Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Der Katzenwels beugte sich noch weiter herüber. Sein Kleid raschelte. Ralph konnte das Parfüm seiner Mutter riechen, St. Elene, das sich auf obszöne Weise mit dem fischigen Kloakenaroma des Gründlers mischte.
[Ich habe die Absicht, Ed Deepneaus Unternehmen zu einem erfolgreichen Abschluß zu fiihren, Ralph; ich habe die Absicht, den Jungen, von dem deine Freunde dir erzählt haben, in den Armen seiner Mutter sterben zu lassen, und ich möchte sehen, wie es passiert. Ich habe sehr hart hier in Derry gearbeitet, und ich finde, das ist nicht zuviel verlangt, aber es bedeutet, daß ich mir dich jetzt gleich vom Hals schaffen muß. Ich -]
Ralph trat einen Schritt tiefer in den Müllgestank des Dings hinein. Und nun sah er eine Gestalt hinter der Gestalt von Mutter, hinter der Gestalt von Queenfish. Er sah einen hellen Mann, einen roten Mann mit kalten Augen und einem unbarmherzigen Mund. Der Mann hatte Ähnlichkeit mit dem Christus, den er erst vor wenigen Augenblicken gesehen hatte… aber nicht mit dem, der tatsächlich in der Ecke der Küche seiner Mutter gehangen hatte.
[Was denkst du dir eigentlich? Geh weg von mir! Willst du den Rest deines Lebens im Rollstuhl verbringen?]
[»Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, Kumpel – die Zeit, als ich am ersten Schlagmal gespielt habe, sind definitiv vorbei.«]
Die Stimme schwoll an und wurde zur Stimme seiner Mutter, wenn sie wütend war.
[Hör mir zu, Junge! Hör mir zu und paß auf l]
Einen Augenblick zögerte er angesichts der alten Kommandos, die mit einer Stimme ausgesprochen wurden, welche so unheimliche Ähnlichkeit mit der seiner Mutter hatte. Dann ging er wieder einen Schritt weiter. Der Queenfish drückte sich in den Schaukelstuhl und schlug unter dem Saum des alten Hauskleids mit der Schwanzflosse.
[WAS DENKST DU DIR EIGENTLICH DABEI?]
[»Ich weiß nicht; vielleicht will ich dich nur an den Barthaaren ziehen. Mal sehen, ob sie echt sind.«]
Dann bot er alle Willenskraft auf, damit er nicht aufschrie und floh, und streckte die rechte Hand aus. Lois’ Ohrring fühlte sich wie ein kleiner, warmer Kieselstein in seiner Faust an. Lois selbst schien sehr nahe zu sein, und Ralph fand das nicht überraschend, wenn man bedachte, wieviel von ihrer Aura er in sich aufgenommen hatte. Möglicherweise war sie jetzt sogar ein Teil von ihm. Das Gefühl ihrer Präsenz war ein großer Trost für ihn.
[Nein, das wagst du nicht! Du wirst gelähmt sein!]
[»Katzenwelse sind nicht giftig – das war das Ammenmärchen eines zehnjährigen Jungen, der noch mehr Angst hatte als ich.«]
Ralph griff mit der Hand, in der er den Metalldorn verborgen hielt, nach dem Schnurrbart, und der schuppige Kopf zuckte zurück, wie es ein Teil von Ralph gewußt hatte. Er waberte und veränderte sich, und die furchteinflößende rote Aura drang durch. Wenn Krankheit und Schmerz eine Farbe hätten, dachte Ralph, das wäre sie. Und bevor die Veränderung noch weitergehen konnte, bevor der Mann, den er jetzt sehen konnte – groß, auf kalte Weise hübsch mit seinem blonden Haar und den stechenden roten Augen – durch den Schimmer der Illusion treten konnte, die er abgestreift hatte, stieß Ralph die Spitze des Ohrrings in ein schwarzes, gewölbtes Fischauge.
Das Wesen stieß einen schrecklichen summenden Laut aus wie eine Zikade, fand Ralph – und versuchte, sich zurückzuziehen. Der heftig schlagende Schwanz erzeugte ein Geräusch wie ein Ventilator, zwischen dessen Rotoren sich ein Blatt Papier verfangen hat. Er rutschte in dem Schaukelstuhl hinab, der sich langsam in einen aus orangefarbenem Stein gemeißelten Thron verwandelte. Und dann war die Schwanzflosse verschwunden, der Queenfish war verschwunden, und der Scharlachrote König, dessen hübsches Gesicht zu einer Fratze von Schmerz und Fassungslosigkeit verzerrt war, saß vor ihm. Eines seiner Augen funkelte so rot wie das eines Luchses im Feuerschein; das andere war vom grellen, gebrochenen Funkeln von Diamantsplittern erfüllt.
Ralph griff mit der linken Hand in die Decke der Eier hinein, sah aber nichts als Schwärze auf der anderen Seite der Öffnung. Die andere Seite des Leichentuchs. Der Weg hinaus.
[Du bist gewarnt worden, du kurzfristiger Hurensohn! Du glaubst, du kannst mich an den Barthaaren ziehen, ja? Nun, mal sehen, ja? Mal sehen!] Der Scharlachrote König beugte sich auf seinem Thron nach vorne, sein Maul klaffte, das verbliebene Auge erstrahlte in rotem Licht. Ralph kämpfte gegen den Wunsch, seine jetzt leere rechte Hand wegzuziehen. Statt dessen rammte er sie vorwärts ins Maul des Scharlachroten Königs, das weit auseinanderklaffte, um sie zu verschlingen, wie vor langer Zeit der Katzenwels in den Barrens.
Etwas, das nicht aus Fleisch bestand, wand sich um seine Hand und stach dann zu wie Pferdebremsen. Gleichzeitig spürte Ralph echte Zähne – Fangzähne -, die sich in seinen Arm bohrten. Noch einen Augenblick, höchstens zwei, und der Scharlachrote König würde ihm das Handgelenk durchbeißen und seine Hand in einem Stück verschlingen.
Ralph machte die Augen zu und fand augenblicklich das Muster von Gedanken und Konzentration, das Bewegung zwischen den Ebenen möglich machte – seine Schmerzen und seine Angst waren dabei kein Hindernis. Nur war sein Ziel diesmal nicht Bewegung, sondern Auslösung. Klotho und Lachesis hatten ihm eine Falle in den Arm eingepflanzt, und es wurde Zeit, sie auszulösen.
Ralph verspürte dieses Gefühl des Blinzelns in seinem Kopf. Die Narbe an seinem Arm wurde sofort weißglühend und ging in einen kritischen Zustand über. Die Hitze verbrannte Ralph nicht, sondern strömte als expandierende Energiewoge aus ihm heraus. Er bemerkte einen titanischen grünen Lichtblitz, so grell, daß es einen Augenblick schien, als wäre die Smaragdstadt von Oz rings um ihn herum explodiert. Etwas oder jemand schrie. Das hohe, schrille Geräusch hätte ihn wahnsinnig gemacht, hätte es lange gedauert, aber es war nur kurz. Ihm folgte ein lauter, hohler Knall, bei dem Ralph daran denken mußte, wie er einmal einen M-80 Kracher angezündet und in ein Stahlrohr geworfen hatte.
Eine plötzliche Woge der Energie wehte als Wind und verblassendes grünes Licht an ihm vorbei. Er konnte einen seltsam verzerrten Blick auf den Scharlachroten König werfen, der nicht mehr jung und nicht mehr hübsch war, sondern uralt und krumm und weniger menschlich als die seltsamste Kreatur, die je durch die Existenzebene der Kurzfristigen geflattert oder gehüpft war. Dann tat sich etwas über ihnen auf und offenbarte eine Dunkelheit, in der widerstreitende Schnörkel und farbige Lichtstrahlen umherschossen. Der Wind schien den Scharlachroten König darauf zuzuwehen wie die Aufwinde eines Schornsteins ein welkes Blatt. Die Farben wurden heller, und Ralph wandte das Gesicht ab und schützte mit einer Hand die Augen. Er begriff, daß eine Verbindung zwischen der Ebene, wo er sich befand, und den unvorstellbaren Ebenen darüber geöffnet worden war; er begriff auch, wenn er lange in dieses grelle Leuchten sehen würde, in diese (Totenlichter) wirbelnden Farben, dann wäre der Tod bei weitem nicht das Schlimmste, das ihm zustoßen konnte, sondern das Beste. Er schloß nicht nur die Augen; er schloß sein Denken.
Einen Augenblick später war alles verschwunden – die Kreatur, die sich Ed gegenüber als der Scharlachrote König zu erkennen gegeben hatte, die Küche des alten Hauses in der Kansas Street, der Schaukelstuhl seiner Mutter. Ralph kniete etwa zwei Meter rechts von der Schnauze der Cherokee in der Luft und hatte die Hände erhoben wie ein Kind, das häufig Prügel bezog, vor einem grausamen Erwachsenen, und als er zwischen seinen Knien hinunterschaute, sah er das Bürgerzentrum und den angrenzenden Parkplatz direkt unter sich. Zuerst glaubte er, seine Augen wären einer optischen Täuschung aufgesessen, weil die Lampen auf dem Parkplatz auseinanderzustreben schienen. Sie sahen fast wie eine Menge sehr großer, sehr schlanker Menschen aus, die sich auflöste, weil das wie auch immer geartete aufregende Ereignis vorbei ist. Und der Parkplatz selbst schien… nun… größer zu werden.
Er wird nicht größer, sondern kommt näher, dachte Ralph kalt. Ed geht runter. Er hat mit seinem Kamikazeanflug begonnen.
Einen Augenblick war Ralph starr und von der simplen Unmöglichkeit seiner Position in den Bann geschlagen. Er war zu einem mythischen Zwischenwesen geworden, eindeutig kein Gott (kein Gott konnte so müde und ängstlich sein wie er im Augenblick), aber eindeutig auch kein erdgebundenes Geschöpf wie ein Mensch. So war das Fliegen wirklich, wenn man die Erde ohne Hindernis sah. Dies -
[»RALPH«]
Ihr Schrei war wie der Knall einer Schrotflinte neben seinem Ohr. Ralph zuckte davor zurück, und in dem Moment, als er den Blick vom hypnotisierenden Anblick des Bodens abwenden konnte, der ihm entgegenraste, konnte er sich auch wieder bewegen. Er stand auf und ging zum Flugzeug zurück. Das tat er so beiläufig und mühelos wie ein Mann, der in seinem Haus den Flur entlanggeht. Kein Wind blies ihm ins Gesicht oder wehte ihm das Haar aus der Stirn, und als seine linke Schulter durch den Propeller der Cherokee hindurchging, konnte ihm der kreisende Rotor ebensowenig etwas anhaben wie Rauch.
Einen Augenblick sah er Eds blasses, hübsches Gesicht das Gesicht des Highwayman, der in dem Gedicht, das Carolyn immer zum Weinen gebracht hatte, zur Tür des alten Gasthauses kam -, und seine bisherigen Empfindungen von Mitleid und Bedauern wurden von Wut verdrängt. Es war schwierig, wirklich wütend auf Ed zu werden – schließlich war auch er nur eine Schachfigur, die auf dem Brett herumgeschoben wurde -, aber das Gebäude, das er mit seinem Flugzeug anvisierte, war voller Menschen. Unschuldiger Menschen. Ralph sah etwas Trotziges, Kindisches und Halsstarriges unter dem benommenen, verwirrten Gesichtsausdruck von Ed, und als er durch die Cockpitwand trat, dachte Ralph: Ich glaube, auf einer Ebene hast du gewußt, daß der Teufel hereingekommen ist, Ed. Ich glaube, du hättest ihn sogar wieder hinauswerfen können… haben Mr. K. und Mr. L. nicht gesagt, daß es immer eine Alternative gibt? Wenn ja, trägst du zumindest zum Teil die Verantwortung hierfür, du Dreckskerl.
Einen Moment ragte Ralphs Kopf durch die Decke wie vorhin auch, und er kniete sich hin. Jetzt beanspruchte das Bürgerzentrum die gesamte Windschutzscheibe des Flugzeugs ein, und er sah ein, daß es zu spät war, Ed daran zu hindern, etwas zu tun.
Ed hatte die Türklingel von dem Klebeband abgerissen und hielt sie in der Hand.
Ralph griff in die Tasche, nahm den verbliebenen Ohrring und hielt ihn wieder so zwischen den Fingern, daß die Spitze dazwischen herausragte. Mit der anderen Hand ergriff er die Kabel, die zwischen der Klingel und dem Pappkarton verliefen. Dann schloß er die Augen, konzentrierte sich und rief wieder das angespannte Gefühl mitten in seinem Kopf herbei. Er spürte ein plötzliches hohles Flattern im Magen und dachte sich: Mann! Das ist der Expreßlift!
Dann befand er sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen, wo es keine Götter oder Teufel gab, keine kahlköpfigen Ärzte mit magischen Scheren oder Skalpells, keine Auren. Unten, wo es unmöglich war, durch Wände zu gehen oder einen Flugzeugabsturz zu überleben. Auf der Ebene der Kurzfristigen, wo man ihn sehen konnte… und das, wurde Ralph klar, tat Ed gerade.
»Ralph?« Es war die nuschelnde Stimme eines Mannes, der gerade aus dem tiefsten Schlaf seines Lebens erwacht. »Ralph Roberts? Was machst du denn hier?«
»Oh, ich war gerade in der Gegend und dachte mir, ich schau mal vorbei.« Und damit schloß er die Faust und riß die Kabel aus dem Karton.
»Nein!« schrie Ed. »O nein, nicht, du verdirbst alles!«
Ja, wirklich, dachte Ralph, dann griff er über Eds Schoß hinweg nach dem Steuerknüppel der Cherokee. Das Bürgerzentrum lag keine vierhundert Meter mehr unter ihnen, möglicherweise noch weniger. Ralph wußte immer noch nicht mit Sicherheit, was sich in dem auf dem Sitz des Copiloten festgeschnallten Karton befand, aber er hatte eine Ahnung, daß es sich um den Plastiksprengstoff handeln könnte, den Terroristen immer in den Kampfsportfilmen mit Chuck Norris oder Steven Segal benützten. Der sollte ziemlich stabil sein – nicht wie das Nitroglyzerin in Clouzots Lohn der Angst -, aber dies war sicher nicht der Zeitpunkt, sich auf das Evangelium der Filmbranche zu verlassen. Und selbst ein stabiler Sprengstoff konnte ohne Zünder explodieren, wenn er aus einer Höhe von fast dreitausend Metern fiel.
Er drückte den Steuerknüppel, so weit er konnte, nach links. Unter ihnen drehte das Bürgerzentrum auf schwindelerregende Weise ab, als wäre es auf die Spindel eines gewaltigen Kreisels montiert.
»Nein, du Dreckskerl!« schrie Ed, und etwas, das sich wie der Kopf eines kleinen Hammers anfühlte, traf Ralph an der Seite, lahmte ihn fast vor Schmerzen und machte es ihm unmöglich zu atmen. Seine Hand glitt vom Steuerknüppel ab, als Ed wieder auf ihn einschlug, diesmal in die Achselhöhle. Ed ergriff den Steuerknüppel und riß ihn heftig zurück. Das Bürgerzentrum, das im Sichtfeld der Windschutzscheibe zur Seite geglitten war, bewegte sich wieder Richtung Zentrum.
Ralph streckte die Hand nach dem Knüppel aus. Ed drückte Ralph die Handfläche auf die Stirn und stieß ihn zurück. »Warum hast du dich nicht raushalten können?« fauchte er. »Warum hast du dich einmischen müssen?« Er hatte die Zähne gefletscht und die Lippen zu einer eifersüchtigen Grimasse verzerrt. Daß Ralph im Cockpit aufgetaucht war, hätte ihm einen lähmenden Schock versetzen müssen, aber das hatte es keineswegs.
Natürlich nicht, er ist verrückt, dachte Ralph, und plötzlich erhob er seine innere Stimme zu einem Ruf voller Panik:
Klotho! Lachesis! Um Himmels willen, helft mir!
Nichts. Es sah nicht so aus, als hätte sein Ruf irgend jemanden erreicht. Warum auch? Er befand sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen, und das bedeutete, er war auf sich selbst gestellt.
Das Bürgerzentrum war jetzt nur noch etwa zweihundertvierzig bis zweihundertsiebzig Meter unter ihnen. Ralph konnte jeden Backstein, jedes Fenster, jede Person sehen, die davor stand -er konnte fast sagen, wer von ihnen Schilder trug. Sie sahen auf und versuchten herauszubekommen, was dieses verrückte Flugzeug hier zu suchen hatte. Ralph konnte die Angst in ihren Gesichtern nicht sehen, noch nicht, aber noch drei oder vier Sekunden -
Er warf sich wieder auf Ed, achtete nicht auf das Pochen in seiner linken Seite, und stieß mit der rechten Faust zu, wobei er die Spitze des Ohrrings mit dem Daumen so weit er konnte zwischen den Fingern hinausdrückte.
Der Trick mit dem goldenen Ohrring hatte beim Scharlachroten König funktioniert, aber da war er höher oben gewesen und hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite gehabt. Auch diesmal zielte Ralph nach dem Auge, aber Ed wandte im letzten Moment den Kopf ab. Der Dorn bohrte sich dicht über dem Wangenknochen in Eds Gesicht. Ed schlug ihn weg wie eine Stechmücke und hielt dabei weiter mit der linken Hand den Steuerknüppel fest.
Ralph wollte sich wieder auf den Knüppel stürzen. Ed schlug nach ihm. Seine Faust traf über dem linken Auge und stieß Ralph zurück. Ein einziger lauter Ton, rein und silbern, hallte ihm in den Ohren. Es war, als befände sich eine gewaltige Stimmgabel irgendwo zwischen ihnen, die jemand angeschlagen hatte. Die Welt wurde grau wie eine körnige Zeitungsfotografie.
[»RALPH! BEEIL DICH!«]
Das war Lois, völlig entsetzt. Er wußte warum; die Zeit war so gut wie abgelaufen. Ihm blieben bestenfalls fünf Sekunden. Er warf sich wieder nach vorne, aber diesmal nicht auf Ed, sondern auf das Bild von Helen und Nat, das über dem Höhenmesser festgeklebt worden war. Er riß es ab, hielt es hoch… und zerknüllte es zwischen den Fingern. Er wußte nicht genau, mit was für einer Reaktion er gerechnet hatte, aber sie übertraf seine kühnsten Erwartungen.
»GIB SIE ZURÜCK!« schrie Ed. Er vergaß den Steuerknüppel und griff statt dessen nach dem Bild. Dabei sah Ralph wieder den Mann, den er an dem Tag zu sehen bekommen hatte, als er Helen verprügelt hatte – ein Mann, der verzweifelt unglücklich war und sich vor den in ihm freigesetzten Kräften fürchtete. Tränen standen ihm nicht nur in den Augen, sondem liefen an seinen Wangen hinab, und Ralph dacht verwirrt: Hat er die ganze Zeit geweint?
»GIB SIE ZURÜCK!« bellte er wieder, aber Ralph war nicht mehr sicher, ob der Schrei ihm galt; er dachte, daß sein ehemaliger Nachbar möglicherweise das Wesen ansprach, das in sein Leben getreten war, sich vergewissert hatte, daß es geeignet schien, und es dann einfach übernommen hatte. Lois’ Ohrring funkelt an Eds Wange wie ein barbarisches Trauerornament. »GIB SIE ZURÜCK, SIE GEHÖREN MIR!«
Ralph hielt die zerknüllte Fotografie gerade außerhalb der Reichweite von Eds fuchtelnden Armen. Ed sprang, der Sicherheitsgurt schnitt ihm in den Bauch, und Ralph schlug ihm, so fest er konnte, gegen die Kehle und verspürte eine unbeschreibliche Mischung aus Befriedigung und Ekel, als der Schlag auf der harten, knorpeligen Wölbung von Eds Adamsapfel landete. Ed fiel in den Sitz zurück, die Augen quollen ihm vor Schmerzen und Bestürzung aus den Höhlen, und er griff sich mit den Händen an den Hals. Ein ersticktes, würgendes Geräusch drang aus seinem Inneren. Es hörte sich an wie das Getriebe einer gigantischen Maschine, die im Begriff war, sich festzufressen.
Ralph schob sich über Eds Schoß nach vorne und sah das Bürgerzentrum dem Flugzeug förmlich entgegenspringen. Er zog den Steuerknüppel so weit er konnte nach links, und unter ihm – direkt unter ihm – drehte sich das Bürgerzentrum wieder zur Seite der dem Untergang geweihten Windschutzscheibe der Cherokee… aber es bewegte sich quälend langsam.
Ralph stellte fest, daß er etwas in dem Cockpit riechen konnte -ein schwaches Aroma, das süßlich und vertraut zugleich war. Bevor er sich überlegen konnte, was es sein mochte, sah er etwas, das ihn völlig ablenkte. Im Geiste hörte er John Leydecker wieder fragen, wem dieser Brontosaurier gehörte, und hörte sich antworten, daß es sein Brontosaurier sei.
Mein Gott, dachte Ralph mehr staunend als ängstlich. Ich glaube, ich lande auf meinem eigenen Vordersitz.
Der süßliche Geruch war stärker, und als plötzlich Hände seine Schultern ergriffen, wurde ihm klar, daß es das Parfüm von Lois Chasse war.
»Komm hoch!« schrie sie. »Ralph, du Dummkopf, du mußt -«
Er dachte nicht nach; er tat es einfach. Das Ding in seinem Geist verkrampfte sich, das Blinzeln fand statt, und er hörte den Rest von dem, was sie zu sagen hatte, in der unheimlichen, durchdringenden Weise, die mehr Denken als Sprechen war.
[»-heraufkommen! Stemm dich mit den Füßen ab!«]
Zu spät, dachte er, befolgte ihren Rat aber trotzdem, stützte die Füße auf das schräg geneigte Armaturenbrett und stieß sich so fest er konnte ab. Er spürte, wie Lois mit ihm durch den Schacht der Existenz emporstieg, während die Cherokee die letzten dreißig Meter zwischen sich und dem Boden zurücklegte, und als sie in die Höhe schössen, spürte er, wie sich eine plötzliche Ladung der Energie von Lois um ihn legte und ihn zurückriß wie ein Bungeeseil. Er erlebte kurz das ekelerregende Gefühl, als würde er in zwei Richtungen gleichzeitig fliegen.
Ralph konnte einen letzten Blick auf Ed Deepneau werfen, der an der Seitenwand des Cockpits lehnte, aber in einem sehr realen Sinne sah er ihn überhaupt nicht. Die gelb-graue Aura der Verwirrung war verschwunden. Ed war ebenfalls verschwunden. Er steckte in einem Leichentuch, so schwarz wie die Mitternacht in der Hölle.
Dann fielen und flogen er und Lois zugleich.
Kapitel 30
Kurz bevor es zu der Explosion kam, sagte Susan Day, die im grellen weißen Scheinwerferlicht stand und die letzten Sekunden ihres provokativen Lebens erlebte, gerade: »Ich bin nicht nach Derry gekommen, um Sie zu heilen, Sie herumzukommandieren oder aufzuhetzen, sondern, um mit Ihnen zu trauern – dies ist eine Situation, die weit über politische Erwägungen hinausgeht. Es gibt kein Recht auf Gewalt, keine Zuflucht in Selbstgefälligkeit. Ich bin hier, um Sie zu bitten, daß Sie Ihren Standpunkt und Ihre Rhetorik beiseite lassen und eine Möglichkeit finden, einander zu helfen. Sich von der Faszination abzuwenden -«
Hinter den hohen Fenstern an der Südseite des Auditoriums erstrahlte plötzlich ein grelles weißes Licht, dann barsten sie nach innen.
Die Cherokee verfehlte Ralphs alten Olds, aber das rettete ihn nicht. Das Flugzeug machte noch einmal eine halbe Drehung in der Luft, dann bohrte es sich etwa acht Meter von dem Zaun entfernt in den Boden, wo Lois früher an diesem Tag stehengeblieben war, um ihren nervtötenden Slip in die Höhe zu ziehen. Die Tragflächen brachen ab. Das Cockpit unternahm eine schnelle und brutale Reise durch die Passagierkabine. Der Rumpf explodierte mit der Wucht einer Champagnerflasche im Mikrowellenherd. Scherben flogen durch die Luft. Das Heck bog sich über den Rumpf der Cherokee wie der Stachel eines sterbenden Skorpions und bohrte sich ins Dach eines Dodge, auf dessen Seite SCHÜTZT DAS RECHT DER FRAUEN AUF FREIE ENTSCHEIDUNG! gemalt worden war. Ein helles und bitteres Scheppern erklang, das sich anhörte, als wäre ein Stapel Alteisen umgestürzt.
»Ach du Schei -«, begann einer der auf dem Parkplatz postierten Polizisten, dann flog das C4 aus der Pappschachtel heraus wie ein großer grauer Schleimklumpen und landete auf den Trümmern des Armaturenbretts, wo sich mehrere »heiße« Kabel hineinbohrten wie die Nadeln von Spritzen. Der Plastiksprengstoff explodierte mit einem gewaltigen, ohrenbetäubenden Knall, röstete die Rennbahn und verwandelte den Parkplatz in einen Wirbelsturm von weißem Licht und herumfliegenden Trümmern. John Leydecker, der unter dem Baldachin des Bürgerzentrums gestanden und sich mit einem Cop der Staatspolizei unterhalten hatte, wurde durch eine der offenen Türen und quer durch die Halle geschleudert. Er prallte gegen die Wand und sackte bewußtlos auf den Scherbenhaufen des Glaskastens mit den Renntrophäen. Damit hatte er mehr Glück als der Mann, neben dem er gestanden hatte; der Staatspolizist wurde gegen die Strebe zwischen zwei offenen Türen gedrückt und in der Mitte entzweigerissen.
Die Reihen der Autos schirmten das Bürgerzentrum vor der schlimmsten Wucht der Explosion ab, aber diese glückliche Fügung erkannte man erst später. Drinnen saßen über viertausend Menschen zuerst wie vom Donner gerührt und wußten nicht, was sie tun sollten, und noch weniger, was sie gerade gesehen hatten: Amerikas prominenteste Feministin, die von einer herumfliegenden scharfen Glasscherbe geköpft worden war. Ihr Kopf flog wie eine seltsame weiße Bowlingkugel mit angeklebter blonder Perücke bis in die sechste Reihe.
Sie brachen erst in Panik aus, als das Licht ausging.
Einundsiebzig Menschen starben bei der überstürzten Flucht zu den Ausgängen, und die Derry News berichtete am nächsten Tag unter einer furchteinflößenden Riesen-Schlagzeile davon und bezeichnete es als schreckliche Tragödie. Ralph Roberts hätte ihnen sagen können, daß sie unter Berücksichtigung aller Umstände Glück gehabt hatten. Wirklich großes Glück.
In der Mitte des Nordbalkons saß eine Frau namens Sonia Danville – eine Frau, auf deren Wangen noch die Blutergüsse der letzten Prügel verblaßten, die sie je von einem Mann bekommen hatte – und hatte die Arme um die Schultern ihres Sohns Patrick gelegt. Sein Poster von McDonald’s, auf dem Ronald und Mayor Cheese und der Hamburglar vor dem Fenster des Autoschalters den Boot-Scootin’ Boogie tanzten, hatte er auf dem Schoß ilegen, aber er hatte gerade erst die goldenen Bögen ausgemalt, als er das Poster auf die leere Seite umdrehte. Nicht, daß er das Interesse verloren hätte; ihm war gerade nur selbst ein Bild eingefallen, und das überkam ihn, wie es bei solchen Hinfallen häufig der Fall war, mit zwanghafter Wucht. Er hatte fast den ganzen Tag darüber nachgedacht, was im Keller von High Ridge geschehen war -der Rauch, die Hitze, die ängstlichen Frauen und die beiden Engel, die gekommen waren, um sie zu retten -, aber sein grandioser Einfall verdrängte diese Gedanken, und er machte sich von stummem Enthusiasmus beseelt an die Arbeit. Bald war Patrick in etwa zumute, als würde er selbst in der Welt leben, die er mit seinen Wachsmalstiften malte.
Er war ungeachtet seiner vier Jahre bereits ein außerordentlich fähiger Maler (»Mein kleines Genie«, nannte ihn Sonia manchmal), und sein Bild war viel besser als das Poster zum Ausmalen auf der anderen Seite des Blatts. Was er in den Minuten zustande brachte, bevor das Licht ausging, war eine Arbeit, auf die ein begabter Kunststudent im ersten Semester stolz hätte sein können. In der Mitte des Posters ragte ein Turm aus dunklen, rußfarbenen Steinen in einen blauen Himmel mit vereinzelten dicken weißen Wolken auf. Ringsum lag ein Feld mit so roten Rosen, daß sie fast zu schreien schienen. Auf einer Seite stand ein Mann in verblichenen Blue Jeans. Revolvergurte überkreuzten sich auf seinem flachen Bauch; an jeder Hüfte hing ein Halfter. Ganz oben auf dem Turm sah ein Mann im roten Gewand mit einer Mischung aus Haß und Angst auf den Revolverhelden herunter. Seine Hände, die er um die Brüstung geklammert hatte, schienen ebenfalls rot zu sein.
Sonia war wie gebannt von Susan Day, die hinter dem Rednerpult saß und ihrer Einführungsrede zuhörte, aber sie sah kurz vor dem Ende der Rede auch auf das Bild ihres Sohnes. Sie wußte seit zwei Jahren, daß Patrick das war, was Psychologen ein Wunderkind nannten, und sie redete sich manchmal ein, daß sie sich an die komplexen Bilder und Play-Doh-Skulpturen gBwöhnt hatte, die er seine Knetfamilie nannte. Vielleicht stimmte das bis zu einem gewissen Grad, aber dieses spezielle Bild erfüllt sie mit einem seltsamen Frösteln, das sie nicht völlig als emotionale Auswirkung des langen, aufregenden Tags abtun konnte.
»Wer ist das?« fragte sie und deutete auf die winzige Gestalt, die eifersüchtig vom Gipfel des dunklen Turms herabsah.
»Der ist der Rote König«, sagte Patrick.
»Oh, der Rote König. Ich verstehe. Und wer ist der Mann mit den Revolvern?«
Als er den Mund aufmachte, um zu antworten, hob Barbara Richards, die Frau am Rednerpult, den rechten Arm (sie trug einen schwarzen Trauerflor daran) und deutete auf die Frau, die hinter ihr saß. »Meine Freunde, Ms. Susan Day!« rief sie, und Patricks Antwort auf die zweite Frage seiner Mutter ging im donnernden Beifall unter:
Der heißt Roland, Mama. Manchmal träume ich von ihm. Der ist auch ein König.
Jetzt saßen die beiden mit klingelnden Ohren in der Dunkelheit, und zwei Gedanken gingen Sonia durch den Kopf wie Ratten, die einander in einem Laufrad jagen: Nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wußte, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wußte, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag -
»Mommy, du zerdrückst mein Bild!« sagte Patrick. Er klang ein wenig atemlos, und Sonia wurde bewußt, daß sie auch ihn zerdrückte. Sie lockerte ihren Griff ein wenig. Ein zusammenhangloses Durcheinander von Schreien, Rufen und stammelnden Fragen drang aus der dunklen Grube unter ihnen herauf, wo die Leute, die reich genug waren, daß sie sich eine »Spende« von fünfzehn Dollar leisten konnte, auf Klappstühlen saßen. Ein durchdringender Schmerzensschrei übertönte das allgemeine Murmeln, und Sonia zuckte auf dem Sitz zusammen.
Der donnernde Knall unmittelbar nach der Explosion hatte schmerzhaft auf ihre Ohren gedrückt und das Gebäude in seinen Grundmauern erschüttert. Verglichen damit hörte sich der fortwährende Lärm – Autos, die auf dem Parkplatz wie Kracher explodierten -, leise und unbedeutend an, aber Sonia spürte dennoch, wie Patrick sich bei jedem neuen Knall an sie drückte.
»Ganz ruhig, Pat«, sagte sie zu ihm. »Etwas Schlimmes ist geschehen, aber ich glaube, es ist draußen passiert.« Da sie zu den grell erleuchteten Fenstern gesehen hatte, hatte Sonia barmherzigerweise nicht mitbekommen, wie der Heldin der Kopf von den Schultern getrennt worden war, aber sie wußte, daß der Blitz irgendwie tatsächlich zweimal an derselben Stelle eingeschlagen hatte (hätte ihn nicht mitnehmen sollen, hätte ihn nicht mitnehmen sollen) und zumindest ein Teil der Leute unter ihnen in Panik ausgebrochen war. Wenn sie in Panik geriete, würden sie und der junge Rembrandt ernste Probleme bekommen.
Aber das werde ich nicht. Ich bin heute morgen nicht aus dieser Todesfalle entkommen, nur um jetzt in Panik zu geraten. Der Teufel soll mich holen, wenn ich das tue.
Sie griff nach unten und nahm eine von Patricks Händen – die freie, nicht die, mit der er das Bild hielt. Sie war sehr kalt.
»Glaubst du, die Engel werden wiederkommen und uns retten, Mama?« fragte er mit leicht zitternder Stimme.
»Nee«, sagte sie. »Ich glaube, diesmal sollten wir es selbst tun. Aber das können wir. Ich meine, jetzt ist doch alles in Ordnung mit uns, oder nicht?«
»Ja«, sagte er, aber dann ließ er sich gegen sie sinken. Sie hatte einen schrecklichen Augenblick Angst, er hätte das Bewußtsein verloren und sie würde ihn auf den Armen aus dem Bürgerzentrum hinaustragen müssen, aber dann richtete er sich wieder auf. »Meine Bücher war’n auf dem Boden«, sagte er. »Ich wollte nicht ohne meine Bücher gehen, besonders das über den Jungen, der seinen Hut nicht abnehmen kann. Gehen wir jetzt, Mama?«
»Ja. Sobald die Leute da unten nicht mehr herumlaufen. Auf dem Flur gibt es bestimmt Lichter, die mit Batterien laufen, auch wenn sie hier drinnen ausgefallen sind. Wenn ich sage, wir stehen auf, dann gehen – gehen! – wir die Stufen hinauf zur Tür. Ich werde dich nicht tragen, aber ich werde direkt hinter dir gehen und dir beide Hände auf die Schultern legen. Hast du verstanden, Pat?«
»Ja, Mama.« Keine Fragen. Kein Blubbern. Nur seine Bücher, die er ihr zur sicheren Verwahrung in die Hände drückte. Das Bild behielt er selbst. Sie umarmte ihn kurz und gab ihm einen Kuß auf die Wange.
Sie warteten etwa fünf Minuten auf dem Sitz, während sie langsam bis dreihundert zählte. Sie spürte, daß ihre unmittelbaren Nachbarn gegangen waren, bevor sie hundertfünfzig erreicht hatte, aber sie wartete trotzdem. Jetzt konnte sie ein wenig sehen; soviel, daß sie glaubte, draußen müsse etwas lichterloh in Flammen stehen, aber auf der anderen Seite des Gebäudes. Das war ein Glück. Sie konnte das irre Heulen von näherkommenden Polizeiautos, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeugen hören.