Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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»Geh weg, Ralph, ja?« fragte sie mit belegter, erstickter Stimme. »Ich fühle mich heute nicht besonders wohl.«
Unter normalen Umständen hätte Ralph getan, worum sie ihn gebeten hatte und wäre ohne einen Blick zurück gegangen, ohne mehr als vage Scham darüber zu empfinden, daß er sie hilflos und mit verschmierter Wimperntusche gesehen hatte. Aber dies waren keine normalen Umstände, und Ralph beschloß, daß er nicht gehen würde -jedenfalls noch nicht. Er verspürte immer noch einen Rest dieser seltsamen Leichtigkeit und wußte, daß die andere Welt, das andere Derry, ganz in der Nähe war. Und da war noch etwas, etwas vollkommen Einfaches und Direktes. Es gefiel ihm nicht, daß Lois, an deren Frohnatur er nie gezweifelt hatte, hier saß und sich die Augen aus dem Kopf heulte.
»Was ist los, Lois?«
»Ich fühle mich nur nicht wohl!« schluchzte sie. »Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?«
Lois vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr Rücken bebte, die Ärmel ihres blauen Mantels zitterten, und Ralph mußte plötzlich daran denken, wie Rosalie ausgesehen hatte, als der kleine Arzt ihr befohlen hatte, ihren Arsch in Bewegung zu setzen und zu ihm zu kommen: kläglich, zu Tode geängstigt.
Ralph setzte sich neben Lois auf die Bank, legte einen Arm um sie und zog sie an sich. Sie folgte, aber steif… als wäre ihr ganzer Körper voller Drähte.
»Sieh mich nicht an!« rief sie mit derselben hysterischen Stimme. »Wage es nicht! Mein Make-up ist im Eimer. Ich hatte es extra für meinen Sohn und meine Schwiegertochter aufgelegt… sie kamen zum Frühstück… wir wollten den Vormittag miteinander verbringen >Wir werden uns nett unterhalten, Ma<, hatte Harold gesagt… aber der Grund, weshalb sie gekommen sind… weißt du, der wahre Grund…«
Ihre Worte wurden von einem neuerlichen Weinkrampf erstickt. Ralph suchte in der Tasche, fand ein Taschentuch, das zerknittert, aber sauber war, und drückte es Lois in die Hand. Sie nahm es, ohne ihn anzusehen.
»Nur weiter«, sagte er. »Du kannst dir ein bißchen die Augen wischen, wenn du möchtest, aber du siehst nicht schlecht aus, Lois; ehrlich nicht.«
Ein bißchen waschbärmäßig, mehr nicht, dachte er. Er lächelte, aber dann erlosch das lächeln. Er erinnerte sich plötzlich an den Tag im September, als er zum Rite Aid aufgebrochen war, um sich ein Schlafmittel zu holen, und Bill und Lois vor dem Park getroffen hatte, wo sie sich über die Demonstration und das Puppenwerfen unterhielten, das Ed vor Woman-Care organisiert hatte. An dem Tag war sie eindeutig aufgeregt gewesen – Ralph erinnerte sich, sie hatte trotz ihrer Aufregung und Sorge müde ausgesehen -, aber sie war auch fast wunderschön gewesen: Ihr beachtlicher Busen hatte gewogt, ihre Augen geblitzt, ihre Wangen waren gerötet gewesen wie die eines jungen Mädchens.
Heute war diese so gut wie unwiderstehliche Schönheit kaum mehr als eine Erinnerung; mit ihrer verlaufenen Wimperntusche sah Lois wie ein trauriger und alter Clown aus, und Ralph spürte Wut auf das oder denjenigen in sich aufkeimen, der für die Veränderung verantwortlich war.
»Ich sehe schrecklich aus!« sagte Lois und rieb wie wild mit Ralphs Taschentuch an ihren Augen herum. »Ich bin eine Hexe!«
»Nein, Ma’am. Nur ein bißchen verschmiert.«
Nun drehte Lois ihm endlich das Gesicht zu. Das kostet sie sichtliche Anstrengung, da ihr Rouge und Augen-Make-up nun weitgehend an Ralphs Taschentuch klebten. »Wie schlimm sehe ich aus?« hauchte sie. »Sag die Wahrheit, Ralph Roberts, oder du wirst schielen.«
Er beugte sich nach vorne und küßte ihre feuchte Wange. »Nur reizend, Lois. Ätherisch werden wir uns für einen anderen Tag aufheben müssen, glaube ich.«
Sie lächelte ihm unsicher zu, und bei der Bewegung quollen frische Tränen aus ihren Augen. Ralph nahm ihr das zusammengeknüllte Taschentuch ab und wischte sie behutsam weg.
»Ich bin so froh, daß du vorbeigekommen bist, und nicht Bill«, sagte sie ihm. »Ich wäre vor Scham gestorben, wenn Bill mich in aller Öffentlichkeit weinen gesehen hätte.«
Ralph sah sich um. Er entdeckte Rosalie sicher und wohlbehalten am Fuß des Hügels – sie lag zwischen zwei Port-O’San-Toiletten, die da unten standen, und hatte die Schnauze auf den Pfoten liegen – sonst war dieser Teil des Parks verlassen. »Ich glaube, wir haben den Park für uns allein, zumindest im Augenblick«, sagte er.
»Gott sei Dank.« Lois nahm das Taschentuch und widmete sich wieder ihrem Make-up, diesmal weniger hektisch. »Da wir gerade von Bill sprechen, ich war auf dem Weg hierher rasch im Red Apple – das war, bevor ich mir selber leid tat und mir die Augen aus dem Kopf geheult habe -, und Sue sagte, daß du und Bill vor einer Weile einen Riesenstreit gehabt hättet. Ihr habt euch angeschrien und so, mitten im Vorgarten.«
»Nee, so riesig auch wieder nicht«, sagte Ralph und lächelte unbehaglich.
»Darf ich neugierig sein und fragen, worum es ging?«
»Schach«, sagte Ralph. Das war das erste, das ihm in den Sinn kam. »Das Startbahn-Drei-Turnier, das Faye Chapin jedes Jahr veranstaltet. Aber im Grunde genommen ging es eigentlich um gar nichts. Du weißt ja, wie das ist – manchmal stehen die Leute eben mit dem linken Fuß zuerst auf und nehmen den nächstbesten Anlaß, um sich zu streiten.«
»Ich wünschte, bei mir wäre es auch nichts anderes«, sagte Lois. Sie öffnete ihre Handtasche – diesmal ohne Schwierigkeiten – und holte den Taschenspiegel heraus. Dann seufzte sie und steckte ihn wieder in die Tasche, ohne ihn aufzuklappen. »Ich kann nicht. Ich weiß, ich bin albern, aber ich kann einfach nicht.«
Ralph griff mit der Hand in ihre Handtasche, bevor sie sie wieder zuklappen konnte, nahm den Taschenspiegel heraus, klappte ihn auf und hielt ihn ihr vor das Gesicht. »Siehst du? So schlimm ist es nicht, oder?«
Sie wandte das Gesicht ab wie ein Vampir, der vor einem Kruzifix zurückschreckt. »Bäh«, sagte sie. »Tu das weg.«
»Wenn du versprichst, mir zu sagen, was passiert ist.«
»Alles, wenn du ihn nur wegnimmst.«
Er gehorchte. Eine Zeitlang sagte Lois nichts, sondern saß nur da und sah zu, wie ihre Hände sich unablässig am Verschluß der Handtasche zu schaffen machten. Er wollte sie schon drängen, als sie mit einem erbarmenswert trotzigen Ausdruck zu ihm aufsah.
»Es ist nur so, daß du nicht der einzige bist, der nachts nicht mehr anständig schlafen kann, Ralph.«
»Wovon redest d -«
»Schlaflosigkeit!« schnappte sie. »Ich gehe zur selben Zeit schlafen wie immer, aber ich kann nicht mehr durchschlafen. Und das ist noch nicht das schlimmste. Es scheint, als würde ich jeden Morgen früher aufwachen.«
Ralph versuchte sich zu erinnern, ob er Lois von diesem speziellen Aspekt seines Problems erzählt hatte. Er glaubte nicht.
»Warum siehst du so überrascht aus?« fragte Lois. »Du hast doch nicht geglaubt, daß du der einzige Mensch auf der Welt bist, der jemals eine schlaflose Nacht hatte, oder?«
»Selbstverständlich nicht!« antwortete Ralph etwas gekränkt… aber war es ihm nicht manchmal doch so vorgekommen, als wäre er der einzige auf der Welt, der an dieser speziellen Form von Schlaflosigkeit litt? Der hilflos mit ansehen mußte, wie seine Schlafzeit langsam Minute um Minute, Viertelstunde um Viertelstunde zusammenschmolz? Wie eine unheimliche Variante der chinesischen Wasserfolter.
»Wann hat es bei dir angefangen?« fragte er.
»Einen Monat oder zwei vor Carols Tod… was bedeutet, ich war noch vor dir mit dem Problem geschlagen, Ralph.«
»Wieviel Schlaf bekommst du?«
»Seit Anfang Oktober kaum noch eine Stunde pro Nacht.« Ihre Stimme war ruhig, aber Ralph hörte das Zittern von etwas, das Panik sein konnte, dicht unter der Oberfläche. »Wenn es so weitergeht, werde ich bis Weihnachten gar nicht mehr schlafen, und wenn das passiert, weiß ich nicht, wie ich es durchstehen soll. Ich kann es jetzt schon fast nicht mehr ertragen.«
Ralph suchte nach Worten und stellte die erste Frage, die ihm in den Sinn kam: »Wie kommt es, daß ich nie Licht bei dir sehe?«
»Aus demselben Grund, weshalb ich deins fast nie sehe, denke ich«, sagte sie. »Ich wohne seit fast fünfundzwanzig Jahren in dem Haus und brauche kein Licht, um mich zurechtzufinden. Außerdem behalte ich meine Probleme gern für mich. Wenn man um zwei Uhr nachts das Licht einschaltet, sieht es früher oder später jemand. Es spricht sich herum, und dann fangen die Naseweise an, Fragen zu stellen. Ich kann neugierige Fragen nicht ausstehen, und ich gehöre nicht zu den Leuten, die jedesmal in der Zeitung annoncieren müssen, wenn sie ein wenig Verstopfung haben.«
Ralph lachte laut auf. Lois sah ihn einen Moment mit perplexen, runden Augen an, dann stimmte sie ein. Er hatte den Arm immer noch um sie gelegt (oder hatte er sich wieder dorthin geschlichen, nachdem er ihn zunächst weggenommen hatte? Ralph wußte es nicht, und es war ihm eigentlich auch egal), und nun drückte er sie fest an sich. Diesmal schmiegte sie sich unbekümmert an ihn; die steifen kleinen Drähte waren aus ihrem Körper verschwunden. Ralph war froh darüber.
»Du lachst mich doch nicht aus, Ralph, oder?«
»Nee. Ganz sicher nicht.«
Sie nickte immer noch lächelnd. »Dann ist es gut. Du hast nie gesehen, wie ich in meinem Wohnzimmer herumspaziert bin, oder?«
»Nein.«
»Das liegt daran, daß keine Straßenlampe vor meinem Haus steht. Aber vor deinem steht eine. Ich habe dich häufig in deinem zerschlissenen alten Ohrensessel gesehen, wie du hinausgesehen und Tee getrunken hast.«
Ich habe immer gedacht, daß ich der einzige bin, dachte er, und plötzlich schoß ihm eine Frage durch den Kopf, die komisch und peinlich zugleich war. Wie oft hatte sie ihn gesehen, wie er sich in der Nase bohrte? Oder im Schritt kratzte?
Entweder las sie seine Gedanken oder zog Rückschlüsse aus der Farbe seiner Wangen, denn Lois sagte: »Ich konnte nicht mehr als deinen Umriß erkennen, weißt du, und du hast immer den Morgenmantel getragen, vollkommen anständig. Also darüber mußt du dir keine Gedanken machen. Außerdem hoffe ich, daß du weißt, wenn ich dich je bei etwas gesehen hätte, bei dem du nicht gesehen werden wolltest, dann hätte ich auch nicht hingesehen. Weißt du, ich bin auch nicht gerade in der Scheune großgezogen worden.«
Er lächelte und tätschelte ihre Hand. »Das weiß ich, Lois. Es ist nur… du weißt schon, eine Überraschung. Herauszufinden, daß jemand mich beobachtet hat, während ich dort saß und die Straße beobachtet habe.«
Sie schenkte ihm ein rätselhaftes Lächeln, das besagen konnte: Keine Bange, Ralph – für mich warst du nichts weiter als ein Teil der Landschaft.
Er dachte einen Moment über das Lächeln nach, dann kam er wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen. »Also, was ist passiert, Lois? Warum hast du hier gesessen und geweint?
Nur Schlaflosigkeit? Wenn es nur das war, kann ich mit Sicherheit mit dir fühlen. Aber so was wie >nur< gibt es dabei nicht, was?«
Ihr Lächeln erlosch. Sie faltete die Hände in den Handschuhen wieder im Schoß und betrachtete sie ernst. »Es gibt Schlimmeres als Schlaflosigkeit. Verrat, zum Beispiel. Besonders wenn die Menschen, die dich verraten, die Menschen sind, die du liebst.«
Sie verstummte. Ralph drängte sie nicht. Er sah den Hügel hinunter zu Rosalie, die ihn zu beobachten schien. Möglicherweise sie beide.
»Hast du gewußt, daß wir nicht nur dasselbe Problem, sondern auch denselben Arzt haben?«
»Du gehst auch zu Litchfield?« »Ich ging zu Litchfield. Auf Empfehlung von Carolyn. Aber ich werde nie wieder zu ihm gehen. Wir sind fertig miteinander.« Sie fletschte die Lippen und entblößte kleine weiße Zähne, die eindeutig ihre eigenen waren. »Der hinterhältige Dreckskerll«.
»Was ist passiert?«
»Ich habe fast ein Jahr lang darauf gewartet, daß es von alleine wieder besser werden würde – daß die Natur ihren Lauf nimmt, wie man so sagt. Nicht, daß ich nicht hier und da versucht hätte, der Natur auf die Sprünge zu helfen. Wahrscheinlich haben wie beide häufig dieselben Mittel ausprobiert.«
»Honigwabe?« fragte Ralph, der wieder lächelte. Er konnte nicht anders. Was für ein erstaunlicher Tag das gewesen ist, dachte er. Was für ein durch und durch erstaunlicher Tag… und dabei ist es noch nicht einmal ein Uhr mittags.
»Honigwabe? Was ist damit? Hilft das?«
»Nein«, sagte Ralph und grinste breiter denn je, »es hilft kein bißchen, aber es schmeckt köstlich.«
Sie lachte und drückte seine Hand mit ihren beiden. Ralph erwiderte das Drücken.
»Du bist deswegen nie bei Litchfield gewesen, Ralph, oder?«
»Nee. Ich hatte mal einen Termin vereinbart, hab ihn aber abgesagt.«
»Weil du ihm nicht getraut hast? Weil du der Meinung warst, daß er bei Carolyn gepfuscht hat?«
Ralph sah sie überrascht an.
»Vergiß es«, sagte Lois. »Ich hatte kein Recht, das zu fragen.«
»Nein, schon gut. Es überrascht mich nur, daß ich das von jemand anderem höre. Daß er… du weißt… eine falsche Diagnose gestellt haben könnte.«
»Ha!« Lois’ hübsche Augen blitzten. »Das haben wir uns alle gedacht! Bill hat gesagt, er könne nicht begreifen, daß du den Kurpfuscher nicht am Tag nach Carolyns Beerdigung vor das Bezirksgericht gezerrt hast. Aber damals stand ich selbstverständlich noch auf der anderen Seite des Zauns und habe Litchfield wie verrückt verteidigt. Hast du je daran gedacht, ihn zu verklagen?« »Nein. Ich bin siebzig, und ich will die Zeit, die mir noch bleibt, nicht mit einem Kunstfehlerprozeß verschwenden. Außerdem -würde es Carol zurückbringen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ralph sagte: »Aber was mit Carolyn passiert ist, war der Grund, daß ich nicht mehr zu ihm gegangen bin. Glaube ich jedenfalls. Ich konnte ihm einfach nicht mehr vertrauen, oder vielleicht… ich weiß auch nicht… «
Nein, er wußte es wirklich nicht, das war das Teuflische daran. Er wußte nur, er hatte den Termin bei Dr. Litchfield abgesagt, ebenso den bei James Roy Hong, in manchen Kreisen auch als der Nadelpiekser bekannt. Den letzteren Termin hatte er auf Anraten eines zwei-oder dreiundneunzigjährigen Mannes abgesagt, der sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an seinen zweiten Vornamen erinnern konnte. Seine Gedanken schweiften zu dem Rat ab, den ihm der alte Dor gegeben hatte, und zu dem Gedicht, aus dem er zitiert hatte -
»Pursuit« hatte es geheißen, und es ging Ralph nicht mehr aus dem Kopf… besonders der Teil, wo der Dichter alles hinter sich wegfallen sah: die ungelesenen Bücher, die unerzählten Witze, die Reisen, die er nie unternehmen würde.
»Ralph? Bist du noch da?«
»Was meinst du damit? Natürlich bin ich da.«
»Einen Moment hast du ausgesehen, als wärst du tausend Meilen weit weg.«
»Ich glaube, ich habe über Litchfield nachgedacht. Mich gefragt, warum ich den Termin abgesagt habe.«
Sie tätschelte seine Hand. »Sei froh, daß du es getan hast. Ich hab meinen wahrgenommen.«
»Sag mir, was passiert ist.«
Lois zuckte die Achseln. »Als es so schlimm wurde, daß ich mir dachte, ich könnte es nicht mehr ertragen, bin ich zu ihm gegangen und habe ihm alles erzählt. Ich dachte mir, er würde mir Schlaftabletten verschreiben, aber er sagte, er könnte nicht einmal das tun – ich habe manchmal Herzrhythmusstörungen, und Schlaftabletten können das verschlimmern.«
»Wann warst du bei ihm?« »Anfang letzter Woche. Dann rief mich gestern aus heiterem Himmel mein Sohn Harold an und sagte mir, er und Janet wollten mich zum Frühstück einladen. Unsinn, sagte ich, ich kann mich immer noch in der Küche beschäftigen. Wenn ihr von Bangor hierher kommt, mache ich uns eine Kleinigkeit zu essen, und damit basta. Wenn sie danach mit mir ausgehen wollten – ich dachte an das Einkaufszentrum, weil ich da immer gern hingehe -, wäre es in Ordnung. Genau das habe ich gesagt.«
Sie drehte sich mit einem Lächeln zu Ralph um, das verkniffen und verbittert und grimmig war.
»Ich habe mich nicht gefragt, warum sie mich beide an einem Wochentag besuchen kommen wollten, wo sie doch beide arbeiten gehen – und sie müssen die Jobs wirklich lieben, weil sie nie über etwas anderes reden. Ich dachte nur, wie süß es war… wie rücksichtsvoll… und ich strengte mich ganz besonders an, gut auszusehen und alles richtig zu machen, damit Janet nicht denken sollte, ich hätte Probleme. Ich glaube, das nervt mich am meisten. Die dumme alte Lois, >unsere Lois<, wie Bill immer sagt… mach nicht so ein überraschtes Gesicht, Ralph! Natürlich wußte ich das; glaubst du, ich bin erst gestern aus dem Urwald gelockt worden? Und er hat recht. Ich bin eine Närrin, ich bin dumm, aber das bedeutet nicht, daß ich nicht wie alle anderen Schmerzen empfinde, wenn ich zum Narren gemacht werde…« Sie fing wieder an zu weinen.
»Selbstverständlich«, sagte Ralph und tätschelte ihr die Hand.
»Du hättest dich totgelacht, wenn du mich gesehen hättest«, sagte sie. »Ich habe um vier Uhr morgens Brötchen gebacken, um Viertel nach vier Champignons für ein Pilzomelett geschnitten, um halb fünf mit dem Make-up angefangen, um sicher zu sein, ganz sicher, daß Jan nicht mit ihrem >Bist du sicher, daß du dich wohlfühlst, Mutter Lois?< anfängt. Ich hasse es, wenn sie mir mit diesem Quatsch kommt. Und weißt du was, Ralph? Sie wußte die ganze Zeit, was mit mir los ist. Sie wußten es beide. Man kann wohl sagen, daß der Witz auf meine Kosten gegangen ist, was?«
Ralph hatte gedacht, er hätte ihr aufmerksam zugehört, aber offenbar hatte er irgend etwas nicht mitbekommen. »Wußten es? Wie konnten sie es wissen?«
»Weil Litchfield es ihnen gesagt hat!« schrie sie. Sie verzerrte wieder das Gesicht, aber diesmal sah Ralph keinen Schmerz und keinen Kummer darin, sondern eine schreckliche, klägliche Wut. »Dieser dreckige alte Petzer hat meinen Sohn angerufen und IHM ALLES ERZÄHLT!«
Ralph war wie vor den Kopf gestoßen.
»Lois, das kann er nicht machen«, sagte er, als er endlich wieder sprechen konnte. »Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist… nun, es ist vertraulich. Das müßte dein Sohn wissen, schließlich ist er Anwalt, und für die gilt dasselbe. Ärzte dürfen keinem sagen, was sie von ihren Patienten erfahren, wenn der Patient nicht -«
»O Gott«, sagte Lois und verdrehte die Augen. »Himmel Herrgott noch mal. In was für einer Welt lebst du denn, Ralph?
Leute wie Litchfield tun das, was sie für richtig halten. Ich glaube, das habe ich immer gewußt, und deshalb war es doppelt dumm von mir, überhaupt zu ihm zu gehen. Carl Litchfield ist ein eitler, arroganter Mann, dem mehr daran liegt, wie er mit seinen Hosenträgern und Designerhemden aussieht, als an seinen Patienten.«
»Das ist schrecklich zynisch.«
»Und schrecklich wahr, das ist das Traurige daran. Weißt du was? Er ist fünfunddreißig oder sechsunddreißig, und irgendwie scheint er der Meinung zu sein, wenn er vierzig wird, wird er einfach… aufhören. Vierzig bleiben, solange er will. Er glaubt, daß Leute alt sind, wenn sie die Sechzig erreicht haben, und daß selbst die besten spätestens mit achtundsechzig senil geworden sind; und wenn man erst einmal über achtzig ist, wäre es ein Akt der Barmherzigkeit, wenn die Verwandten einen diesem Dr. Kervorkian übergeben würden. Kinder haben kein Recht, etwas vor ihren Eltern geheimzuhalten, und was Litchfield betrifft, haben alte Fürze wie wir kein Recht, etwas vor unseren Kindern geheimzuhalten. Das läge nicht in unserem Interesse, weißt du.
Carl Litchfield hat praktisch in dem Moment, als ich das Sprechzimmer verlassen habe, Harold in Bangor angerufen. Er hat gesagt, ich könnte nicht schlafen, ich hätte Depressionen und unter Problemen der Sinneswahrnehmung zu leiden, die mit einer verfrühten Verschlechterung der Kognition einhergingen. Und dann hat er gesagt: >Sie dürfen nicht vergessen, daß Ihre Mutter in einem hohen Alter ist, Mr. Chasse, und ich an Ihrer Stelle würde mir ernste Gedanken über ihre Situation hier in Derry machen. <«
»Das hat er nicht!« rief Ralph fassungslos und entsetzt. »Ich meine… ernsthaft?«
Lois nickte grimmig. »Er sagte es Harold, und Harold sagte es mir, und ich sage es jetzt dir. Ich altes Dummerchen, ich wußte nicht mal, was unter >einer verfrühten Verschlechterung der Kognition< zu verstehen ist, und keiner der beiden wollte es mir sagen. Ich habe >Kognition< im Wörterbuch nachgeschlagen, und weißt du, was es bedeutet?«
»Denken«, sagte Ralph. »Kognition ist Denken.«
»Richtig. Mein Arzt hat meinen Sohn angerufen und ihm gesagt, daß ich senil werde!« Lois lachte wütend und wischte sich mit Ralphs Taschentuch frische Tränen von der Wange.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte Ralph, aber das Teuflische war, er konnte es. Seit dem Tod von Carolyn wurde ihm klar, daß die Naivität, mit der er die Welt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr betrachtet hatte, offenbar nicht für immer verschwunden war, als er die Schwelle zwischen Kind und Mann überschritten hatte; diese spezielle Arglosigkeit schien sich wieder einzustellen, seit er die Schwelle zwischen Mann und altem Mann überschritten hatte. Immer wieder erlebte er Überraschungen… aber Überraschungen war ein zu zahmes Wort. Die meisten brachten ihn völlig aus der Fassung.
Die kleinen Fläschchen unter der Kußbrücke, zum Beispiel. Eines Tages im Juni hatte er einen langen Spaziergang zum Bassey Park gemacht und war unter die Brücke geklettert, um eine Weile aus der Nachmittagssonne herauszukommen. Kaum hatte er es sich gemütlich gemacht, war ihm ein kleiner Haufen Glasscherben im Unkraut bei dem schmalen Bach aufgefallen, der unter der Brücke dahinfloß. Er hatte das hohe Gras mit einem Ast geteilt und sechs oder acht kleine Ampullen bemerkt. In einer klebte noch eine verkrustete weiße Substanz am Boden. Ralph hatte sie aufgehoben, und als er sie behutsam vor den Augen gedreht hatte, war ihm klar geworden, daß er die Überreste einer Crackparty vor sich sah. Er hatte die Ampulle fallengelassen, als wäre sie glühend heiß. Er konnte sich immer noch an den lähmenden Schock erinnern, an die vergeblichen Versuche, so zu tun, als wäre er nicht recht bei Trost, daß es unmöglich sein konnte, wofür er es hielt, nicht in dieser hundertfünfzig Meilen von Boston entfernten Hinterwäldlerstadt. Selbstverständlich war nur der wieder auferstandene Naive geschockt gewesen; der Teil von ihm, der zu glauben schien (jedenfalls bis er die Ampullen unter der Brücke fand), daß die ganzen Meldungen über die Kokainepidemie nichts als Unsinn waren, daß sie ebensowenig der Wirklichkeit entsprachen wie ein Fernsehkrimi oder ein Film mit Jean-Claude Van Damme.
Jetzt verspürte er einen ähnlichen Schock.
»Harald sagte, sie wollten mich nach Bangor holen und mir >das Haus zeigen<«, sagte Lois. »Heutzutage fährt er nicht mehr mit mir weg, er >bringt< mich nur noch irgendwohin. Als wäre ich ein Botengang. Sie hatten eine Menge Broschüren dabei, und als Harold Janet zunickte, hat sie sie so schnell vor mir ausgebreitet -«
»Puh, langsam. Was für ein Haus? Was für Broschüren?«
»Tut mir leid, ich mache ein bißchen zu schnell, was? Es ist ein Haus in Bangor, das Riverview Estates heißt.«
Ralph kannte den Namen; er hatte sogar selbst schon eine Broschüre bekommen. Eine dieser Postwurfsendungen, die Leute über fünfundsechzig bekamen. Er und McGovern hatten darüber gelacht… aber das Lachen war ein klein wenig nervös gewesen – wie das Pfeifen von Kindern, die am Friedhof vorbeilaufen.
»Scheiße, Lois – das ist ein Altersheim, richtig?«
»Nein, Sir!« sagte sie und riß unschuldig die Augen auf. »Das habe ich auch gesagt, aber Harold und Janet haben mich verbessert. Nein, Ralph, Riverview Estates ist ein Apartmentkomplex für geselligkeitsorientierte Senioren! Als Harold das sagte, antwortete ich: >Ist das so? Nun, dann will ich euch beiden etwas erzählen – man kann einen Obstkuchen von McDonalds auf einen schicken Silberteller stellen und behaupten, daß er eine französische Torte ist, aber was mich betrifft, ist es deshalb immer noch ein Obstkuchen von McDonalds.<
Als ich das sagte, fing Harold an zu stottern und wurde rot im Gesicht, aber Jan bedachte mich einfach nur mit ihrem zuckersüßen Lächeln, das sie für besondere Anlässe aufhebt, weil sie genau weiß, daß es mich rasend macht. Sie sagt: >Nun, warum sehen wir uns die Broschüren nicht trotzdem an, Mutter Lois? Das wirst du doch wenigstens tun können, nachdem wir beide einen Tag Urlaub genommen und den ganzen Weg hierher gefahren sind, oder nicht?<«
»Als würde Derry im finstersten Afrika liegen«, murmelte Ralph.
Lois nahm seine Hand und sagte etwas, das ihn zum Lachen brachte. »Oh, für Jan ist das so!«
»War das bevor oder nachdem du herausgefunden hast, daß Litchfield gepetzt haben muß?« fragte Ralph. Er benutzte absichtlich dasselbe Wort wie Lois; es schien besser zu der Situation zu passen als ein beschönigenderer Ausdruck. »Einen Vertrauensbruch begangen« war viel zu anständig für dieses heimtückische Vorgehen. Litchfield hatte gepetzt. So einfach war das.
»Vorher. Ich dachte mir, ich könnte die Broschüren wirklich ansehen; schließlich waren sie vierzig Meilen gefahren, und es würde mich ja nicht umbringen. Also habe ich sie durchgeblättert, während sie das Frühstück aßen, das ich gemacht hatte – ich mußte übrigens später nichts in den Müll werfen und Kaffee tranken.
Nicht schlecht, dieses Riverview. Sie haben ihr eigenes medizinisches Personal, das rund um die Uhr einsatzbereit ist. Wenn man einzieht, checken sie einen vollständig durch und entscheiden, was man zu essen bekommt. Es gibt einen Roten Diätplan, einen Blauen Diätplan, einen Grünen Diätplan und einen Gelben Diätplan. Und noch drei oder vier andere Farben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wofür sie alle stehen, aber Gelb ist für Diabetiker und Blau für die Fetten.«
Ralph dachte daran, wie es sein würde, den Rest seines Lebens drei wissenschaftlich ermittelte Mahlzeiten täglich zu essen – keine Pizza mit Paprikawurst von Gambino’s mehr, keine Coffee-Pot-Sandwiches, keine Chiliburger von Mexico Milt’s -, und fand die Aussicht fast unerträglich trostlos.
»Außerdem«, sagte Lois strahlend, »haben sie eine Rohrpost, die einem die täglichen Tabletten direkt in die Küche liefert. Ist das nicht eine grandiose Idee, Ralph?«
»Schätze schon«, sagte Ralph.
»O ja, das ist es. Großartig, der letzte Schrei. Ein Computer überwacht alles, und ich wette, der hat nie eine Verschlechterung der Kognition. Ein spezieller Bus bringt die Bewohner von Riverview zweimal wöchentlich zu malerischen oder kulturellen Sehenswürdigkeiten, außerdem zum Einkaufen. Man muß den Bus nehmen, weil das Riverview nicht gestattet, daß man ein Auto besitzt.«
»Gute Idee«, sagte er und drückte ihre Hand ein wenig. »Was sind schon ein paar Betrunkene am Samstagabend im Vergleich zu einem alten Schwachkopf mit nachlassender Kognition, der mit einer Buick-Limousine auf die Menschheit losgelassen wird?«
Sie lächelte nicht, wie er gehofft hatte. »Die Bilder in diesen Broschüren haben mir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Alte Damen, die Canasta spielen. Alte Männer, die Hufeisen werfen. Beide Geschlechter gemeinsam beim Squaredance in dem großen, kieferngetäfelten Saal, den sie River Hall nennen. Aber das ist wirklich ein hübscher Name, findest du nicht auch? River Hall?«
»Ich finde ihn ganz okay.«
»Ich finde, das hört sich wie ein Saal in einem verwunschenen Schloß an. Aber ich habe ein paar alte Freunde in Strawberry Fields besucht – das ist ein Altenheim in Skowhegan -, daher weiß ich, was ein Aufenthaltsraum für alte Menschen ist. Es ist ganz egal, was für einen hübschen Namen man ihm gibt, in jedem steht ein Schrank mit Brettspielen in der Ecke, und mit Puzzles, bei denen immer vier oder fünf Teile fehlen, und im Fernseher läuft immer so etwas wie Family Feud, aber nie Filme, in denen gutaussehende junge Leute sich die Kleider ausziehen und sich vor dem Kamin auf dem Boden herumwälzen. Diese Räume riechen immer nach Salbe… und Pisse… und den Wasserfarben aus dem Five-and-Dime in den langen Blechkästen… und Verzweiflung.«
Lois sah ihn mit ihren dunklen Augen an.
»Ich bin erst achtundsechzig, Ralph. Ich weiß, achtundsechzig zu sein bedeutet Dr. Jungbrunnen überhaupt nichts, aber mir schon, denn meine Mutter war zweiundneunzig, als sie letztes Jahr gestorben ist, und mein Dad wurde sechsundachtzig. In meiner Familie stirbt man jung, wenn man mit achtzig stirbt… und wenn ich zwölf Jahre in einem Haus verbringen müßte, wo sie über Lautsprecher zum Essen rufen, würde ich verrückt werden.«
»Ich auch.«
»Aber ich habe es mir angesehen. Ich wollte höflich sein. Als ich fertig war, machte ich einen ordentlichen kleinen Stapel und gab ihn Jan. Ich sagte ihr, sie wären sehr interessant, und dankte ihr. Sie nickte und lächelte und steckte sie wieder in die Handtasche. Ich dachte, damit wäre die Sache erledigt, und tschüs, aber dann sagte Harold: >Zieh den Mantel an, Ma.<
Einen Moment hatte ich solche Angst, daß ich keine Luft bekam. Ich dachte, sie hätten mich schon angemeldet! Und ich dachte mir, wenn ich sagen würde, daß ich nicht mitkommen wollte, würde Harold die Tür aufmachen, und draußen würden zwei oder drei Männer in weißen Kitteln stehen, und einer würde lächeln und sagen: >Keine Bange, Mrs. Chasse; wenn Sie erst einmal die erste Handvoll Pillen direkt in Ihre Küche bekommen haben, möchten Sie gar nicht mehr anderswo leben.<
>Ich will meinen Mantel nicht anziehen<, sagte ich zu Harold und versuchte, es so zu sagen wie damals, als er noch zehn war und immer mit schmutzigen Schuhen in die Küche gekommen ist, aber mein Herz schlug so fest, daß man es in meiner Stimme hören konnte. >Ich will nicht mehr ausgehen. Ich hatte vergessen, wieviel ich heute zu tun habe.< Und da stieß Jan dieses Lachen aus, das ich noch mehr hasse als ihr zuckersüßes Lächeln, und sagte: >Aber Mutter Lois, was könntest du zu tun haben, das so wichtig ist, daß du nicht mit uns nach Bangor fahren könntest, nachdem wir uns die Zeit genommen haben und nach Derry gekommen sind, um dich zu besuchen?<
Diese Frau bringt mich immer auf die Palme, und ich schätze, umgekehrt ist es genauso. Muß so sein, denn ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die eine andere so oft angelächelt hat, ohne sie aus tiefster Seele zu hassen. Wie auch immer, ich sagte ihr, zuerst einmal müßte ich den Küchenboden schrubben. >Sieh ihn dir nur an<, sagte ich. >Schmutzig wie der Teufel.<
>Ha!< sagt Harold. >Ich kann nicht glauben, daß du uns unverrichteter Dinge in die Stadt zurückschickst, nachdem wir den weiten Weg hierher gekommen sind, Ma.< >Nun, ich werde da nicht hinziehen, wie weit ihr auch gekommen sein mögt<, antwortete ich, >also das könnt ihr euch gleich abschminken. Ich lebe seit fünfunddreißig Jahren in Derry, mein halbes Leben. Meine ganzen Freunde sind hier, und ich ziehe nicht weg.<