Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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»Abgemacht.«
Er fragte sich immer noch, wo er anfangen sollte, als sich sein Mund scheinbar von ganz alleine öffnete und für ihn begann. »Als mir schließlich klar wurde, daß Carolyn sterben würde, bin ich oft spazierengegangen. Und eines Tages, als ich draußen an der Extension war…«
Er erzählte ihr alles, fing damit an, wie er zwischen Ed und dem dicken Mann mit der West-Side-Gardeners-Schirmmütze vermittelt hatte, und endete damit, wie Bill ihm den Rat gab, seinen Hausarzt aufzusuchen, weil in ihrem Alter Geisteskrankheiten normal seien, vollkommen normal. Manchmal mußte er wieder zurück, um Fäden aufzunehmen, die er hatte fallen lassen – zum Beispiel, wie der alte Dor aufgetaucht war, als er, Ralph, sich gerade bemühte, Ed daran zu hindern, auf den Mann von West Side Gardeners loszugehen -, aber das störte ihn nicht weiter, und Lois schien keine Mühe zu haben, seiner Geschichte zu folgen. Beim Erzählen verspürte Ralph ein Gefühl besonders deutlich, nämlich eine so große Erleichterung, daß es fast schmerzhaft war. Es war, als hätte jemand sein Herz und seinen Verstand mit Backsteinen eingemauert, die er nun einen nach dem anderen entfernte.
Als er fertig war, war das Geschirr gespült, und sie hatten die Küche verlassen und saßen im Wohnzimmer mit den Dutzenden gerahmter Fotos, über denen Mr. Chasse auf seinem Platz auf dem Fernseher prangte.
»Und?« fragte Ralph. »Wieviel davon glaubst du?«
»Selbstverständlich alles«, sagte sie und bemerkte den Ausdruck der Erleichterung auf Ralphs Gesicht entweder nicht oder beschloß, ihn nicht zu bemerken. »Nach allem, was wir heute morgen gesehen haben – ganz zu schweigen davon, was du über meine saubere Schwiegertochter gewußt hast -, bringe ich es nicht fertig, dir nicht zu glauben. Das ist mein Vorzug gegenüber Bill.«
Nicht dein einziger, dachte Ralph, sagte es aber nicht.
»Und das alles ist kein Zufall, oder?« fragte sie ihn.
Ralph schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Als ich siebzehn war«, sagte sie, »heuerte meine Mutter einen Jungen aus der Straße an – Richard Henderson war sein Name -, damit er die Arbeiten rund um unser Haus erledigte. Sie hätte eine Menge Jungs einstellen können, aber sie entschied sich für Richard, weil sie ihn mochte… und sie hätte ihn gern für mich gehabt, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Selbstverständlich verstehe ich. Sie hat dich verkuppeln wollen.«
»Hm-hmm, aber wenigstens hat sie es nicht auf eine auffällige, grausame oder peinliche Weise getan. Gott sei Dank, denn mir lag nicht das geringste an Richie – jedenfalls nicht so. Trotzdem hat sich Mutter größte Mühe gegeben. Wenn ich am Küchentisch saß und meine Hausaufgaben machte, ließ sie ihn die Holzkiste auffüllen, obwohl es Mai und schon ziemlich warm war. Wenn ich die Hühner fütterte, ließ sie Richie die Hecken neben dem Zaun schneiden. Sie wollte, daß ich ihn sehe… mich an ihn gewöhne… und wenn wir miteinander ausgekommen wären und er mich zum Tanzen aufgefordert oder zum Jahrmarkt eingeladen hätte, wäre ihr das recht gewesen. Es war ein sanfter, aber dauernder Druck. Und so ist es hier.«
»Mir kommt der Druck ganz und gar nicht sanft vor«, sagte Ralph. Er griff mit der Hand unwillkürlich an die Stelle, wo Charlie Pickering ihn mit der Messerspitze gepiekst hatte.
»Nein, natürlich nicht. Wenn einem jemand ein Messer so zwischen die Rippen bohrt, muß das schrecklich sein. Gott sei Dank hast du diese Spraydose dabeigehabt. Glaubst du, der alte Dor kann die Auren auch sehen? Daß ihm etwas aus dieser Welt gesagt hat, er soll dir die Spraydose in die Jackentasche tun?«
Ralph zuckte hilflos mit den Achseln. Was sie andeutete, war ihm auch schon durch den Kopf gegangen, aber wenn man eingehender darüber nachdachte, kippte einem wirklich der Boden unter den Füßen weg. Denn wenn Dorrance es getan hatte, bedeutete das, daß irgend eine (Wesenheit) höhere Macht oder ein Wesen gewußt haben mußte, daß Ralph Hilfe brauchen würde. Und das war noch nicht alles. Diese Macht – oder das Wesen – hätte ebenfalls wissen müssen, daß a) Ralph am Sonntag nachmittag ausgehen würde, b) das Wetter, das bis dahin schön gewesen war, sich so verschlechtem würde, daß er eine Jacke brauchte, und c) welche Jacke er anziehen würde. Mit anderen Worten, man hatte es mit etwas zu tun, das die Zukunft vorhersagen konnte. Die Vorstellung, daß er einem solchen Wesen aufgefallen sein könnte, machte ihm eine Heidenangst, um ganz ehrlich zu sein. Ihm war klar, daß die Intervention ihm zumindest im Fall der Spraydose wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, aber trotzdem litt er Todesängste.
»Möglich«, sagte er. »Vielleicht hat etwas Dorrance als Botenjungen benutzt. Aber warum?« »Und was machen wir jetzt?« fragte sie.
Ralph konnte nur den Kopf schütteln.
Sie sah auf die Uhr zwischen dem Bild des Mannes im Waschbärmantel und der jungen Frau, die bereit schien, jederzeit Twenty-three skidoo zu sagen, dann griff sie zum Telefon. »Fast halb vier! Meine Güte!«
Ralph berührte ihre Hand. »Wen rufst du an?«
»Simone Castonguay. Ich hatte vorgehabt, heute nachmittag mit ihr und Mina nach Ludlow zu fahren – im Grange findet ein Kartenspiel statt -, aber nach alledem kann ich nicht gehen. Ich würde das letzte Hemd verlieren.« Sie lachte, dann errötete sie reizend. »Nur so eine Redensart.«
Ralph legte die Hand auf ihre, bevor sie den Hörer abnehmen konnte. »Geh zu deinem Kartenspiel, Lois.«
»Wirklich?« Sie sah zweifelnd und ein wenig enttäuscht aus.
»Ja.« Er hatte immer noch keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber er spürte, daß sich das ändern würde. Lois hatte gesagt, sie würde einen Druck verspüren, aber Ralph kam es vor, als würde er getragen werden, so wie ein Fluß einen Mann in einem kleinen Boot trägt. Aber er konnte nicht sehen, wohin er unterwegs war; dichter Nebel verbarg die Ufer, und während die Strömung schneller wurde, konnte er weiter vorne das Tosen von Stromschnellen hören.
Aber da sind Umrisse, Ralph. Umrisse im Nebel.
Ja. Aber keine besonders beruhigenden. Möglicherweise waren es Bäume, die nur wie greifende Hände aussahen… aber andererseits konnten es auch zupackende Hände sein, die sich als Bäume tarnten. Bis Ralph wußte, was nun der Fall war, beruhigte ihn der Gedanke, Lois würde nicht in der Stadt sein. Er hatte eine Eingebung – vielleicht auch nur eine Hoffnung, die sich als Eingebung verkleidete -, daß Doc Nr. 3 ihr nicht nach Ludlow folgen konnte, daß er nicht einmal imstande war, ihr durch die Barrens zur East Side zu folgen.
Das kannst du nicht wissen, Ralph.
Vielleicht nicht, aber es schien zu stimmen, und er war immer noch überzeugt, daß Fühlen und Wissen in der heimlichen Stadt der Auren weitgehend identisch waren. Eines wußte er mit Sicherheit, daß Doc Nr. 3 Lois’ Ballonschnur noch nicht durchgeschnitten hatte; das hatte Ralph selbst gesehen, zusammen mit dem erfreulich gesunden grauen Leuchten ihrer Aura. Aber Ralph wurde die wachsende Gewißheit nicht los, daß Doc Nr. 3 – der Irre Doc – die Absicht hatte, sie durchzuschneiden, und daß, so lebendig Rosalie auch ausgesehen haben mochte, als sie aus dem Strawford Park getrottet war, das Durchtrennen dieser Schnur ein mörderischer Akt gewesen war.
Sagen wir einmal, du hast recht, Ralph; nehmen wir an, er kann ihr heute nachmittag nichts tun, wenn sie drüben in Ludlow Karten spielt. Was ist mit heute abend? Morgen? Nächste Woche? Wie sieht die Lösung aus? Soll sie ihren Sohn und das Biest von einer Schwiegertochter anrufen und ihnen sagen, sie hat es sich überlegt, sie möchte doch nach Riverview Estates ziehen?
Er wußte es nicht. Aber er wußte, er brauchte Zeit zum Nachdenken, und er wußte auch, konstruktives Denken würde ihm schwerfallen, wenn er keine Gewißheit hatte, daß Lois zumindest vorläufig in Sicherheit sein würde.
»Ralph? Du bekommst wieder diesen schmudigen Ausdruck.«
»Was für einen Ausdruck?«
»Schmudig.« Sie warf das Haar anmutig zurück. »Das ist ein Wort, das ich erfunden habe, um zu beschreiben, wie Mr. Chasse aussah, wenn er so tat, als würde er mir zuhören, in Wirklichkeit aber an seine Münzsammlung gedacht hat. Ich erkenne einen schmudigen Gesichtsausdruck, wenn ich einen sehe, Ralph. Woran hast du gedacht?«
»Ich habe mich gefragt, wann du von deinem Kartenspiel zurückkehren würdest.«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Ob wir noch auf ein Schokofrappe bei Tubby’s einkehren oder nicht.« Sie sagte es mit der Miene einer Frau, die ein heimliches Laster gesteht.
»Angenommen ihr kommt gleich zurück.«
»Sieben Uhr. Vielleicht halb acht.« »Ruf mich an, sobald du zu Hause bist. Würdest du das tun?«
»Ja. Du möchtest, daß ich de Stadt verlasse, richtig? Das hat dieser schmudige Ausdruck in Wirklichkeit bedeutet.«
»Nun… «
»Du glaubst, daß mir dieses häßliche kahlköpfige Ding etwas tun will, richtig?«
»Ich halte es für möglich.«
»Es könnte dir auch etwas tun!«
»Ja, aber… «
Aber soweit ich es beurteilen kann, trägt es keines von meinen modischen Accessoires.
»Aber was?«
»Mir wird nichts zustoßen, bis du zurück bist, das ist alles.« Er erinnerte sich an ihre abfällige Bemerkung über moderne Männer, die einander umarmten und plärrten, und bemühte sich um ein gebieterisches Stirnrunzeln. »Geh Kartenspielen und überlaß diese Sache mir, zumindest vorerst. Das ist ein Befehl.«
Carolyn hätte entweder gelacht oder wäre wütend über dieses komische Macho-Gehabe geworden. Lois, die einer völlig anderen Schule weiblichen Denkens angehörte, nickte nur und schien dankbar zu sein, daß ihr die Entscheidung aus den Händen genommen worden war. »Also gut.« Sie drückte sein Kinn nach unten, damit sie ihm direkt in die Augen sehen konnte. »Weißt du, was du tust, Ralph?«
»Nee. Jedenfalls noch nicht.«
»Nun gut. Solange du es wenigstens zugibst.« Sie legte ihm eine Hand auf den Unterarm und hauchte ihm mit geöffneten Lippen einen sanften Kuß auf den Mundwinkel. Ralph verspürte ein höchst willkommenes warmes Prickeln in den Lenden. »Ich fahre nach Ludlow und gewinne fünf Dollar von diesen albernen Frauen, die immer versuchen, ihren Straight vollzubekommen. Heute abend reden wir darüber, was wir als nächstes tun wollen. Okay?«
»Ja.«
Ihr zaghaftes Lächeln – mehr mit den Augen als mit dem Mund -deutete an, daß sie ein wenig mehr tun könnten als nur reden, wenn Ralph tollkühn genug wäre… und in diesem Augenblick fühlte er sich wahrhaftig tollkühn. Nicht einmal der strenge Blick von Mr. Chasse auf dem Fernseher konnte an diesem Gefühl etwas ändern.
Kapitel 14
Es war Viertel nach vier, als Ralph die Straße überquerte und die kurze Strecke bergauf zu seinem Haus ging. Erneut überkam ihn Müdigkeit; er fühlte sich, als wäre er seit ungefähr drei Jahrhunderten wach. Gleichzeitig aber fühlte er sich so gut wie seit Carolyns Tod nicht mehr. Mehr beieinander. Mehr er selbst.
Vielleicht möchtest du das auch nur glauben? Daß ein Mensch sich nicht so elend fiihlen kann, ohne eine Art positive Wiedergutmachung? Das ist eine schöne Vorstellung, Ralph, aber wahrscheinlich nicht besonders realistisch.
Na gut, dachte er, vielleicht bin ich im Moment ein bißchen verwirrt.
Das war er in der Tat. Außerdem ängstlich, aufgekratzt, desorientiert und ein klein wenig geil. Doch eines drang ganz deutlich durch diesen Wirrwarr der Gefühle, das er erledigen mußte, bevor er etwas anderes tun konnte: Er mußte sich mit Bill versöhnen. Falls dazu eine Entschuldigung erforderlich war, das würde er über sich bringen. Vielleicht war eine Entschuldigung sogar in Ordnung. Schließlich war Bill nicht zu ihm gekommen und hatte gesagt: »Herrje, alter Freund, du siehst schrecklich aus, erzähl mir alles.« Nein, er war zu Bill gegangen. Er hatte es mit Zweifeln getan, aber das änderte nichts an der Tatsache, und -
O Ralph, herrje, was soll ich nur mit dir machen? Es war Carolyns amüsierte Stimme, die so deutlich zu ihm sprach wie in den Wochen nach ihrem Tod, als er seinen größten Kummer verarbeitet hatte, indem er im Geiste mit ihr sprach… und manchmal laut, wenn er allein im Apartment war. Bill war derjenige, der sich vergessen hat, nicht du. Wie ich sehe, bist du immer noch so fest entschlossen, hart zu dir selbst zu sein, wie zu meinen Lebzeiten. Ich schätze, manches ändert sich nie.
Ralph lächelte schwach. Ja, okay, möglicherweise änderte sich manches wirklich nie, und möglicherweise war der Streit wirklich mehr Bills Schuld als seine eigene gewesen. Die Frage war nur, wollte er sich wegen eines albernen Streits und einer Menge gespreizten Bödsinns, wer nun recht hatte und wer nicht, Bills Freundschaft verscherzen? Ralph glaubte es nicht, und wenn eine Entschuldigung erforderlich wäre, die Bill eigentlich gar nicht verdiente, was war so schlimm daran? Seines Wissens war noch niemand an den drei Silben Tut mir leid gestorben.
Die Carolyn in seinem Kopf reagierte auf diesen Gedanken mit wortloser Fassungslosigkeit.
Vergiß es, sagte er zu ihr, als er den Fußweg zum Haus entlangging. Ich tue das für mich, nicht für ihn. Oder für dich, da wir schon dabei sind.
Er stellte amüsiert und erstaunt fest, wie schuldig er sich bei diesem letzten Gedanken fühlte – fast als hätte er ein Sakrileg begangen. Aber deswegen war der Gedanke nicht weniger zutreffend.
Er kramte gerade in der Tasche nach dem Schlüssel, als er den Zettel sah, der an der Tür f estgetackert war. Ralph tastete nach seiner Lesebrille, aber die hatte er oben auf dem Küchentisch liegenlassen. Er beugte sich nach vorne und kniff die Augen zusammen, damit er Bills nervtötend kleine, schräge Handschrift lesen konnte:
Liebe(r) Ralph/Lois/Faye/ wer auch immer,
ich gehe davon aus, daß ich den größten Teil des Tages im Derry Home verbringen werde. Bob Polhursts Nichte hat angerufen und mir gesagt, daß es diesmal mit ziemlicher Sicherheit ernst wird; das Leiden des armen Mannes ist fast vorbei. Zimmer 2 in der Intensivstation des Derry Home ist so ziemlich der letzte Ort auf der Welt, wo ich an einem so schönen Oktobertag sein möchte, aber ich finde, ich sollte bis zum Ende bei ihm sein.
Ralph, es tut mir leid, daß ich Dich heute morgen so vor den Kopf gestoßen habe. Du bist zu mir gekommen, weil Du Hilfe wolltest, und ich hätte Dir fast die Augen ausgekratzt. Ich kann als Entschuldigung nur sagen, daß ich wegen der Sache mit Bob völlig mit den Nerven runter bin. Okay? Ich glaube, ich schulde Dir ein Abendessen… das heißt, wenn du noch mit jemandem wie mir zusammen essen willst.
Faye, bitte, bitte, BITTE hör auf, mich wegen Deinem verfluchten Schachturnier zu nerven. Ich habe Dir versprochen, daß ich spielen werde, und ich halte meine Versprechen.
Lebwohl, grausame Welt
Ralph richtete sich mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Erleichterung auf. Wenn sich nur alles, was ihm in letzter Zeit widerfahren war, so leicht aus der Welt schaffen ließe wie das hier!
Er ging nach oben, schüttelte den Teekessel und füllte ihn gerade an der Spüle, als das Telefon läutete. Es war John Leydecker. »Mann, bin ich froh, daß ich Sie endlich erwischt habe«, sagte er. »Ich hatte mir schon langsam Sorgen gemacht, alter Freund.«
»Warum?« fragte Ralph. »Was ist denn los?« »Vielleicht nichts, vielleicht doch etwas. Charlie Pickering ist nun doch auf Kaution freigekommen.« »Sie haben mir gesagt, das würde nicht passieren.« »Ich habe mich geirrt, okay?« sagte Leydecker hörbar gereizt. »Und nicht nur in der Beziehung habe ich mich geirrt. Ich habe Ihnen gesagt, der Richter würde die Kaution wahrscheinlich so bei vierzigtausend Dollar festsetzen, wußte aber nicht, daß Pickering Richter Steadman vorgeführt werden würde, der behauptet, daß er nicht einmal an so etwas wie Irrsinn glaubt. Steadman hat die Kaution auf achtzig Riesen festgesetzt. Pickerings Pflichtverteidiger hat geheult wie ein Hund bei Vollmond, aber das konnte nichts ändern.« Ralph sah nach unten und stellte fest, daß er den Teekessel immer noch in der Hand hielt. Er stellte ihn auf den Tisch. »Und trotzdem ist er auf Kaution raus?«
»Jawoll. Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen gesagt habe, Ed würde ihn fallenlassen wie eine heiße Kartoffel?«
»Ja.«
»Nun, das können Sie wieder als Fehlwurf für John Leydecker werten. Ed ist heute vormittag um elf Uhr mit einem Aktenkoffer voll Geld ins Büro der Justizkasse spaziert.«
»Achttausend Dollar?« fragte Ralph.
»Ich sagte Aktenkoffer, nicht Briefumschlag«, antwortete Leydecker. »Nicht acht, sondern achtzig. Im Gerichtsgebäude sind sie immer noch ganz aus dem Häuschen. Verdammt, sie werden noch aus dem Häuschen sein, wenn der Weihnachtsschmuck abgehängt wird.«
Ralph versuchte, sich Ed Deepneau in seinen weiten alten Pullovern und einem Paar zerschlissener Kordjeans vorzustellen-Eds »Verrückter-Wissenschaftler-Kostüm«, hatte Carolyn immer gesagt -, wie er gebündelte Stapel Zwanziger und Fünfziger aus dem Aktenkoffer zog, konnte es aber nicht. »Hatten Sie nicht gesagt, daß zehn Prozent ausreichen, um freizukommen?«
»So ist es, wenn man etwas Wertvolles hinterlegen kann ein Haus oder irgendwas anderes, das einem gehört, zum Beispiel -, das in etwa die Gesamtsumme abdeckt. Offenbar konnte Ed das nicht, aber er hatte etwas Erspartes für schlechte Zeiten unter der Matratze. Oder er hat dem Weihnachtsmann verdammt gut einen geblasen.«
Ralph mußte an den Brief denken, den er von Helen bekommen hatte, als sie gerade eine Woche aus dem Krankenhaus entlassen und nach High Ridge gezogen war. Sie erwähnte, daß sie einen Scheck von Ed bekommen hatte -siebenhundertundfünfzig Dollar. Anscheinend ist er sich seiner Verantwortung bewußt, hatte.sie geschrieben. Ralph fragte sich, ob Helen immer noch so denken würde, wenn sie wüßte, daß Ed mit einer Summe ins Gerichtsgebäude von Derry spaziert war, die ausgereicht hätte, seine Tochter durch die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens zu bringer… damit er einen Wahnsinnigen freibekommen konnte, der gern mit Messern und Molotowcocktails spielte.
»Woher, in Gottes Namen, hat er es?« fragte er Leydecker. »Keine Ahnung.«
»Und er muß es auch nicht sagen?«
»Nee. Wir leben in einem freien Land. Soweit ich weiß, hat er gesagt, er hätte ein paar Aktien zu Geld gemacht.«
Ralph dachte an die alten Zeiten zurück – die guten alten Zeiten, bevor Carolyn krank geworden und gestorben und Ed nur krank geworden war. Er dachte an die gemeinsamen Mahlzeiten, die sie etwa alle zwei Wochen einmal zu viert eingenommen hatten, Pizza zum Mitnehmen bei den Deepneaus oder auch Carols Hühnerterrine in der Küche der Roberts’, und er erinnerte sich, wie Ed einmal versprochen hatte, er würde sie alle zu Prime Ribs ins Red Lion in Bangor einladen, wenn seine Aktien Dividenden abwarfen. Ganz recht, hatte Helen geantwortet und Ed verliebt angesehen. Damals war sie schwanger gewesen, was man ihr gerade erst ansah, und mit dem zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebundenen Haar und dem Umstandskleid, das immer noch Nummern zu groß für sie gewesen war, hatte sie wie vierzehn ausgesehen. Was meinst du, welche zuerst Dividende bringen? Die zweitausend Anteile von United Fußschmerz oder die sechstausend Vereinigte Sauertopfe? Und er hatte sie angeknurrt, ein Knurren, bei dem sie alle lachen mußten, weil Ed Deepneau kein bißchen Gemeinheit in sich hatte; wer Ed länger als vierzehn Tage kannte, der wußte, daß er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Aber Helen hatte es vielleicht ein bißchen besser gewußt schon damals hatte sie es vielleicht ein bißchen besser gewußt, verliebter Blick hin oder her.
»Ralph?« fragte Leydecker. »Sind Sie noch da?«
»Ed hatte keine Aktien«, sagte Ralph. »Er war Chemiker, um Himmels willen, und sein Vater besaß eine Flaschenfabrik ausgerechnet in Plaster Rock, Pennsylvania. Da war kein Geld zu holen.«
»Nun, irgendwoher hat er es bekommen, und ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, daß mir das gefällt.«
»Was meinen Sie, von den Friends of Life?«
»Glaube ich nicht. Zuerst einmal haben wir es da nicht mit reichen Leuten zu tun – die meisten Mitglieder der Friends sind Arbeiter, working class heroes, Helden der Arbeiterklasse. Sie würden geben, was sie können, aber soviel? Nein. Ich nehme an, zusammen hätten sie genügend Grundbesitz aufbringen können, um Pickering rauszuholen, aber das haben sie nicht getan. Und die meisten hätten abgelehnt, selbst wenn Ed gefragt hätte. Ed ist so eine Art persona non grata bei ihnen, und ich könnte mir denken, die wünschen sich, sie hätten nie von Pickering gehört. Dan Dalton hat wieder die Führung der Friends of Life übernommen, was für den überwiegenden Teil eine große Erleichterung ist. Ed und Charlie und zwei andere -ein Mann namens Frank Feiton und eine Frau namens Sandra McKay – scheinen inzwischen weitgehend auf eigene Faust zu handeln. Über Feiton weiß ich nichts, und es existiert keine Akte über ihn, aber die McKay hat einige derselben feinen Etablissements besucht wie Charlie. Und sie ist nicht zu übersehen – blasser Teint, schlimme Akne, so dicke Brillengläser, daß ihre Augen wie pochierte Eier aussehen, und sie bringt rund hundertvierzig Kilo auf die Waage.«
»Ist das ein Witz?«
»Nein. Sie trägt vorzugsweise Stretchhosen aus dem K-Mart und befindet sich normalerweise in Gesellschaft von Schokoriegeln, Schokoplätzchen und Zuckerbonbons. Häufig trägt sie weite TShirts, auf denen BABY FACTORY steht. Behauptet, sie habe fünfzehn Kinder geboren. Aber sie hat nie eins gehabt und kann möglicherweise gar keine bekommen.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Weil ich möchte, daß Sie vor diesen Leuten auf der Hut sind«, sagte Leydecker. Er sagte es geduldig, wie zu einem Kind. »Sie könnten gefährlich sein. Charlie ist es mit Sicherheit, das brauche ich Ihnen nicht zu erzählen, und Charlie ist raus. Woher Ed das Geld bekommen hat, um ihn rauszuholen, ist zweitrangig – er hat es, darauf kommt es an. Es würde mich nicht überraschen, wenn er es wieder bei Ihnen versuchen würde. Er oder Ed, oder einer von den anderen.«
»Was ist mit Helen und Natalie?«
»Die sind bei ihren Freunden – Freunden, die bestens über die Bedrohung von Seiten durchgedrehter Ehemänner Bescheid wissen. Ich habe Mike Hanion informiert, und der wird auch auf sie aufpassen. Die Bibliothek wird von unseren Männern überwacht. Wir glauben nicht, daß Helen momentan in echter Gefahr schwebt – sie lebt in High Ridge -, aber wir tun, was wir können.«
»Danke, John. Ich danke Ihnen dafür, und ich danke Ihnen für den Anruf.«
»Freut mich, aber ich bin noch nicht ganz fertig. Sie dürfen nicht vergessen, wen Ed angerufen und wen er bedroht hat, mein Freund – nicht Helen, sondern Sie. Sie scheint ihm nicht mehr besonders viel zu bedeuten, aber Sie gehen ihm nicht aus dem Kopf, Ralph. Ich habe Chief Johnson gefragt, ob ich einen Mann – Chris Nell wäre meine Wahl gewesen – abstellen könnte, um Sie im Auge zu behalten, jedenfalls bis die Schnalle von Woman-Care hier war und wieder fort ist. Er hat abgelehnt. Er sagte, diese Woche sei zuviel los… aber wie es mir gesagt wurde, deutet darauf hin, daß Sie einen Aufpasser bekommen würden, wenn Sie persönlich darum bitten würden. Also, was meinen Sie?«
Polizeischutz, dachte Ralph. So nennen sie es in den Krimiserien im Fernsehen, und davon spricht er – Polizeischutz.
Er versuchte, darüber nachzudenken, aber zuviel anderes ging ihm durch den Kopf; die Gedanken tanzten herum wie umheimliche Bonbons. Hüte, Ärzte, Kittel, Spraydosen. Ganz zu schweigen von Messern, Skalpellen und einer Schere, die er durch die staubigen Gläser seines alten Fernglases gesehen hatte. Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann, dachte Ralph, und unmittelbar darauf: Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling, also reg dich nicht wegen Kleinigkeiten auf.
»Nein«, sagte er.
»Was?«
Ralph machte die Augen zu und sah, wie er genau diesen Telefonhörer abnahm und seinen Termin beim Nadelpiekser absagte. Das hier war wieder genau dasselbe, oder nicht? Ja.
Er konnte Polizeischutz vor den Pickerings und McKays und Feitons bekommen, aber so sollte es nicht laufen. Das wußte er; er spürte es mit jedem Schlag seines Herzens und jedem Pulsieren seines Blutes.
»Sie haben richtig gehört«, sagte er. »Ich möchte keinen Polizeischutz.«
»Um Gottes willen, warum nicht?«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte Ralph und verzog ein wenig das Gesicht, so absurd überheblich hörte sich das Klischee an, das er schon in zahllosen Western mit John Wayne gehört hatte.
»Ralph, ich bin nicht gern der Überbringer schlechter Nachrichten, aber Sie sind alt. Am Sonntag haben Sie Glück gehabt. Nächstesmal haben Sie vielleicht keins mehr.«
Ich habe nicht nur Glück gehabt, dachte Ralph. Ich habe Freunde an höchster Stelle. Oder vielleicht sollte ich sagen, Wesenheiten an höchster Stelle.
»Mir passiert schon nichts«, sagte er.
Leydecker seufzte. »Werden Sie mich anrufen, wenn Sie es sich anders überlegen?«
»Ja.«
»Und wenn Sie entweder Pickering oder die große Frau mit der dicken Brille und dem strähnigen Haar herumhängen sehen -«
»Rufe ich Sie an.«
»Ralph, bitte überlegen Sie es sich noch mal. Ich spreche nur von einem Mann, der ein Stück von Ihrem Haus entfernt im Auto sitzt.«
»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, sagte Ralph.
»Hm?«
»Ich sagte, ich danke Ihnen. Trotzdem nein. Sie hören wieder von mir.«
Ralph legte den Hörer behutsam auf. Wahrscheinlich hatte John recht, überlegte er sich, wahrscheinlich war er verrückt, aber er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so normal gefühlt.
»Müde«, sagte er seiner sonnigen, einsamen Küche, »aber normal.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und fast wieder verliebt.«
Dabei mußte er grinsen, und er grinste immer noch, als er schließlich den Teekessel auf den Herd stellte.
Er trank die zweite Tasse Tee, als ihm einfiel, daß Bill in der Nachricht etwas von einem Essen gesagt hatte. Er beschloß impulsiv, Bill zu bitten, sich mit ihm zu einem kleinen Abendessen im Day Break, Sun Down zu treffen. Sie konnten noch einmal von vorne anfangen.
Ich glaube, wir müssen noch mal von vorne anfangen, dachte er, denn dieser kleine Irre hat Bills Hut, und ich bin ziemlich sicher, das bedeutet, daß er in Gefahr ist.
Nun, es geht nichts über die Gegenwart. Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer, die er sich jederzeit merken konnte: 941-5000. Die Nummer des Derry Home Hospital.
Die Telefonistin des Krankenhauses verband ihn mit Zimmer 213. Die eindeutig erschöpfte Frau, die den Hörer abnahm, war Denise Polhurst, die Nichte des sterbenden Mannes. Bill war nicht da, informierte sie ihn. Vier andere Lehrer aus den, wie sie sich ausdrückte, »ruhmreichen Tagen von Onkelchen« waren gegen eins vorbeigekommen, und Bill hatte vorgeschlagen, daß sie gemeinsam zu Mittag essen sollten. Ralph wußte sogar, wie es sein Untermieter formuliert haben würde: Besser spät als nie. Das war einer seiner Lieblingssprüche. Als Ralph sie fragte, ob sie ihnbald zurückerwartete, antwortete Denise Polhurst mit ja.
»Er war so aufmerksam. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte, Mr. Robbins.«
»Roberts«, sagte er. »Nach Bills Worten muß Mr. Polhurst ein wunderbarer Mensch gewesen sein.«
»Ja, der Meinung sind alle. Aber die Rechnungen werden selbstverständlich nicht an seinen Fandub gehen, oder?«
»Nein«, sagte Ralph unbehaglich. »Wahrscheinlich nicht. In Bills Nachricht stand, daß es Ihrem Onkel sehr schlecht geht.«
»Ja. Die Ärzte sagen, er wird den Tag wahrscheinlich nicht überstehen, geschweige denn die Nacht, aber das habe ich schon einmal gehört. Gott möge mir verzeihen, aber manchmal kommt mir Onkel Bob wie eine dieser Anzeigen von Publisher’s Clearing House vor – große Versprechungen und nichts dahinter. Ich nehme an, das hört sich schrecklich an, aber ich bin so müde, daß es mir egal ist. Heute morgen haben sie den Lebenserhaltungskram abgeschaltet – ich hätte die Verantwortung nicht auf mich alleine genommen, aber ich habe Bob angerufen, und er hat gesagt, das wäre bestimmt auch der Wunsch meines Onkels. >Es wird Zeit, daß Bob die nächste Welt erforscht sagte er. >Diese hier hat er schon zur Genüge kartographiert.< Ist das nicht poetisch, Mr. Robbins?«
»Doch. Und ich heiße Roberts, Ms. Polhurst. Würden Sie Bill bitte sagen, daß Ralph Roberts angerufen hat und ihn bittet zurückzu -«
»Also haben wir den Kram abgeschaltet, und ich war bereit -gewappnet, könnte man wohl sagen -, aber er ist nicht gestorben. Das verstehe ich nicht. Er ist bereit, ich bin bereit, sein Lebenswerk ist vollbracht… also warum stirbt er nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Der Tod ist ziemlich blöd«, sagte sie mit der quengelnden und unschönen Stimme, wie sie nur die sehr Müden und Schwermütigen zustande bringen. »Ein Geburtshelfer, der einem Baby so langsam die Nabelschnur durchschneidet, würde wegen Unfähigkeit gefeuert werden.«
Neuerdings schweiften Ralphs Gedanken gerne ab, aber diesmal wurde er ruckartig zurückgeholt. »Was haben Sie gesagt?«
»Pardon?« Sie klang verblüfft, als wären ihre eigenen Gedanken abgeschweift.
»Sie haben etwas gesagt, von wegen die Schnur durchschneiden.«
»Das hatte nichts zu bedeuten«, sagte sie. Der quengelnde Tonfall war stärker geworden… aber er war nicht quengelnd, wurde Ralph jetzt klar, er war winselnd, und er war ängstlich. Da stimmte etwas nicht. Sein Herz schlug plötzlich schneller. »Es hatte überhaupt nichts zu bedeuten«, beharrte sie, und plötzlich nahm der Telefonhörer in Ralphs Hand eine tiefe und bedrohliche Blaufärbung an.
Sie hat daran gedacht, ob sie ihn töten soll, und zwar nicht nur so – sie hat tatsächlich daran gedacht, ihm ein Kissen aufs Gesicht zu drücken und ihn damit zu ersticken. »Es würde nicht lange dauern«, denkt sie. »Ein Gnadenakt«, denkt sie. »Endlich überstanden«, denkt sie.
Ralph hielt den Hörer vom Ohr weg. Blaues Licht, kalt wie der Februarhimmel, drang in dünnen Strahlen aus der Hörmuschel.
Mord ist blau, dachte Ralph, hielt den Hörer auf Armeslänge von sich und sah, von ungläubiger Fassungslosigkeit erfüllt, wie die blauen Strahlen sich krümmten und zu Boden tropften. Er konnte ganz leise die quengelnde, ängstliche Stimme von Denise Polhurst hören. Das ist etwas, was ich nie wissen wollte, aber ich schätze, nun weiß ich es doch: Mord ist blau.
Er hielt den Apparat wieder an den Mund, aber so, daß die obere Hälfte mit der Last der eisblauen Aura von seinem Kopf wegzeigte. Er hatte Angst, wenn er den Hörer zu nahe ans Ohr hielt, würde sie ihn mit ihrer kalten und erbosten Verzweiflung taub machen.