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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

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Текущая страница: 24 (всего у книги 50 страниц)

Lois zupfte inzwischen hektisch an ihm. »Was ist mit dem Hund, Ralph? Was ist mit ihm?«

Ohne darüber nachzudenken, was er tat oder warum, legte Ralph die Hände auf Lois’ Augen, wie jemand, der »Rat mal wer« mit seiner Liebsten spielt. Seine Finger leuchteten kurzzeitig so grell weiß auf, daß er fast erblindete. Muß das Weiß sein, von dem sie immer in der Waschmittelwerbung sprechen, dachte er.

Lois schrie. Sie griff mit den Händen nach seinen Handgelenken, umklammerte sie und ließ wieder los. »Mein Gott, Ralph, was hast du mit mir gemacht?«

Er nahm seine Hände weg und sah eine grellweiße liegende Acht um ihre Augen herum; es war, als hätte sie gerade eine in Puderzucker getauchte Brille abgenommen. Das Weiß begann in dem Moment zu verblassen, als er die Hände wegnahm… aber…

Es verblaßt nicht, dachte er. Es sinkt ein.

»Vergiß es«, sagte er und deutete bergab. »Schau!«

Ihre aufgerissenen Augen verrieten ihm alles, was er wissen mußte. Doc Nr. 3, der sich von Rosalies verzweifeltem Versuch, seine Freundschaft zu erringen, nicht im geringsten beeindrucken ließ, stieß ihre Schnauze mit der Hand beiseite, die das Skalpell hielt. Er packte das alte Tuch um ihren Hals mit der anderen Hand und riß ihren Kopf hoch. Rosalie heulte kläglich. Sabber lief seitlich an ihrem Kopf herab. Der kahlköpfige Mann stieß ein schleimiges Kichern aus, bei dem Ralph eine Gänsehaut bekam.

[»He! Hör auf! Hör auf, den Hund zu quälen!«]

Der Kopf des kahlköpfigen Mannes fuhr herum. Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht, und er fauchte Lois an, wobei er sich selbst ein wenig wie ein Hund anhörte.

[Hah, verpiß dich bloß, du fette alte kurzfristige Fotze! Der Hund gehört mir, das hab ich deinem schlappschwänzigen Freund schon gesagt!]

Der kahlköpfige Mann hatte das blaue Tuch losgelassen, als Lois ihn angesprochen hatte, und jetzt preßte sich Rosalie wieder an die Kiefer, verdrehte die Augen, und Schaum troff von ihren Lefzen. Ralph hatte in seinem ganzen Leben noch nie ein so durch und durch verängstigtes Geschöpf gesehen.

»Lauf!« schrie Ralph. »Geh weg!«

Sie schien ihn nicht zu hören, und nach wenigen Augenblicken wurde Ralph klar, daß sie ihn tatsächlich nicht hören konnte, weil Rosalie nicht mehr ganz da war. Der kahlköpfige Arzt hatte schon etwas mit ihr angestellt – er hatte sie zumindest teilweise aus der gewöhnlichen Wirklichkeit herausgezogen wie ein Farmer, der einen Baumstumpf mit dem Traktor und einer Kette herauszieht.

Ralph versuchte es trotzdem noch einmal.

[»Lauf, Rosalie! Lauf weg!«]

Diesmal spitzte sie die angelegten Ohren und drehte den Kopf langsam in Ralphs Richtung. Er erfuhr aber nie, ob sie ihm gehorchen wollte oder nicht, denn der kahlköpfige Mann ergriff das Tuch wieder, bevor sie sich in Bewegung setzen konnte. Er riß ihren Kopf wieder hoch.

»Er wird sie umbringen!« kreischte Lois. »Er wird ihr mit diesem Ding die Kehle durchschneiden! Laß es nicht zu Ralph! Du mußt ihn daran hindern!«

»Ich kann nicht! Vielleicht kannst du es! Schieß auf ihn! Schieß mit deiner Hand auf ihn!«

Sie sah ihn verständnislos an. Ralph machte eine verzweifelte Holzhacker-Geste mit der rechten Hand, aber bevor Lois ihrerseits die Hand heben konnte, stieß Rosalie ein gräßliches, hilfloses Heulen aus. Der kahlköpfige Arzt hob das Skalpell und ließ es herunterfahren, aber er schnitt nicht Rosalies Kehle durch.

Er schnitt ihre Ballonschnur durch.

Zwei Fäden schwebten aus den Nasenlöchern von Rosalie in die Höhe. Sie verflochten sich etwa fünfzehn Zentimeter über der Schnauze und bildeten einen zierlichen Zopf, und genau an dieser Stelle verrichtete das Skalpell von Kahlkopf Nr. 3 seine Arbeit. Ralph sah voller Entsetzen, wie der abgeschnittene Zopf dem Himmel entgegenschwebte wie die Schnur eines losgelassenen Heliumballons. Dabei wand er sich auseinander. Ralph dachte, er würde in den Zweigen der alten Kiefer hängenbleiben, aber es kam anders. Als die aufsteigende Ballonschnur schließlich den ersten Zweig erreichte, ging sie einfach durch ihn hindurch.

Logisch, dachte Ralph. So wie die Kumpels dieses Burschen durch May Lochers abgesperrte Eingangstür gegangen sind, nachdem sie mit ihr dasselbe gemacht hatten.

Diesem Einfall folgte ein Gedanke, der zu einfach und grausam logisch war, als daß er ihn hätte verwerfen können: keine Außerirdischen, keine kleinen kahlköpfigen Ärzte, sondern Zenturionen. Ed Deepneaus Zenturionen. Sie sahen nicht wie die römischen Soldaten aus, die man in Blechhosen-Epen wie Spartacus oder Ben Hur sah, richtig, aber sie mußten Zenturionen sein, oder nicht?

Fünf oder sechs Meter über dem Boden verblaßte Rosalies Ballonschnur einfach und verschwand.

Ralph senkte den Blick gerade rechtzeitig, daß er sehen konnte, wie der kahlköpfige Gnom dem Hund das verblichene blaue Tuch über den Kopf zog und ihn dann zum Baumstamm hinstieß. Ralph betrachtete die Hündin eingehender und spürte, wie sich sein ganzes Fleisch fester über den Knochen zusammenzog. Sein Traum von Carolyn wurde ihm mit unerbittlicher Grausamkeit wieder ins Gedächtnis gerufen, und er mußte sich anstrengen, damit er keinen Schrei des Entsetzens ausstieß.

Ganz recht, Ralph, nicht schreien. Das solltest du nicht tun, denn wenn du erst einmal angefangen hast, kannst du vielleicht nicht mehr aufhören – du schreist vielleicht einfach weiter, bis es dir die Kehle zerreißt. Denk an Lois, denn sie steckt jetzt auch mit drin. Denk an Lois und fang nicht an zu schreien.

Ah, aber das fiel ihm schwer, denn die Käfer aus dem Traum, die aus Carolyns Kopf gequollen waren, kamen jetzt als zuckende schwarze Ströme aus Rosalies Nasenlöchern.

Das sind keine Käfer. Ich weiß nicht, was sie sind, aber es sind keine Käfer.

Nein, keine Käfer – nur eine andere Art von Aura. Alptraumhaftes schwarzes Zeug, weder Flüssigkeit noch Gas, wurde mit jedem Atemzug aus Rosalie herausgepumpt. Es schwebte nicht davon, sondern umgab sie als träge, widerliche Schnörkel von Anti-Licht. Diese Schwärze hätte sie eigentlich den Blicken entziehen müssen, aber das tat sie nicht. Ralph konnte ihre flehenden, entsetzten Augen sehen, während die Schwärze sich um ihren Kopf herum sammelte und ihr dann an Rücken, Flanken und Beinen hinablief.

Es war ein Leichentuch, ein echtes Leichentuch, und er wurde Zeuge, wie Rosalie, deren Ballonschnur durchgeschnitten war, es unablässig um sich selbst herum wob wie eine giftige Gebärmutter. Dieser Vergleich rief die Stimme von Ed Deepneau in seiner Erinnerung auf den Plan, der gesagt hatte, daß die Zenturionen Babys aus dem Schoß ihrer Mütter rissen und sie in Lastwagen wegbrachten, die mit Planen abgedeckt waren.

Hast du dich schon mal gefragt, was sich unter diesen Planen befindet? hatte Ed gefragt.

Hatte das etwas hiermit zu tun? Ja?

Doc Nr. 3 stand da und sah grinsend auf Rosalie herab. Dann löste er den Knoten ihres Tuchs, legte es sich selbst um den Hals und band einen großen, lockeren Knoten, so daß es aussah wie die Krawatte eines Bohemiens. Als er das getan hatte, sah er mit einem Ausdruck abscheulicher Selbstgefälligkeit zu Ralph und Lois auf. Da! sagte dieser Ausdruck. Ich habe letztlich doch getan, was ich wollte, und ihr habt nicht das geringste dagegen unternehmen können, richtig?

[»Tu etwas, Ralph! Bitte tu etwas! Er soll aufhören!«]

Dazu war es jetzt zu spät, aber möglicherweise noch nicht, ihn seines Weges zu schicken, bevor er den Anblick genießen konnte, wie Rosalie tot am Fuß des Baums zusammenbrach. Er war ziemlich sicher, daß Lois keinen Karateschlag mit blauem Licht zustandebringen konnte, so wie er, aber möglicherweise konnte sie etwas anderes.

Ja – sie kann auf ihre Weise auf ihn schießen.

Er wußte nicht, warum er da so sicher war, aber plötzlich war er es. Er packte Lois an den Schultern, damit sie ihn ansah, dann hob er die rechte Hand. Er winkelte den Daumen an und richtete den Zeigefinger auf den kahlköpfigen Mann. Nun sah er wie ein kleines Kind aus, das Räuber und Gendarm spielt.

Lois reagierte mit einem mißfälligen und verständnislosen Blick. Ralph nahm ihre Hand und zog ihr den Handschuh aus.

[»Du! Du, Lois!«]

Sie verstand, was er meinte, hob selbst die Hand, streckte den Zeigefinger aus und machte wie ein Kind eine schießende Geste: Peng! Peng!

Zwei kompakte, rhombusförmige Strahlen, deren graublauer Farbton identisch mit Lois’ Aura war, nur viel heller, Schossen aus den Enden ihrer Finger und bergab.

Doc Nr. 3 kreischte und sprang in die Höhe, hielt die zu Fäusten geballten Hände in Schulterhöhe, und die Absätze seiner schwarzen Schuhe knallten gegen seinen Hintern, als die erste dieser »Kugeln« unter ihm durchging. Sie schlug auf dem Boden auf, prallte ab wie ein flacher Stein auf einer Wasseroberfläche und traf das Port-O-San mit der Aufschrift FRAUEN. Einen Augenblick glühte die ganze Fassade so grell wie das Fenster des Buffy-Buffy.

Das zweite graublaue Geschoß traf die linke Hüfte des Kahlkopfs und heulte als Querschläger himmelwärts. Er schrie -ein hohes, schrilles Geräusch, das sich wie ein Wurm in Ralphs Kopf zu fressen schien. Ralph hob die Hände zu den Ohren, obwohl es nichts nützen würde, und sah, daß Lois seinem Beispiel folgte. Er war sicher, wenn dieser Schrei lang anhalten würde, würde er ihm so sicher den Schädel spalten, wie das hohe C feines Kristallglas zerschmettern kann.

Doc Nr. 3 fiel neben Rosalie auf den nadelübersäten Boden, rollte sich hin und her, heulte und hielt sich die Hüfte wie ein kleines Kind sich die Stelle halten würde, die es sich gestoßen hat, als es vom Dreirad gefallen ist. Nach einigen Augenblicken wurde der Schrei leiser, und er sprang auf die Füße. Seine Augen waren hellgrün und funkelten sie unter der weißen Stirn an. Bills Panama hatte er jetzt weit nach hinten geschoben, und die linke Seite des Kittels war schwarz und rauchte.

[Das zahle ich euch heim! Euch beiden! Gottverdammte kurzfristige Störenfriede! DAS ZAHLE ICH EUCH BEIDEN HEIM!]

Er wirbelte herum und hüpfte den Weg hinunter, der zum Spielplatz und den Tennisplätzen führte; große, weite Sprünge wie ein Astronaut auf dem Mond. Seiner Schnelligkeit nach zu urteilen, konnte Lois’ Schuß nicht viel Schaden angerichtet haben.

Lois packte Ralph an den Schultern und schüttelte ihn. Dabei begannen die Auren wieder zu verblassen.

[»Die Kinder! Er ist unterwegs zum Kinderspielplatz!«]

Sie verblaßte, und das schien vollkommen logisch zu sein, denn plötzlich sah er, daß Lois überhaupt nicht redete, sondern ihn mit ihren dunklen Augen nur starr ansah, während sie seine Schultern umklammert hielt.

»Ich kann dich nicht hören!« rief er. »Lois, ich kann dich nicht hören!« »Was ist los, bist du taub? Er ist zum Spielplatz unterwegs! Zu den Kindern! Wir dürfen nicht zulassen, daß er den Kindern etwas tut!«

Ralph stieß einen zitternden Stoßseufzer aus. »Das wird er nicht.«

»Wie willst du das wissen?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es eben.«

»Ich habe auf ihn geschossen.« Sie hielt sich den Finger vors Gesicht und sah einen Moment wie eine Frau aus, die einen Selbstmord simuliert. »Ich habe mit dem Finger auf ihn geschossen.«

»Hm-hmm. Und es hat ihm wehgetan. Ziemlich, wie es ausgesehen hat.«

»Ich kann die Farben nicht mehr sehen, Ralph.«

Er nickte. »Sie kommen und gehen wie Rundfunksender in der Nacht.«

»Ich weiß nicht, was ich empfinde… ich weiß nicht einmal, was ich empfinden möchte!« Letzteres wimmerte sie, und Ralph nahm sie in die Arme. Bei allem, was sich derzeit gerade in seinem Leben abspielte, war eines ganz deutlich: Es war wunderbar, wieder eine Frau in den Armen zu halten.

»Schon gut«, sagte er ihr und preßte das Gesicht an ihren Kopf. Ihr Haar roch angenehm, ohne das Aroma von Chemikalien aus dem Schönheitssalon, an das er sich die letzten zehn oder fünfzehn Jahre ihres gemeinsamen Zusammenlebens bei Carolyn erinnerte. »Laß es vorerst einfach dabei bewenden, okay?«

Sie sah zu ihm auf. Er konnte den feinen, perligen Nebel nicht mehr über ihre Pupillen ziehen sehen, war aber überzeugt, daß er noch da sein mußte. Und außerdem waren es sehr hübsche Augen, auch ohne diese zusätzliche Attraktion.

»Wozu geschieht das alles, Ralph? Weißt du, wozu es geschieht?«

Er schüttelte den Kopf. In seiner Vorstellung kreisten die Teile eines Puzzles – Hüte, Docs, Hunde, Spruchbänder, platzende Puppen voll falschem Blut -, die sich nicht zusammenfügen wollten. Zumindest im Augenblick war ihm am deutlichsten der Ausspruch des alten Dor gegenwärtig: Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen.

Ralph hatte eine Ahnung, als wäre das die reine Wahrheit.

Ein trauriges, leises Winseln erweckte seine Aufmerksamkeit, und Ralph sah den Hügel hinab. Rosalie lag am Stamm der großen Kiefer und versuchte aufzustehen. Ralph konnte die schwarze Hülle um sie herum nicht mehr sehen, war aber sicher, daß sie noch da war. »O Ralph, das arme Ding! Was können wir tun!« Sie konnten gar nichts tun. Ralph war ganz sicher. Er nahm Lois’ rechte Hand in seine beiden und wartete, daß Rosalie sich hinlegen und sterben würde.

Aber anstatt zu sterben, bäumte sie sich so heftig mit dem ganzen Körper auf, daß sie auf die Füße kam und fast zur anderen Seite umgekippt wäre. Sie blieb einen Moment ruhig stehen und hielt den Kopf so tief, daß ihre Schnauze fast den Boden berührte, dann nieste sie drei-oder viermal. Nachdem das erledigt war, schüttelte sie sich und sah zu Ralph und Lois auf. Sie kläffte einmal, ein sprödes, abgehacktes Geräusch. Für Ralph hörte es sich so an, als wollte sie ihnen sagen, daß sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchten. Dann drehte sie sich um und ging durch den kleinen Kiefernhain zum anderen Ausgang des Parks. Bevor Ralph sie aus dem Augen verlor, hatte sie wieder die hinkende und doch gewandte Gangart angenommen, die ihr Markenzeichen war. Das schlimme Bein war nicht besser als vor dem Eingreifen von Doc Nr. 3, aber es schien auch nicht schlimmer zu sein. Alt, aber alles andere als tot (genau wie wir anderen Harris Avenue Altvorderen, dachte Ralph), verschwand sie zwischen den Bäumen.

»Ich dachte, das Ding würde sie töten«, sagte Lois. »Ich glaubte, es hätte sie getötet.«

»Ich auch«, sagte Ralph.

»Ralph, ist das alles wirklich passiert? Es ist passiert, nicht?« »Ja.«

»Die Ballonschnüre… glaubst du, daß sie Lebenslinien sind?«

Er nickte langsam. »Ja. Wie Nabelschnüre. Und Rosalie…«

Er dachte an das erste richtige Erlebnis mit den Auren zurück, wie er mit dem Rücken zu dem blauen Briefkasten vor dem Rite Aid gestanden und das Kinn fast bis auf die Brust hatte sinken lassen. Von den sechzig oder siebzig Menschen, die er gesehen hatte, bevor die Auren wieder verblaßt waren, hatten nur einige wenige diese schwarzen Umhüllungen getragen, die er jetzt als Leichentücher betrachtete, und dasjenige, das Rosalie um sich herum gestrickt hatte, war bei weitem schwärzer gewesen als alle an jenem Tag. Aber die Leute auf dem Parkplatz, deren Auren schwarz gewesen waren, hatten ausnahmslos krank ausgesehen… wie Rosalie, deren Aura die Farbe verschwitzer Socken gehabt hatte, noch bevor Doc Nr. 3 sich ihrer annahm.

Vielleicht hat er nur beschleunigt, was sonst ein vollkommen natürlicher Vorgang gewesen wäre, dachte er.

»Ralph?« fragte Lois. »Was ist mit Rosalie?«

»Ich glaube, meine alte Freundin Rosalie lebt jetzt von geborgter Zeit«, sagte Ralph.

Lois dachte darüber nach, während sie bergab in den sonnigen Hain sah, wo Rosalie verschwunden war. Schließlich drehte sie sich wieder zu Ralph um. »Der Gnom mit dem Skalpell war einer der Männer, die du aus dem Haus von May Locher hast kommen sehen, richtig?«

»Nein. Das waren die beiden anderen.«

»Hast du noch mehr gesehen?«

»Nein.«

»Glaubst du, daß es noch mehr gibt?«

»Ich weiß nicht.«

Er dachte, sie würde als nächstes fragen, ob ihm aufgefallen sei, daß die Kreatur Bills Panamahut aufgehabt habe, aber das tat sie nicht. Ralph hielt es für möglich, daß sie ihn gar nicht wiedererkannt hatte. Zuviel Unheimliches hatte sich abgespielt, und außerdem war kein Stück aus der Krempe herausgebissen gewesen, als sie ihn zum letztenmal bei Bill gesehenhatte. Pensionierte Geschichtslehrer sind einfach nicht der Typ, der in Hutkrempen beißt, überlegte er und grinste.

»Das war vielleicht ein Vormittag, Ralph.« Lois sah ihm unverwandt in die Augen. »Ich glaube, wir müssen darüber reden, findest du nicht? Ich muß, wirklich wissen, was hier vor sich geht.«

Ralph erinnerte sich an den Morgen – der jetzt tausend Jahre zurücklag -, als er vom Picknickplatz kommend die Straße entlang ging, seine kurze Liste von Bekannten abhakte und sich überlegte, mit wem er reden sollte. Er hatte Lois von der Liste gestrichen, weil er befürchtete, sie könnte bei ihren Freundinnen klatschen, und nun schämte er sich dieser irrigen Einschätzung, die mehr auf McGoverns Vorstellung von Lois als auf seiner eigenen basierte. Wie sich herausstellte, hatte Lois bis heute morgen nur mit dem einzigen Menschen auf der Welt über die Auren gesprochen, bei dem das Geheimnis eigentlich hätte sicher aufgehoben sein müssen.

Er nickte ihr zu. »Du hast recht. Wir müssen reden.«

»Möchtest du gerne zu einem verspäteten Mittagessen zu mir kommen? Ich mache ein ziemlich gutes Pfannengemüse für eine alte Tante, die nicht mehr weiß, wo sie ihre Ohrringe gelassen hat.«

»Mit Vergnügen. Ich werde dir sagen, was ich weiß, aber es wird eine Weile dauern. Als ich heute morgen mit Bill geredet habe, habe ich ihm nur die Reader’s Digest-Version gegeben.«

»Aha«, sagte Lois. »Der Streit ging um Schach, ja?«

»Nun, vielleicht nicht«, sagte Ralph und betrachtete lächelnd seine Hände. »Vielleicht war er mehr wie der Streit, den du mit deinem Sohn und deiner Schwiegertochter gehabt hast. Und das Verrückteste habe ich ihm nicht mal erzählt.«

»Aber mir würdest du es erzählen?«

»Ja«, sagte er und stand auf. »Ich wette, du bist eine verdammt gute Köchin. Tatsächlich -« Er verstummt unvermittelt und hielt sich eine Hand an die Brust. Dann ließ er sich schwer auf die Bank zurücksinken und riß Augen und Mund auf.

»Ralph? Alles in Ordnung?«

Ihre erschrockene Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder Kahlkopf Nr. 3 zwischen dem Buffy-Buffy und dem Mietshaus nebenan stehen. Kahlkopf Nr. 3 versuchte, Rosalie über die Straße zu locken, damit er ihre Ballonschnur durchschneiden konnte. Da war es ihm nicht gelungen, aber er hatte die Aufgabe erledigt, bevor (Ich wollte mit ihr spielen!) der Vormittag vorüber war.

Vielleicht ist die Tatsache, daß Bill McGovern nicht der Typ ist, der in seinen Hut beißen würde, nicht der einzige Grund, weshalb Lois nicht aufgefallen ist, was für einen Hut Kahlkopf Nr. 3 da getragen hat, Ralph, alter Freund. Vielleicht hat sie es nicht bemerkt, weil sie es nicht bemerken wollte. Vielleicht gibt es ein paar Teile, die zusammenpassen, und wenn du recht hast, dann sind die Folgen weitreichend. Das ist dir doch klar, oder nicht?

»Ralph? Was ist denn los?«

Er sah, wie der Gnom ein Stück aus dem Panama abbiß und ihn dann wieder auf den Kopf setzte. Hörte ihn sagen, daß er nun statt dessen mit Ralph spielen müßte.

Aber nicht nur mit mir. Mit mir und meinen Freunden, hat er gesagt. Mit mir und meinen Arschlöchern von Freunden.

Und als er jetzt zurückdachte, sah er noch etwas. Er sah, wie die Sonne Funkensplitter aus den Ohrläppchen von Doc Nr. 3 schlug, als er – oder es – in die Krempe von McGoverns Hut gebissen hatte. Die Erinnerung war so deutlich, daß er sie nicht in Frage stellen konnte, ebensowenig wie die Bedeutung.

Die weitreichende Bedeutung.

Immer mit der Ruhe – du weißt nichts mit Sicherheit, und das Irrenhaus wartet direkt hinter dem Horizont, mein Freund. Ich glaube, das solltest du nicht vergessen, es möglicherweise als einen Anker benutzen. Es ist mir gleich, ob Lois das alles auch sieht oder nicht. Die anderen Männer in weißen Kitteln, nicht die kahlköpfigen halben Portionen, sondern die muskulösen Typen mit den Schmetterlingsnetzen und den Thorazinspritzen, können jederzeit auftauchen. Jederzeit.

Aber trotzdem.

Trotzdem.

»Ralph! Großer Gott, sprich mit mir!« Lois schüttelte ihn, und zwar heftig, wie eine Ehefrau, die ihren Mann wachrütteln möchte, damit er nicht zu spät zur Arbeit kommt.

Er sah sie an und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Es fühlte sich in seinem Inneren falsch an, schien Lois aber zu überzeugen, denn sie entspannte sich. Jedenfalls ein wenig. »Tut mir leid«, sagte er. »Ein paar Augenblicke ist mir alles einfach… du weißt schon, über den Kopf gewachsen.«_ »Mach mir nie wieder solche Angst! Wie du dir an die Brust gefaßt hast, mein Gott!«

»Mir geht es gut«, sagte Ralph und zwang sich zu einem noch breiteren falschen Lächeln. Er kam sich vor wie ein Kind, das einen Strang Silly Putty zieht und feststellen will, wie weit es ihn ziehen kann, bevor er zu dünn wird und reißt. »Und wenn du noch kochen willst, komme ich immer noch zum Essen.«

Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein.

Lois sah ihn eindringlich an und entspannte sich. »Gut. Das wäre schön. Ich habe schon lange für niemand mehr gekocht, außer für Simone und Mina – das sind meine Freundinnen, weißt du.« Dann lachte sie. »Aber das habe ich nicht gemeint. Das ist nämlich nicht der Grund, weshalb es mir Spaß machen würde… «

»Was meinst du damit?«

»Daß ich schon lange nicht mehr für einen Mann gekocht habe. Ich hoffe, ich habe nicht vergessen, wie es geht.«

»Nun, an dem Tag, als Bill und ich bei dir waren und die Nachrichten angesehen haben – da gab es Makkaroni mit Käse. Das war auch gut.«

Sie machte eine wegwerfende Geste. »Aufgewärmt. Das zählt nicht.«

Der Affe wollte Schaffner in der Straßenbahn sein. Die Bahn geriet in Not -

Er lächelte breiter denn je. Wartete darauf, daß es reißen würde. »Ich bin sicher, du hast es nicht vergessen, Lois.«

»Mr. Chasse hatte einen ausgesprochen herzhaften Appetit. In jeder Beziehung. Aber dann bekam er Probleme mit der Leber und…« Sie seufzte, dann ergriff sie Ralphs Arm und hielt ihn mit einer Mischung aus Schüchternheit und Entschlossenheit fest, die er absolut bezaubernd fand. »Vergiß es. Ich habe es satt, der Vergangenheit nachzutrauern und zu schniefen. Das überlasse ich Bill. Gehen wir.«

Er stand auf, hakte den Arm bei ihr unter und ging mit ihr den Hügel hinab zum gegenüberliegenden Ausgang des Parks. Lois betrachtete strahlend die jungen Mütter auf dem Spielplatz, als sie und Ralph an ihnen vorbeigingen. Ralph war froh um die Ablenkung. Er konnte sich sagen, er sollte mit einem endgültigen Urteil noch warten; er konnte sich immer wieder daran erinnern, daß er nicht genug über das wußte, was mit ihm und Lois geschah, um sich einzubilden, er könnte logisch darüber nachdenken, aber er kam trotzdem zu dieser Schlußfolgerung. Die Schlußfolgerung kam ihm im Innersten seines Herzens richtig vor, und er war schon weitgehend zur Überzeugung gelangt, daß in der Welt der Auren Fühlen und Wissen so gut wie identisch waren.

Von den beiden anderen weiß ich nichts, aber Doc Nr. 3 ist ein wahnsinniger Arzt… und er nimmt Souvenirs mit. Nimmt sie mit wie ein paar Irre in Vietnam Ohren gesammelt haben.

Daß Lois’ Schwiegertochter einem bösen Impuls gefolgt war, die Diamantohrringe von dem Porzellanteller genommen und in die Tasche ihrer Jeans gesteckt hatte, daran zweifelte er nicht. Aber Janet Chasse hatte sie nicht mehr; zweifellos machte sie sich bereits schwere Vorwürfe, weil sie sie verloren hatte, und fragte sich, warum sie sie überhaupt erst weggenommen hatte.

Ralph wußte, der Winzling mit dem Skalpell hatte McGoverns Hut, auch wenn es Lois nicht aufgefallen war, und sie hatten beide gesehen, wie er Rosalies Halstuch mitgenommen hatte. Als Ralph von der Bank aufstehen wollte, war ihm klar geworden, die Lichtblitze, die er von den Ohrläppchen der Kreatur hatte funkeln sehen, bedeuteten mit ziemlicher Sicherheit, daß Doc Nr. 3 auch Lois’ Diamantohrringe hatte.

Der Schaukelstuhl des verstorbenen Mr. Chasse stand auf verblaßtem Linoleum neben der Tür zu hinteren Veranda. Lois führte Ralph zu ihm und sagte, er solle ihr »nicht zwischen den Füßen herumlaufen«. Ralph hielt das für einen Rat, den er befolgen konnte. Kräftiges Licht, Nachmittagslicht, fiel ihm auf den Schoß, während er dasaß und schaukelte. Ralph war nicht sicher, wie es so schnell so spät hatte werden können, aber irgendwie war es geschehen. Vielleicht bin ich eingeschlafen, dachte er. Vielleicht schlafe ich noch und träume das alles. Er sah zu, wie Lois einen Wok (eindeutig Hobbit-Größe) aus einem Hängeschrank holte. Fünf Minuten später zogen leckere Gerüche durch die Küche.

»Ich habe dir gesagt, eines Tages würde ich für dich kochen«, sagte Lois und fügte Gemüse aus der Tiefkühltruhe und Gewürze aus einem der Hängeschränke hinzu. »Das war an dem Tag, als ich dir und Bill die Makkaronireste mit Käse gegeben habe. Weißt du noch?«

»Ich glaube ja«, sagte Ralph lächelnd.

»Im Milchkasten auf der Veranda draußen steht eine Flasche Cidre. Cidre hält sich draußen immer am besten. Würdest du ihn holen? Du kannst auch gleich einschenken. Meine guten Gläser sind im Schrank über der Spüle, an den ich nicht herankomme, ohne daß ich mich auf einen Stuhl stelle. Ich glaube, du bist groß genug, daß du es ohne Stuhl schaffst. Wie groß bist du, Ralph, einsfünfundachtzig?«

»Einsachtundachtzig. War ich zumindest; möglicherweise habe ich in den letzten zehn Jahren einen oder zwei Zentimeter verloren. Die Wirbelsäule fällt in sich zusammen, oder so was. Aber wegen mir mußt du dir nicht so eine Mühe machen. Ehrlich.«

Sie sah ihn gelassen an, stemmte die Hände an die Hüften, und in einer hielt sie den Löffel, mit dem sie den Inhalt des Wok umgerührt hatte. Ihre Strenge wurde durch die Andeutung eines Lächelns gemildert. »Ich habe gesagt, meine guten Gläser, Ralph Roberts, nicht meine besten Gläser.«

»Jawohl, Ma’am«, sagte er grinsend, dann fügte er hinzu: »So, wie es riecht, scheinst du dich doch noch daran zu erinnern wie man für einen Mann kocht.«

»Die Qualität des Puddings erweist sich beim Essen«, antwortete Lois, aber Ralph dachte, daß sie sich zu freuen schien, als sie sich zu dem Wok umdrehte.

Das Essen war gut, und sie unterhielten sich nicht über das, was im Park vorgefallen war, während sie sich bedienten. Ralphs Appetit war unregelmäßig und seit Beginn der Schlaflosigkeit häufiger schwach als stark, aber heute langte er herzhaft zu und spülte Lois’ würziges Pfannengemüse mit drei Gläsern Cidre hinunter (während er das letzte austrank, hoffte er nervös, daß ihn die Aktivitäten des heutigen Tages nicht allzu weit von einer Toilette wegführen würden). Als sie fertig waren, stand Lois auf, ging zur Spüle und ließ heißes Wasser zum Geschirrspülen ein. Dabei griff sie die Unterhaltung von vorhin wieder auf wie ein halbfertiges Strickzeug, das wegen einer anderen, dringenderen Aufgabe vorübergehend zur Seite gelegt worden war.

»Was hast du mit mir gemacht?« fragte sie. »Was hast du gemacht, damit die Farben zurückgekommen sind?«

»Ich weiß nicht.«

»Es war, als hätte ich am Rand dieser Welt gestanden, und als du mir die Hand auf die Augen gelegt hast, hast du mich hineingestoßen.«

Er nickte und dachte daran, wie sie in den ersten Sekunden ausgesehen hatte, nachdem seine Hand ihre Augen nicht mehr bedeckt hatte – als hätte er ihr gerade eine in Puderzucker getauchte Brille abgenommen. »Es war rein instinktiv. Und du hast recht, es ist wie eine Welt. Ich sehe sie genau so – als Welt der Auren.«

»Wunderbar, nicht? Ich meine, es ist beängstigend, und als es mir zum erstenmal passierte – Ende Juli oder Anfang August war das -, war ich sicher, daß ich den Verstand verlieren würde, aber es gefiel mir auch. Ich konnte nicht anders, es gefiel mir.«

Ralph sah sie verblüfft an. Hatte er Lois einmal für leicht zu durchschauen gehalten? Schwatzhaft? Nicht in der Lage, ein Geheimnis für sich zu behalten?

Nein, ich fürchte, es war ein bißchen schlimmer, alter Junge. Du hast sie für oberflächlich gehalten. Du hast sie weitgehend durch Bills Augen gesehen, als »unsere Lois.« Nicht weniger… aber auch nicht mehr.

»Was ist?« fragte sie ein wenig unbehaglich. »Warum siehst du mich so an?«

»Du siehst diese Auren schon seit Sommer? So lange?«

»Ja – immer heller und heller. Habe ich dieses Ding wirklich mit meinem Finger angeschossen, Ralph? Je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann ich es glauben.«

»Das hast du. Ich habe, kurz bevor ich dich getroffen habe, etwas ähnliches getan.«

Er erzählte ihr von seiner früheren Konfrontation mit Doc Nr. 3 und wie er den Gnom vertrieben hatte… jedenfalls vorübergehend. Er hob die Hand zur Schulter und ließ sie rasch heruntersausen. »Mehr habe ich nicht getan – wie ein Junge, der so tut, als wäre er Chuck Norris oder Steven Segal. Aber ich habe diesen unglaublichen blauen Lichtstrahl auf ihn geschleudert, und er hat sich schnellstens verzogen. Was wahrscheinlich gut so war, denn ich hätte es nicht noch einmal geschafft. Ich weiß auch nicht, wie mir das gelungen ist. Hättest du noch einmal mit dem Finger schießen können, Lois?«

Lois kicherte, drehte sich zu ihm und streckte den Finger ungefähr in seine Richtung aus. »Willst du es herausfinden? Peng! Bumm!«

»Richten Sie das Ding nicht auf mich, Lady«, sagte Ralph zu ihr. Er lächelte, als er es sagte, war aber selbst nicht ganz sicher, ob es ein Witz sein sollte.

Lois ließ den Finger sinken und spritzte Spülmittel Marke Joy ins Becken. Als sie das Wasser mit einer Hand umrührte, um Schaum zu erzeugen, stellte sie die Frage, die Ralph als die große Preisfrage betrachtete: »Woher kommt diese Macht, Ralph? Und wozu dient sie?«

Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zum Geschirrgestell. »Ich weiß beides nicht. Hilft dir das weiter? Wo hast du deine Geschirrtücher, Lois?«

»Ist doch egal, wo ich meine Geschirrtücher habe. Setz dich. Bitte sag mir nicht, daß du einer von diesen modernen Männern bist, Ralph – die sich dauernd umarmen und plärren.«

Ralph lachte und schüttelte den Kopf. »Nee. Ich bin nur gut erzogen, das ist alles.«

»Okay. Solange du nicht damit anfängst, wie feinfühlig du bist. Manches möchte ein Mädchen gern selbst herausfinden.« Sie machte den Schrank unter der Spüle auf und warf ihm ein verblichenes, aber makellos sauberes Geschirrtuch zu. »Nur abtrocknen und auf den Tresen stellen. Wegräumen werde ich es selbst. Und während du arbeitest, kannst du mir deine Geschichte erzählen. Die ungekürzte Version.«


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