Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Er strich sich über die Lippen und wurde kurz von dem seidigen, distanzierten Gefühl seiner Hand auf dem Mund abgelenkt. Er wurde auf mannigfaltige Weise daran erinnert, daß sich sein Daseinszustand radikal verändert hatte.
Lois, entsetzt: [»Wie sollen wir das anstellen? Wenn wir nicht in die Nähe von Atropos oder Ed gehen dürfen, wie sollen wir es dann verhindern können?«]
Ralph wurde bewußt, daß er ihr Gesicht jetzt deutlich sehen konnte; der Tag hellte mit der Geschwindigkeit einer Zeitrafferaufnahme in einem alten Dokumentarfilm von Disney auf.
[»Wir rufen an und geben eine Bombendrohung durch, Lois. Das müßte funktionieren.«]
Klotho machte ein bestürztes Gesicht; Lachesis schlug sich sogar mit der flachen Hand gegen die Stirn, bevor er nervös zum grauen Himmel hinaufblickte. Als er Ralph wieder ansah, drückte sein kleines Gesicht mühsam unterdrückte Panik aus.
[Das wird nicht funktionieren, Ralph. Und nun hört mir zu, alle beide, und hört genau zu; was auch immer ihr in den nächsten vierzehn Stunden tut, ihr dürft die Macht der Kräfte nicht unterschätzen, die Atropos entfesselt hat, als er Ed entdeckte und seinen Lebensstrang durchschnitt.]
Ralph: [»Warum wird es nicht funktionieren?«]
Lachesis, wütend und ängstlich zugleich: [Wir können nicht ewig Ihre Fragen beantworten, Ralph – von nun an werden Sie uns einfach glauben müssen. Ihr wißt, wie schnell die Zeit auf dieser Ebene verstreicht; wenn wir noch lange hier bleiben, ist jede Chance dahin, daß ihr verhindern könnt, was heute abend im Bürgerhaus geschehen wird. Ihr beide, Sie und Lois, müßt wieder zurückkehren. Ihr müßt!]
Klotho hielt eine Hand hoch und brachte seinen Kollegen zum Schweigen, dann drehte er sich zu Ralph und Lois um.
[Ich werde die letzte Frage beantworten, auch wenn ich sicher bin, daß ihr sie mit etwas Nachdenken selbst beantworten könntet. Es sind bereits dreiundzwanzig Bombendrohungen für Susan Days Rede heute abend eingegangen. Die Polizei hat Sprengstoffhunde im Bürgerhaus, seit achtundvierzig Stunden durchleuchten sie sämtliche Päckchen und Pakete, die in das Gebäude zugestellt wurden, und sie haben auch Stichproben gemacht. Sie haben Bombendrohungen erwartet, und sie nehmen sie ernst, aber in diesem Fall gehen sie von der Annahme aus, daß sie von Abtreibungsgegnern kommen, die nur Ms. Days Rede verhindern möchten.]
Lois, düster: [»O Gott – der kleine Junge, der rief: >Hilfe, ein Wolf<.«]
Klotho: [Ganz recht, Lois.]
Ralph: [“»Hat er eine Bombe gelegt? Das hat er, richtig?«]
Helles Licht wanderte über das Dach und streckte die Schatten der kreisenden Heizungsventilatoren wie Karamelmasse. Klotho und Lachesis betrachteten die Schatten, dann sahen sie mit demselben Ausdruck des Mißfallens nach Osten, wo die Sonne gerade über dem Horizont emporstieg.
Lachesis: [Wir wissen es nicht, und es spielt auch keine Rolle. Ihr müßt verhindern, daß diese Rede stattfindet, und das geht nur auf eine Weise: ihr müßt die verantwortlichen Frauen davon überzeugen, Susan Days Rede abzusagen. Habt ihr verstanden? Sie darf heute abend nicht im Bürgerzentrum sprechen! Ihr könnt Ed nicht aufhalten, und ihr dürft nicht wagen, in die Nähe von Atropos zu kommen, also müßt ihr Susan Day aufhalten.]
Ralph: [»Aber -«]
Nicht das zunehmende Sonnenlicht verschloß ihm den Mund, auch nicht der Ausdruck panischer Angst in den Gesichtern der kleinen kahlköpfigen Ärzte. Es war Lois. Sie legte ihm eine Hand auf die Wange und schüttelte knapp aber entschlossen den Kopf.
[»Nichts mehr. Wir müssen runter, Ralph. Sofort.«] Fragen kreisten in seinem Kopf wie Moskitos, aber wenn sie sagte, daß keine Zeit mehr war, dann war keine Zeit mehr. Er betrachtete die Sonne, stellte fest, daß sie ganz über den Horizont gestiegen war, und nickte. Er legte ihr den Arm um die Taille.
Klotho, ängstlich: [Laßt uns nicht im Stich, Ralph und Lois.]
Ralph: [»Sparen Sie sich die Durchhalteparolen, Kleiner. Dies ist kein Footballspiel.«]
Bevor einer von ihnen antworten konnte, machte Ralph die Augen zu und konzentrierte sich darauf, in die Welt der Kurzfristigen zurückzuspringen.
Kapitel 19
Dieses Gefühl des Blinzeins stellte sich wieder ein, und ein kalter Morgenwind wehte ihm ins Gesicht. Ralph schlug die Augen auf und betrachtete die Frau neben sich. Nur einen Augenblick konnte er ihre Aura sehen, die hinter ihr wehte wie der Gazeüberrock eines Ballkleids, und dann war sie wieder nur Lois, die zwanzig Jahre jünger aussah als vor einer Woche… und in ihrem leichten Herbstmantel und dem guten Ausgehkleid extrem fehl am Platze hier oben auf dem geteerten Schotterdach des Krankenhauses.
Ralph nahm sie fester in den Arm, als sie zu zittern anfing. Von Lachesis und Klotho war keine Spur zu sehen.
Obwohl sie direkt neben uns stehen könnten, dachte Ralph. Was sie wahrscheinlich auch tun.
Plötzlich fiel ihm dieser Ausruf des Marktschreiers wieder ein, daß man bezahlen mußte, wenn man spielen wollte, also treten Sie näher, meine Herrschaften, und machen Sie Ihre Einsätze. Aber häufiger spielte man nicht, es wurde mit einem gespielt. Und es wurde einem übel mitgespielt. Aber weshalb hatte er dieses Gefühl gerade jetzt?
Weil es eine ganze Menge gibt, das du nie herausgefunden hast, sagte Carolyn in seinem Kopf. Sie halten eine Menge interessante Abschweifungen zugelassen und haben dich vom Wichtigsten ferngehalten, bis es zu spät war, die Fragen zu stellen, die sie vielleicht nicht beantworten wollten… und ich glaube nicht, daß so etwas versehentlich passiert, du?
Nein. Er glaubte es auch nicht.
Das Gefühl, von unsichtbaren Händen in einen dunklen Tunnel gestoßen zu werden, wo alles möglich war, war jetzt stärker. Das Gefühl, manipuliert zu werden. Er fühle sich klein… und verwundbar… und stinksauer.
»N-nun, wir sind wieder d-d-da«, sagte Lois zähneklappernd. »Was meinst du, wie spät ist es?«
Er schätzte sechs Uhr, aber als er auf die Uhr sah, stellte er ohne Überraschung fest, daß sie stehengeblieben war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum letztenmal aufgezogen hatte. Wahrscheinlich am Dienstag morgen.
Er folgte Lois’ Blick nach Südwesten und sah das Bürgerzentrum wie eine Insel im Meer der Parkplätze. Jetzt, wo das frühmorgendliche Sonnenlicht sich grell in den gekrümmten Scheiben spiegelte, sah es wie eine übergroße Version des Bürogebäudes aus, in dem George Jetson arbeitete. Das riesige Leichentuch, das es noch vor wenigen Augenblicken eingehüllt hatte, war verschwunden.
O nein, das ist es nicht. Mach dir nichts vor, Junge. Du kannst es im Augenblick vielleicht nicht sehen, aber es ist noch da.
»Früh«,’ sagte er und zog sie enger an sich, als der böige Wind ihm das Haar aus der Stirn wehte – Haar, in dem jetzt fast ebenso viel Schwarz wie Weiß zu sehen war. »Aber ich glaube, es wird schneller spät werden, als uns lieb ist.«
Sie verstand, was er meinte, und nickte. »Wo sind L-Lachesis und K-K -«
»Auf einer Ebene, wo einem bei dem Wind nicht der Arsch abfriert, denke ich. Komm mit. Laß uns eine Tür suchen und von diesem Dach verschwinden.«
Sie blieb aber noch einen Augenblick, wo sie war, und sah zitternd über die Stadt. »Was hat er getan?« fragte sie mit leiser Stimme. »Wenn er keine Bombe gelegt hat, was kann er getan haben?«
»Vielleicht hat er eine Bombe gelegt, und die Spürhunde mit den trainierten Nasen haben sie nur noch nicht gefunden. Oder vielleicht handelt es sich um etwas, auf das die Hunde nicht abgerichtet sind. Ein Kanister im Gebälk – etwas Teuflisches, das Ed in der Badewanne zurechtgemixt hat. Schließlich hat er mit Chemie seinen Lebensunterhalt verdient… jedenfalls bis er seinen Job aufgegeben hat und hauptberuflicher Psychopath geworden ist. Möglicherweise hat er vor, sie wie Ratten zu vergasen.«
»Mein Gott, Ralph!« Sie drückt die Hand oberhalb des Busens auf die Brust und sah ihn mit großen, betroffenen Augen an.
»Komm schon, Lois. Laß uns von diesem verdammten Dach runtergehen.«
Diesmal kam sie bereitwillig mit. Ralph führte sie zur Tür des Dachs… die, wie er inbrünstig hoffte, unverschlossen sein würde.
»Zweitausend Menschen«, stöhnte sie fast, als sie die Tür erreicht hatten. Ralph verspürte Erleichterung, als sich der Türknauf unter seinen Fingern drehte, aber Lois ergriff sein Handgelenk mit eiskalten Fingern, bevor er die Tür öffnen konnte. »Vielleicht haben diese kleinen Männer gelogen, Ralph
– vielleicht haben sie ihre eigenen Eisen im Feuer, etwas, das wir nicht einmal begreifen können, und sie haben gelogen.«
»Ich glaube, sie können nicht lügen«, sagte er langsam. »Das ist das Teuflische, Lois – ich glaube nicht, daß sie es können. Und dann das da.« Er deutete auf das Bürgerzentrum, auf die schwarze Membran, die sie nicht sehen konnten, die aber trotzdem, wie sie beide wußten, noch da war. Lois drehte sich nicht um. Statt dessen legte sie ihre kalte Hand auf seine, zog die Dachtür auf und ging die Treppe hinunter.
Ralph machte die Tür am unteren Ende der Treppe auf, sah in den Flur des fünften Stocks, stellte fest, daß keine Menschenseele zu sehen war und zog Lois aus dem Treppenhaus. Sie gingen gemeinsam zu den Fahr stühlen, doch dann blieben sie vor einer Tür stehen, neben der an der Wand mit grellroten Buchstaben ÄRZTEZIMMER geschrieben stand. Das war das Zimmer, das sie beim Aufsteigen mit Klotho und Lachesis gesehen hatten – Drucke von Winslow Homer hingen schief an den Wänden, eine Silex stand auf einer Kochplatte, gräßliche Swedish Modern Möbel. Im Augenblick hielt sich niemand in dem Zimmer auf, aber der an der Wand festgeschraubte Fernseher lief trotzdem, und ihre alte Freundin Lisette Benson verlas die Frühnachrichten. Ralph mußte an den Tag denken, als er mit Lois und Bill in Lois’ Wohnzimmer gesessen, Makkaroni mit Käse gegessen und im Fernsehen Lisettes Bericht über die Demonstration gesehen hatte, bei der mit falschem Blut gefüllte Puppen auf das Gebäude von Woman-Care geworfen worden waren. Das war noch keinen Monat her, schien aber eine Ewigkeit zurückzuliegen. Plötzlich fiel ihm ein, daß Bill McGovern nie wieder Lisette Benson sehen oder vergessen würde, die Eingangstür abzuschließen, und ein Gefühl des Verlusts, so kalt und heftig wie ein Windstoß im November, durchfuhr ihn. Er konnte es nicht richtig glauben, jedenfalls noch nicht. Wie hatte Bill so schnell und unzeremoniell sterben können? Es hätte ihm ganz und gar nicht gefallen, dachte er, und nicht nur, weil es seiner Ansicht nach schlechten Geschmack bewiesen hätte, in einem Krankenhausflur an einem Herzanfall zu sterben. Seiner Ansicht nach wäre es auch eines Schmierentheaters würdig gewesen.
Aber er hatte gesehen, wie es geschehen war, und Lois hatte sogar gespürt, was an Bills Innerem gefressen hatte. Dabei mußte Ralph an das Leichentuch denken, welches das Bürgerhaus umgab, und was dort geschehen würde, sollte es ihnen nicht gelingen, die Rede zu verhindern. Er wollte weiter Richtung Fahrstuhl gehen, aber Lois hielt ihn zurück. Sie betrachtete fasziniert den Fernseher.
»– werden große Erleichterung verspüren, wenn die für heute abend geplante Rede der feministischen Abtreibungsbefürworterin Susan Day vorbei ist«, sagte Lisette Benson, »aber die Polizisten werden nicht die einzigen sein, die so denken. Offenbar macht sich sowohl unter Befürwortern wie Gegnern die Belastung bemerkbar, ständig am Rand einer Konfrontation zu leben. John Kirkland ist heute morgen live im Bürgerzentrum, und er kann Näheres berichten. John?«
Der blasse, ernste Mann, der neben Kirkland stand, war Dan Dalton. Er trug einen Button am Hemd, auf dem ein Skalpell zu sehen war, das auf ein Baby herabstieß, welches die Beine in Embryonalhaltung angezogen hatte. Das Bild war von einem roten Kreis umgeben und von einer diagonalen roten Linie durchzogen. Ralph konnte ein halbes Dutzend Polizeiautos und zwei Übertragungswagen von Nachrichtenteams sehen, einen mit dem Logo von NBC auf der Seite im Bildhintergrund. Ein uniformierter Beamter mit zwei Hunden – einem Bluthund und einem deutschen Schäferhund an der Leine ging über den Rasen.
»Ganz recht, Lisette, ich befinde mich hier vor dem Bürgerzentrum, wo man die Stimmung mit den Schlagworten Besorgnis und stumme Entschlossenheit beschreiben könnte. Bei mir befindet sich Dan Dalton, Präsident der Organisation Friends of Life, die sich so vehement gegen die Rede von Ms. Day eingesetzt hat. Mr. Dalton, würden Sie dieser Einschätzung der Situation zustimmen?«
»Daß hier eine Menge Besorgnis und Entschlossenheit in der Luft liegen?« fragte Dalton. Ralph fand, sein Lächeln sah nervös und betrübt aus. »Ja, so könnte man es wohl ausdrücken. Wir sind besorgt, daß es Susan Day, einer der schlimmsten nicht zur Verantwortung gezogenen Kriminellen dieses Landes, gelingen wird, das zentrale Thema hier zu verschleiern, nämlich die Ermordung von zwölf bis vierzehn hilflosen ungeborenen Kindern jeden Tag.«
»Aber Mr. Dalton -« »Und«, unterbrach ihn Dalton, »wir sind entschlossen, einer aufmerksamen Nation zu beweisen, daß wir nicht bereit sind, gute Nazis zu sein, daß wir keinen Kniefall vor der Religion der political correctness – der politischen Korrektheit-machen.«
»Mr. Dalton-«
»Außerdem sind wir entschlossen, einer aufmerksamen Nation zu zeigen, daß einige von uns immer noch imstande sind, für ihre Überzeugungen einzutreten und die heilige Verantwortung zu übernehmen, die uns ein gütiger Gott -«
»Mr. Dalton, planen die Friends of Life hier einen gewalttätigen Protest?«
Das brachte ihn einen Moment zum Schweigen und verbannte zumindest vorübergehend die aufgestaute Energie aus seinem Gesicht. Und da sah Ralph etwas Erschreckendes: Unter der aufgeplusterten Maske litt Dalton Todesangst.
»Gewalt?« sagte er schließlich. Er sprach das Wort vorsichtig aus, als könnte er sich daran den Mund verbrennen. »Großer Gott, nein. Die Friends of Life lehnen die Theorie ab, daß man Unrecht mit Unrecht vergelten sollte. Wir haben vor, eine massive Kundgebung zu organisieren – dazu bekommen wir Unterstützung von Abtreibungsgegnern aus Augusta, Portland, Portsmouth und sogar aus Boston -, aber zu gewalttätigen Ausschreitungen wird es nicht kommen.«
»Was ist mit Ed Deepneau? Können Sie auch für ihn sprechen?«
Daltons ohnehin schon zu einem schmalen Saum zusammengepreßte Lippen, schienen völlig zu verschwinden. »Mr. Deepneau gehört den Friends of Life nicht mehr an«, sagte er. Ralph glaubte, Angst und Zorn aus Daltons Tonfall herauszuhören. »Dasselbe gilt für Frank Feiton, Sandra McKay und Charles Pickering, falls Sie das fragen wollten.«
John Kirklands Blick in die Kamera war kurz und vielsagend. Er sagte, daß er Dan Dalton für vollkommen übergeschnappt hielt.
»Wollen Sie damit sagen, daß Ed Deepneau und die anderen Personen – tut mir leid, aber ich kenne sie nicht – eine eigene Fraktion von Abtreibungsgegnern gebildet haben? Eine Art Splittergruppe?«
»Wir sind nicht gegen die Abtreibung, wir sind für das Leben!« schrie Dalton. »Das ist ein Riesenunterschied, den ihr Reporter aber nicht zu begreifen scheint!«
»Tut mir leid. Sie wissen also nichts über den Verbleib von Ed Deepneau, oder was – wenn überhaupt – er vorhaben könnte?«
»Ich weiß nicht, wo er ist, mir ist es egal, wo er ist, und mich interessieren auch nicht seine Splittergruppen.«
Aber du hast Angst, dachte Ralph. Und wenn ein selbstgefälliger kleiner Arsch wie du Angst hat, dann müßte ich Todesangst haben.
Dalton lief davon. Kirkland, der offenbar überzeugt schien, daß er ihn noch nicht völlig ausgewrungen hatte, folgte ihm und schüttelte dabei sein Mikrofonkabel aus.
»Aber stimmt es nicht, Mr. Dalton, daß Ed Deepneau als Mitglied der Friends of Life mehrere gewalttätige Protestkundgebungen organisierte, einschließlich der vom letzten Monat, als mit falschem Blut gefüllte Puppen geworfen wurden -«
»Ihr seid alle gleich, was?« fragte Dan Dalton. »Ich werde für Sie beten, mein Freund.« Er stapfte davon.
Kirkland sah ihm einen Moment nachdenklich hinterher, dann drehte er sich wieder zur Kamera um. »Wir haben versucht, Mr. Daltons Gegenspielerin Gretchen Tillbury zu einem Interview zu bekommen – sie hat die gewaltige Aufgabe übernommen, dieses Ereignis für Woman-Care zu koordinieren -, aber sie stand nicht für Gespräche zur Verfügung. Unseren Informationen zufolge hält sich Ms. Tillbury in High Ridge auf, einem Frauenhaus und Übergangszentrum, das Woman-Care angeschlossen ist und von dort auch verwaltet wird. Sie und ihre Mitarbeiterinnen halten sich vermutlich dort auf und treffen die letzten Vorbereitungen für eine, wie sie hoffen, friedliche, gewaltfreie Veranstaltung heute abend im Bürgerzentrum.«
Ralph sah Lois an und sagte: »Okay – jetzt wissen wir wenigstens, wohin wir gehen.«
Das Fernsehbild zeigte wieder Lisette Benson im Studio. »John, gibt es im Bürgerzentrum Hinweise auf tatsächliche gewaltsame Übergriffe?«
Schnitt zu Kirkland, der seine ursprüngliche Position vor den Polizeiautos wieder eingenommen hatte. Er hielt ein kleines, bedrucktes weißes Rechteck vor seine Krawatte. »Nun, private Sicherheitskräfte fanden heute morgen kurz nach Anbruch der Dämmerung Hunderte dieser Karteikarten auf dem Rasen vor dem Bürgerzentrum. Ein Wachmann behauptet, daß er das Fahrzeug gesehen hat, aus dem sie geworfen wurden. Es soll sich um einen Cadillac aus den späten sechziger Jahren gehandelt haben, entweder braun oder schwarz. Er konnte sich die Nummer nicht merken, sagte aber etwas von einem Stoßstangenaufkleber mit der Aufschrift ABTREIBUNG IST MORD UND KEINE FREIE ENTSCHEIDUNG.«
Ins Studio, wo Lisette Benson einen mächtig interessierten Eindruck machte. »Was steht auf diesen Karten, John?«
Zurück zu Kirkland.
»Man muß wohl sagen, daß es sich um eine Art Rätsel handelt.« Er betrachtete die Karte. »>Wenn Sie eine mit zwei Kugeln geladene Waffe haben und sich in einem Zimmer mit Hitler, Stalin und einer Abtreibungsbefürworterin befinden, was tun Sie?<« Kirkland sah wieder in die Kamera und sagte: »Die Antwort steht auf der Rückseite, Lisette, und sie lautet: >Sie schießen zweimal auf die Abtreibungsbefürworterin.<
Das war John Kirkland mit einem Livebericht vom Bürgerzentrum in Derry.«
»Ich verhungere«, sagte Lois, während Ralph den Oldsmobile vorsichtig die zahlreichen Rampen des Parkhauses hinuntersteuerte, die sie angeblich ins Freie bringen sollten… das heißt, wenn Ralph keines der Ausfahrtsschilder übersah. »Und wenn das übertrieben ist, dann nicht viel.«
»Ich auch«, sagte Ralph. »Und wenn man bedenkt, daß wir seit Dienstag nichts mehr gegessen haben, war das eigentlich zu erwarten. Wir gehen auf dem Weg nach High Ridge gut frühstücken.«
»Haben wir denn die Zeit?«
»Wir nehmen uns die Zeit. Schließlich kann keine Armee mit leerem Magen kämpfen.«
»Da hast du wohl recht, obwohl ich mir nicht sehr armeemäßig vorkomme. Weißt du, wo -«
»Sei mal einen Moment still, Lois.«
Er brachte den Oldsmobile zum Stillstand, stellte das Automatikgetriebe auf Parken und lauschte. Unter der Haube ertönte ein Klicken, das ihm nicht besonders gefiel. Selbstverständlich verstärkten Betonwände in Gebäuden wie diesem hier jedes Geräusch, aber trotzdem…
»Ralph?« fragte sie nervös. »Sag mir nicht, daß etwas mit dem Auto nicht stimmt. Alles, nur das nicht, okay?«
»Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, sagte er und kroch wieder dem Tageslicht entgegen. »Seit Carolyns Tod bin ich einfach nicht mehr an die gute alte Nellie gewöhnt. Ich habe vergessen, was für Geräusche sie macht. Du wolltest mich etwas fragen, oder nicht?«
»Ob du weißt, wo sich das Frauenhaus befindet. High Ridge.«
Ralph schüttelte den Kopf. »Irgendwo in der Nähe der Stadtgrenze von Newport, mehr weiß ich nicht. Ich glaube, sie dürfen mir auch nicht sagen, wo genau es liegt. Ich dachte, vielleicht hättest du es gehört.«
Lois schüttelte den Kopf. »Gott sei Dank mußte ich nie in so einem Haus Zuflucht suchen. Wir müssen sie anrufen. Diese Tillbury. Du hast sie mit Helen kennengelernt, also kannst du mit ihr reden. Dir wird sie zuhören.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, bei dem ihm warm ums Herz wurde – jeder bei klarem Verstand würde dir zuhören, Ralph, sagte der Blick -, aber Ralph schüttelte den Kopf. »Ich wette, sie nimmt heute nur Anrufe entgegen, die vom Bürgerzentrum kommen oder von dort, wo sich Susan Day gerade aufhält.« Er warf ihr einen Blick zu. »Weißt du, diese Frau hat wirklich Mumm, hierherzukommen. Entweder das, oder sie ist eine dumme Kuh.«
»Wahrscheinlich von beidem ein bißchen. Wenn Gretchen Tillbury keine Anrufe entgegennimmt, wie sollen wir dann mit ihr Verbindung aufnehmen?«
»Nun, ich will dir was sagen. Ich bin den größten Teil dessen, was Faye Chapin mein wirkliches Leben nennen würde, Vertreter gewesen, und ich denke, ich habe immer noch ein paar gute Ideen, wenn es drauf ankommt.« Er dachte an die Dame mit der orangefarbenen Aura am Informationsschalter und grinste. »Und vielleicht sogar überzeugende.« »Ralph?« Ihre Stimme klang piepsig.
»Was, Lois?«
»Mir kommt dies hier wie das wirkliche Leben vor.«
Er tätschelte ihre Hand. »Ich weiß, was du meinst.«
Ein vertrautes hageres Gesicht sah aus dem Kartenhäuschen des Krankenhausparkhauses; ein vertrautes Grinsen aus dem mindestens ein halbes Dutzend Zähne desertiert waren -breitete sich darauf aus.
»Eeeeh, Ralph, bist du das? Isses die Möglischkeit? Schön! Schön!«
»Trigger?« fragte Ralph langsam. »Trigger Vachon?«
»Kein ärmerer!« Trigger schüttelte das fettige braune Haar aus der Stirn, damit er Lois besser sehen konnte. »Und wer ist diese reizende Blume? Isch kenn sie von irgendwo ‘er, der Teufel soll misch ‘olen, wenn’s nischt so ist!«
»Lois Chasse«, sagte Ralph und holte den Parkschein, den er an der Sonnenblende festgeklemmt hatte. »Du hast vielleicht ihren Mann Paul gekannt -«
»Verdammt rischtisch, das ‘ab isch!« schrie Trigger. Damals, neunzehnsibbenzisch oder einundsibbenzisch sind wir am Wochenende immer rumgezogen! Mehr als einmal bis zur Sperrstunde in Nan’s Tavern! ‘immel Arsch! Wie geht es Paul ‘eute so, Ma’am?«
»Mr. Chasse ist vor etwas mehr als zwei Jahren von uns gegangen«, sagte Lois.
»O verdammt! Tut mir leid, das zu ‘ören. War ein dufter Kumpel, Paul Chasse. Wirklisch ein rundum dufter Kumpel. Alle ‘aben ihn gemocht.« Trigger sah so betroffen aus, als hätte sie ihm gesagt, daß es erst heute morgen passiert sei.
»Danke, Mr. Vachon.« Lois sah auf die Uhr, dann Ralph an. Ihr Magen knurrte, als wollte er das letzte Wort zu dem Thema beisteuern.
Ralph reichte seinen Parkschein durch das offene Fenster des Autos, und als Trigger ihn nahm, wurde ihm bewußt, der Datumsstempel würde zeigen, daß er und Lois seit Dienstagabend hier waren. Fast sechzig Stunden.
»Was ist mit der chemischen Reinigung geworden, Trig?« fragte er hastig.
»Ahhh, ‘am misch entlassen«, sagte Trigger, »‘am fast alle entlassen. Zuerst war isch ‘n bißschen traurisch, aber letzten April ‘ab isch ‘ier angefangen, und… ehhh! Gefällt mir viel besser, ‘ab ‘nen kleinen Fernse’er, wenn nix los is’, und ‘ier ‘upt keiner, wenn isch nischt sofort losfahr, wenne Ampel grün wird, oder schneidet misch draußen auf der Extension. Alle ‘ams eilig, wo’in zu kommen, nur warum weiß isch nischt. Außerdem will isch dir was sagen, Ralph: Im Winter war der Scheißlastwagen kälter als ‘exentitten. Pardon, Ma’am.«
Lois antwortete nicht. Sie schien mit größtem Interesse die Rückseite ihrer Hände zu studieren. Derweil sah Ralph erleichtert, wie Trigger den Parkschein zusammenknüllte und in den Mülleimer warf, ohne auch nur einen Blick auf Datumund Uhrzeitstempel zu werfen. Er drückte einen Knopf der Registrierkasse, worauf in beiden Fenstern ein Schild mit der Aufschrift $ 0,00 hochschnellte.
»Mensch, Trig, das ist echt nett von dir«, sagte Ralph.
»Ehhh, nischt der Rede wert«, sagte Trigger und drückte mit großer Geste einen weiteren Knopf. Die Schranke vor der Kabine ging in die Höhe. »Schön, disch zu sehen. Letztesmal war draußen beim Flug’afen. Daran erinnerste disch noch, was? War ‘eißer als inner ‘olle, und die beiden Typen sind einander fast anne ‘älse gegangen. Und dann ‘ats geregnet wie der Teufel. Und ge’agelt. Du warst zu Fuß, und isch ‘ab disch nach ‘ause gefahren.« Er sah Ralph eingehender an. »Siehst ‘eute viel besser aus als damals, Ralphie, das kann isch dir sagen. Verdammt, siehst kein’ Tag älter als fünfundfünfzisch aus. Schön!«
Lois’ Magen knurrte wieder, diesmal lauter. Sie betrachtete weiter ihre Handrücken.
»Ich fühle mich aber ein bißchen älter«, sagte Ralph. »Hör zu, Trig, es war schön, dich zu sehen, aber wir müssen -«
»Verdammt«, sagte Trigger, und seine Augen sahen in die Ferne. »Isch wollte dir was sagen, Ralph. Glaub ich jedenfalls. Wegen diesem Tag. ‘errje, ‘ab isch ‘n dummen alten Kopf!«
Ralph wartete noch einen Moment unbehaglich zwischen Ungeduld und Neugier. »Mach dir nichts draus, Trig. Ist schon lange her.«
»Aber was, zum Teufel…?« fragte Trigger sich selbst. Er sah zur Decke seiner kleinen Kabine, als könnte die Antwort dort geschrieben stehen.
»Ralph, wir müssen los«, sagte Lois. »Und nicht nur wegen dem Frühstück.«
»Ja. Du hast recht.« Er ließ den Oldsmobile langsam anrollen. »Wenn es dir wieder einfällt, Trig, ruf mich an. Ich steh im Telefonbuch. War schön, dich zu sehen.«
Trigger Vachon schenkte ihm überhaupt keine Beachtung; tatsächlich schien er gar nicht mehr zu merken, daß Ralph noch da war. »War es was, das wir gese’en ‘aben?« wollte er von der Decke wissen. »Oder was wir getan ‘aben? Mann!«
Er sah immer noch zur Decke und kratzte sich das dünne Haar im Nacken, als Ralph nach links abbog, zum Abschied grüßend die Hand hob und den alten Oldsmobile mit einem letzten Winken den Hospital Drive hinunter zu dem flachen Backsteingebäude von Woman-Care steuerte.
Nachdem die Sonne aufgegangen war, stand nur noch ein Wachmann da, und die Demonstranten hatten sich ganz verzogen. Ihre Abwesenheit rief in Ralph Erinnerungen an alle Dschungelfilme wach, die er in seiner Jugend gesehen hatte, besonders an den Teil, wo die Trommeln der Eingeborenen verstummten und der Held – Jon Hall oder Frank Bück – sich zum Anführer seiner Träger umdrehte und sagte, daß ihm das nicht gefiele, daß es zu still sei. Der Wächter zog ein Notizbrett unter dem Arm hervor, betrachtete Ralphs Olds mit verkniffenen Augen und schrieb etwas auf – wahrscheinlich die Autonummer. Dann kam er auf dem mit Karteikarten übersäten Rasen auf sie zugeschlurft.
Zu dieser frühen Morgenstunde konnte sich Ralph einen Parkplatz gegenüber dem Gebäude aussuchen. Er parkte, stieg aus und ging um das Auto herum, um Lois die Tür zu öffnen, wie er es gelernt hatte.
»Wie willst du es machen?« fragte sie, als er ihr die Hand reichte und aus dem Auto half.
»Wahrscheinlich müssen wir ein bißchen nett sein, aber wir wollen es nicht übertreiben. Richtig?« »Richtig.« Sie strich nervös mit der Hand an der Vorderseite ihres Mantels hinunter, als sie über den Rasen gingen, dann strahlte sie dem Wachmann ein Megawattlächeln entgegen. »Guten Morgen, Officer.«
»Morgen.« Er sah auf die Uhr. »Ich glaube nicht, daß um diese Zeit jemand da ist, außer der Dame am Empfang und der Putzfrau.«
»Genau zu der Dame am Empfang möchten wir«, sagte Lois fröhlich. Das war neu für Ralph. »Barbie Richards. Ihre Tante Simone hat eine Nachricht, die ich ihr überbringen soll. Sehr wichtig. Sagen Sie ihr, es ist Lois Chasse.«
Der Wachmann dachte darüber nach, dann nickte er in Richtung der Tür. »Das wird nicht nötig sein. Gehen Sie ruhig rein, Ma’am.«
Lois sagte strahlender lächelnd denn je: »Wir werden keine zwei Minuten brauchen, oder, Norton?«
»Eher anderthalb«, stimmte Ralph zu. Als sie sich dem Gebäude näherten und den Wachmann hinter sich zurückließen, beugte er sich zu ihr und murmelte: »Norton? Großer Gott, Lois, Norton?«
»Das war der erste Name, der mir eingefallen ist«, antwortete sie. »Ich schätze, ich habe an The Honeymooners gedacht Ralph und Norton, weißt du noch?«
»Ja«, sagte er. »Eines Tages, Alice… peng! Bis zum Mond!«
Zwei der drei Türen waren verschlossen, aber die ganz links ging auf, und sie traten ein. Ralph drückte Lois’ Hand und spürte, wie sie den Druck erwiderte. Im gleichen Augenblick spürte er, wie seine Aufmerksamkeit stark gebündelt wurde und sein Wille und seine Konzentration sich verstärkten. Rngs um ihn herum schien das Auge der Welt zuerst zu blinzeln und dann weit aufgeschlagen zu werden. Um sie beide herum.
Der Empfangsbereich war schmucklos, fast nüchtern. Die Wände bestanden aus druckbehandeltem Fichtenholz, die Sessel und Sofas waren streng und zweckdienlich, das dekorative Beiwerk gedämpft. Bei den Plakaten an den Wänden handelte es sich um den Typus, den die Fremdenverkehrsämter fremder Länder gegen Portoerstattung verschickten. Die einzige Ausnahme befand sich rechts von der Rezeption: ein großes Schwarzweißfoto einer jungen Frau im Umstandskleid. Sie saß auf einem Barhocker und hielt ein Martiniglas in einer Hand. WENN SIE SCHWANGER SIND, TRINKEN SIE NIE ALLEIN! lautete die Legende unter dem Foto. Nichts deutete darauf hin, daß in einem oder mehreren Zimmern hinter diesem freundlichen, unaufdringlichen Büro auf Verlangen Abtreibungen durchgeführt wurden.
Nun, dachte Ralph, was hast du erwartet? Eine Werbung? Ein Plakat mit abgetriebenen Föten in einem emaillierten Mülleimer zwischen einem Plakat mit der Insel Capri und einem mit den italienischen Alpen drauf? Komm zu dir, Ralph.
Links von ihnen wusch eine kräftige Frau Ende vierzig oder Anfang Fünfzig die Platte eines Glastischs ab; heben ihr stand ein kleiner Wagen mit verschiedenen Putzmitteln. Sie steckte in einer dunkelblauen Aura mit ungesunden schwarzen Flecken, die wie unheimliche Insekten über den Stellen ausschwärmten, wo sich Herz und Lungenflügel befanden, und sie sah die Neuankömmlinge mit unverhohlenem Argwohn an.
Direkt vor ihnen beobachtete eine andere Frau sie vorsichtig, allerdings nicht so argwöhnisch wie die Putzfrau. Ralph kannte sie vom Fernsehbericht am Tag der Demonstration mit den Puppenwürfen. Simone Castonguays Nichte war dunkelhaarig, um die Fünfunddreißig und sah selbst zu dieser frühen Morgenstunde atemberaubend aus. Sie saß hinter einem nüchternen Schreibtisch aus grauem Metall, der einen krassen Gegensatz zu ihrem Aussehen bildete, und inmitten einer waldgrünen Aura, die bei weitem gesünder als die der Putzfrau aussah. Auf einer Ecke des Schreibtischs stand eine Glasvase mit Herbstblumen.