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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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PROLOG

Die Todesuhr wird aufgezogen (I)

Alter ist eine vom Tod umgebene Insel.

Jüan Montalvo Über die Schönheit

Niemand – am allerwenigsten Dr. Litchfield – sagte Ralph Roberts frei heraus, daß seine Frau sterben würde, aber die Zeit kam, da begriff es Ralph, ohne daß sie es ihm sagen mußten. Die Monate zwischen März und Juni waren eine nervenaufreibende, hektische Zeit in seinem Kopf – eine Zeit von Besprechungen mit Ärzten, von abendlichen Krankenhausbesuchen mit Carolyn, von Reisen zu anderen Krankenhäusern in anderen Staaten, um spezielle Tests durchzuführen (Ralph verbrachte einen Großteil dieser Reisen damit, daß er Gott für Carolyns Blue Cross/Major Medical-Krankenversicherung dankte), von persönlichen Recherchen in der öffentlichen Bibliothek von Derry, wo er zuerst nach Lösungen, die die Spezialisten übersehen haben könnten, und später nur noch nach Hoffnung suchte und sich an Strohhalme klammerte.

Diese vier Monate waren, als würde er betrunken durch einen bösen Jahrmarkt geschleppt werden, wo die Leute auf den Karussells wirklich schrien, wo sich die Leute wirklich im Spiegellabyrinth verirrten und die Einwohner der Freak Alley einen mit falschem Lächeln in den Gesichtern und Entsetzen in den Augen ansahen. Ralph sah das alles Mitte Mai, und als der Juni kam, war ihm klar geworden, daß die Werfer entlang der medizinischen Mittellinie nur Quacksalbereien zu verkaufen hatten, und der fröhliche Quickstep der Drehorgel konnte nicht mehr über die Tatsache hinwegtäuschen, daß die Melodie, die aus den Lautsprechern drang, der Trauermarsch war. Es war ein Jahrmarkt, durchaus; der Jahrmarkt der verlorenen Seelen.

Ralph verdrängte diese gräßlichen Bilder – und die noch gräßlichere Schlußfolgerung, die hinter ihnen lauerte – den ganzen Frühsommer des Jahres 1992 hindurch, aber als der Juni in den Juli überging, wurde das schließlich unmöglich.

Die schlimmste Sommerhitze welle seit 1971 rollte über das mittlere Maine hinweg, und Derry simmerte in Hitzeflimmern, Luftfeuchtigkeit und Tagestemperaturen um die fünfunddreißig Grad vor sich hin. Die Stadt – schon unter günstigsten Bedingungen nicht gerade eine überschäumende Metropole -verfiel in völlige Lethargie, und in dieser drückenden Stille hörte Ralph Roberts zum erstenmal das Ticken der Todesuhr und begriff, daß beim Übergang des kühlen, tiefen Grüns des Juni in die brütende Hitze des Juli Carolyns Chancen auf Null gesunken waren. Sie würde sterben. Wahrscheinlich nicht diesen Sommer – die Ärzte behaupteten, daß sie noch ein paar Asse im Ärmel hätten, und Ralph war überzeugt, daß das stimmte -, aber diesen Herbst oder Winter. Seine langjährige Lebensgefährtin, die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte, würde sterben. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen, und schalt sich einen morbiden alten Narren, aber im resignierten Schweigen der heißen Tage hörte Ralph das Ticken überall – es schien sogar in den Wänden zu sein.

Am lautesten ertönte es aber aus Carolyn selbst, und wenn sie ihm das gelassene, blasse Gesicht zuwandte – um ihn zu bitten, das Radio einzuschalten, damit sie zuhören konnte, während sie Bohnen fürs Essen schälte, oder ins Red Apple zu gehen und ihr ein Eis am Stiel zu kaufen -, konnte er sehen, daß sie es auch hörte. Er sah es in ihren dunklen Augen, anfangs nur, wenn sie klar war, aber später auch wenn ihre Augen von den Schmerzmitteln umwölkt waren, die sie bekam. Da war das Ticken schon sehr laut geworden, und wenn Ralph in den heißen Sommernächten, da selbst ein einziges Laken zehn Pfund zu wiegen schien und er glaubte, daß jeder einzelne Hund in Derry den Mond anheulte, neben ihr im Bett lag, da lauschte er ihm, dem Ticken der Todesuhr in Carolyn, und ihm schien, als müßte sein Herz vor Kummer und Angst zerspringen. Wieviel würde sie leiden müssen, bevor das Ende kam? Wieviel würde er leiden müssen? Und wie sollte er nur ohne sie leben können?

Während dieser seltsamen, kummervollen Zeit begann Ralph auch in den heißen Sommernachmittagen und langen dämmerigen Abenden zunehmend längere Spaziergänge zu machen und kam manchmal so erschöpft zurück, daß er nicht einmal mehr essen konnte. Er rechnete damit, daß Carolyn ihn wegen dieser Ausflüge beschimpfen würde, daß sie sagen würde: Warum läßt du das nicht bleiben, du dummer alter Mann? Du wirst dich umbringen, wenn du weiter bei dieser Hitze spazierengehst! Aber sie sagte nie etwas, und allmählich erst ging ihm auf, daß sie es nicht einmal wußte. Daß er ausging – ja, das wußte sie. Aber nichts von den vielen Meilen, die er zu Fuß ging, und auch nicht, daß er häufig vor Erschöpfung zitterte und einem Hitzschlag nahe war, wenn er nach Hause kam. Früher hatte Ralph immer geglaubt, sie würde alles sehen, selbst wenn er seinen Scheitel einen Zentimeter versetzt trug. Jetzt nicht mehr; der Tumor in ihrem Gehirn hatte ihr die Beobachtungsgabe gestohlen, wie er bald ihr Leben stehlen würde.

Und so ging er spazieren und genoß die Hitze, obwohl ihm manchmal schwindlig wurde und seine Ohren klingelten, er genoß sie, gerade weil sie seine Ohren zum Klingeln brachte; manchmal klingelten sie stundenlang so laut, und seine Kopfschmerzen pochten so heftig, daß er das Ticken von Carolyns Todesuhr nicht mehr hören konnte.

Er wanderte in diesem heißen Juli fast durch ganz Derry, ein alter Mann mit schmalen Schultern und schütterem weißen Haar und großen Händen, die immer noch aussahen, als wären sie zu harter Arbeit fähig. Er ging von der Witcham Street bis zu den Barrens, von der Kansas Street bis zur Neibolt Street, von der Main Street bis zur Kissing Bridge, aber am häufigsten trugen ihn seine Füße die Harris Avenue entlang nach Westen, wo die immer noch wunderschöne und heißgeliebte Carolyn Roberts ihr letztes Jahr in einem Nebel von Kopfschmerzen und Morphium verbrachte, zur Harris Avenue Extension und dem Derry County Airport. Er ging die Extension entlang – die baumlos und damit der unbarmherzigen Sonne völlig ausgeliefert war -, bis er spürte, wie seine Knie weich wurden, dann erst kehrte er um.

Er verweilte oft an einem schattigen Picknickplatz in der Nähe des Flughafeneingangs, um wieder zu Puste zu kommen. Nachts war dies ein Teenagertreffpunkt für Liebesspiele und zum Trinken, wo Rap aus Ghettoblastern dröhnte, aber tagsüber gehörte der Platz fast ausschließlich einer Gruppe von Ralphs Freunden, die Bill McGovern immer die »Harris Avenue Altvorderen« nannte. Die Altvorderen trafen sich zum Schachspielen, zum Rommespielen oder einfach nur zum Quasseln. Ralph kannte viele seit Jahren (mit Stan Eberly war er sogar in die Grundschule gegangen) und fühlte sich wohl bei ihnen… solange sie nicht zu naseweis wurden. Die meisten wurden es nicht. Sie waren zum überwiegenden Teil Yankees von altem Schrot und Korn, die in dem Glauben aufgezogen worden waren: Worüber ein Mann nicht sprechen will, das geht nur ihn etwas an.

Bei einem dieser Spaziergänge fiel ihm zu erstenmal auf, daß mit Ed Deepneau, einem Nachbarn aus seiner Straße, etwas nicht stimmte.

Ralph war an diesem Tag viel weiter die Harris Avenue Extension entlanggegangen, was möglicherweise daran lag, daß Gewitterwolken die Sonne verdeckten und eine kühle, wenn auch sporadische Brise zu wehen angefangen hatte. Er war in eine Art Trance gefallen, hatte an nichts gedacht, nichts gesehen außer den staubigen Spitzen seiner Converse-Turnschuhe, als die United-Airlines-Maschine 16:45 von Boston dicht über ihm dahinflog und ihn mit dem vibrierenden, markerschütternden Heulen ihrer Jetturbinen in die Wirklichkeit zurückholte.

Er sah der Maschine nach, wie sie über die alten Eisenbahnschienen von GS&WM und den Sturmzaun flog, der die Grenze des Flughafengeländes umgab, sah sie der Landebahn entgegensinken, sah die blauen Rauchwölkchen, als die Reifen aufsetzten. Dann schaute er auf die Uhr, stellte fest, wie spät es geworden war, und betrachtete mit großen Augen das orangefarbene Dach des Howard Johnson’s an der Straße. Er war tatsächlich in einer Trance gewesen; er hatte fünf Meilen zurückgelegt und nicht das geringste Gefühl dafür gehabt, wie die Zeit verging.

Carolyns Zeit, flüsterte eine Stimme tief in seinem Kopf.

Ja, ja, Carolyns Zeit. Sie lag wahrscheinlich im Apartment und zählte die Minuten, bis sie wieder eine Darvon Complex nehmen konnte, und er befand sich auf der anderen Seite des Flughafens… fast auf halbem Weg nach Newport.

Ralph sah zum Himmel hinauf und nahm zum erstenmal wirklich die purpur-schwarzen Gewitterwolken zur Kenntnis, die sich über dem Flughafen auftürmten. Sie brachten keinen Regen, nicht unbedingt, noch nicht, aber falls es regnete, würde er mit ziemlicher Sicherheit davon überrascht werden; es gab nirgendwo einen Unterschlupf zwischen hier und dem kleinen Picknickplatz an der Startbahn 3, und selbst dort stand nur ein baufälliger kleiner Unterstand, der immer schwach nach Bier roch.

Er warf dem orangefarbenen Dach noch einen Blick zu, dann streckte er die Hand in die rechte Hosentasche und fühlte nach dem Bündel Banknoten mit dem silbernen Geldclip, den Carolyn ihm zum Fünfundsechzigsten geschenkt hatte. Nichts würde ihn daran hindern, zu dem Hojo zu gehen und ein Taxi zu rufen… abgesehen vielleicht von den Blicken, mit denen der Fahrer ihn betrachten würde. Dummer alter Mann, würden die Augen im Rückspiegel sagen. Dummer alter Mann, bist viel weiter gelaufen als du an so ‘nem heißen Tag hättest sollen. Wenn du geschwommen wärst, wärste ersoffen.

Paranoid, Ralph, sagte ihm die Stimme in seinem Kopf, und jetzt erinnerte ihn ihr glucksender, leicht gönnerhafter Ton an Bill McGovern.

Nun, vielleicht, vielleicht auch nicht. So oder so, er beschloß, das Risiko mit dem Regen einzugehen und zu Fuß nach Hause zu gehen.

Und wenn es nicht nur regnet? Letzten Sommer hat es so sehr gehagelt, daß im August einmal sämtliche Fenster an der Westseite zertrümmert wurden.

»Dann soll es hageln«, sagte er. »So leicht bekomme ich keine blauen Flecken.«

Ralph ging an der Böschung der Extension langsam Richtung Stadt zurück, wobei seine alten hohen Turnschuhe kleine, ausgetrocknete Wölkchen im Staub aufwirbelten. Er konnte das erste Donnergrollen im Westen hören, wo sich die Wolken zusammengezogen hatten. Die Sonne war verdeckt, weigerte sich aber, kampflos aufzugeben; sie umrahmte die Gewitterwolken mit gleißenden goldenen Streifen und schien durch vereinzelte Risse zwischen den Wolken wie der gebrochene Lichtstrahl eines riesigen Filmprojektors. Ralph freute sich, daß er beschlossen hatte zu laufen, obwohl er Schmerzen in den Beinen und ein konstantes, bohrendes Stechen unten im Rücken spürte.

Wenigstens eines, dachte er. Heute nacht werde ich schlafen. Heute nacht werde ich schlafen wie ein verdammter Stein.

Die Randzone des Flughafens – hektarweise trockenes braunes Gras, in das die rostigen Eisenbahnschienen eingesunken waren wie die Überreste eines alten Wracks – lag jetzt links von ihm. In weiter Ferne, pnseits des Sturmzauns, konnte er die United 747 erkennen, gerade noch so groß wie ein Kinderspielzeug, die auf die kleine gemeinsame Schalterhalle von United und Delta zurollte.

Ralphs Blick fiel auf ein anderes Fahrzeug, ein Auto, welches den General Aviation Terminal verließ, der an diesem Ende des Flughafens stand. Es fuhr über den Asphalt auf den kleinen Lieferanteneingang zu, der zur Harris Avenue Extension führte. Ralph hatte in letzter Zeit eine Menge Fahrzeuge diesen Eingang passieren gesehen; er lag nur rund siebzig Meter von dem Picknickplatz entfernt, wo sich die Harris Avenue Altvorderen trafen. Als sich das Auto dem Tor näherte, erkannte Ralph den alten rostigen Datsun von Ed und Helen Deepneau… und der hatte einen Affenzahn drauf.

Ralph blieb an der Böschung stehen und merkte nicht, daß er die Hände ängstlich zu Fäusten geballt hatte, als das kleine braune Auto ohne zu bremsen auf das geschlossene Tor zuraste. Um das Tor von außen zu öffnen, brauchte man eine Magnetkarte; im Inneren wurde es von einer Lichtschranke erledigt. Aber die Lichtschranke befand sich dicht am Tor, sehr dicht, und bei der Geschwindigkeit, die der Datsun hatte…

Im letzten Augenblick (so schien es Ralph jedenfalls) kam das kleine braune Auto knirschend zum Stillstand, kleine blaue Rauchwölken stoben von den Reifen auf, bei denen Ralph an die Landung der 747 denken mußte, dann rollte das Tor langsam in seiner Schiene beiseite. Ralphs Fäuste entspannten sich.

Ein Arm wurde auf der Fahrerseite des Datsun herausgestreckt, winkte auf und ab und drängte das Tor offenbar, sich gefälligst zu beeilen. Das hatte etwas so Absurdes, daß Ralph lächeln mußte. Aber das Lächeln verschwand, bevor auch nur eine Spur der Zähne zu sehen war. Es wehte immer noch ein frischer Wind von Westen, wo die Gewitterwolken sich auftürmten, und der trug die kreischende Stimme des Fahrers im Datsun mit sich:

»Du elendes verschissenes Miststück! Du Aas! Leck mich am Arsch! Beeil dich! Beeil dich, du dreckige stinkende Fotze! Scheißding! Dreckschleuder! Arschloch!«

»Das kann nicht Ed Deepneau sein«, murmelte Ralph. Er setzte sich ohne es zu merken wieder in Bewegung. »Das kann er nicht sein.«

Ed war Chemiker in den Hawking Forschungslabors in Fresh Harbor, einer der freundlichsten, anständigsten jungen Männer, die Ralph jemals kennengelernt hatte. Er und Carolyn hielten große Stücke auf Eds Frau Helen und deren neugeborenes Baby Natalie. Ein Besuch von Natalie gehörte zu den wenigen Dingen, die noch imstande waren, Carolyn ihre Lage vergessen zu lassen, und da Helen das spürte, brachte sie sie häufig vorbei. Ed beschwerte sich nie. Ralph wußte, es gab Männer, die es nicht gern gesehen hätten, wenn die Missus jedesmal, wenn das Baby etwas Neues und Entzückendes machte, zu den alten Leuten in der Straße lief, besonders wenn die Großmama-Figur in dem Bild schwer krank war.

Ralph hatte sich gedacht, daß Ed niemanden zum Teufel wünschen könnte, ohne deshalb eine schlaflose Nacht zu haben, aber…

»Du dreckiges Hurenstück! Beweg deinen verschissenen Arsch, hast du gehört? Arschficker! Fotzenhammer!«

Aber er hörte sich auf jeden Fall wie Ed an. Selbst aus zwei-bis dreihundert Metern Entfernung, und so weit war er noch entfernt, hörte er sich so an.

Jetzt legte der Fahrer des Datsun den Gang ein wie ein Halbstarker an der Ampel, der darauf wartet, daß das Licht grün wird. Abgaswolken furzten aus dem Auspuff. Kaum war das Tor so weit aufgegangen, daß der Datsun passieren konnte, schnellte dieser nach vorne, quetschte sich mit aufheulendem Motor durch die Öffnung, und dabei konnte Ralph den Fahrer deutlich sehen. Er war jetzt so nahe, daß kein Zweifel mehr bestehen konnte; es handelte sich tatsächlich um Ed Deepneau.

Der Datsun holperte die kurze, ungeteerte Strecke zwischen dem Tor und der Harris Street Extension entlang. Plötzlich ertönte eine Hupe, und Ralph sah einen blauen Ford Ranger, der auf der Extension nach Westen fuhr und das Lenkrad herumreißen mußte, um dem heranbrausenden Datsun auszuweichen. Der Fahrer des Pickup sah die Gefahr zu spät, und Ed sah sie offenbar überhaupt nicht (erst später überlegte sich Ralph, daß Ed den Ranger möglicherweise absichtlich gerammt haben könnte). Einem kurzen Quietschen von Reifen folgte ein hohler Knall, als die Stoßstange des Datsun in die Seite des Ford rammte. Die Haube des Datsun wurde zusammengedrückt, dann sprang sie auf und schnellte ein wenig hoch; Scheinwerferglas rieselte auf die Straße. Einen Augenblick später standen beide Fahrzeuge reglos mitten auf der Straße, ineinander verkeilt wie eine seltsame Skulptur.

Ralph blieb vorerst stehen, wo er war, und sah zu, wie sich ein Ölfleck unter dem vorderen Ende des Datsun bildete. Er hatte einige Verkehrsunfälle in seinen fast siebzig Jahren gesehen, die meisten Blechschäden, einer oder zwei ernst, und es verblüffte ihn immer wieder, wie schnell sie passierten und wie wenig dramatisch sie abliefen. Es war nicht wie in einem Film, wo die Kamera alles in Zeitlupe zeigen konnte, und nicht wie eine Videokassette, wo man sich immer wieder ansehen konnte, wie das Auto über die Klippe stürzte, wenn man wollte; normalerweise sah man nur eine Reihe aufeinander zurasender Schlieren, gefolgt von der raschen und tonlosen Abfolge von Geräuschen: quietschende Reifen, der hohle Knall von Metall, das auf Metall prallt, das Klirren von Glas. Dann, voila – tout finis.

Es gab sogar eine Art Verhaltensmaßregel für so eine Situation: Wie Sie sich bei Zusammenstößen mit geringer Geschwindigkeit verhalten sollten. Selbstverständlich gab es das, überlegte Ralph. Wahrscheinlich fanden jeden Tag ein Dutzend Zusammenstöße in Derry statt, im Winter wahrscheinlich doppelt soviel, wenn es schneite und die Straßen glatt wurden. Man stieg aus, man traf sein Gegenüber an der Stelle, wo die beiden Fahrzeuge zusammengeprallt waren (und wo sie in den meisten Fällen noch ineinander verhakt waren), man sah sich den Schaden an, man schüttelte die Köpfe. Manchmal – sogar ziemlich häufig – wurde diese Phase der Begegnung von wütenden Worten begleitet: Schuldzuweisungen wurden ausgesprochen (häufig grob), Fahrkünste in Zweifel gezogen, rechtliche Schritte angedroht. Ralph vermutete, was die Fahrer wirklich sagen wollten, ohne es unumwunden auszusprechen, war: Hör zu, du Idiot, du hast mir einen verdammten Schrecken eingejagt!

Der letzte Schritt dieses unglücklichen kleinen Tanzes war der Austausch von Versicherungskarten, und an diesem Punkt bekamen die Fahrer normalerweise ihre mit ihnen durchgehenden Gefühle wieder unter Kontrolle… immer vorausgesetzt, daß niemand verletzt worden war, was hier der Fall zu sein schien. Manchmal schüttelten die betroffenen Fahrer sich zum Abschied sogar die Hände.

Ralph bereitete sich darauf vor, das alles von seinem Beobachtungsposten keine hundertfünfzig Meter entfernt mit anzusehen, aber sobald die Fahrertür des Datsun aufging, wurde ihm klar, daß es hier anders laufen würde – daß der Unfall womöglich noch nicht vorbei war, sondern immer noch andauerte. Auf jeden Fall sah es nicht so aus, als würde sich jemand am Ende dieser Festivitäten die Hände schütteln.

Die Tür schwang nicht auf, sie flog auf. Ed Deepneau sprang heraus und blieb dann einfach stocksteif neben seinem Auto stehen, wo er die schmalen Schultern vor dem Hintergrund der dunklen Wolken krümmte. Er trug verblichene Jeans und ein T-Shirt, und Ralph überlegte sich, daß er Ed bis zum heutigen Tag nie in einem Hemd gesehen hatte, das man nicht vorne knöpfen konnte. Und er trug etwas um den Hals: ein langes, weißes Etwas. Einen Schal? Es sah wie ein Schal aus, aber warum sollte jemand an einem so heißen Tag einen Schal tragen?

Ed stand einen Moment neben seinem verwundeten Auto und schien in jede Richtung zu sehen, nur nicht in die richtige. Die störrischen kleinen Locken seines schmalen Kopfs erinnerten Ralph daran, wie Hähne ihre Höfe absuchten und nach Eindringlingen und Störenfrieden Ausschau hielten. Etwas an dieser Ähnlichkeit erfüllte Ralph mit Unbehagen. Er hatte Ed noch nie so gesehen, und er schätzte, das Unbehagen hing damit zusammen, aber nicht nur. Die Wahrheit war schlicht und einfach: Er hatte überhaupt noch nie jemand, der so aussah, gesehen.

Der Donner grollte jetzt lauter im Westen. Und näher.

Aus dem Mann, der aus dem Ranger ausstieg, hätte man zwei Ed Deepneaus machen können, möglicherweise drei. Sein gewaltiger, feister Bauch hing über den umgerollten Saum der grünen Kordsamthose; und er hatte Schwitzflecken so groß wie Eßteller unter den Achseln seines weißen Hemds mit dem offenen Kragen. Er klappte den Schirm der West Side Gardeners Mütze zurück, damit er sich den Mann genauer ansehen konnte, der ihn volle Breitseite erwischt hatte. Sein kantiges Gesicht war totenbleich, abgesehen von glänzenden farbigen Flecken auf den Wangen, wie Rouge, und Ralph dachte: Das ist ein Spitzenkandidat für einen Herzanfall. Wenn ich näher dran wäre, könnte ich todsicher die Falten in seinen Ohrläppchen sehen.

»He!« schrie der vierschrötige Kerl Ed an. Die Stimme, die aus der breiten Brust und dem gewaltigen Oberkörper kam, klang grotesk dünn, fast piepsig. »Wo hast du denn’n Führerschein her? Vom Versandhaus?«

Eds kreisender, nickender Kopf zuckte sofort in die Richtung, aus der die Stimme ertönt war – schien fast darauf einzuschwenken wie ein vom Radar geleiteter Düsenjäger -, und nun konnte Ralph zum erstenmal richtig in Eds Augen sehen. Er spürte Schrecken in der Brust auflodern und rannte plötzlich zur Unfallstelle. Derweil ging Ed auf den Mann im schweißnassen weißen Hemd und der Mütze zu. Er ging mit steifen Beinen und gereckten Schultern, ganz anders als sein gewohntes, lässiges Schlurfen.

»Ed!« rief Ralph, aber die frische Brise – inzwischen kalt und regenschwanger – schien die Worte mit sich zu reißen, bevor sie richtig aus seinem Mund gekommen waren. Ed drehte sich auf jeden Fall nicht um. Ralph zwang sich, schneller zu laufen, und vergaß seine schmerzenden Beine und das Pochen unten im Rücken. Er hatte Mordlust in Eds aufgerissenen, starren Augen gesehen. Er besaß überhaupt keine einschlägigen Erfahrungen, mit denen er sein Urteil hätte begründen können, aber er glaubte nicht, daß man einen derart unverhohlenen Blick falsch interpretieren konnte; es war der Blick von Kampfhähnen, wenn sie sich mit aufgerichteten, messerscharfen Sporen aufeinander stürzten. »Ed! He, Ed, warte! Ich bin es, Ralph!«

Nicht einmal ein Blick zurück, obwohl Ralph jetzt so nahe war, daß Ed ihn gehört haben mußte, Wind hin oder her. Der vierschrötige Mann drehte sich auf jeden Fall um, und Ralph konnte Angst und Unsicherheit in seinen Augen sehen. Dann wandte sich der Vierschrötige wieder an Ed und hob beschwichtigend die Hände.

»Hören Sie«, sagte er. »Wir können miteinander reden… «

Weiter kam er nicht. Ed machte einen weiteren raschen Schritt vorwärts, hob eine schlanke Hand – in der sich zunehmend verdüsternden Atmosphäre wirkte sie übertrieben weiß – und schlug dem Vierschrötigen damit über den mehr als markanten Kiefer. Das Geräusch hörte sich wie das Luftdruckgewehr eines Kindes an.

»Wie viele hast du umgebracht?« fragte Ed.

Der Vierschrötige drückte den Rücken an die Seite des Pickup; sein Mund stand offen, seine Augen waren groß. Ed unterbrach seinen merkwürdig steifen Gang keinen Moment. Er lief zu dem anderen Mann, stand Bauch an Bauch mit ihm und schien überhaupt nicht zu bemerken, daß der Fahrer des Lasters zehn Zentimeter größer und hundert Pfund oder mehr schwerer war. Ed hob die Hand und schlug ihn wieder. »Komm schon! Spuck’s aus, tapferer Junge – wie viele hast du umgebracht?« Seine Stimme schwoll zu einem Kreischen an, das im ersten ehrfurchtgebietenden Donnerschlag des Gewitters unterging.

Der Vierschrötige stieß ihn weg – eine Geste, die nicht Aggression, sondern einfach Angst ausdrückte -, und Ed taumelte rückwärts gegen die eingedrückte Schnauze seines Datsun. Er schnellte sofort wieder mit geballten Fäusten nach vorne und nahm offensichtlich all seine Kräfte zusammen, um sich auf den Vierschrötigen zu stürzen, der mittlerweile mit schiefsitzender Schildmütze und an den Seiten und am Rücken heraushängendem Hemd an seinen Laster gelehnt stand. Eine Erinnerung schoß Ralph durch den Kopf – ein Kurzfilm mit den drei Stooges, den er vor Jahren gesehen hatte; Larry, Curry und Moe spielten Anstreicher, ohne eine Ahnung zu haben -, und er verspürte eine plötzliche Aufwallung von Sympathie für den Vierschrötigen, der absurd und zu Tode geängstigt zugleich aussah.

Ed Deepneau sah alles andere als absurd aus. Mit den gefletschten Zähnen und dem starren Blick erinnerte Ed mehr denn je an einen Kampfhahn. »Ich weiß, was du getan hast«, flüsterte er dem Vierschrötigen zu. »Was hast du gedacht, ist das für eine Komödie? Hast du geglaubt, du und deine Schlächterfreunde würden für immer damit durchkom…«

In diesem Augenblick traf Ralph dort ein, schnaufend wie ein alter Karrengaul, und legte Ed einen Arm um die Schultern. Die Hitze unter dem dünnen T-Shirt war beängstigend; es war, als würde man den Arm um einen Heizofen legen, und als Ed sich umdrehte und ihn ansah, hatte Ralph den vorübergehenden (aber unvergeßlichen) Eindruck, daß er auch direkt in einen Heizofen blickte. Er hatte noch nie eine derart allumfassende, vernunftlose Wut in zwei Menschenaugen gesehen; hätte nie vermutet, daß so eine Wut existieren könnte.

Ralphs erste Reaktion war zurückzuweichen, aber er unterdrückte sie und blieb felsenfest stehen. Er hatte den Eindruck, wenn er zurückweichen würde, würde sich Ed wie ein tollwütiger Hund auf ihn stürzen und beißen und kratzen. Das war selbstverständlich absurd; Ed war Chemiker, Ed war Mitglied des Book of the Month Club (von der Sorte, die stets die zwanzig Pfund schwere Geschichte des Krimkriegs kauften, die sie scheinbar immer als Alternative zum Hauptvorschlagsband anzubieten schienen), Ed war Helens Mann und Natalies Dad. Verdammt, Ed war sein Freund.

… aber dies hier war nicht Ed, und das wußte Ralph genau.

Statt zurückzuweichen, beugte sich Ralph nach vorne, packte Ed an den Schultern (so heiß unter dem T-Shirt, so unvorstellbar, pulsierend heiß) und drehte sein Gesicht so, daß es den Vierschrötigen vor Eds unheimlich starrem Blick verbarg.

»Ed, laß das!« sagte Ralph. Er sprach mit der lauten, aber gelassenen und festen Stimme, die seiner Ansicht nach für Leute mit hysterischen Anfällen geeignet war. »Alles in Ordnung! Hör auf!«

Einen Augenblick veränderten sich Eds starre Augen nicht, aber dann wanderte sein Blick über Ralphs Gesicht. Das war nicht viel, aber Ralph verspürte dennoch gelinde Erleichterung.

»Was ist denn mit dem los?« fragte der Vierschrötige hinter Ralph. »Ist er verrückt, was meinen Sie?«

»Mit ihm ist alles bestens, da bin ich ganz sicher«, sagte Ralph, obwohl er sich ganz und gar nicht sicher war. Er sagte es aus dem Mundwinkel heraus, wie ein Schauspieler in einem schlechten Gefängnisfilm, und ließ Ed dabei nicht aus den Augen. Er wagte nicht, ihn aus den Augen zu lassen – ihm schien, als wäre der Blickkontakt der einzige Einfluß, den er auf den Mann hatte, und selbst der war mehr als fragwürdig. »Nur durcheinander wegen dem Unfall. Er braucht ein paar Sekunden, bis er sich beruhigt hat… «

»Frag ihn, was er da unter der Plane hat!« schrie Ed plötzlich und deutete über Ralphs Schulter. Wie auf einen Fingerzeig hin, donnerte es wieder. Blitze zuckten, und einen Augenblick zeichneten sich die Narben von Eds Pubertätsakne als deutliches Relief ab wie eine seltsame organische Schatzkarte. »Hey, hey, Susan Day!« sang er mit einer seltsam kindlichen Stimme, bei der Ralph. Gänsehaut auf den Unterarmen bekam. »How many kids did you kill today?«

»Der ist nicht durcheinander«, sagte der Vierschrötige. »Er ist verrückt. Und wenn die Polizei hier ist, werde ich dafür sorgen, daß er eingesperrt wird.«

Ralph sah sich um, und sein Blick fiel auf die blaue Segeltuchplane, die über die Ladefläche des Pickup gespannt war. Sie war mit hellgelben Schnüren festgebunden. Runde Formen zeichneten sich darunter ab.

»Ralph?« fragte eine zaghafte Stimme.

Er sah nach links und erblickte Dorrance Marstellar – mit über Neunzig locker der älteste der Harris Avenue Altvorderen -, der unmittelbar hinter dem Laster des Vierschrötigen stand. Dorrance hielt ein Taschenbuch in seinen wächsernen, leberfleckigen Händen, und er walkte es nervös und verpaßte dem Buchrücken eine Spezialmassage. Ralph vermutete, daß es sich um einen Gedichtband handelte, denn etwas anderes hatte er den alten Dorrance nie lesen sehen. Vielleicht las er auch gar nicht; vielleicht hielt er die Bücher nur gerne in Händen und betrachtete die kunstvoll aneinandergereihten Worte.

»Ralph, was ist denn los? Was geht hier vor?«

Über ihnen zuckten Blitze, ein purpurweißes Fauchen von Elektrizität. Dorrance sah auf, als wüßte er nicht genau, wo er sich befand, wer er war oder wen er vor sich sah. Ralph stöhnte innerlich.

»Dorrance…«, begann er, aber dann duckte sich Ed unter ihm durch wie ein wildes Tier, das nur stillgehalten hat, um wieder zu Kräften zu kommen. Ralph taumelte, dann stieß er Ed gegen die eingedrückte Haube seines Datsun zurück. Er war zutiefst erschrocken und wußte nicht, was er als nächstes tun sollte oder wie er es tun sollte. Zuviel spielte sich auf einmal ab. Er konnte spüren, wie die Muskeln in Eds Armen unter seinem Griff vibrierten; es war fast, als hätte der Mann einen der Blitze verschluckt, die gerade über den Himmel zuckten.

»Ralph?« fragte Dorrance mit derselben ruhigen, aber besorgten Stimme. »Ich an deiner Stelle würde ihn nicht mehr anfassen. Ich kann deine Hände nicht sehen.«

Na großartig. Noch ein Irrer, um den er sich kümmern mußte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Ralph betrachtete seine Hände, dann den alten Mann. »Wovon redest du, Dorrance?«

»Deine Hände«, sagte Dorrance geduldig. »Ich kann deine Hände nicht… «

»Das hier ist nichts für dich, Dor – warum haust du nicht ab?«

Daraufhin wurde die Miene des alten Mannes etwas heller. »Ja!« sagte er im Tonfall von jemand, der gerade eine große Erleuchtung gehabt hat. »Genau das sollte ich tun!« Er entfernte sich, und als es das nächstemal donnerte, zuckte er zusammen und hielt sich das Buch über den Kopf. Ralph konnte die hellroten Buchstaben des Titels sehen: Buckdancer’s Choice. »Das solltest du auch tun, Ralph. Du solltest dich nicht in langfristige Angelegenheiten einmischen. Dabei kann man immer auf die Schnauze fallen.«

»Was meinst du -«

Aber bevor Ralph zu Ende sprechen konnte, drehte ihm Dorrance den Rücken zu und schlurfte zum Picknickplatz zurück, während sein weißer Haarkranz – dünn wie das Haar auf dem Kopf eines neugeborenen Babys – von der Brise des aufziehenden Sturms zerzaust wurde.

Ein Problem gelöst, aber Ralphs Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Ed hatte sich vorübergehend von Dorrance ablenken lassen, aber jetzt sah er den Vierschrötigen wieder so mordlüstern an, daß kleine Dolche aus seinen Augen zu schießen schienen. »Fotzenlecker!« spie er aus. »Du hast deine Mutter gefickt und ihre Fotze geleckt!«

Der Vierschrötige zog die Stirn kraus. »Was!«

Ed sah wieder zu Ralph, den er jetzt zu erkennen schien. »Frag ihn, was unter der Plane ist!« schrie er. »Oder noch besser, laß es dir von dem mörderischen Schwanzlutscher zeigen!«


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