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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

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Текущая страница: 47 (всего у книги 50 страниц)

Sonia stand auf. »Komm. Bleib dicht vor mir.«

Pat Danville trat auf den Gang, wo ihm seine Mutter die Hände auf die Schultern drückte. Er führte sie die Stufen hinauf zu den mattgelben Lichtern, die den Korridor des nördlichen Balkons erhellten, und blieb nur einmal stehen, als der dunkle Umriß eines laufenden Mannes auf se zugeschnellt kam. Die Hände seiner Mutter packten seine Schultern fester, als sie ihn zur Seite riß -

»Gottverdammte Abtreibungsgegner!« schrie der laufende Mann. »Elende selbstgefällige Scheißer! Am liebsten würde ich sie alle umbringen!«

Dann war er fort, und Pat ging weiter die Stufen hinauf. Sie spürte jetzt eine Ruhe in ihm, eine Besonnenheit ohne eine Spur von Angst, die ihr Herz mit Liebe erfüllte und mit einer sonderbaren Art von Dunkelheit. Er war so anders, ihr Sohn, so etwas Besonderes… aber die Welt liebte solche Menschen nicht. Die Welt versuchte, sie auszurotten, wie Unkraut im Garten.

Schließlich traten sie in den Korridor hinaus. Ein paar Leute in tiefem Schock wanderten mit benommenen Blicken und offenen Mündern hin und her wie Zombies in einem Horror Film. Sonia beachtete sie kaum, sie schob Pat einfach weiter Richtung Treppe. Drei Minuten später standen sie völlig unversehrt in der lodernden Nacht vor dem Gebäude, und in sämtlichen Ebenen des Universums setzten Plan und Zufall ihren vorherbestimmten Kurs fort. Welten, die einen Augenblick auf ihren Bahnen erbebt waren, wurden wieder stabil, und auf einer dieser Welten, in einer Wüste, die der Inbegriff aller Wüsten war, drehte sich ein Mann namens Roland in seinem Schlafsack um und schlief wieder ruhig unter den fremdartigen Sternbildern.

Auf der anderen Seite der Stadt, im Strawford Park, flog die Tür des Port-O-San mit der Aufschrift MÄNNER auf. Lois Chasse und Ralph Roberts wurden rückwärts inmitten einer Rauchwolke herausgeschleudert und hielten einander fest. Aus dem Port-O-San ertönte das Geräusch der abstürzenden Cherokee und dann die Explosion des Plastiksprengstoffs. Ein weißer Lichtblitz war zu sehen, und die blauen Wände der Toilette wölbten sich nach außen, als hätte ein Riese mit der Faust dagegengeschlagen. Eine Sekunde später hörten sie die Explosion noch einmal; diesmal, als sie durch die Luft zu ihnen herübergetragen wurde. Die zweite Version war leiser, aber irgendwie realer.

Lois stolperte und fiel mit einem Schrei, der teilweise Erleichterung ausdrückte, auf dem Hügel ins Gras. Ralph landete neben ihr, richtete sich aber gleich in eine sitzende Haltung auf. Er sah ungläubig zum Bürgerzentrum, wo sich eine Faust aus Feuer am Horizont ballte. Eine purpurne Schwellung, so groß wie ein Türknauf, wuchs mitten auf Ralphs Stirn, wo Ed ihn geschlagen hatte. Seine linke Seite pochte immer noch, aber er dachte, daß die Rippen wahrscheinlich nur angeknackst waren, nicht gebrochen.

[»Lois, alles in Ordnung?«]

Sie sah ihn einen Augenblick verständnislos an, dann tastete sie Gesicht, Hals und Schultern ab. Diese Untersuchung paßte so süß und perfekt zu »unserer Lois«, daß Ralph lachen mußte. Er konnte nicht anders. Lois lächelte zögernd zurück.

[»Ich denke, es ist alles in Ordnung. Ich bin sogar ziemlich sicher.«]

[»Was hattest du dort zu suchen? Du hättest getötet werden können.«]

Lois, die wieder etwas verjüngt aussah (Ralph vermutete, daß der rechtzeitig erschienene Penner etwas damit zu tun hatte), sah ihm in die Augen.

[»Vielleicht bin ich altmodisch, Ralph, aber wenn du denkst, daß ich die nächsten zwanzig Jahre oder so damit verbringe, in Ohnmacht zufallen oder zu bibbern wie die beste Freundin der Heldin in diesen Liebesromanen, die meine Freundin Mina immer liest, dann solltest du dir besser eine andere Frau suchen, mit der du herumziehst.«]

Er sperrte einen Moment den Mund auf, dann zog er sie auf die Füße und umarmte sie. Lois erwiderte die Umarmung. Sie war unglaublich warm, unglaublich präsent. Ralph mußte kurz an die Ähnlichkeiten zwischen Einsamkeit und Schlaflosigkeit denken – beide heimtückisch, kumulativ und trennend, Freunde der Verzweiflung und Erzfeinde der Liebe -, und dann verdrängte er diese Gedanken und küßte sie.

Klotho und Lachesis, die auf dem Hügel standen und so ängstlich aussahen wie Arbeiter, die ihr ganzes Weihnachtsgeld beim Boxen auf einen Außenseiter gesetzt haben, kamen zu Ralph und Lois geeilt, die wieder einmal Stirn an Stirn standen und einander in die Augen sahen wie verliebte Teenager. Auf der anderen Seite der Barrens schwoll der Lärm von Sirenen an wie Stimmen in unruhigen Träumen. Die Feuersäule über dem Grab von Ed Deepneaus Besessenheit war jetzt so grell, daß man sie nicht mehr ansehen konnte, ohne die Augen etwas zuzukneifen. Ralph konnte das leise Knallen explodierender Autos hören. Eines davon war zweifellos seines. Er beschloß, daß ihm das nichts ausmachte. Er wurde wirklich zu alt zum Fahren.

Klotho: [Alles in Ordnung?]

Ralph: [» Uns geht es gut. Lois hat mich hochgezogen. Sie hat mir das Leben gerettet.«]

Lachesis: [Ja, wir haben sie reingehen sehen. Das war sehr tapfer.] Und ziemlich verwirrend, Mr. L. was? dachte Ralph. Sie haben es gesehen, und Sie bewundern es… aber ich glaube, Sie haben keine Ahnung, wie und warum sie es über sich bringen konnte. Ich glaube, für Sie und Ihren Freund muß das Konzept von Rettung fast so fremd sein wie die Vorstellung von Liebe.

Zum erstenmal verspürte Ralph eine Art Mitleid mit den kleinen kahlköpfigen Ärzten und begriff die zentrale Ironie ihres Lebens: Sie waren sich bewußt, daß die Kurzfristigen, deren Existenz zu beschneiden sie gesandt waren, ein mächtiges inneres Leben führten, aber sie begriffen die Wirklichkeit dieses Innenlebens nicht im geringsten, die Emotionen, die sie antrieben oder die Taten – manchmal edel, manchmal närrisch -, die daraus resultierten. Mr. K. und Mr. L. hatten ihre kurzfristigen Aufträge so gründlich studiert wie gewisse reiche, aber ängstliche Engländer die Karten, die Forscher der viktorianischen Zeit von Expeditionen mitbrachten; Forscher, die in vielen Fällen von denselben reichen, aber ängstlichen Männern finanziert worden waren. Mit manikürten Nägeln und sanften Fingern hatten diese Philanthropen papierne Flüsse nachgezogen, auf denen sie nie fahren würden, und papierne Dschungel durchquert, in die sie nie einen Fuß setzen würden. Sie lebten in ängstlicher Verunsicherung und taten sie als Phantasie ab.

Klotho und Lachesis hatten ihn und Lois rekrutiert und sie mit einer gewissen groben Effektivität benützt, aber sie begriffen weder die Freude des Risikos noch die Traurigkeit des Verlusts

– in Sachen Gefühle hatten sie nichts weiter zustande gebracht als nagende Angst, er und Lois könnten versuchen, den gehätschelten Chemiker des Scharlachroten Königs direkt anzugreifen, ind für ihre Bemühungen zerquetscht werden wie ein paar alte Fliegen. Die kleinen kahlköpfigen Ärzte lebten lang, aber Ralph vermutete, daß sie trotz ihrer wie Libellen schillernden Auren ein graues Leben führten. Er betrachtete ihre glatten, seltsam kindlichen Gesichter aus dem sicheren Hafen von Lois’ Armen und erinnerte sich, welch schreckliche Angst er vor ihnen gehabt hatte, als er sie zum erstenmal in den frühen Morgenstunden aus May Lochers Haus hatte kommen sehen. Angst, hatte er seither festgestellt, überlebte bloße Bekanntschaft nicht, geschweige denn Wissen, und von beidem besaß er nun ein bißchen.

Klotho und Lachesis erwiderten seinen Blick mit einem Unbehagen, das Ralph keineswegs zerstreuen wollte. Irgendwie kam es ihm äußerst gerecht vor, daß sie das empfanden, was sie jetzt empfanden.

Ralph: [»Ja, sie ist sehr tapfer, und ich liebe sie sehr, und ich denke, wir werden einander sehr glücklich machen bis -«]

Er verstummte plötzlich, und Lois beugte sich in seinen Armen. Er stellte mit einer Mischung aus Heiterkeit und Erleichterung fest, daß sie halb eingeschlafen war.

[»Bis wann, Ralph?«]

[»Bis wann du willst. Ich glaube, wenn man ein Kurzfristiger ist, gibt es immer ein Eis, aber vielleicht ist das ganz gut so.«]

Lachesis: [Nun, ich denke, jetzt heißt es Abschied nehmen.]

Ralph mußte unwillkürlich grinsen und dachte an die Hörspielserie um den Lone Ranger, wo fast jede Episode mit einer Version dieses Satzes zu Ende gegangen war. Er streckte die Hand nach Lachesis aus und nahm mit galligem Vergnügen zur Kenntnis, daß der kleine Mann vor ihm zurückzuckte.

Ralph: [»Moment mal… nicht so hastig, Freunde.«]

Klotho, mit einer Spur Unbehagen: [Stimmt etwas nicht?]

[»Das glaube ich nicht, aber nachdem ich Schläge auf den Kopf und in die Rippen bekommen habe und fast bei lebendigem Leibe geröstet wurde, wollte ich mich eben vergewissern, daß es vorbei ist. Ist es das? Ist euer Junge in Sicherheit?«]_

Klotho, lächelnd und eindeutig erleichtert: [Ja. Können Sie es nicht spüren? In achtzehn Jahren, kurz vor sänem Tod, wird der Junge das Leben von zwei Männern retten, die sonst sterben würden… aber einer der Männer darf nicht sterben, wenn das Gleichgewicht zwischen dem Plan und dem Zufall erhalten bleiben soll]

Lois: [»Vergeßt das alles. Ich will nur wissen, ob wir jetzt wieder ganz normale Kurzfristige sein können.«]

Lachesis: [Das können Sie nicht nur, Lois, das müssen Sie. Wenn Sie und Ralph noch lange hier oben bleiben würden, könnten Sie nicht mehr zurückkehren!

Ralph spürte, wie sich Lois dichter an ihn schmiegte.

[»Das würde mir nicht gefallen.«]

Klotho und Lachesis drehten sich zueinander um und wechselten einen kurzen, verblüfften Blick – wie konnte es jemand hier oben nicht gefallen? -, bevor sie sich wieder an Ralph und Lois wandten.

Lachesis: [Wir müssen wirklich gehen. Es tut mir leid, aber -]

Ralph: [»Immer mit der Ruhe, Freunde – noch werdet ihr nirgendwohin gehen.«]

Sie sahen ihn ängstlich an, während Ralph langsam den Ärmel seines Pullovers hinaufschob – auf dem Ärmel war eine Flüssigkeit angetrocknet, möglicherweise Laich vom Katzenwels, über die er lieber nicht eingehender nachdenken wollte – und ihnen die weiße, knotige Narbe auf seinem Unterarm zeigte.

[»Laßt die konsternierten Mienen, Freunde. Ich wollte euch nur daran erinnern, daß ihr mir euer Wort gegeben habt. Vergeßt es nicht.«]

Klotho, eindeutig erleichtert: [Sie können sich darauf verlassen, Ralph. Was Ihre Waffe war, ist jetzt unsere Verpflichtung. Das Versprechen wird nicht vergessen werden.]

Ralph glaubte allmählich, daß es tatsächlich vorbei war. Und so verrückt es schien, ein Teil von ihm bedauerte es eigentlich. Inzwischen kam ihm das wirkliche Leben – das Leben auf den Ebenen unterhalb dieser – wie ein Trugbild vor, und er begriff, was Lachesis gemeint hatte, als er sagte, sie würden nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren können, wenn sie noch lange hier oben blieben.

Lachesis: [Wir müssen wirklich gehen. Lebt wohl, Ralph und Lois. Wir werden den Dienst niemals vergessen, den ihr uns geleistet habt.]

Ralph: [»Hatten wir je eine andere Wahl? Wirklich?«]

Lachesis, ganz leise: [Das haben wir gesagt, oder nicht? Für Kurzfristige gibt es immer eine Wahl. Das finden wir furchterregend… aber wir finden es auch schön.]

Ralph war den Tränen nahe.

[»Sagt mal – gebt ihr Burschen jemals jemandem die Hand?«]

Klotho und Lachesis sahen einander verblüfft an, und Ralph spürte, wie in einer Art telepathischem Steno ein kurzer Dialog zwischen ihnen stattfand. Als sie Ralph wieder ansahen, stelltenbeide dasselbe nervöse Lächeln zur Schau – das Lächeln von Teenagern, die zu dem Ergebnis gekommen sind, daß sie niemals wahre Männer weden würden, wenn sie den Mut nicht aufbrächten, diesen Sommer mit der großen Achterbahn im Freizeitpark zu fahren.

Klotho: [Wir haben diesen Brauch selbstverständlich viele Male gesehen, aber – nein, wir haben nie jemandem die Hand gegeben.]

Ralph sah Lois an und stellte fest, daß sie lächelte… aber er dachte, daß er auch in ihren Augen das Funkeln von Tränen sah.

Er hielt Lachesis zuerst die Hand hin, weil Mr. L. nicht ganz so schreckhaft zu sein schien wie sein Kollege.

[»Also dann, Mr. L.«]

Lachesis sah Ralph so lange an, daß Ralph schon dachte, er würde es nicht fertigbringen, obwohl er es eindeutig wollte. Dann streckte er zaghaft seine kleine Hand aus und ließ zu, daß Ralph sie ergriff. Ralph verspürte ein Kribbeln auf der Haut, als ihre Auren sich zuerst überlappten und dann verschmolzen… und bei diesem Verschmelzen sah er ein paar rasche, wunderschöne silberne Schnörkel. Sie erinnerten ihn an die japanischen Schriftzeichen auf Eds Schal.

Er schüttelte Lachesis zweimal die Hand, langsam und förmlich, dann ließ er sie los. Lachesis’ ängstlicher Ausdruck war einem breiten, albernen Grinsen gewichen. Er drehte sich zu seinem Partner um.

[Seine Energie ist während dieser Zeremonie fast völlig ungebremst. Ich habe sie gespürt! Es war herrlich!]

Klotho streckte Ralph seine Hand zentimeterweise entgegen, und in dem Augenblick, bevor sie sich berührten, schloß er die Augen wie ein Mann, der mit einer schmerzhaften Injektion rechnet. Derweil schüttelte Lachesis Lois die Hand und grinste dabei wie ein Vaudevilletänzer bei der Zugabe.

Klotho schien sich zu wappnen, dann ergriff er Ralphs Hand. Er schüttelte sie einmal fest. Ralph grinste.

[»Nehmen Sie sie sanft, Mr. K.«]

Klotho zog die Hand zurück. Er schien nach der richtigen Antwort zu suchen.

[Danke, Ralph. Ich nehm sie, wie ich sie kriegen kann. Korrekt?]

Ralph prustete vor Lachen. Klotho, der sich zu Lois umdrehte, betrachtete ihn mit einem verwirrten Lächeln, und Ralph schlug ihm auf den Rücken.

[»Da haben Sie recht, Mr. K. -völlig recht.«]

Er legte einen Arm um Lois und warf den kleinen kahlköpfigen Ärzten einen letzten neugierigen Blick zu.

[»Ich werde euch Burschen wiedersehen, nicht wahr?«]

Klotho: [Ja, Ralph.]

Ralph: [»Nun, das macht nichts. In etwa siebzig Jahren wäre mir recht; warum schreibt ihr euch das nicht gleich in euren Kalender?«]

Sie reagierten mit dem Lächeln von Politikern, was ihn nicht besonders überraschte. Ralph machte eine knappe Verbeugung, dann legte er einen Arm um Lois’ Schultern und sah Mr. K. und Mr. L. nach, wie sie langsam den Hügel hinuntergingen. Lachesis machte die Tür des leicht verbogenen PortO-San mit der Aufschrift MÄNNER auf; Klotho stand in der offenen Tür der Kabine für FRAUEN. Lachesis lächelte und winkte. Klotho hob die Schere mit den langen Schneiden zu einer Art seltsamem Salut.

Ralph und Lois winkten zurück.

Die kahlköpfigen Ärzte gingen hinein und machten die Türen zu.

Lois wischte sich die feuchten Augen ab und drehte sich zu Ralph um.

[»Das war’s, richtig? Ist es nicht so?«]

Ralph nickte.

[»Was machen wir jetzt?«]

Er hielt ihr den Arm hin.

[»Darf ich Sie nach Hause bringen, Madam?«]

Sie ergriff lächelnd seinen Unterarm dicht unter dem Ellbogen. [»Danke, Sir. Sie dürfen.«]

So verließen sie den Strawford Park, und als sie auf die Harris Avenue kamen, kehrten sie auf die Ebene der Kurzfristigen zurück, nahmen ihren normalen Platz im Lauf der Dinge ein, ohne Aufhebens darum zu machen, tatsächlich ohne es zu bemerken, bis es geschehen war.

Derry stöhnte vor Panik und schwitzte vor ungesunder Aufregung. Sirenen heulten, Leute unterhielten sich rufend von Baikonen im ersten Stock mit Freunden auf dem Bürgersteig, und an jeder Straßenecke hatten sich Menschentrauben versammelt, die zu dem Feuer auf der anderen Seite des Tals sahen.

Ralph und Lois beachteten den Tumult und das Durcheinander gar nicht. Sie gingen langsam den Up-Mile-Hill hinauf und spürten in zunehmendem Maße ihre Erschöpfung; sie schien sich über ihnen aufzutürmen wie behutsam geworfene Sandsäcke. Der weiße Lichtfleck, der den Parkplatz des Red Apple kennzeichnete, schien unerreichbar weit entfernt zu sein, obwohl Ralph wußte, es handelte sich nur um drei Blocks, und kurze obendrein.

Um die Sache noch schlimmer zu machen: Die Temperatur war seit heute morgen um gut zehn Grad gefallen, der Wind wehte heftig, und sie waren beide nicht für dieses Wetter angezogen. Ralph vermutete, daß dies die Vorhut des ersten großen Herbststurms sein könnte und der Altweibersommer in Derry vorbei war.

Faye Chapin, Don Veazie und Stan Eberly kamen den Hügel herunter auf sie zugelaufen; sie wollten offensichtlich zum Strawford Park. Das Fernglas, mit dem der alte Dor manchmal den Flugzeugen auf der Rollbahn beim Starten, Rollen oder Landen zusah, baumelte um Fayes Hals. Mit dem fast kahlen und vierschrötigen Don in der Mitte war ihre Ähnlichkeit mit einem berühmteren Trio unübersehbar. Die drei Stooges der Apokalypse, dachte Ralph und grinste.

»Ralph!« rief Faye aus. Er atmete schnell, fast keuchend. Der Wind wehte ihm das Haar in die Augen, und er strich es ungeduldig zurück. »Das gottverdammte Bürgerzentrum ist in die Luft geflogen! Jemand hat es aus einem Kleinflugzeug bombardiert! Wir haben gehört, daß es tausend Tote gegeben hat!«

»Dasselbe habe ich auch gehört«, stimmte Ralph ernst zu. »Lois und ich sind gerade unten im Park gewesen, um nachzusehen. Von dort kann man direkt über das Tal sehen, wißt ihr.«

»Herrgott, ich weiß das, ich habe mein ganzes verdammtes Leben hier verbracht, oder etwa nicht? Wo wollt ihr denn hin? Kommt mit uns zurück!«

»Lois und ich wollten gerade zu ihr und sehen, ob sie was im Fernsehen darüber bringen. Vielleicht kommen wir später noch.«

»Okay, wir – ach du dicker Vater, Ralph, was ist denn mit deinem Kopf passiert?«

Einen Augenblick war Ralph ratlos – was war denn mit seinem Kopf passiert? -, doch dann sah er als alptraumhafte Erinnerung Eds fauchenden Mund und irre Augen. O nein, nicht, hatte Ed geschrien. Du verdirbst alles.

»Wir sind gelaufen, damit wir besser sehen können, und Ralph ist gegen einen Baum gerannt«, sagte Lois. »Er kann von Glück sagen, daß er nicht im Krankenhaus liegt.«

Don lachte darüber, aber er war nicht ganz bei der Sache, wie jemand, der sich um wichtigere Dinge kümmern muß. Faye beachtete sie überhaupt nicht. Stan Eberly dagegen schon, und Stan lachte nicht. Er sah sie verwirrt und neugierig an.

»Lois«, sagte er.

»Was?«

»Weißt du, daß du einen Turnschuh ans Handgelenk gebunden hast?«

Sie sah nach unten. Ralph sah ebenfalls nach unten. Dann schaute Lois mit einem strahlenden Lächeln wieder Stan an. »Ja!« sagte sie. »Eine interessante Mode, nicht wahr? Eine Art… lebensgroßes Glücksarmband!«

»Ja«, sagte Stan. »Klar.« Aber er sah nicht mehr den Turnschuh an, sondern Lois’ Gesicht. Ralph fragte sich, wie sie morgen ihr Aussehen erklären sollten, wenn sie sich nicht im Schatten zwischen den Straßenlampen verstecken konnten.

»Kommt schon!« rief Faye ungeduldig. »Gehen wir!«

Sie setzten sich in Bewegung (Stan warf ihnen dabei einen letzten zweifelnden Blick über die Schulter zu). Ralph horchte hinter ihnen her und rechnete fast damit, daß Don Veazie ein gespieltes Kicher-kicher von sich geben würde.

»Mann, das hat sich so dumm angehört«, sagte Lois, »aber irgendwas mußte ich doch sagen, oder?«

»Hast du prima gemacht.«

»Nun, wenn ich den Mund aufmache, scheint immer irgendwas herauszufallen«, sagte sie. »Das ist eins meiner großen Talente, das andere ist, daß ich eine ganze Packung Whitman’s Sampler während eines zweistündigen Fernsehfilms verputzen kann.« Sie band die Schnürsenkel von Helens Turnschuh auf und sah ihn an. »Sie ist in Sicherheit, richtig?«

»Ja«, stimmte Ralph zu und griff nach dem Turnschuh. Dabei stellte er fest, daß er bereits etwas in der Hand hatte. Er hatte die Finger so lange darum gekrümmt, daß sie sich kaum öffnen wollten. Als es ihm schließlich doch gelang, sah er die Abdrücke der Nägel im Fleisch der Handfläche. Als erstes bemerkte er, daß sein eigener Ehering noch an der gewohnten Stelle steckte, der von Ed aber fehlte. Er hatte zwar allen Anschein nach gepaßt wie angegossen, aber offenbar war er ihm in der letzten halben Stunde doch vom Finger gerutscht.

Vielleicht nicht, flüsterte eine Stimme, und Ralph nahm amüsiert zur Kenntnis, daß es diesmal nicht die von Carolyn war.

Diesmal gehörte die Stimme in seinem Kopf Bill McGovern. Vielleicht ist er einfach verschwunden. Du weißt schon, puff.

Aber irgendwie glaubte er das nicht. Er hatte den Verdacht, als wäre Eds Ehering mit Kräften ausgestattet gewesen, die nach Eds Tod nicht notwendigerweise verschwunden waren. Der Ring, den Bilbo Beutlin gefunden und widerwillig seinem Enkel Frodo übergeben hatte, hatte die Eigenheit gehabt, hinzugehen, wohin er wollte… und wann. Vielleicht war das bei Eds Ring nicht viel anders.

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, tauschte Lois Helens Turnschuh gegen das Ding in seiner Hand ein: einen kleinen, zusammengeknüllten Zettel. Sie strich ihn glatt und sah ihn an, und dabei verwandelte sich ihre Neugier langsam in Ernst.

»Ich erinnere mich an das Bild«, sagte sie. »Die Vergrößerung stand in einem teuren Goldrahmen auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Es hatte einen Ehrenplatz.«

Ralph nickte. »Das muß dasjenige gewesen sein, das er in der Brieftasche hatte. Es war am Armaturenbrett des Flugzeugs festgeklebt. Bis ich es genommen habe, hat er mich geschlagen und ist dabei nicht einmal ins Schwitzen gekommen. Mir fiel nichts anderes ein, als das Bild zu nehmen. Als ich das getan hatte, interessierte ihn das Bürgerzentrum nicht mehr. Das Letzte, das ich ihn sagen hörte, war: >Gib sie zurück, sie gehören mir. <«

»Hat er mit dir gesprochen, als er das gesagt hat?«

Ralph steckte den Turnschuh in die Gesäßtasche und schüttelte den Kopf. »Nee. Das glaube ich nicht.«

»Helen war heute abend im Bürgerzentrum, nicht?«

»Ja.« Ralph dachte daran, wie sie in High Ridge ausgesehen hatte – ihr blasses Gesicht, die tränenden, vom Rauch geröteten Augen. Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen, hatte sie gesagt. Begreifst du das nicht?

Jetzt begriff er es.

Er nahm Lois das Bild aus der Hand, zerknüllte es wieder und ging zum Papierkorb an der Ecke Harris Avenue und Kossuth Lane. »Wir werden irgendwann ein anderes Bild von ihnen bekommen, das wir auf unseren eigenen Kaminsims stellen können. Eins, das nicht ganz so förmlich ist. Aber das hier… das will ich nicht.«

Er warf die kleine Papierkugel in den Mülleimer, ein einfacher Wurf, höchstens zehn Zentimeter, aber genau in diesem Moment nahm der Wind zu, und das zerknüllte Foto von Helen und Natalie, das über dem Höhenmesser von Eds Flugzeug geklebt hatte, flog auf seinem kalten Atem davon. Die beiden sahen ihm fast hypnotisiert nach, wie es zum Himmel hinaufwirbelte. Lois wandte den Blick als erste ab. Als sie Ralph ansah, umspielte der Hauch eines Lächelns ihre Lippen.

»Habe ich da einen versteckten Heiratsantrag gehört, oder bin ich nur müde?« fragte sie.

Er machte den Mund auf, um zu antworten, als eine zweite Windbö aufkam, diesmal so stark, daß sie beide zusammenzuckten und die Augen schlössen. Als er sie wieder aufmachte, war Lois schon ein Stück bergauf gegangen.

»Alles ist möglich, Lois«, sagte er mit leiser Stimme, nur zu sich selbst. »Das weiß ich jetzt.«

Fünf Minuten später klirrte Lois’ Schlüssel im Schloß ihrer Eingangstür. Sie ließ Ralph ein, machte fest hinter ihnen zu und sperrte die windige, zänkische Nacht aus. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und wäre dort geblieben, aber Lois zögerte nicht. Sie hielt immer noch seine Hand, zog ihn jedoch nicht (hätte es aber möglicherweise getan, sollte er zaudern), und führte ihn in ihr Schlafzimmer.

Er sah sie an. Lois erwiderte seinen Blick gelassen… und plötzlich spürte er dieses Blinzeln wieder. Er sah ihre Aura erblühen wie eine graue Rose. Sie war noch geschwächt, kam aber bereits wieder zurück, fügte sich zusammen, heilte sich selbst.

[»Lois, bist du sicher, daß du es willst?«]

[»Selbstverständlich! Glaubst du, nach allem, was wir durchgemacht haben, würde ich dir einen Klaps auf den Kopf geben und dich nach Hause schicken?«]

Plötzlich lächelte sie – ein verschmitztes, schalkhaftes Lächeln.

[»Abgesehen davon, Ralph – ist dir heute nacht wirklich danach zumute? Sei ehrlich! Noch besser, versuch nicht, mir zu schmeicheln.«]

Er dachte darüber nach, dann lachte er und zog sie in die Arme. Ihr Mund war süß und feucht, wie die Haut eines reifen Pfirsichs. Der Kuß schien durch seinen ganzen Körper zu kribbeln, aber das Gefühl konzentrierte sich hauptsächlich auf den Mund, wo es sich fast wie ein elektrischer Schock anfühlte. Als sie die Lippen lösten, fühlt er sich erregter denn je… aber auch seltsam ausgelaugt.

[»Und wenn ich jetzt ja sage, Lois? Wenn ich jetzt sage, daß mir danach zumute ist?«]

Sie wich zurück und sah ihn kritisch an, als wollte sie entscheiden, ob er es ernst meinte, oder ob es sich nur um die übliche männliche Großspurigkeit handelte. Gleichzeitig griff sie nach den Knöpfen ihres Kleids. Als sie sie öffnete, fiel Ralph etwas Wunderbares auf: Sie sah wieder jünger aus. Keinesfalls wie Vierzig, aber sicher nicht älter als Fünfzig… eine junge Fünfzigjährige. Daran war selbstverständlich der Kuß schuld, und das wahrhaft Amüsante war, sie hatte wahrscheinlich keine Ahnung, daß sie zu ihrer früheren Portion Penner nun noch eine kräftige Portion Ralph bekommen hatte. Und was wäre daran falsch gewesen?

Sie beendete ihre Untersuchung, beugte sich nach vorne und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

[»Ich glaube, wir werden später noch eine Menge Zeit dafür haben, Ralph – die heutige Nacht ist zum Schlafen da.«]

Er nahm an, daß sie recht hatte. Vor fünf Minuten war er mehr als bereit gewesen – die körperliche Liebe hatte ihm immer Spaß gemacht, und es war lange her. Aber im Augenblick war der Funke erloschen. Ralph bedauerte es nicht im geringsten. Schließlich wußte er, wohin er übergesprungen war.

[»Okay, Lois – die heutige Nacht ist zum Schlafen da.«]

Sie ging ins Bad, und die Dusche wurde aufgedreht. Ein paar Minuten später hörte Ralph, wie sie sich die Zähne putzte. Schön zu wissen, daß sie sie noch hatte. In den zehn Minuten, während sie weg war, gelang es ihm, sich teilweise auszuziehen, aber mit den schmerzenden Rippen ging es langsam. Schließlich schaffte er es, sich aus dem Pullover zu winden und die Schuhe abzustreifen. Danach kam das Hemd, und er machte sich hilflos an seinem Gürtel zu schaffen, als Lois mit zurückgebundenem Haar und leuchtendem Gesicht herauskam. Ralph sah fassungslos ihre Schönheit, und plötzlich kam er sich zu groß und dumm (ganz zu schweigen von alt) vor. Sie trug ein langes rosa Nachthemd aus Seide, und er konnte ihre Handcreme riechen. Es war ein angenehmer Duft.

»Laß mich das machen«, sagte sie und hatte den Gürtel aufgeknöpft, bevor er etwas sagen konnte, so oder so. Daran war nichts Erotisches; sie machte es mit den geschickten Bewegungen einer Frau, die ihrem Mann in seinem letzten Lebensjahr häufig beim An-und Ausziehen geholfen hatte.

»Wir sind wieder unten«, sagte er. »Diesmal habe ich gar nicht gespürt, wie es passiert ist.«

»Aber ich, als ich unter der Dusche war. Eigentlich bin ich froh. Es ist ziemlich verwirrend, wenn man sich das Haar durch eine Aura hindurch waschen will.«

Draußen wehte der Wind, brachte das Haus zum Beben und blies einen langen, zitternden Ton auf einer Regenrinne. Sie sahen zum Fenster, und obwohl sie sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen befanden, war Ralph plötzlich überzeugt, daß Lois dasselbe dachte wie er: Atropos war irgendwo da draußen, zweifellos enttäuscht darüber, welche Wendung die Dinge genommen hatten, aber keineswegs niedergeschmettert, blutig, aber unbeugsam, am Boden, aber noch nicht ausgezählt. Von jetzt an nennen sie ihn Altes Einohr, dachte Ralph und erschauderte. Er stellte sich vor, wie Atropos auf einer willkürlichen Bahn durch die Einwohner dieser Stadt stob, wie ein irregeleiteter Asteroid, beobachtete und sich versteckte, Souvenirs stahl und Ballonschnüre durchschnitt… mit anderen Worten, Trost aus seiner Arbeit bezog. Ralph fand es fast unmöglich zu glauben, daß er vor kurzer Zeit erst auf dieser Kreatur gesessen und ihr mit ihrem eigenen Skalpell zugesetzt hatte. Wie konnte ch nur den Mut aufbringen? fragte er sich, aber er glaubte, daß er es wußte. Die Diamantohrringe, die das kleine Monster getragen hatte, waren der Grund dafür gewesen. Wußte Atropos, daß diese Ohrringe sein größter Fehler gewesen waren? Auf seine Art hatte Doc Nr. 3 noch weniger über die Motivation der Kurzfristigen gewußt als Klotho und Lachesis.

Er drehte sich zu Lois um und ergriff ihre Hand. »Ich habe deine Ohrringe wieder verloren. Ich glaube, diesmal sind sie endgültig fort. Es tut mir leid.« »Du mußt dich nicht entschuldigen. Weißt du nicht mehr, sie waren schon verloren. Und ich mache mir keine Sorgen mehr wegen Howard und Jan, denn jetzt habe ich einen Freund, der mir hilft, wenn die Leute mich nicht richtig behandeln oder wenn ich einfach nur Angst habe. Nicht wahr?«

»Ja. Auf jeden Fall.«

Sie schlang die Arme um ihn, drückte ihn fest an sich und küßte ihn wieder. Lois hatte offenbar nichts vergessen, was sie beim Küssen gelernt hatte, und Ralph schien es, daß sie eine ganze Menge gelernt hatte. »Los, geh unter die Dusche.« Er wollte sagen, daß er wahrscheinlich einschlafen würde, sobald er den Kopf unter warmes Wasser hielte, aber dann fügte sie etwas hinzu, bei dem er es sich rasch anders überlegte: »Sei mir nicht böse, aber du hast einen komischen Geruch an dir, besonders an den Händen. Mein Bruder Vic hat so gerochen, wenn er den ganzen Tag Fische geputzt hatte.«

Zwei Minuten später stand Ralph unter der Dusche und hatte sich bis zu den Ellbogen eingeseift.

Als er wieder herauskam, lag Lois unter zwei Steppdecken. Nur ihr Gesicht war zu sehen, und auch das nur von der Nase an. Ralph ging hastig durch das Zimmer; er trug nur Unterhosen und war sich schmerzlich seiner spindeldürren Beine und seines Bauchs bewußt. Er schlug die Decke zurück und legte sich hastig hin, wobei er leise keuchte, als die kalten Laken seine warme Haut berührten.

Lois kam sofort auf seine Seite des Betts gerutscht und legte die Arme um ihn. Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar und entspannte sich. Es war sehr gut, mit Lois unter der Decke zu liegen, während der Wind draußen heulte und manchmal so stark wütete, daß die Sturmläden in ihren Rahmen klapperten. Ralph kam sich vor wie im Himmel.

»Gott sei Dank, daß ein Mann in meinem Bett liegt«, sagte Lois müde.

»Gott sei Dank, daß ich es bin«, antwortete Ralph, und sie lachte.


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