Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Anne Rivers stand auf den Stufen des Polizeireviers in der Maine Street, Ed Deepneau auf einer Seite, ein großes, blasses Individuum mit Ziegenbärtchen auf der anderen. Ed sah schick und richtiggehend stattlich in seiner grauen Tweedjacke und der Marinehose aus. Der große Mann mit dem Ziegenbärtchen trug etwas, das sich nur ein Liberaler in seinen kühnsten Träumen von angemessener Kleidung eines »Proletariers in Maine« ausdenken konnte: verblichene Jeans, verblichenes blaues Baumwollhemd, breite rote Feuerwehrhosenträger. Ralph brauchte nur einen Augenblick, bis er ihn identifiziert hatte. Es war Dan Dalton, Inhaber von Secondhand Rose, Secondhand Clothes. Als Ralph ihn zum letztenmal gesehen hatte, da hatte er hinter den hängenden Gitarren und Vogelkäfigen in seinem Schaufenster gestanden und Harn Davenport gegenüber eine Geste gemacht, die besagen sollte: Wen interessiert einen Scheißdreck, was du denkst?
Aber es war natürlich Ed, der in mehr als einer Weise adrett und gefaßt aussah, der seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
McGovern schien offenbar genauso zu denken. »Mein Gott, ich kann nicht glauben, daß das derselbe Mann ist«, murmelte er.
»Lisette«, sagte die gutaussehende Blondine, »ich habe hier bei mir Edward Deepneau und Daniel Dalton, beide aus Derry, beide wurden heute Morgen nach der Demonstration festgenommen. Ist das richtig, meine Herren? Wurden Sie verhaftet?«
Sie nickten, Ed mit einem Anflug von Humor, Dalton mit mürrischer, verkniffener Entschlossenheit. Bei dem Blick, den er Anne Rivers zuwarf, hätte man denken können – Ralph zumindest -, daß er sich zu erinnern versuchte, in welche Abtreibungsklinik er sie schon einmal mit gesenktem Kopf und vorgezogenen Schultern laufen gesehen hatte.
»Wurden Sie auf Kaution freigelassen?«
»Wir wurden auf eigene Sicherheitsleistung freigelassen«, antwortete Ed. »Die Vorwürfe waren geringfügig. Es war nicht unsere Absicht, daß jemand zu Schaden kommt, und es ist niemand zu Schaden gekommen.«
»Wir wurden nur deshalb verhaftet, weil die gottlose verfilzte Stadtverwaltung ein Exempel an uns statuieren wollte«, sagte Dalton, und Ralph glaubte zu sehen, wie Ed kurz das Gesicht verzog. Ein Nicht-schon-wieder-Ausdruck.
Anne Rivers schwenkte das Mikro wieder zu Ed.
»Der Schwerpunkt hier liegt nicht auf dem Philosophischen, sondern auf dem Praktischen«, sagte er. »Die Leiterinnen von Woman-Care heben zwar gerne ihre Familienberatung, ihre Therapieeinrichtungen, die kostenlose Mammographie und andere bewundernswerte Dienstleistungen hervor, aber es gibt auch eine andere Seite von Woman-Care. Ströme von Blut fließen heraus -«
»Das Blut Unschuldiger!« kreischte Dalton. Die Augen in dem langen, hageren Gesicht glühten, und Ralph kam eine beunruhigende Einsicht: Überall im östlichen Maine sahen sich Leute das an und dachten sich, daß der Mann mit den roten Hosenträgern verrückt sein mußte, während sein Partner ein ziemlich vernünftiger Typ zu sein schien. Es hatte fast etwas Komisches.
Ed behandelte Daltons Einwurf als das Pro-Life-Äquivalent von Halleluja und wartete respektvoll eine Sekunde, bevor er fortfuhr.
»Das Gemetzel bei Woman-Care geht jetzt schon seit acht Jahren so«, sagte Ed zu ihr. »Viele Leute – besonders radikale Feministinnen wie Dr. Roberta Harper, die Geschäftsführerin von Woman-Care, betreiben gerne mit Ausdrücken wie frühzeitige Terminierung< Schönfärberei, aber in Wahrheit sprechen sie von Abtreibung – die höchste Form des Mißbrauchs von Frauen in einer sexistischen Gesellschaft.«
»Aber wenn man mit falschem Blut gefüllte Puppen gegen die Fenster einer Privatklinik wirft, ist das die richtige Methode, mit seinem Anliegen an die Öffentlichkeit zu treten, Mr. Deepneau?«
Einen Augenblick – ganz kurz, und schon wieder vorbei -verschwand das gutmütige Funkeln aus Eds Augen und wurde von etwas Härterem und Kälterem ersetzt. In diesem Moment sah Ralph wieder den Ed Deepneau, der bereit gewesen war, es mit einem Lastwagenfahrer aufzunehmen, der hundert Pfund schwerer war als er. Ralph vergaß, daß es sich um eine Aufzeichnung handelte, die vor über einer Stunde gemacht worden war, und bekam Angst um die schlanke Blondine, die fast so hübsch war wie die Frau, mit der ihr Gesprächspartner immer noch verheiratet war. Seien Sie vorsichtig, junge Dame, dachte Ralph. Seien Sie vorsichtig und fürchten Sie sich. Sie stehen neben einem ausgesprochen gefährlichen Mann.
Dann war das Aufflackern vorbei, und der Mann in der Tweedjacke war wieder nur ein aufrechter junger Mann, der für sein Gewissen ins Gefängnis gegangen war. Und wieder war es Dalton, der nervös seine Hosenträger wie große rote Gummibänder schnalzen ließ und aussah, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Wir tun hier, was die sogenannten guten Deutschen in den dreißiger Jahren versäumt haben«, sagte Ed. Er sprach mit der geduldigen, schulmeisterlichen Stimme eines Mannes, der gezwungen gewesen ist, immer und immer wieder auf diesen Punkt hinzuweisen… meistens denen gegenüber, die es bereits wissen sollten. »Sie haben geschwiegen, und sechs Millionen Juden mußten sterben. In diesem Land findet ein vergleichbarer Holocaust-«
»Mehr als tausend Babys jeden Tag«, sagte Dalton. Seine Stimme klang nicht mehr so schrill. Er hörte sich entsetzt und schrecklich resigniert an. »Viele von ihnen werden n Stücken aus den Leibern ihrer Mütter gerissen und protestieren verzweifelt mit den kleinen Ärmchen, während sie sterben.«
»O gütiger Gott«, sagte McGovern. »Das ist das Lächerlichste, das ich jemals -«
»Psst, Bill!« sagte Lois streng.
»– Zweck dieses Protests?« fragte Rivers gerade Dalton.
»Wie Sie sicher wissen«, antwortete Dalton, »hat der Stadtrat beschlossen, die Bezirksvorschriften noch einmal zu untersuchen, die es Woman-Care ermöglichen, ihrer Arbeit nachzugehen, wo und wie sie es tun. Sie könnten schon im November über das Thema abstimmen. Die Abtreibungsbefürworter haben Angst, der Stadtrat könnte Sand ins Getriebe ihrer Todesmaschine streuen, daher haben sie Susan Day eingeladen, die berüchtigtste Abtreibungsbefürworterin in diesem Land, damit sie versucht, diese Maschine am Laufen zu halten. Wir organisieren unsere Kräfte… «
Das Pendel des Mikrofons schwenkte wieder zu Ed. »Wird es weitere Protestaktionen geben, Mr. Deepneau?« fragte sie, und plötzlich hatte Ralph den Eindruck, als würde sie sich nicht nur auf rein beruflicher Basis für ihn interessieren. Warum auch nicht? Ed war ein gutaussehender Mann, und Ms. Rivers konnte schließlich nicht wissen, daß er fest an den Scharlachroten König glaubte, dessen Zenturionen sich in Derry aufhielten und sich mit den Babymörderinnen von Woman-Care zusammentaten.
»Die Proteste werden weitergehen bis die gesetzliche Verirrung, die dieses Gemetzel möglich gemacht hat, beseitigt worden ist«, antwortete Ed. »Und wir hoffen alle, daß die Geschichtsschreiber des nächsten Jahrhunderts festhalten werden, daß nicht alle Amerikaner in dieser dunklen Phase unserer Geschichte gute Nazis waren.«
»Gewalttätige Protestaktionen?«
»Wir treten gegen Gewalt ein.« Jetzt wahrten die beiden Blickkontakt, und Ralph fand, daß Anne Rivers etwas hatte, das Carolyn einen »schlimmen Anfall von Juckreiz zwischen den Beinen« genannt hätte. Dan Dalton stand vergessen am Bildschirmrand.
»Und wenn Susan Day im nächsten Monat nach Derry kommt, können Sie für Ihre Sicherheit garantieren?«
Ed lächelte, und Ralph sah ihn im Geiste, wie er an jenem heißen Augustnachmittag vor nicht einmal einem Monat gewesen war – wie er kniete, eine Hand auf jeder Seite von Ralphs Schultern auf den Boden stemmte und ihm ins Gesicht hauchte: Sie verbrennen die Embryos drüben in Newport. Ralph erschauerte.
»In einem Land, wo Tausende Kinder mit medizinischen Gegenstücken von Staubsaugern aus den Leibern ihrer Mütter abgesaugt werden, kann, glaube ich, niemand für irgend etwas garantieren«, antwortete Ed.
Anne Rivers sah ihn einen Moment unsicher an, als überlegte sie, ob sie ihm noch eine Frage stellen wollte oder nicht (möglicherweise nach seiner Telefonnummer), aber dann drehte sie sich wieder in die Kamera. »Das war Anne Rivers vor dem Polizeipräsidium von Derry«, sagte sie.
Lisette Benson erschien wieder, und ihr nachdenklich verzogener Mund weckte die Überzeugung in Ralph, daß er nicht der einzige war, dem die Anziehungskraft z wischen den beiden Interviewpartnern aufgefallen war. »Wir werden täglich über den weiteren Verlauf berichten«, sagte sie. »Vergessen Sie nicht, um sechs zu den neuesten Meldungen wieder einzuschalten. In Augusta reagierte Gouverneurin Greta Powers auf Vorwürfe, sie habe -«
Lois stand auf und schaltete den Fernseher aus. Sie betrachtete einfach den leeren Bildschirm einen Moment, dann seufzte sie schwer und setzte sich. »Ich habe Blaubeerkompott«, sagte sie, »aber möchte einer von euch danach noch etwas?«
Beide Männer schüttelten die Köpfe. McGovern sah Ralph an und sagte: »Das war beängstigend.«
Ralph nickte. Er mußte daran denken, wie Ed in der Gischt des Rasensprengers hin und her gelaufen war, die Regenbogen mit seinem Körper zerrissen und sich mit der Faust in die offene Handfläche geschlagen hatte.
»Wie konnten sie ihn nur auf Kaution freilassen und dann im Fernsehen interviewen, als wäre er ein normaler Mensch?« fragte Lois betroffen. »Nach allem, was er der armen Helen angetan hat? Mein Gott, diese Anne Rivers hat ausgesehen, als würde sie ihn zu sich zum Essen einladen!«
»Oder um Cracker mit ihr im Bett zu essen«, sagte Ralph trocken.
»Die Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung und das heute sind zwei vollkommen verschiedene Dinge«, sagte McGovern, »und ihr könnt todsicher sein, daß der Anwalt oder die Anwälte dieser Jo-jos darauf achten, daß das auch so bleibt.«
»Und selbst die Körperverletzung war nur eine Ordnungswidrigkeit«, erinnerte Ralph sie.
»Wie kann ein tätlicher Angriff eine Ordnungswidrigkeit sein?« fragte Lois. »Tut mir leid, aber das habe ich nicht verstanden.«
»Es ist nur eine Ordnungswidrigkeit, wenn man es mit der eigenen Frau macht«, sagte McGovern und zog sardonisch eine Braue hoch. »Das ist der American way of life, Lo.«
Sie verdrehte unablässig die Hände ineinander, holte Mr. Chasse vom Fernseher herunter, sah ihn einen Moment an, stellte ihn wieder hin und verdrehte weiter die Hände. »Nun, das Gesetz ist eines«, sagte sie, »und ich bin die erste, die zugibt, daß ich es nicht ganz verstehe. Aber jemand müßte ihnen sagen, daß er verrückt ist. Daß er seine Frau prügelt und verrückt ist.«
»Du weißt gar nicht, wie verrückt«, sagte Ralph, und dann erzählte er ihnen zum erstenmal die Geschichte, was sich im vergangenen Sommer draußen beim Flughafen abgespielt hatte. Es dauerte etwa zehn Minuten. Als er fertig war, sagte keiner etwas – sie sahen ihn nur mit aufgerissenen Augen an.
»Was?« fragte Ralph unbehaglich. »Glaubt ihr mir nicht? Denkt ihr, ich habe mir alles nur eingebildet?«
»Selbstverständlich glaube ich dir«, sagte Lois. »Ich bin nur… nun… fassungslos. Und ich habe Angst.«
»Ralph, ich glaube, du solltest John Leydecker die Geschichte erzählen«, sagte McGovern. »Ich glaube nicht, daß er irgendwas damit anfangen kann, aber wenn ich mir Eds neue Spielkameraden ansehe, finde ich, er müßte die Information haben.«
Ralph dachte gründlich darüber nach, dann nickte er und stand auf. »Es geht nichts über die Gegenwart«, sagte er. »Möchtest du mitkommen, Lois?«
Sie überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich bin müde«, sagte sie. »Und ein bißchen – wie nennen die jungen Leute das heutzutage? – ein bißchen ausgenippt. Ich glaube, ich werde eine Weile die Füße hochlegen. Ein Nickerchen machen.«
»Tu das«, sagte Ralph. »Du siehst wirklich ein wenig mitgenommen aus. Und danke für das Essen.« Er beugte sich impulsiv über sie und gab ihr einen Kuß auf den Mundwinkel. Lois sah erstaunt und dankbar zu ihm auf.
Ralph schaltete etwas mehr als sechs Stunden später den Fernseher ein, als Lisette Benson gerade die Abendnachrichten beendete und an den Sportmoderator weitergab. Die Demonstration vor Woman-Care war auf den zweiten Platz verdrängt worden – Aufmacher des Abends waren die anhaltenden Vorwürfe, daß Gouverneurin Greta Powers als Studentin Kokain genommen hätte -, und es gab nichts Neues, davon abgesehen, daß Dan Dalton jetzt als Kopf der Friends of Life dargestellt wurde. Ralph dachte sich, daß Galionsfigur der zutreffendere Ausdruck gewesen wäre. Hatte Ed tatsächlich schon das Sagen? Wenn nicht, würde er es wahrscheinlich bald haben, vermutete Ralph – spätestens Weihnachten. Eine interessantere Frage war, was Eds Arbeitgeber von seinen Problemen mit Recht und Ordnung in Derry halten mochten. Ralph hatte eine Ahnung, daß ihnen das von heute weitaus weniger gefallen würde als letzten Monat die Anzeige wegen ehelicher Grausamkeit; er hatte erst kürzlich gelesen, daß die Hawking Laboratorien demnächst zum fünften Forschungslabor im Nordosten werden würden, das mit Embryogewebe arbeitete. Wahrscheinlich gefiel ihnen die Neuigkeit nicht, daß einer ihrer Chemiker festgenommen worden war, weil er mit falschem Blut gefüllte Puppen auf eine Klinik geworfen hatte, wo Abtreibungen durchgeführt wurden. Und wenn sie erfuhren, wie verrückt er tatsächlich war -
Wer sollte es ihnen sagen, Ralph? Du?
Nein. Das war ein Schritt weiter, als er zu gehen bereit war, jedenfalls vorläufig. Im Gegensatz zu dem Ausflug zum Polizeirevier mit Bill McGovern heute nachmittag, um John Leydecker von dem Zwischenfall letzten Sommer zu erzählen, kam ihm das wie Aufhetzerei vor. Als würde man TÖTET DIESE FOTZE neben das Bild einer Frau schreiben, deren Ansichten man nicht teilte.
Das ist Quatsch, wie du sehr genau weißt.
»Ich weiß gar nichts«, sagte er, stand auf und ging zum Fenster. »Ich bin zu müde, etwas zu wissen.« Aber als er dort stand und auf der anderen Straßenseite zwei Männer mit je einem Sechserpack Bier aus dem Red Apple kommen sah, wußte er plötzlich doch etwas, erinnerte sich an etwas, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
Heute morgen, als er aus dem Rite Aid gekommen und überwältigt von den Auren gewesen war – und dem Gefühl, als hätte er eine neue Stufe der Wahrnehmung erreicht -, hatte er sich immer wieder ermahnt, sich daran zu erfreuen, es aber nicht zu glauben; wenn es ihm nicht gelänge, diese lebenswichtige Unterscheidung zu treffen, würde er im selben Boot wie Ed Deepneau enden. Dieser Gedanke hatte fast die Tür zu einer assoziativen Erinnerung aufgestoßen, aber die wabernden Auren auf dem Parkplatz hatten ihn davon abgelenkt, bevor er sie ganz zu fassen bekommen hatte. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Ed hatte etwas davon gesagt, daß er Auren sah, oder nicht?
Nein, er hat vielleicht Auren gemeint, aber das Wort, das er tatsächlich benutzt hat, war Farben. Ich bin fast sicher. Gleich nachdem er davon gesprochen hatte, daß er überall die Leichen von Babys sah, sogar auf den Dächern. Er sagte – Ralph sah den beiden Männern zu, wie sie in einen schrottreifen alten Lastwagen einstiegen, und dachte sich, daß er sich nicht mehr an Eds genaue Worte erinnern würde; er war einfach zu müde. Dann fuhr der Lastwagen los und zog eine Abgaswolke hinter sich her, die ihn an den roten Dunst erinnerte, den er heute vormittag aus dem Auspuff des Bäckereiwagens kommen gesehen hatte, und da wurde eine weitere Tür auf gestoßen, und die Erinnerung kam.
»Er hat gesagt, manchmal wäre die Welt voller Farben«, sagte Ralph zu seinem einsamen Apartment, »aber irgendwann würden sie alle schwarz werden. Ich glaube, das war es.«
Er war nahe dran, aber war das alles? Ralph dachte, daß Ed noch etwas mehr gesagt hatte, aber er konnte sich nicht erinnern. Spielte das eine Rolle? Seine Nerven bejahten diese Frage nachdrücklich – der kalte Schauer auf seinem Rücken war stärker geworden.
Hinter ihm läutete das Telefon. Ralph drehte sich um und sah es in einem Schimmer widerlichen roten Lichts, dunkelrot, die Farbe von Nasenbluten und
(Hähnen Kampfhähnen)
Hahnenkämmen.
Nein, stöhnte es in seinem Inneren. O nein, Ralph, nicht schon wieder -
Jedesmal wenn das Telefon läutete, wurde die Aura des Lichts heller. In den Intervallen der Stille wurde sie dunkler. Es war, als würde man ein geisterhaftes Herz mit einem Telefon in der Mitte sehen.
Ralph kniff die Augen fest zusammen, und als er sie wieder aufschlug, war die rote Aura um das Telefon herum verschwunden.
Nein, du kannst sie jetzt gerade nur nicht sehen. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ich habe sie verschwinden lassen. Wie etwas in einem lichten Traum.
Als er durch das Zimmer zum Telefon ging, sagte er sich – und zwar klipp und klar -, daß dieser Gedanke so verrückt sei wie die Auren überhaupt. Aber das stimmte nicht, und er wußte es. Denn wenn es verrückt war, wieso hatte er dann die hahnenkammrote Aura um das Telefon nur einmal angesehen und gewußt, daß Ed Deepneau der Anrufer war?
Das ist doch Unsinn, Ralph. Du glaubst, daß es Ed ist, weil dir Ed im Moment nicht aus dem Kopf geht… und weil du so müde bist, daß du schon ganz wunderlich im Kopf wirst. Los doch, nimm ab, wirst schon sehen. Es ist nicht das verräterische Herz, nicht einmal das verräterische Telefon. Wahrscheinlich ein Typ, der dir ein Zeitschriftenabo verkaufen will, oder die Dame von der Blutbank, die sich wundert, warum du schon lange nicht mehr dort warst.
Aber er wußte es besser.
Ralph nahm den Hörer ab und sagte Hallo.
Keine Antwort. Aber es war jemand dran; Ralph konnte das Atmen hören.
»Hallo?« rief er noch einmal.
Immer noch keine sofortige Antwort, und er wollte gerade ankündigen: Ich lege jetzt auf, als Ed Deepneau sagte: »Ich habe wegen deinem Mund angerufen, Ralph. Er versucht, dich in Schwierigkeiten zu bringen.«
Der kalte Schauer auf seinem Rücken war kein Schauer mehr, sondern eine dünne Eisschicht, die ihn vom Nacken bis zum Steißbein überzog.
»Hallo, Ed. Ich hab dich heute in den Nachrichten gesehen.« Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Seine Hand schien den Telefonhörer nicht zu halten, sondern sich daran zu klammern.
»Unwichtig, alter Junge. Hör mir nur gut zu. Ich hatte einen Besuch von diesem Detective, der mich letzten Sommer verhaftet hat – Leydecker. Er ist gerade eben gegangen.«
Ralph rutschte das Herz in die Hose, aber nicht so tief, wie er gedacht hatte. Schließlich war es nicht überraschend, daß Leydecker Ed besucht hatte, oder nicht? Er hatte sich sehr für Ralphs Schilderung der Konfrontation beim Flughafen im Sommer 1992 interessiert. Wirklich sehr.
»Tatsächlich?« fragte Ralph gelassen.
»Detective Leydecker scheint den Eindruck zu haben, daß ich denke, Leute – möglicherweise übernatürliche Wesen – karrten Embryos auf Lastwagen aus der Stadt. Was für ein Lachschlager, hm?«
Ralph stand neben dem Sofa, zog die Telefonleitung müßig zwischen den Fingern hindurch und stellte fest, daß er dunkelrotes Licht wie Schweiß aus dem Kabel quellen sehen konnte. Das Licht pulsierte im Rhythmus von Eds Sprechweise.
»Du hast aus dem Nähkästchen geplaudert, alter Junge.«
Ralph schwieg.
»Es hat mich nicht gestört, daß du die Polizei gerufen hast, nachdem ich dem Flittchen die Lektion verpaßt hatte, die sie verdiente«, sagte Ed zu ihm. »Das habe ich auf, nun, großväterliche Fürsorge zurückgeführt. Oder vielleicht hast du gedacht, wenn sie dir dankbar genug ist, läßt sie sich vielleicht auf einen Gnadenfick mit dir ein. Schließlich bist du alt, aber noch nicht gerade reif für den Dino-Park. Vielleicht hast du gedacht, daß du zumindest mal einen Finger reinstecken dürftest.«
Ralph sagte nichts.
»Richtig, alter Junge?«
Ralph sagte nichts.
»Glaubst du, du kannst mich mit der Schweigenummer aus der Fassung bringen? Vergiß es.« Aber Ed hörte sich doch aus der Fassung gebracht an. Es war, als hätte er den Anruf mit einem bestimmten Drehbuch im Kopf unternommen, und Ralph weigerte sich nun, seine Dialogzeilen zu sprechen. »Das kannst du nicht… du solltest besser nicht…«
»Daß ich die Polizei angerufen habe, nachdem du Helen verprügelt hattest, hat dich nicht gestört, aber dein Gespräch heute mit Leydecker offensichtlich doch. Warum nur, Ed? Stellst du dir langsam ein paar Fragen nach deinem Verhalten? Und möglicherweise deinem Verstand?«
Nun war es an Ed, zu schweigen. Schließlich flüsterte er schroff: »Wenn du das nicht ernst nimmst, Ralph, wäre das dein größter Fehler -«
»Oh, ich nehme es ernst«, sagte Ralph. »Ich habe gesehen, was du heute getan hast, ich habe gesehen, was du letzten Monat mit deiner Frau gemacht hast… und ich habe gesehen, was du letzten Sommer gemacht hast. Jetzt weiß es die Polizei auch. Ich habe dir zugehört, Ed, und jetzt hörst du mir zu. Du bist krank. Du hast eine Art Nervenzusammenbruch gehabt, du hast Halluzinationen -«
»Ich muß mir diese Scheiße nicht anhören!« kreischte Ed fast.
»Nein, das mußt du nicht. Du kannst auflegen. Schließlich ist es dein Geld. Aber bis du das tust, werde ich sprechen. Weil ich dich gern gehabt habe, Ed., und ich möchte dich wieder gern haben können. Du bist ein kluger Kopf, Halluzinationen hin oder her, und ich glaube, du verstehst mich: Leydecker weiß Bescheid, und Leydecker wird dich im Auge be -«
»Siehst du die Farben schon?« fragte Ed. Seine Stimme klang wieder ruhig. Im selben Augenblick verschwand das rote Leuchten um das Telefonkabel herum.
»Was für Farben?« fragte Ralph schließlich.
Ed achtete nicht auf die Frage. »Du hast gesagt, du hast mich gern. Nun, ich mag dich auch. Ich habe dich immer gemocht. Daher werde ich dir jetzt einen gutgemeinten Rat geben. Du schwimmst in tiefem Wasser, und es kreisen Dinge in der Strömung, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Du glaubst, ich bin verrückt, aber ich muß dir sagen, du weißt nicht, was Wahnsinn ist. Du hast nicht die geringste Ahnung. Aber du wirst es erfahren, wenn du dich weiter in Dinge einmischst, die dich nichts angehen. Glaub mir.«
»Was für Dinge?« fragte Ralph. Er versuchte, mit unbekümmerter Stimme zu sprechen, aber er umklammerte den Hörer immer noch so fest, daß seine Finger schmerzten.
»Mächte«, antwortete Ed. »Hier in Derry sind Mächte am Werk, von denen du gar nichts wissen willst. Hier gibt es… nun, sagen wir einfach, hier gibt es Wesenheiten. Sie haben dich noch nicht bemerkt, aber wenn du dich weiter mit mir anlegst, werden sie es. Und das möchtest du sicher nicht. Glaub mir.«
Mächte. Wesenheiten.
»Du hast mich gefragt, wie ich das alles herausgefunden habe. Wer mich ins Spiel gebracht hat. Erinnerst du dich, Ralph?«
»Ja.« Und das stimmte. Jetzt. Das hatte Ed als letztes zu ihm gesagt, bevor er das breite Quizmastergrinsen aufgesetzt und zu den Polizisten gegangen war. Ich habe die Farben gesehen, seit er hier war und es mir gesagt hat. Wir reden später darüber.
»Der Arzt hat es mir gesagt. Der kleine kahle Arzt. Ich glaube, mit ihm wirst du es zu tun bekommen, wenn du wieder versuchen solltest, dich in meine Angelegenheiten einzumischen. Und dann gnade dir Gott.«
»Der kleine kahle Arzt, hm-hmm«, sagte Ralph. »Ja, ich verstehe. Zuerst der Scharlachrote König und seine Zenturionen, jetzt der kleine kahle Arzt. Ich nehme an, als nächstes ist es -«
»Verschon mich mit deinem Sarkasmus, Ralph. Bleib einfach weg von mir und meinen Interessen, hast du verstanden? Bleib weg.«
Ein Klick, und die Leitung war tot. Ralph betrachtete den Telefonhörer in seiner Hand lange Zeit, dann legte er auf.
Bleib einfach weg von mir und meinen Interessen.
Ja, warum nicht? Er hatte genug vor seiner eigenen Tür zu kehren.
Ralph ging langsam in die Küche, schob ein tiefgefrorenes Fertiggericht in den Herd (Schellfischfilet, um genau zu sein) und versuchte, Abtreibungsproteste, Auren, Ed Deepneau und den Scharlachroten König aus seinen Gedanken zu verdrängen.
Das war leichter, als er erwartet hatte.
Kapitel 6
Der Sommer verging wie immer in Maine, fast unbemerkt. Ralph wachte auch weiterhin viel zu früh auf, und als das Laub der Bäume entlang der Harris Avenue in leuchtenden Farben brannte, schlug er jeden Morgen gegen 2:15 Uhr die Augen auf. Das war beschissen, aber er sah seinem Termin bei James Roy Hong entgegen, und das unheimliche Feuerwerk nach seiner ersten Begegnung mit Joe Wyzer hatte sich nicht mehr wiederholt. Gelegentlich sah er ein Flackern an den Rändern von Gegenständen, aber Ralph stellte fest, wenn er die Augen zukniff und bis fünf zählte, war das Flackern verschwunden, wenn er sie wieder aufschlug.
Nun… normalerweise verschwunden.
Susan Days Rede war auf Freitag, den achten Oktober, festgesetzt worden, und als der September zu Ende ging, nahmen die Proteste und öffentlichen Abtreibungsdebatten an Schärfe zu und kreisten immer mehr um ihren Auftritt. Ralph sah Ed häufig in den Fernsehnachrichten, manchmal in Begleitung von Dan Dalton, aber immer häufiger allein; er sprach stets rasch, argumentierte überzeugend und nicht selten mit einen schwachen Anflug von Humor nicht nur in den Augen, sondern auch in der Stimme.
Die Leute mochten ihn, und die Friends of Life zogen offenbar die großen Mitgliederzahlen an, von denen Daily Bread, die politische Vorläuferorganisation, nur hatte träumen können. Es wurden keine Puppen mehr geworfen oder andere gewalttätige Demonstrationen durchgeführt, aber es gab jede Menge Protestmärsche und Gegenmärsche, jede Menge Beschimpfungen und Fäusteschütteln und wütende Leserbriefe. Prediger verhießen Verdammnis; Lehrer traten für Mäßigung und Bildung ein; ein halbes Dutzend junge Frauen, die sich selbst Kesse Lesben für Jesus Christus nannten, wurden verhaftet, weil sie mit Spruchbändern wie VERPISST EUCH AUS MEINEM KÖRPER vor der Baptistenkirche von Derry demonstrierten. Ein ungenannter Polizist wurde in den Derry News zitiert, er hoffe, Susan Day würde die Grippe oder so etwas bekommen und ihren Auftritt in Derry absagen.
Ralph bekam keine Nachricht mehr von Ed, aber am einundzwanzigsten September erhielt er eine Postkarte von Helen mit siebzehn jubilierenden Worten, die auf die Rückseite gekritzelt waren: »Hurra, ein Job! Öffentliche Bibliothek in Derry! Ich fange nächsten Monat an! Wir sehen uns bald -Helen.«
Ralph, der sich fröhlicher als in der Nacht von Helens Anruf fühlte, ging nach unten, um McGovern die Karte zu zeigen, aber die Tür der unteren Wohnung war verschlossen und verriegelt.
Dann Lois… aber Lois war auch nicht da, wahrscheinlich zum Kartenspielen oder in die Stadt gegangen, um Wolle für einen neuen Pullover zu kaufen.
Gelinde verdrossen dachte Ralph darüber nach, daß die Leute, mit denen man gute Nachrichten am meisten teilen wollte, nie da waren, wenn man förmlich davon platzte, und schlenderte in den Strawford Park. Und da fand er Bill McGovern, der auf der Bank beim Softballfeld saß und weinte.
Weinen war vielleicht übertrieben; Tränen vergießen hätte es besser getroffen. Ein Taschentuch lugte aus einer knotigen Faust von McGovern heraus, und er beobachtete eine Mutter und ihren kleinen Sohn, die einen Ball an der Linie des ersten Mals entlangrollten, wo das letzte große Softballereignis der Saison das Intramural City Tournament – gerade erst vor zwei Tagen zu Ende gegangen war.
Ab und zu hob er die Faust mit dem Taschentuch zum Gesicht und wischte sich die Augen ab. Ralph, der McGovern noch nie weinen gesehen hatte – nicht einmal bei Carolyns Beerdigung -, verweilte noch einen Moment beim Spielplatz und fragte sich, ob er zu McGovern oder einfach wieder nach Hause gehen sollte.
Schließlich nahm er allen Mut zusammen und ging zu der Parkbank. »Hallo, Bill«, sagte er.
McGovern sah mit roten, feuchten Augen und ein wenig verlegen auf. Er wischte sie wieder ab und versuchte zu lächeln. »Hi, Ralph. Du hast mich beim Flennen erwischt. Entschuldige.«
»Schon gut«, sagte Ralph und setzte sich. »Ich habe auch schon oft genug geweint. Was ist denn?«
McGovern zuckte die Achseln, dann tupfte er sich wieder die Augen ab. »Nichts weiter. Ich leide an den Folgen eines Paradoxons, das ist alles.«
»Und was wäre das für ein Paradoxon?«
»Etwas Gutes passiert mit einem meiner ältesten Freunde dem Mann, der mir meine erste Stelle als Lehrer gegeben hat. Er stirbt.«
Ralph zog die Brauen hoch, sagte aber nichts.
»Er hat eine Lungenentzündung. Seine Tochter will ihn heute oder morgen ins Krankenhaus schaffen, dort werden sie ihn zumindest eine Weile an die eiserne Lunge anschließen, aber er wird mit ziemlicher Sicherheit sterben. Ich werde seinen Tod feiern, wenn es soweit ist, und ich glaube, das deprimiert mich am allermeisten.« McGovern machte eine Pause. »Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, oder?«
»Nee«, sagte Ralph. »Aber das macht nichts.«
McGovern sah ihm ins Gesicht, stutzte und schnaubte. Das Geräusch hörte sich schroff und tränenfeucht an, aber Ralph fand, daß es trotzdem als richtiges Lachen gelten konnte und riskierte ein zaghaftes Lächeln als Erwiderung.
»Hab ich was Komisches gesagt?«
»Nein«, sagte McGovern und klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Ich habe nur dein Gesicht betrachtet, so ernst und aufrichtig -du bist wirklich ein offenes Buch, Ralph -, und mußte daran denken, wie sehr ich dich mag. Manchmal wünschte ich, ich könnte du sein.«
»Ganz bestimmt nicht um drei Uhr morgens«, sagte Ralph leise.
McGovern seufzte und nickte. »Die Schlaflosigkeit.«
»Ganz recht. Die Schlaflosigkeit.«
»Tut mir leid, daß ich gelacht habe, aber -«
»Du mußt dich nicht entschuldigen, Bill.«
»– aber bitte glaube mir, wenn ich sage, daß es ein bewunderndes Lachen war.«
»Wer ist dein Freund, und warum ist es gut, daß er stirbt?« fragte Ralph. Er vermutete bereits, was die Wurzel von McGoverns Paradoxon war; ganz so blauäugig naiv, wie Bill manchmal zu glauben schien, war er nun doch nicht.
»Sein Name lautet Bob Polhurst, und seine Lungenentzündung ist eine gute Nachricht, weil er seit dem Sommer ‘88 an der Alzheimerschen Krankheit leidet.«
Daran hatte Ralph gedacht… aber AIDS war ihm auch kurz durch den Kopf gegangen. Er fragte sich, ob das McGovern schockieren würde, und er verspürte leichte Erheiterung bei dem Gedanken. Dann sah er den Mann an und schämte sich seiner Erheiterung. Er wußte, wenn es um Niedergeschlagenheit ging, war McGovern zumindest ein halber Profi, aber er glaubte nicht, daß die Trauer um seinen alten Freund deshalb weniger aufrichtig war.