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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

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Da der Kompaß eines Pfadfinders, der bei einem Ausflug auf den Mount Katahdin gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte.

Der Turnschuh eines kleinen Jungen namens Gage Creed, den ein zu schnell fahrender Tanklaster auf der Route 15 in Ludlow überfahren hatte.

Ringe und Zeitschriften; Schlüsselanhänger und Regenschirme; Hüte und Brillen; Rasseln und Radios. Alle sahen verschieden aus, aber für Ralph waren sie ausnahmslos eines: die schwachen, kläglichen Stimmen von Menschen, die in der Mitte des zweiten Akts aus dem Drehbuch gestrichen worden waren, während sie noch ihren Text für den dritten lernten; Menschen, die ohne große Umstände abgeholt worden waren, bevor ihre Arbeit getan oder ihre Verpflichtungen erfüllt waren; Menschen, deren einziges Verbrechen es war, unter dem Stern des Zufalls geboren worden zu sein… und die Aufmerksamkeit des Irren mit dem rostigen Skalpell auf sich gelenkt zu haben.

Lois, schluchzend: [»Ich hasse ihn! Ich hasse ihn so sehr!«]

Er wußte, was sie meinte. Es war eines, Klotho und Lachesis zuzuhören, wenn sie sagten, daß Atropos ebenfalls in den größeren Rahmen gehörte, daß er vielleicht sogar selbst irgend einem höheren Plan diente, aber etwas völlig anderes, die verblaßte Red-Sox-Mütze eines kleinen Jungen zu sehen, der in ein zugewachsenes Kellerloch gefallen und im Dunkeln gestorben war, unter Schmerzen gestorben, und ohne Stimme, nachdem er sechs Stunden lang nach seiner Mutter geschrien hatte.

Ralph streckt die Hand aus und berührte die Mütze ganz kurz. Billy Weatherbee hatte ihr Besitzer geheißen. Sein letzter Gedanke war der an Eiscreme gewesen.

Ralph drückte Lois’ Hand.

[»Ralph, was ist los? Ich kann dich denken hören – ich bin ganz sicher -, aber es ist, als würde ich jemandem zuhören, der unterdrückt flüstert.«]

[»Ich habe nur gedacht, daß ich dem kleinen Mistkerl gerne eins auswischen möchte. Vielleicht könnten wir ihm zeigen, wie es ist, wenn man nachts wach liegt. Was meinst du?«]

Sie drückte seine Hand ebenfalls fester. Mehr brauchte Ralph nicht als Antwort.

Sie kamen zu einer Stelle, wo der schmale Gang, dem sie folgten, sich teilte. Das leise, konstante Summen kam aus dem linken und war, wie es sich anhörte, nicht mehr weit entfernt. Es war jetzt unmöglich für sie, Seite an Seite zu gehen, und als sie sich dem Ende näherten, wurde der Gang noch schmaler. Ralph mußte schließlich seitwärts weitergehen.

Die rötliche Ausscheidung, die Atropos hinterließ, war hier besonders dick, tropfte an den Souvenirstapeln herunter und bildete kleine Pfützen auf dem gestampften Sandboden. Lois hielt seine Hand jetzt so fest, daß es wehtat, aber Ralph beschwerte sich nicht.

[»Wie beim Bürgerzentrum, Ralph – er verbringt eine Menge Zeit hier.«]

Ralph nickte. Die Frage war, wenn Mr. A. diesen Weg entlang kam, was wollte er sich ansehen… verdammt, womit wollte er kommunizieren? Sie näherten sich jetzt dem Ende des Gangs -er wurde von einer soliden Mauer aus Plunder versperrt -, aber er konnte immer noch nicht sehen, was das Summen erzeugte, das ihn allmählich verrückt machte; es war, als würde ihm eine Pferdebremse direkt durch den Kopf fliegen. Als sie sich dem Ende des Durchgangs näherten, wuchs seine Überzeugung, daß das, wonach sie suchten, sich auf der anderen Seite der Barriere aus Plunder befinden mußte – sie würden entweder umkehren und sich einen anderen Weg suchen oder durchbrechen müssen. Beides konnte mehr Zeit erfordern, als sie sich leisten konnten. Ralph verspürte eine nagende, unterschwellige Verzweiflung.

Aber der Korridor bildete keine Sackgasse; auf der linken Seite befand sich ein Durchschlupf unter einem Eßzimmertisch, auf dem sich Geschirr und Stapel grünen Papiers türmten und -

Grünes Papier? Nein, nicht ganz. Stapel von Banknoten. Zehner, Zwanziger und Fünfziger türmten sich wahllos auf den Tellern. Hunderter waren in eine gesprungene Sauciere gedrückt worden, ein zusammengerollter Fünfhundertdollarschein steckte wie betrunken in einem staubigen Weinglas.

[»Ralph! Mein Gott, das ist ein Vermögen!«]

Sie betrachtete nicht den Tisch, sondern die andere Wand der Passage. Die letzten eineinhalb Meter bestanden aus gebündelten grünen Backsteinen aus Geld, und Ralph wurde klar, daß sich damit eine weitere Frage beantwortete, die ihn beschäftigt hatte: woher Ed seine Knete hatte. Atropos konnte darin baden… aber Ralph vermutete, daß der kleine glatzköpfige Wichser trotzdem Probleme haben würde, sich mit einem Mädchen zu verabreden.

Er bückte sich, damit er den Durchschlupf unter dem Tisch besser sehen konnte. Auf der anderen Seite schien eine sehr kleine Kammer zu liegen. Träges rotes Leuchten pulsierte in dem Kämmerchen wie das Schlagen eines Herzes. Es warf einen unangenehmen roten Schimmer auf ihre Schuhe.

Ralph zeigte darauf, dann sah er Lois an. Sie nickte. Er ließ sich auf die Knie sinken und kroch unter dem mit Geld beladenen Tisch durch in den Schrein, den Atropos um das Ding herum gebaut hatte, das mitten auf dem Boden lag. Deshalb waren sie hergeschickt worden, daran hatte Ralph nicht den geringsten Zweifel, aber er hatte immer noch keine Ahnung, was es eigentlich war. Der Gegenstand, nicht größer als eine Murmel, wie Kinder sie »Klicker« nennen, war in ein Leichentuch gehüllt, so undurchdringlich wie das Zentrum eines schwarzen Lochs.

Oh, prima – klasse. Was nun?

[»Ralph! Hört du den Gesang? Er ist ganz leise.«]

Er sah sie zweifelnd an, dann drehte er sich um. Er haßte diesen engen Raum bereits, und obwohl er nicht an Klaustrophobie litt, spürte er nun, wie sich der panische Wunsch, hier zu verschwinden, in seine Gedanken stahl. Eine deutliche Stimme meldete sich in seinem Kopf zu Wort. Das will ich nicht nur, Ralph; das muß ich. Ich werde mich bemühen, bei dir zu bleiben, aber wenn du nicht bald zu Ende bringst, was du hier tun sollst, spielt es keine Rolle mehr, was einer von uns beiden will – dann werde ich einfach das Ruder übernehmen und abhauen, als wäre der Teufel hinter mir her.

Das unterdrückte Entsetzen in dieser Stimme überraschte ihn nicht, denn dies war wirklich ein gräßlicher Ort – überhaupt kein Zimmer, sondern der Grund eines Schachts aus Gerumpel und gestohlenen Dingen: Toastern, Fußschemeln, Radioweckern, Kameras, Büchern, Kisten, Schuhen, Rechen. Fast unmittelbar vor Ralphs Augen hing an einem zerschlissenen Gurt ein verbeultes altes Saxophon mit der Aufschrift PETE in staubtrübem Bergkristall. Ralph streckte die Hand danach aus, weil er das verdammte Ding aus dem Gesicht haben wollte. Dann überlegte er sich, daß das Entfernen eines Gegenstands möglicherweise einen Erdrutsch auslösen könnte, der die Wände zum Einsturz brachte und sie bei lebendigem Leib begrub. Er zog die Hand zurück. Gleichzeitig öffnete er seinen Geist und seine Sinne, so weit er konnte. Einen Augenblick glaubte er, daß er tatsächlich etwas hören konnte – ein schwaches Seufzen, wie das Flüstern des Meeres in einer Muschel -, aber dann war es verschwunden.

[»Wenn hier drinnen Stimmen sind, Lois, dann kann ich sie nicht hören – dieses verdammte Ding übertönt sie.«]

Er deutete auf den Gegenstand in der Mitte des Kreises ein Schwarz, das alle seine bisherigen Vorstellungen von Schwarz in den Schatten stellte, ein Leichentuch, das der Inbegriff aller Leichentücher war. Aber Lois schüttelte den Kopf.

[»Nein, es übertönt sie nicht. Es saugt sie aus.«]

Sie betrachtete das kreischende schwarze Ding voll Abscheu und Entsetzen.

[»Dieses Ding saugt das Leben aus den ganzen Sachen, die ringsum gestapelt sind… und es versucht, auch aus uns das Leben zu saugen.«]

Ja, natürlich. Jetzt, wo Lois es laut ausgesprochen hatte, konnte Ralph das Leichentuch spüren – oder den Gegenstand darin -, der an etwas tief in seinem Kopf zerrte, zog, drehte, schob… und versuchte, es herauszuziehen wie einen Zahn aus rosa Zahnfleisch.

Versuchte, ihnen das Leben auszusaugen? Nahe dran, aber kein Treffer. Ralph glaubte nicht, daß das Ding in dem Leichentuch ihr Leben wollte, ebensowenig ihre Seelen, jedenfalls nicht im strengen Sinne. Es wollte ihre Lebenskraft. Ihr Chi.

Lois’ Augen wurden groß, als sie diesen Gedanken empfing… und dann sah sie zu einer Stelle dicht neben seiner rechten Schulter. Sie beugte sich auf den Knien nach vorne und streckte die Hand aus.

[»Lois, das würde ich nicht tun – die ganzen Stapel könnten über uns -«]

Zu spät. Sie zog etwas heraus, betrachtete es von schockiertem Begreifen erfüllt und hielt es ihm hin.

[“»Es lebt noch – alles hier drinnen lebt noch. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber es ist so… irgendwie ist es so. Aber sie sind schwach. Warum sind sie so schwach?«]

Was sie ihm entgegenstreckte, war ein kleiner weißer Turnschuh, der einer Frau oder einem Kind gehörte. Als Ralph ihn nahm, konnte er hören, wie der Schuh leise mit einer fernen Stimme sang. Das Geräusch war so einsam wie Novemberwind an einem verhangenen Nachmittag, aber auch unvorstellbar süß – ein Gegengift zum endlosen Plärren des Dings auf dem Boden.

Und es war eine Stimme, die er kannte. Er war ganz sicher.

Auf der Spitze des Turnschuhs war ein rostfarbener Spritzer. Ralph hielt ihn zuerst für Schokoladenmilch, aber dann erkannte er, worum es sich in Wirklichkeit handelte: getrocknetes Blut. In diesem Augenblick war er wieder vor dem Red Apple und hielt Nat, bevor Helen sie fallenlassen konnte. Er erinnerte sich, wie Helen über ihre eigenen Füße gestolpert war; wie sie rückwärts getaumelt war und sich an die Tür des Red Apple gelehnt hatte, wie eine Betrunkene an einen Laternenpfahl, und ihm die Hände entgegenstreckte. Gz mi mein Bäh-bie. Gi mi Nah-lie.

Er kannte die Stimme, weil es Helens Stimme war. Diesen Turnschuh hatte sie an dem Tag getragen, und die Blutstropfen auf der Schuhspitze stammten entweder von Helens eingeschlagener Nase oder der aufgeplatzten Wange. Er sang und sang, und seine Stimme wurde nicht völlig unter dem Summen des Dings in dem Leichentuch begraben, und jetzt, wo Ralphs Ohren – oder was in der Welt der Auren auch mmer als Ohren gelten mochte – weit geöffnet waren, konnte er alle anderen Stimmen von allen anderen Gegenständen hören. Sie sangen wie ein Chor der Verlorenen.

Lebten. Sangen.

Sie konnten singen, alle Gegenstände an diesen Wänden entlang konnten singen, weil ihre Besitzer noch singen konnten.

Ihre Besitzer waren noch am Leben.

Ralph sah wieder auf, und diesmal bemerkte er, daß verschiedene Gegenstände alt waren – das verbeulte Saxophon, zum Beispiel -, aber viele auch neu; in diesem kleinen Alkoven gab es keine Reifen von Gay-Nineties-Fahrrädern. Er sah drei Radiowecker, alle digital. Ein Rasierzeug, das aussah, als wäre es noch kaum benutzt worden. Ein Lippenstift, auf dem noch das Preisschild von Rite Aid klebte.

[»Lois, Atropos hat diese Sachen von den Leuten genommen, die heute abend im Bürgerzentrum sein werden. Richtig?«]

[»Ja. Ich bin sicher, daß es so ist.«]

Er deutete auf den schwarzen Kokon, der auf dem Boden kreischte und fast alle Lieder ringsum übertönte… übertönte und sich von ihnen nährte.

[»Und was immer sich in diesem Leichentuch befindet, hat etwas damit zu tun, was Klotho und Lachesis die Hauptsache nannten. Es ist das Ding, das alle verschiedenen Gegenstände

– alle verschiedenen Leben – zusammenbindet.«]

[»Das sie zu Ka-tet macht. Ja.«]

Ralph gab Lois den Turnschuh zurück.

[»Den nehmen wir mit, wenn wir gehen. Er gehört Helen.«]

[»Ich weiß.«]

Lois sah ihn einen Moment an, und dann tat sie etwas, das Ralph außerordentlich schlau fand: Sie zog den Schnürsenkel aus zwei Ösen heraus und band sich den Turnschuh wie einen Armreif um das linke Handgelenk.

Er kroch näher zu dem kleinen Leichentuch und beugte sich darüber. Es war schwer, in seine Nähe zu gehen, und noch schwerer, in seiner Nähe zu bleiben – es war, als würde man das Ohr ans Gehäuse eines auf Höchstleistung laufenden Schlagbohrers halten oder, ohne die Augen zuzukneifen, in ein grelles Licht sehen. Diesmal schienen tatsächlich Worte aus dem Summen heraus zu ertönen, wie die, die sie gehört hatten, als sie sich dem Rand des Leichentuchs über dem Bürgerzentrum näherten: Hinausss. Forrttt. Zieeeehtabb.

Ralph hielt sich einen Moment die Ohren zu, aber das nützte natürlich nichts. Die Worte kamen selbstverständlich nicht von außen. Er ließ die Hände wieder sinken und sah Lois an.

[»Was meinst du? Hast du eine Ahnung, was wir als nächstes tun sollen?«]

Er wußte nicht genau, was er von ihr erwartete, jedenfalls nicht die rasche, selbstbewußte Antwort, die er bekam.

[»Schneid es auf und hol raus, was im Inneren ist – und zwar schnell. Das Ding ist gefährlich. Außerdem ruft es vielleicht Atropos, hast du dir das schon einmal überlegt? Daß es petzt, so wie die Henne Jack im Märchen von der Bohnenranke verpetzt hat.«]

Ralph hatte über diese Möglichkeit nachgedacht, wenn auch nicht so eingehend. Na gut, dachte er. Schneid den Sack auf und nimm den Preis heraus. Aber wie genau sollen wir das machen?

Er erinnerte sich an den Blitzstrahl, den er Atropos geschickt hatte, als der kleine Dreckskerl versuchte, Rosalie über die Straße zu locken. Ein guter Trick, aber so etwas konnte hier mehr Schaden anrichten als nützen; wenn er das Ding damit verdampfen ließ, das sie mitnehmen sollten?

Ich glaube nicht, daß du das kannst.

Gut, hinreichend logisch, tatsächlich glaubte er selbst nicht, daß er es konnte… aber wenn man von den Habseligkeiten von Menschen umgeben war, die bei Sonnenaufgang tot sein würden, war es Wahnsinn, ein Risiko einzugehen. Völliger Wahnsinn.

Ich brauche keinen Blitz, sondern eine gute, scharfe Schere, wie die mit der Klotho und Lachesis -

Er sah Lois an und war verblüfft von dem klaren Bild.

[»Ich weiß nicht, was dir gerade eingefallen ist, aber was auch immer, beeil dich damit.«]

Ralph sah auf seine rechte Hand herab – eine Hand, von der Falten und erste Spuren von Arthritis verschwunden waren, eine Hand inmitten einer hellblauen Korona aus Licht. Er kam sich ein wenig albern vor, als er die beiden letzten Finger an die Handfläche preßte und die ersten beiden ausstreckte, wobei er an ein Spiel denken mußte, das sie als Kinder gespielt hatten -Stein bricht Schere, Schere schneidet Papier, Papier bedeckt Stein.

Seid eine Schere, dachte er. Ich brauche eine Schere. Helft mir.

Nichts. Er sah zu Lois und stellte fest, daß sie ihn mit einer gelassenen Ruhe betrachtete, die irgendwie beängstigend war. O Lois, wenn du nur wüßtest, dachte er, aber dann verdrängte er den Gedanken aus seinem Kopf. Denn er hatte etwas gespürt, oder nicht? Etwas.

Diesmal ließ er keine Worte in seinem Geist entstehen, sondern ein Bild: Nicht die Schere, mit der Klotho Jimmy V. in die nächste Welt geschickt hatte, sondern die Schere aus Edelstahl aus dem Nähkörbchen seiner Mutter – lange, schmale Scherenblätter, die fast so spitz zuliefen wie ein Messer. Als er sich stärker konzentrierte, konnte er sogar zwei winzige Worte erkennen, die dicht über dem Angelpunkt in den Stahl eingraviert waren: SHEFFIELD STEEL. Und jetzt konnte er dieses Gefühl wieder in seinem Geist spüren, diesmal allerdings kein Blinzeln, sondern das langsame Spannen eines Muskels – eines unvorstellbar kräftigen Muskels. Dabei klappte er langsam die Finger auf und zu und bildete ein V, das enger und breiter wurde.

Jetzt konnte er die Energie spüren, die er dem Nirvana-Jungen und dem Penner beim Bahnhof abgenommen hatte, wie sie sich erst in seinem Kopf sammelte und dann wie ein seltsamer Krampf an der rechten Hand hinunter in die ausgestreckten Finger floß.

Die Aura um die ausgestreckten Zeige-und Mittelfinger seiner Hand wurde dicker… und länger. Nahm die schlanke Form von Schneiden an. Ralph wartete, bis sie etwa zwölf Zentimeter über seine Fingernägel hinausragte, dann bewegte er die Finger wieder auf und ab. Die Schere öffnete und schloß sich.

[»Los, Ralph! Tu es!«]

Ja – er konnte es sich nicht leisten, Zeit mit Experimenten zu verplempern. Er fühlte sich wie eine Autobatterie, die einen viel zu großen Motor anlassen muß. Er konnte spüren, wie seine ganze Energie – die, die er genommen hatte, und seine eigene -seinen rechten Arm hinunter in diese Schneide floß. Es würde nicht lange halten.

Er beugte sich nach vorne, preßte die Finger zu einer Zeigegeste zusammen, und bohrte die Spitze der Schere in das Leichentuch. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, die Schere zu erschaffen und zu erhalten, daß er das konstante, heisere Summen gar nicht mehr gehört hatte -jedenfalls nicht bewußt -, aber als die Scherenspitze sich in die schwarze Haut bohrte, schwoll der Laut des Leichentuchs plötzlich zu neuen Höhen eines zugleich schmerzerfüllten und erschrockenen Kreischens an. Ralph sah Rinnsale einer dicken, dunklen Gallertmasse aus dem Tuch auf den Boden fließen. Es sah aus wie ein krankhafter Auswurf. Gleichzeitig spürte er, wie sich der Energiefluß in ihm ungefähr verdoppelte. Er stellte fest, daß er es sogar sehen konnte: Seine eigene Aura wallte in langsamen peristaltischen Bewegungen den rechten Arm und Handrücken entlang. Und er konnte spüren, wie sie um den Rest des Körpers herum immer dünner wurde und seinen lebenswichtigen Schutz verdünnte.

[»Beeil dich, Ralph! Beeil dich!«]

Er unternahm eine gewaltige Anstrengung und spreizte die Finger. Die schimmernden blauen Scherenblätter klappten ebenfalls auf und hinterließen einen kleinen Schlitz in dem schwarzen Ei. Es schrie, und zwei gezackte rote Blitze sausten über die Oberfläche. Ralph führte die Finger zusammen und sah, wie die Schere, die aus ihnen wuchs, wieder zuschnappte und in die dicke schwarze Substanz schnitt, die teilweise Schale und teilweise Fleisch war. Er schrie auf. Er verspürte nicht gerade Schmerzen, sondern eher ein Gefühl schrecklicher Erschöpfung. So muß man sich fühlen, wenn man verblutet, dachte er.

Etwas im Innern des Leichentuchs erstrahlte in goldenem Glanz.

Ralph nahm all seine Kräfte zusammen und versuchte, die Finger zu einem weiteren Schnitt zu öffnen. Zuerst glaubt er nicht, daß es ihm gelingen würde – aber dann klappten sie auseinander und vergrößerten den Schlitz. Jetzt konnte er den Gegenstand im Inneren fast erkennen, etwas Kleines und Rundes und Glänzendes. Im Grunde genommen kann es eigentlich nur eines sein, dachte er, und dann spürte er, wie sein Herz plötzlich in der Brust flatterte. Die blauen Scherenblätter flackerten.

[»Lois! Hilf mir!«]

Sie umklammerte sein Handgelenk. Ralph spürte, wie gewaltige Voltzahlen frischer Energie in ihn fuhren. Er beobachtete erstaunt, wie die Schere wieder fester wurde. Jetzt war nur noch eines der Scherenblätter blau. Das andere war perlmuttfarben.

Lois, in seinem Kopf kreischend: [»Schneid es auf! Schneid es jetzt auf!«]

Er preßte die Finger wieder zusammen, und diesmal schnitt die Schere das Leichentuch weit auf. Es stieß einen letzten, röchelnden Schrei aus, dann wurde es ganz rot und verschwand. Die Schere, die aus Ralphs Fingerspitzen wuchs, löste sich flackernd auf. Er schloß die Augen einen Moment und merkte plötzlich, daß große, warme Schweißperlen wie Tränen an seinen Wangen hinabliefen. Im dunklen Feld hinter seinen Lidern konnte er irre Bilder sehen, die wie tanzende Scherenblätter wirkten.

[»Lois? Alles in Ordnung?«]

[»Ja… aber ich bin kaputt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich zu dieser Treppe unter dem Baum zurückkommen soll, vom Hochklettern ganz zu schweigen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich aufstehen kann.«]

Ralph machte die Augen auf, stemmte die Hände oberhalb der Knie auf die Schenkel und beugte sich wieder nach vorne. Auf dem Boden, wo das Leichentuch gewesen war, lag der Ehering eines Mannes. Er konnte mühelos lesen, was im Inneren eingraviert war: HD – ED 5.8.87.

Helen Deepneau und Edward Deepneau. Geheiratet am 5. August 1987.

Darum waren sie gekommen. Das war das Souvenir von Ed. Er mußte es nur noch aufheben… in die Hosentasche stecken… Lois’ Ohrringe suchen… und zusehen, daß sie sich aus dem Staub machten.

Als er nach dem Ring griff, kam ihm ein Gedicht in den Sinn diesmal nicht von Stephen Dobyns, sondern von J.R.R. Tolkien, der die Hobbits erfunden hatte, an die Ralph zum letztenmal in Lois gemütlichem Wohnzimmer mit seinen vielen Bildern hatte denken müssen. Es war fast dreißig Jahre her, seit er Tolkiens Geschichte von Frodo und Gandalf und Sauron, dem dunklen Herrscher, gelesen hatte – eine Geschichte, in der es um einen ganz ähnlichen Gegenstand wie diesen ging, wenn man es genauer betrachtete -, aber die Verse waren im Moment so deutlich wie die Schere vor wenigen Augenblicken:

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden Im Lande Mordor, wo die Schatten dröhnen.

Ich werde ihn nicht aufheben können, dachte er. Er wird so fest an das Rad des Ka gebunden sein wie Lois und ich, und ich werde ihn nicht aufheben können. Entweder das, oder es wird sein, als würde ich ein Starkstromkabel anfassen, und ich werde tot sein, ehe ich weiß, wie mir geschieht.

Aber er glaubte eigentlich nicht, daß es dazu kommen würde. Wenn er den Ring nicht nehmen sollte, warum war dieser dann durch das Leichentuch geschützt worden? Wenn er den Ring nicht nehmen sollte, warum hatten die Mächte hinter Klotho und Lachesis – und Dorrance, Dorrance durfte er nicht vergessen -ihn und Lois dann überhaupt erst auf diese Reise geschickt?

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, dachte Ralph und schloß die Finger um Eds Trauring. Einen Augenblick verspürte er einen stechenden, gläsernen Schmerz in Hand, Handgelenk und Unterarm; im selben Augenblick schwollen die leise singenden Stimmen der Gegenstände, die Atropos hier gehortet hatte, zu einem lauten, harmonischen Ruf an.

Ralph stieß einen Laut aus – möglicherweise einen Schrei, möglicherweise nur ein Stöhnen -, hob den Ring hoch und hielt ihn fest in der rechten Hand. Ein Gefühl des Triumphs sang in seinen Adern wie Wein, oder wie -

[»Ralph.«]

Er sah sie an, aber Lois betrachtete die Stelle, wo Eds Ring gewesen war, und eine Mischung aus Angst und Verwirrung umwölkte ihre Augen.

Wo Eds Ring gewesen war; wo Eds Ring immer noch war. Er lag genau da, wo er gelegen hatte, ein glänzender goldener Kreis, in den HD – ED 5.8.87 eingraviert war.

Ralph verspürte einen Anflug schwindliger Desorientierung, brachte ihn aber mühsam unter Kontrolle. Er öffnete die Handfläche und rechnete fast damit, daß der Ring trotz allem, was seine Sinneswahrnehmung ihm verriet, nicht mehr da sein würde, aber er lag immer noch auf seiner Handfläche und bedeckte die Gabelung, wo Ralphs Liebes-und Lebenslinie sich kreuzten, und er glomm im häßlichen roten Licht dieses verabscheuungswürdigen Ortes. HD – ED 5.8.87. Die beiden Ringe waren identisch.

Einer in seiner Hand; einer auf dem Boden; absolut kein Unterschied. Zumindest keinen, den Ralph erkennen konnte.

Lois griff nach dem Ring, der anstelle des anderen dalag, den Ralph genommen hatte, zögerte und hob ihn auf. Vor ihren Augen erschien ein goldenes Leuchten auf dem Boden der Kammer und verfestigte sich zu einem dritten Ehering. Wie bei den anderen, war HD – ED 5. 8.1987 auf der Innenseite eingraviert.

Ralph mußte wieder an eine Geschichte denken – nicht an Tolkiens Geschichte vom Ring, sondern an ein Märchen von Dr. Seuss, das er in den fünfziger Jahren einer von Carolyns Nichten vorgelesen hatte. Das war lange her, aber er hatte das Märchen nie ganz vergessen, da es einprägsamer und dunkler als Dr. Seuss’ sonstiger Unsinn von Ratten und Fledermäusen und aufmüpfigen Katzen gewesen war. Es trug den Titel The 500 Hats of Bartholomew Cubbins, und Ralph nahm an, daß es kein Wunder war, wenn ihm dieses Märchen gerade jetzt einfiel.

Der arme Bartholomew war ein Bauerntölpel, der das Pech hatte, sich gerade in der Stadt aufzuhalten, als der König vorbeikam. Man mußte den Hut vor seiner Königlichen Hoheit abnehmen, und Bartholomew hatte es wirklich versucht, aber jedesmal, wenn er den Hut abnahm, erschien ein anderer darunter, der genauso aussah.

[»Ralph, was ist hier los? Was hat das zu bedeuten?«]

Er schüttelte den Kopf, ohne zu antworten, und sah von dem Ring auf seiner Handfläche zu dem in Lois Hand und zu dem auf dem Boden, immer wieder im Kreis herum. Drei Ringe, alle identisch, genau wie die Hüte, die Bartholomew Cubbins hatte abziehen wollen. Der arme Junge hatte immer noch versucht, dem König die Ehre zu erweisen, erinnerte sich Ralph, als der Henker ihn eine Treppe zu der Stelle hinauf führte, wo er wegen Respektlosigkeit geköpft werden sollte…

Aber das war nicht richtig, denn nach einer Weile veränderten sich die Hüte auf dem Kopf des armen Bartholomew doch, sie wurden immer ausgefallener und barocker.

Sind die Ringe identisch, Ralph? Bist du sicher?

Nein, das war er nicht. Als er den ersten aufgehoben hatte, hatte er einen kurzen, vorübergehenden Schmerz verspürt, der sich wie Rheuma in seinem Arm ausgebreitet hatte, aber Lois schien keine Schmerzen empfunden zu haben, als sie den zweiten aufhob.

Und die Stimmen – ich habe sie nicht jubilieren gehört, als sie den zweiten aufgehoben hat.

Ralph beugte sich nach vorne und hob den dritten Ring auf. Er spürte keinen Schmerz und hörte keinen Jubelruf der Gegenstände, die die Mauern dieser Kammer bildeten – sie sangen einfach leise weiter. Derweil materialisierte sich ein vierter Ring an der Stelle, wo die anderen drei gelegen hatten, genau wie ein weiterer Hut auf dem Kopf des armen Bartholomew Cubbins, aber Ralph würdigte ihn kaum eines Blickes. Er betrachtete den ersten Ring, der auf seiner rechten Hand auf dem Schnittpunkt seiner Lebens-und Liebeslinie lag.

Ein Ring, sie zu knechten, dachte er. Sie alle zu binden. Und ich glaube, das bist du, mein Süßer. Die anderen sind nur geschickte Fälschungen.

Möglicherweise gab es eine Möglichkeit, das zu überprüfen. Ralph hielt die beiden Ringe an seine Ohren. Der in der linken Hand war stumm; der andere, der in der rechten, der in dem Leichentuch gewesen war, das Ralph aufgeschnitten hatte, wiederholte ein schwaches, unheimliches Echo vom letzten Aufschrei des Leichentuchs.

Der in seiner rechten Hand lebte.

[»Ralph?«]

Ihre Hand auf seinem Arm, kalt und drängend. Ralph sah sie an, dann warf er den Ring in der linken Hand weg. Er hielt den in der rechten Hand hoch und betrachtete Lois’ angespanntes, seltsam jugendliches Gesicht durch ihn hindurch wie durch ein Teleskop.

[»Das ist der richtige. Die anderen sind nur Platzhalter, glaube ich – wie Nullen in einem komplizierten mathematischen Problem.«]

[»Du meinst, sie zählen nicht?«]

Er zögerte, da er nicht wußte, wie er antworten sollte… denn sie zählten doch, das war das Merkwürdige. Er wußte nur nicht, wie er dieses intuitive Wissen in Worte kleiden sollte. So lange der falsche Ring immer wieder in diesem Zimmer auftauchte wie die Hüte auf dem Kopf von Bartholomew Cubbins, blieb die Zukunft, die von dem Leichentuch über dem Bürgerzentrum repräsentiert wurde, die einzig wahre Zukunft. Aber der erste Ring, den Atropos Ed tatsächlich vom Finger gestohlen hatte (möglicherweise als er neben Helen in dem kleinen Cape-Cod-Haus geschlafen hatte, das jetzt leerstand), der konnte alles verändern.

Die Nachbildungen waren Platzhalter, die die Form des Ka erhielten, so wie Speichen, die von einer Nabe ausgingen, die Form des Rads erhielten. Aber das Original…

Ralph dachte, das Original war die Nabe: ein Ring, sie zu binden.

Er hielt den Goldreif fest in der Hand und spürte, wie die Kante sich in seine Finger und die Handfläche grub. Dann ließ er ihn in seiner Uhrtasche verschwinden.

Eines am Ka haben sie uns nicht erzählt, dachte er. Es ist schlüpfrig. Schlüpfrig wie ein böser alter Fisch, der sich nicht vom Haken losmachen lassen will, sondern einem in der Hand herumschnalzt.

Und es war auch, als würde man eine Sanddüne hinaufklettern

– für zwei Schritte, die man vorwärts schaffte, rutschte man einen zurück. Sie waren nach High Ridge gegangen und hatten etwas erreicht – was genau, das wußte Ralph nicht, aber Dorrance hatte ihnen versichert, daß es so war; ihm zufolge hatten sie ihre Aufgabe dort erfüllt. Jetzt waren sie hierher gekommen und hatten Eds Souvenir zurückgeholt, aber das reichte immer noch nicht aus, und warum? Weil Ka wie ein Fisch war, weil Ka wie eine Sanddüne war, weil Ka wie ein Rad war, das nicht stehenbleiben, sondern sich immer weiter und weiter drehen wollte, um alles zu zerquetschten, was sich in seinem Weg befand. Ein Rad mit vielen Speichen.

Aber am allermeisten war Ka wahrscheinlich wie ein Ring.

Wie ein Trauring.

Plötzlich begriff er, was das lange Gespräch auf dem Dach des Krankenhauses und Dorrance’ Versuche, es zu erklären, nicht vermitteln konnten: Eds unbestimmter Status und die Tatsache, daß Atropos den armen, verwirrten Mann aufgespürt hatte, hatten ihn mit einer ungeheuren Macht ausgestattet. Eine Tür war aufgegangen, und ein Dämon, der der Scharlachrote König genannt wurde, war herausgekommen – einer, der mächtiger war als Klotho, Lachesis, Atropos, als alle drei zusammen. Und der hatte nicht die Absicht, sich von einem von Derrys Altvorderen wie Ralph Roberts aufhalten zu lassen.

[»Ralph?«]

[»Ein Ring, sie zu knechten, Lois – sie alle zu finden.«]

[»Wovon redest du? Was meinst du damit?«]

Er klopfte auf seine Uhrtasche und spürte die winzige, aber unendlich bedeutsame Wölbung von Eds Ring. Dann streckte er die Hände aus und packte Lois an den Schultern.

[ »Die Ersatzstücke – die falschen Ringe – sind Speichen, aber der hier ist die Nabe. Nimm die Nabe weg, und ein Rad kann sich nicht mehr drehen.«]

[»Bist du sicher?«]

Er war ganz sicher. Er wußte nur nicht, wie er es anstellen sollte.

[»Ja. Komm jetzt – verschwinden wir von hier, solange wir es noch können.«]

Ralph ließ sie zuerst unter dem vollbeladenen Eßzimmertisch durchkriechen, dann ging er in die Knie und folgte ihr. Auf halbem Weg hielt er inne und sah noch einmal über die Schulter. Er sah etwas Seltsames und Schreckliches: Das summende Geräusch hatte sich nicht wieder eingestellt, aber ein neues Leichentuch entstand um den Ersatzehering herum. Das glänzende Gold war bereits zu einem geisterhaften Reif geworden, der wie eine winzige Sonne hinter einer dichten Smogschicht aussah.


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