesicht am Bauch seiner Mutter vergraben hatte, fing an zu schreien.
Lois ging vier der Stufen hinauf und hielt die Hände nach oben wie ein Priester, der den Segen spendet. Im Licht der tanzenden Funken konnte Ralph vage den schrägen Schatten der Kellerluke erkennen. Lois drückte die Hände dagegen. Einen Augenblick geschah gar nichts, dann verschwand sie kurz in einem Regenbogen von Farben. Ralph hörte eine schneidende Explosion, die sich anhörte, als würde eine Spraydose in heißem Feuer platzen, dann war Lois wieder da. Im selben Augenblick glaubte er direkt über ihrem Kopf ein Pulsieren weißen Lichts zu sehen.
»Was hat geknallt, Mama?« fragte der kleine Junge, der Ralph und Lois Engel genannt hatte. »Was hat geknallt?« Bevor sie antworten konnte, ging ein Stapel Vorhänge auf einem sechs Meter entfernten Tisch in Flammen auf und tauchte die Gesichter der gefangenen Frauen in schroffe Schwarz-Orange-Kontraste wie Halloweenkürbisse.
»Ralph!« rief Lois. »Hilf mir!«
Er drängte sich durch die lethargischen Frauen und stieg die Treppe hinauf. »Was?« Sein Hals fühlte sich an, als hätte er mit Benzin gegurgelt. »Schaffst du es nicht?«
»Ich habe es geschafft, ich habe gespürt, wie das Schloß brach
– im Geiste habe ich es gespürt -, aber die verflixte Tür ist zu schwer für mich. Den Teil wirst du übernehmen müssen. Gib mir das Baby.«
Er überließ ihr Nat wieder, dann griff er nach oben und tastete die Kellerluke ab. Sie war wirklich schwer, aber Ralphs Körper war adrenalingesättigt, und als er mit der Schulter dagegen drückte, flog sie auf. Licht und frische Luft drangen in den Keller herunter. In einem von Ralphs heißgeliebten Filmen wäre so ein Augenblick mit Schreien des Triumphs und der Erleichterung begrüßt worden, aber zuerst gab keine der Frauen, die hier unten eingesperrt gewesen waren, auch nur einen Laut von sich. Sie standen nur schweigend da und betrachteten mit stummen, fassungslosen Gesichtern das Rechteck blauen Himmels, welches Ralph wie durch Zauberhand in dem Raum geschaffen hatte, den die meisten schon als ihr Grab betrachtet hatten.
Was werden sie später sagen? fragte er sich. Wenn sie dies wirklich überleben, was werden sie später sagen? Daß ein magerer Mann mit buschigen Augenbrauen und eine eher untersetzte Dame (aber mit wunderschönen spanischen Augen) plötzlich im Keller aufgetaucht wären, das Schloß aufgebrochen und sie in die Freiheit geführt hätten?
Er sah nach unten und erblickte den seltsam vertrauten kleinen Jungen, der mit großen, ernsten Augen zu ihm aufschaute. Der Junge hatte eine hakenförmige Narbe auf dem Nasenrücken. Ralph hatte eine Ahnung, als wäre dieser Junge der einzige, der sie wirklich gesehen hatte, als sie auf die Ebene der Kurzfristigen zurückgekehrt waren, und Ralph wußte genau, was er sagen würde: daß Engel gekommen wären, ein EngelMann und eine Engel-Lady, und die hätten sie gerettet. Dürfte heute abend in den Nachrichten eine interessante Fußnote abgeben, dachte Ralph. Ja, wahrhaftig. Lisette Benson und John Kirkland würden ausflippen.
Lois klatschte einmal kurz in die Hände wie eine Schulhofaufsicht, die die Kinder informiert, daß die Pause zu Ende ist. »Los doch, Leute! Beeilt euch, bevor das Feuer die Öltanks der Heizung erreicht!«
Die Frau mit dem kleinen Mädchen setzte sich als erste in Bewegung. Sie hob das weinende Kind auf die Arme und stolperte hustend und weinend die Treppe hinauf. Die anderen folgten ihr langsam. Der kleine Junge sah bewundernd zu Ralph auf, als seine Mutter ihn hinausführte. »Cool, Mann«, sagte er.
Ralph grinste ihn an – er konnte nicht anders -, dann drehte er sich zu Lois um und deutete die Treppe hinauf. »Wenn ich mich nicht völlig irre, müßte dieser Aufgang hinter dem Haus herauskommen. Laß sie noch nicht nach vorne gehen. Die Cops würden wahrscheinlich die Hälfte von ihnen umlegen, bevor ihnen klar wird, daß sie die Leute erschießen, die sie retten wollten.«
»Gut«, sagte sie – keine einzige Frage, kein weiteres Wort, und dafür hätte Ralph sie küssen können. Sie ging sofort die Treppe hinauf und blieb nur einmal stehen, um eine Frau, die stolperte, am Ellbogen zu fassen.
Nun blieben nur noch Ralph und Helen Deepneau übrig. »War das Lois?« fragte sie ihn.
»Ja.«
»Sie hat Natalie?« »Ja.« Ein weiteres großes Stück der Kellerdecke stürzte ein, Funken stoben in die Höhe, und Flammenzungen leckten gierig an den Deckenbalken entlang in Richtung des Heizofens.
»Bist du sicher?« Sie klammerte sich an seinem Hemd fest und sah ihn mit panischen, verquollenen Augen an. »Bist du sicher, daß sie Nat bei sich hatte?«
»Ganz sicher. Komm jetzt.«
Helen sah sich um und schien im Geiste zu zählen. Sie sah erschrocken auf. »Gretchen!« rief sie. »Und Merrilee! Wir müssen Merrilee holen, Ralph, sie ist im siebten Monat schwanger!«
»Sie ist oben«, sagte Ralph und packte Helen am Handgelenk, als sie die Treppe hinunter und in den brennenden Keller zurückgehen wollte. »Sie und Gretchen. Sind das dann alle?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Gut. Komm mit. Wir müssen hier raus.«
Ralph und Helen kamen in einer Wolke dunkelgrauen Rauchs aus dem Kelleraufgang heraus und sahen ein wenig wie der Höhepunkt im Programm eines Weltklasseillusionisten aus. Sie befanden sich tatsächlich auf der Rückseite des Hauses, bei den Wäscheleinen. Kleider, Hosen, Unterwäsche und Betttücher flatterten in der frischen Brise. Vor Ralphs Augen landete ein brennender Balken auf einem der Bettlaken und ließ es in Flammen aufgehen. Auch aus den Küchenfenstern schlugen die Flammen. Die Hitze war unvorstellbar.
Helen sackte gegen ihn, nicht bewußtlos, aber vorübergehend völlig erschöpft. Ralph mußte sie an der Taille halten, damit sie nicht zu Boden fiel. Sie kratzte ihn kraftlos im Nacken und versuchte, etwas über Natalie zu sagen. Dann sah sie sie in Lois’ Armen und entspannte sich etwas. Ralph umklammerte sie fester und trug sie halb und zog sie halb von der Kelleröfmung weg. Dabei sah er die Überreste eines anscheinend nagelneuen Vorhängeschlosses neben der offenen Luke auf dem Boden liegen. Es war in zwei Teile zerbrochen und seltsam verdreht, als hätten kräftige Hände es auseinandergerissen.
Die Frauen standen etwa zehn Meter entfernt zusammengedrängt an der Ecke des Hauses. Lois stand vor ihnen, redete mit ihnen und hinderte sie daran weiterzugehen. Ralph glaubte, mit etwas Vorbereitung und Glück würde ihnen nichts mehr geschehen, wenn sie doch weitergingen das Feuer aus dem Belagerungsring der Polizei hatte nicht aufgehört, aber deutlich nachgelassen.
»PICKERING!« Das hörte sich nach Leydecker an, aber durch den Verstärker des Megaphons konnte man es unmöglich genau sagen. »WARUM SIND SIE NICHT EINMAL IN IHREM LEBEN SCHLAU UND KOMMEN RAUS, SOLANGE SIE NOCH KÖNNEN?«
Weitere Sirenen kamen näher, darunter das deutliche, oszillierende Heulen eines Krankenwagens. Ralph führte Helen zu den anderen Frauen. Lois gab ihr Natalie zurück, dann drehte sie sich in die Richtung um, aus der die Megaphonstimme gekommen war, und hielt die hohlen Hände an den Mund. »Hallo!« rief sie. »Hallo, da vorne, können Sie uns -« Sie verstummte und hustete so sehr, daß sie beinahe würgte, krümmte sich und stützte die Hände auf die Knie, während ihr Tränen aus den vom Rauch gereizten Augen drangen.
»Lois, alles in Ordnung?« fragte Ralph. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Helen das Gesicht des Verherrlichten und Angebeteten Babys mit Küssen bedeckte.
»Bestens«, sagte sie und wischte sich mit den Fingern die Wangen ab. »Der verdammte Rauch, mehr nicht.« Sie hielt wieder die Hände an den Mund. »Können Sie mich hören?«
Die Schüsse ließen noch mehr nach, aber vereinzelte Pistolenschüsse waren noch zu hören. Das gefiel Ralph ganz und gar nicht. Einer dieser vereinzelten Schüsse am falschen Platz konnte eine dieser unschuldigen Frauen das Leben kosten.
»Leydecker!« rief er und legte selbst die hohlen Hände um den Mund. »John Leydecker!«
Nach einer Pause gab die Megaphonstimme den Befehl, den Ralph herbeigesehnt hatte. »FEUER EINSTELLEN!«
Noch ein Knall, dann herrschte Stille, abgesehen vom Prasseln des brennenden Hauses.
»WER SPRICHT DA? IDENTIFIZIEREN SIE SICH!«
Aber Ralph glaubte, daß er auch so schon genug Probleme am Hals hatte.
»Die Frauen sind hier hinten!« rief er und mußte nun selbst gegen Hustenreiz kämpfen. »Ich schicke sie nach vorne!«
»NEIN, NICHT!« rief Leydecker zurück. »IM LETZTEN ZIMMER IM ERDGESCHOSS LAUERT EIN BEWAFFNETER MANN! ER HAT BEREITS MEHRERE MENSCHEN ERSCHOSSEN!«
Daraufhin stöhnte eine der Frauen und schlug die Hände vors Gesicht.
Ralph räusperte sich so gut er es mit seinem brennenden Hals vermochte – im Augenblick hätte er wahrscheinlich seine gesamte Rente für eine eiskalte Flasche Coca-Cola hergegeben – und schrie zurück: »Machen Sie sich keine Sorgen wegen Pickering! Pickering ist -«
Aber was genau war Pickering? Das war eine verdammt gute Frage, oder nicht?
»Mr. Pickering ist bewußtlos! Darum hat er aufgehört zu schießen!« schrie Lois neben ihm. Ralph glaubte nicht, daß »bewußtlos« das richtige Wort war, aber es würde genügen. »Die Frauen kommen mit erhobenen Händen um das Haus herum! Nicht schießen! Versprechen Sie uns, daß Sie nicht schießen werden!«
Es folgte ein Augenblick Stille. Dann: »WIR WERDEN NICHT SCHIESSEN, ABER ICH HOFFE, SIE WISSEN, WOVON SIE SPRECHEN, LADY.«
Ralph nickte der Mutter des kleinen Jungen zu. »Gehen Sie jetzt. Sie beide können die Karawane anführen.«
»Sind Sie sicher, daß sie uns nicht wehtun werden?« Die verblassenden Blutergüsse im Gesicht der jungen Frau (ein Gesicht, das Ralph ebenfalls vage bekannt vorkam) legten beredtes Zeugnis davon ab, was für einen bedeutenden Teil ihres Lebens die Frage bildete, wer ihr und ihrem Sohn wehtun würde und wer nicht. »Sind Sie sicher?«
»Ja«, sagte Lois, immer noch hustend und mit tränenden Augen. »Nehmen Sie einfach nur die Hände hoch. Das kannst du doch, großer Junge, oder nicht?«
Der Junge hielt die Hände mit der Begeisterung eines passionierten Räuber-und-Gendarm-Spielers hoch, aber er wandte den Blick seiner glänzenden Augen nicht von Ralphs Gesicht ab.
Rosa Rosen, dachte Ralph. Wenn ich seine Aura sehen könnte, hätte sie diese Farbe. Er war nicht sicher, ob das Intuition oder eine Erinnerung war, wußte aber, daß es stimmte.
»Was ist mit den Leuten im Inneren?« fragte eine andere Frau. »Wenn die nun schießen? Sie waren bewaffnet – wenn die nun schießen?«
»Da drinnen wird niemand mehr schießen«, sagte Ralph. »Gehen Sie jetzt.«
Die Mutter des kleinen Jungen warf Ralph noch einen zweifelnden Blick zu, dann sah sie ihren Sohn an. »Fertig, Pat?«
»Ja!« sagte Pat und grinste.
Seine Mutter nickte und hob eine Hand. Die andere legte sie ihm um die Schultern – eine zaghafte, beschützende Geste, die Ralphs Herz rührte. So gingen sie um die Hausecke herum. »Tun Sie uns nicht weh!« rief sie. »Wir haben die Hände erhoben und mein kleiner Junge ist bei mir, also tun Sie uns nicht weh!«