Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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»Das werdet ihr schön bleiben lassen«, sagte Stan direkt in eines von Pedersens haarigen Ohren. »Sonst müssen wir euch beide mit Herzanfällen ins Derry Home bringen, und du kannst keinen mehr brauchen, Harley – du hast schon zwei gehabt. Oder waren es drei?«
»Ich werd nicht zulassen, daß er Witze über Frauen macht, die Babys ermorden!« sagte Pedersen, und Ralph stellte fest, daß ihm Tränen über die Wangen liefen. »Meine Frau ist gestorben, als sie unsere zweite Tochter bekam! 1946 ist sie an Sepsis gestorben! Darum dulde ich dieses Geschwätz über Babymord nicht!«
»Herrgott«, sagte Faye mit veränderter Stimme. »Das wußte ich nicht, Harley. Es tut mir leid -«
»Einen Scheißdreck tut es dir leid!« schrie Pedersen und riß den Arm aus Stan Eberlys Griff. Er stürzte sich auf Faye, der die Fäuste hob und wieder sinken ließ, als Pedersen davonstapfte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er ging den Pfad zwischen den Bäumen entlang, der zur Extension führte, und weg war er. Seinem Aufbruch folgten dreißig Sekunden betroffenen Schweigens, das lediglich vom wespengleichen Summen einer landenden Piper Cub unterbrochen wurde.
»Mein Gott«, sagte Faye schließlich. »Da sieht man jemand fünf, zehn Jahre lang alle paar Tage und denkt, man wüßte alles. Himmel, Ralphie, ich wußte nicht, daß seine Frau gestorben ist. Ich komme mir wie ein Narr vor.«
»Laß dich nicht irre machen«, antwortete Stan. »Wahrscheinlich hat er nur seine Tage.« »Sei still«, sagte Georgina. »Wir hatten genug schmutziges Gerede für einen Morgen.«
»Ich bin froh, wenn diese Day wieder weg ist, damit alles wieder seinen gewöhnlichen Gang geht«, sagte Fred Zell.
Doc Mulhare hatte sich auf Hände und Knie niedergelassen und sammelte Schachfiguren ein. »Möchtest du zu Ende spielen, Faye?« fragte er. »Ich glaube, ich weiß noch, wie sie gestanden haben.«
»Nein«, sagte Faye. Seine Stimme, die während der Konfrontation mit Pedersen fest geklungen hatte, zitterte jetzt. »Ich glaube, ich habe eine Weile genug. Vielleicht läßt Ralph sich ja auf eine Partie ein.«
»Ich glaube, ich muß passen«, sagte Ralph. Er sah sich nach Dorrance um, weil er doch gerne mit dem alten Burschen gesprochen hätte, und entdeckte ihn schließlich. Er war wieder durch das Loch im Zaun gegangen. Er stand im kniehohen Gras am Rand der Zufahrt da drüben und knickte das Buch in den Händen, während er zusah, wie die Piper Cub zum Terminal der Privatmaschinen rollte. Ralph mußte daran denken, wie Ed mit seinem alten braunen Datsun diese Zufahrt entlanggerast gekommen war und geflucht hatte, weil
(Beeil dich! Beeil dich, du dreckige stinkende Fotze!) das Tor so langsam aufging. Zum erstenmal seit über einem Jahr fragte er sich, was Ed überhaupt dort zu suchen gehabt hatte.
»… als früher.«
»Hm?« Er konzentrierte sich mühsam wieder auf Faye.
»Ich habe gesagt, du scheinst wieder zu schlafen, du siehst nämlich viel besser aus als früher. Aber ich schätze, jetzt ist dein Gehör im Eimer.«
»Kann sein«, sagte Ralph und versuchte zu lächeln. »Ich glaube, ich geh was essen. Möchtest du mitkommen, Faye? Ich bezahle.«
»Nee, ich hatte schon ein Coffee-Pot-Sandwich«, sagte Faye. »Das liegt mir im Augenblick wie Blei im Magen, um die Wahrheit zu sagen. Herrgott, Ralph, der alte Furz hat geweint, hast du das gesehen?« »Ja, aber ich würde an deiner Stelle nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen«, sagte Ralph. Er ging Richtung Extension, und Faye trottete neben ihm her. Mit den hängenden breiten Schultern und dem gesenkten Kopf sah Faye wie ein Tanzbär in einem Menschenkostüm aus. »In unserem Alter weint man beim geringsten Anlaß. Das weißt du.«
»Kann sein.« Er lächelte Ralph dankbar zu. »Wie dem auch sei, danke, daß du mich zurückgehalten hast, bevor ich es noch schlimmer machen konnte. Du weißt ja, wie ich manchmal sein kann.«
Ich wünschte nur, jemand wäre dabei gewesen, als Bill und ich aneinandergeraten sind, dachte Ralph. Laut sagte er: »Kein Problem. Eigentlich müßte ich mich bei dir bedanken. Noch etwas, das ich vorbringen kann, wenn ich mich um diesen hochdotierten Job bei der UN bewerbe.«
Faye lachte freudig und klopfte Ralph auf die Schulter. »Klar, Generalsekretär! Friedensstifter Nummer eins! Das könntest du, Ralph, ohne Scheiß!«
»Ohne Zweifel. Paß auf dich auf, Faye.«
Er wollte sich abwenden, da berührte Faye ihn am Arm. »Du bist doch nächste Woche beim Turnier dabei, oder? Beim Startbahn Drei Classic?«
Ralph brauchte einen Moment, bis er dahinterkam, wovon Faye redete, obwohl es das Hauptthema des pensionierten Tischlers war, seit das Laub die erste herbstliche Färbung zeigte. Seit dem Ende seines »wirklichen Lebens« im Jahr 1984 veranstaltete Faye ein Schachturnier, das er Startbahn Drei Classic nannte. Der Pokal war eine übergroße verchromte Radkappe, in die eine verschnörkelte Krone und ein Zepter eingraviert waren. Faye, mit Sicherheit der beste Spieler der Altvorderen (jedenfalls in der West Side der Stadt), hatte sich die Trophäe in sechs von neun Fällen selbst überreicht, und Ralph vermutete, daß er die anderen Male freiwillig verloren hatte, um die anderen Turnierteilnehmer bei der Stange zu halten. In diesem Herbst hatte Ralph noch nicht oft an Schach gedacht; ihm gingen andere Dinge durch den Kopf.
»Klar«, sagte er. »Ich denke, ich werde mitspielen.«
Faye grinste. »Gut. Wir hätten es letztes Wochenende machen sollen – das war der Plan -, aber ich hatte gehofft, wenn ich es verschieben würde, könnte Jimmy V. mitspielen. Aber er ist immer noch im Krankenhaus, und wenn ich noch lange warte, ist es zu kalt, um draußen zu spielen, und wir müssen es im Hinterzimmer von Duffy Spragues Friseurladen machen, wie damals, ‘90.«
»Was ist denn mit Jimmy V.?«
»Der Krebs hat wieder angefangen«, sagte Faye, dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Ich glaube, diesmal hat er nicht mehr Chancen als ein Schneeball in der Hölle.«
Ralph verspürte einen plötzlichen und überraschend heftigen Anflug von Traurigkeit angesichts dieser Neuigkeit. Er und Jimmy Vandermeer hatten sich während ihres »wirklichen Lebens« gut gekannt. Damals waren beide auf Achse gewesen, Jimmy im Verkauf von Süßigkeiten und Grußkarten, Ralph mit Druckereibedarf und Papierprodukten, und sie hatten sich so gut verstanden, daß sie sich bei mehreren Fahrten durch Neuengland zusammengetan hatten, abwechselnd gefahren waren und sich deshalb luxuriösere Unterkünfte leisten konnten, als es jedem auf sich allein gestellt möglich gewesen wäre.
Darüber hinaus hatten sie die einsamen, unbedeutenden Geheimnisse von Handlungsreisenden geteilt. Jimmy erzählte Ralph von der Hure, die ihm 1958 seine Brieftasche gestohlen hatte, und wie er seine Frau deshalb belügen und behaupten mußte, ein Anhalter hätte ihn ausgeraubt. Ralph erzählte Jimmy, wie er im Alter von dreiundvierzig Jahren gemerkt hatte, daß er turpinhydratsüchtig geworden war, und von seinem schmerzlichen, aber letztendlich erfolgreichen Versuch, die Sucht zu überwinden. Er hatte Carolyn ebenso wenig von seiner bizarren Hustensaftabhängigkeit erzählt wie Jimmy V. seiner Frau von seinem letzten B-Girl.
Jede Menge Reisen; jede Menge Reifenwechsel; jede Menge Witze über Handlungsreisende und bildhübsche Farmerstöchter; jede Menge nächtlicher Gespräche, die nicht selten bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatten. Manchmal redeten sie von Gott, manchmal vom Finanzamt. Alles in allem war Jimmy Vandermeer ein verdammt guter Reisegefährte gewesen. Dann hatte Ralph seinen Schreibtischjob in der Druckerei bekommen und hatte den Kontakt zu Jimmy verloren. Erst hier draußen hatte er die Verbindung wieder aufleben lassen, und an einigen anderen vagen Orientierungspunkten im Derry der Altvorderen – der Bibliothek, der Billardhalle, dem Hinterzimmer von Duffy Spragues Friseurladen, vier oder fünf anderen. Als Jimmy ihm nach Carolyns Tod erzählt hatte, er hätte Krebs mit einem Lungenflügel weniger, ansonsten aber gut überstanden, war Ralph sofort das Bild des Mannes in Erinnerung gekommen, wie er eine Camelkippe nach der anderen an den Fahrtwind verfütterte, der am schräggestellten Seitenfenster des Autos vorbeirauschte.
Ich hab Glück gehabt, hatte er gesagt. Ich und der Duke, wir haben beide Glück gehabt. Aber offenbar war keinem der beiden das Glück treu geblieben. Nicht, daß es am Ende überhaupt jemandem treu blieb.
»O Mann«, sagte Ralph. »Das ist wirklich traurig.«
»Er ist schon seit fast drei Wochen im Derry Home«, sagte Faye. »Bekommt Bestrahlungen und schluckt Gift, das eigentlich den Krebs töten soll, einen aber fast selbst umbringt. Überrascht mich, daß du das nicht gewußt hast, Ralph.«
Dich vielleicht, aber mich nicht. Weißt du, die Schlaflosigkeit verschluckt so manches. An einem Tag vergißt man, wo die letzte Tüte Cup-A-Soup abgeblieben ist; am nächsten Tag kommt einem das Zeitgefühl abhanden; am Tag danach vergißt man seine alten Freunde.
»Um die Wahrheit zu sagen, mich auch.«
Faye schüttelte den Kopf. »Scheißkrebs. Unheimlich, wie er wartet.«
Ralph nickte und mußte an Carolyn denken. »In welchem Zimmer liegt Jimmy, weißt du das? Vielleicht gehe ich ihn besuchen.«
»Zufällig weiß ich es. 21 j. Glaubst du, du kannst es dir merken?«
Ralph grinste. »Jedenfalls eine Weile.«
»Besuch ihn, wenn du kannst, sicher – sie haben ihn ziemlich unter Drogen gesetzt, aber er weiß noch, wer zu ihm kommt, und ich wette, er würde sich freuen, dich zu sehen. Er hat mir mal erzählt, daß ihr beide früher eine tolle Zeit miteinander gehabt habt.«_ »Na ja, du weißt ja«, sagte Ralph. »Zwei Männer auf Achse, das ist eigentlich schon alles. Wenn wir in einem Restaurant eine Münze um die Rechnung geworfen haben, hat Jimmy V. immer verloren.« Plötzlich war ihm zum Weinen zumute.
»Beschissen, was?« sagte Faye leise.
»Ja.«
»Nun, geh ihn besuchen. Er wird sich freuen, und dir wird es besser gehen. So sollte es jedenfalls sein. Und vergiß nicht das verdammte Schachturnier!« kam Faye zum Ende, streckte sich und unternahm den heldenhaften Versuch, fröhlich auszusehen und zu klingen. »Wenn du jetzt kneifst, versaust du mir die Aufstellung.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Klar, das weiß ich.« Er ballte die Faust und schlug Ralph sanft gegen den Oberarm. »Und noch mal danke, daß du mich daran gehindert hast, etwas zu tun, was mir, du weißt schon, später leid getan hätte.«
»Logisch. Friedensstifter Nummer eins, das bin ich.« Ralph ging den Pfad zur Extension entlang, dann drehte er sich noch einmal um. »Siehst du diese Zufahrt da drüben? Die vom General Aviation Terminal zur Straße führt?« Er zeigte in die Richtung. Ein Lieferwagen fuhr gerade vom Privatterminal weg; seine Windschutzscheibe reflektierte grelle Pfeile des Sonnenlichts in ihre Augen. Der Lieferwagen blieb kurz vor dem Tor stehen und unterbrach die Lichtschranke. Das Tor öffnete sich langsam.
»Klar sehe ich die«, sagte Faye.
»Letzten Sommer habe ich Ed Deepneau auf dieser Straße gesehen, was bedeutet, er hatte eine Karte für das Tor. Hast du eine Ahnung, wie er dazu gekommen sein könnte?«
»Du meinst der Kerl von den Friends of Life? Wissenschaftler, der letzten Sommer erforscht hat, wie man seine Frau verprügelt?«
Ralph nickte. »Aber ich spreche vom Sommer ‘92. Er fuhr einen alten braunen Datsun.«
Faye lachte. »Ich könnte einen Datsun nicht von einem Toyota oder Honda unterscheiden, Ralph – ich kann Autos nicht mehr auseinanderhalten, seit Chevrolet die geschwungenen Heckflossen aufgegeben hat. Aber ich kann dir verraten, wer diese Straße am häufigsten benützt: Zulieferer, Mechaniker, Piloten, Besatzungsmitglieder und Fluglotsen. Manche Passagiere haben Magnetkarten, glaube ich, wenn sie oft privat fliegen. Die einzigen Wissenschaftler, die dort arbeiten, arbeiten in der Luftmeßstation. Ist er so ein Wissenschaftler?«
»Nee, Chemiker. Bis vor kurzem hat er in den Hawking Labors gearbeitet.«
»Hat mit weißen Ratten gespielt, ja? Nun, es gibt keine Ratten im Flughafen – jedenfalls nicht, daß ich wüßte -, aber jetzt, wo ich daran denke, es gibt noch ein paar Leute, die das Tor benutzen.«
»Oh? Wer?«
Faye deutete auf eine Baracke mit Wellblechdach, die etwa siebzig Meter vom General Aviation Terminal entfernt stand. »Siehst du das Gebäude dort? Das ist SoloTech.«
»Was ist SoloTech?«
»Eine Schule«, sagte Faye. »Dort erteilen sie Flugunterricht.«
Als Ralph zur Harris Avenue zurückkehrte, hatte er die großen Hände in die Taschen gesteckt und den Kopf gesenkt, so daß er nicht viel mehr als die Risse im Bürgersteig unter seinen Füßen sah. Sein ganzes Denken kreiste wieder um Ed Deepneau… und SoloTech. Er konnte unmöglich wissen, ob SoloTech der Grund dafür war, daß sich Ed an dem Tag auf dem Flughafengelände aufgehalten hatte, als er auf Mr. West Side Gardeners gestoßen war, aber plötzlich war das eine Frage, die Ralph unbedingt beantwortet haben wollte. Außerdem war er neugierig, wo genau Ed heute wohnen mochte. Er fragte sich, ob John Leydecker seine Neugier hinsichtlich dieser beiden Punkte teilen mochte, und beschloß, es herauszufinden.
Er ging gerade an der unscheinbaren Ladenfassade vorbei, hinter der George Lyford, C. P. A., auf der einen und Maritime Jewelry (WIR KAUFEN IHR ALTES GOLD ZU HÖCHSTPREISEN) auf der anderen Seite untergebracht waren, als ihn ein kurzes, ersticktes Bellen aus seinem Nachdenken riß. Er sah auf und erblickte Rosalie, die dicht beim oberen Eingang des Strawford Park auf dem Bürgersteig saß. Die alte Hündin hechelte kurzatmig; Speichel troff von ihrer hängenden Zunge und bildete eine dunkle Pfütze auf dem Betonboden zwischen ihren Pfoten. Ihr Fell klebte in feuchten Strähnen zusammen, als wäre sie gerannt, und das blaue Tuch um ihren Hals schien im Rhythmus ihres hechelnden Atmens zu beben. Als Ralph sie ansah, stieß sie wieder ein Bellen aus, diesmal aber mehr ein Winseln.
Er schaute über die Straße, was sie anbellen mochte, sah aber nichts außer der Wäscherei Buffy-Buffy. Ein paar Frauen machten sich im Inneren zu schaffen, aber Ralph konnte nicht glauben, daß Rosalie sie anbellte. Und auf dem Bürgersteig vor der Münzwäscherei hielt sich derzeit niemand auf.
Ralph drehte sich wieder um und merkte plötzlich, daß Rosalie nicht nur auf dem Bürgersteig saß, sondern regelrecht dort kroch… kauerte. Sie sah aus, als litte sie Todesangst.
Bis zu diesem Augenblick hatte sich Ralph nie Gedanken darüber gemacht, wie unheimlich menschlich Mienen und Körpersprache von Hunden waren: Sie grinsten, wenn sie glücklich waren, ließen die Köpfe hängen, wenn sie sich schämten, ließen Angst in den Augen und Nervosität an verkrampften Schultern erkennen – genau wie Menschen auch. Und wie die Menschen drückten sie äußerste Angst durch ein Zittern am ganzen Körper aus.
Er sah wieder über die Straße zu der Stelle, der Rosalies Aufmerksamkeit zu gelten schien, und konnte wieder nur die Wäscherei und den menschenleeren Bürgersteig davor erkennen. Dann fiel ihm plötzlich Natalie ein, das Verherrlichte
& Angebetete Baby, das nach den grau-blauen Spuren seiner Finger griff, als er ihm die Milch vom Kinn wischen wollte. Für jeden anderen mußte es ausgesehen haben, als hätte sie ins Leere gegriffen, so wie Babys immer ins Leere zu greifen schienen… aber Ralph hatte es besser gewußt.
Er hatte es besser gesehen.
Rosalie stieß eine Kette panischer Kläfflaute aus, die sich für Ralphs Ohren wie das Quietschen ungeölter Scharniere anhörten.
Bis jetzt ist es immer von selbst passiert… aber vielleicht kann ich es herbeiführen. Vielleicht kann ich bewirken, daß ich sie sehe—
Daß du was siehst?
Nun, die Auren. Die Auren natürlich. Und vielleicht das, was Rosalie (drei-sechs-neun) gerade sah. Ralph hatte schon eine Ahnung, (die Gans trank Wein) was es sein würde, aber er wollte Gewißheit. Die Frage war, wie er es anstellen sollte.
Wie sieht ein Mensch überhaupt?
Natürlich indem er erstmal genau hinsieht.
Ralph sah genau zu Rosalie hin. Betrachtete sie sehr sorgfältig und versuchte, alles zu sehen, was es zu sehen gab: das verblichene Muster des blauen Tuchs, das ihr als Halsband diente, die staubigen und verfilzten Strähnen in ihrem ungepflegten Fell, die graumelierte lange Schnauze. Nach einigen Augenblicken schien sie seinen Blick zu spüren, denn sie drehte sich um, sah ihn an und winselte nervös.
Dabei spürte Ralph, wie sich in seinem Geist etwas drehte es fühlte sich wie der Anlasser eines Autos an. Er hatte das kurze, aber sehr eindeutige Gefühl, plötzlich leichter zu sein, und dann strömte Helligkeit in den Tag ein. Er hatte den Weg zurück in die klarere, deutlicher strukturierte Welt gefunden. Er sah eine trübe Membran – sie erinnerte ihn an verdorbenes Eiweiß – um Rosalie herum entstehen, dann die dunkelgraue Ballonschnur, die von ihr aufstieg. Aber ihr Ursprung war nicht der Schädel, wie bei den Menschen, die Ralph in diesem Zustand erweiterter Wahrnehmung gesehen hatte; Rosalies Ballonschnur stieg von ihrer Schnauze auf.
Jetzt kennst du den grundlegendsten Unterschied zwischen Hunden und Menschen, dachte er. Ihre Seelen sitzen an verschiedenen Stellen.
[Hündchen! Hierher, Hündchen, komm hierher!]
Ralph zuckte zusammen und schrak vor dieser Stimme zurück, die sich anhörte, als würde Kreide über eine Tafel kratzen. Er hob die Hände fast bis zu den Ohren, bis ihm klar wurde, daß das nichts nützen würde; er hörte es eigentlich gar nicht mit den Ohren, und die Stimme tat am meisten tief in seinem Kopf weh, wo er mit den Händen nicht hinkam.
[He, du beschissener Flohträger! Glaubst du, ich hab den ganzen Tag Zeit? Schlepp deinen zottigen Arsch hierher!]
Rosalie winselte und sah von Ralph wieder dorthin, wo sie zuvor schon hingesehen hatte. Sie wollte sich aufrichten, ließ sich aber wieder auf die Hinterbeine nieder. Das Tuch, das sie trug, zitterte mehr denn je, und Ralph sah, wie sich ein dunkler Fleck um ihre linke Flanke herum ausbreitete, als ihre Blase sich entleerte.
Er sah auf die andere Straßenseite und erblickte Doc Nr. 3, der in seinem weißen Kittel (der ziemlich verdreckt war, wie Ralph feststellte, als hätte er ihn schon lange Zeit an) und seinen Liliputaner-Bluejeans zwischen der Wäscherei und dem alten Mietshaus daneben stand. Auf dem Kopf trug er immer noch McGoverns Panamahut. Jetzt schien der Hut aber auf den Ohren der Kreatur zu sitzen; der Hut war so groß, daß der halbe Kopf darin zu verschwinden schien. Das Wesen grinste den Hund tückisch an, und Ralph sah eine Doppelreihe spitzer weißer Zähne – die Zähne eines Kannibalen. In der linken Hand hielt er etwas, bei dem es sich entweder um ein Skalpell oder ein Rasiermesser handelte. Ein Teil von Ralphs Verstand versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß es Blut war, das er auf der Klinge sah, aber er war ziemlich sicher, daß es sich nur um Rost handelte.
Doc Nr. 3 steckte die beiden ersten Finger seiner rechten Hand in die Mundwinkel und stieß einen gellenden Pfiff aus, der wie ein Bohrer in Ralphs Kopf eindrang. Auf dem Bürgersteig zuckte Rosalie zurück und stieß ein kurzes Heulen aus.
[Schlepp deinen Kadaver hier rüber, Rover! Auf der Stelle!]
Rosalie stand auf, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und hinkte zur Straße. Sie winselte unentwegt, und die Angst machte ihr Hinken so schlimm, daß sie sich kaum fortschleppen konnte; bei jedem zögernden, schlurfenden Schritt drohten die Hinterbeine unter ihr wegzurutschen.
[»He!«]
Ralph merkte erst, daß er geschrien hatte, als er die kleine blaue Wolke vor seinem Gesicht schweben sah. Sie war mit silbernen Linien durchzogen, Altweibersommer gleich, wodurch sie wie eine Schneeflocke aussah.
Der kahlköpfige Zwerg wirbelte in die Richtung herum, aus der Ralphs Aufschrei gekommen war, und hob dabei instinktiv die Waffe. Seine Miene drückte wütende Überraschung aus. Ralph konnte Rosalie am linken Rand seines Gesichtsfelds sehen. Sie war mit den Vorderpfoten im Rinnstein stehengeblieben und sah ihn mit großen, ängstlichen braunen Augen an.
[Was willst du denn, Kurzer?]
Die Stimme drückte Wut darüber aus, daß sie unterbrochen worden war, Wut über die Herausforderung… aber Ralph fand, daß darunter auch noch andere Empfindungen mitschwangen. Angst? Er wünschte, er könnte es glauben. Verwirrung und Überraschung schienen wahrscheinlicher zu sein. Was auch immer diese Kreatur sein mochte, sie schien es nicht gewöhnt zu sein, von Leuten wie Ralph gesehen, geschweige denn herausgefordert zu werden.
[Was ist los mit dir, Kurzfristiger, hat eine Katze deine Zunge gefressen? Oder hast du schon vergessen, was du wolltest?]
[»Ich möchte daß du diesen Hund in Ruhe läßt!«]
Ralph hörte sich auf zwei verschiedene Weisen. Er war ziemlich sicher, daß er laut sprach, aber der Klang seiner Stimme war fern und blechern, wie Musik aus den Kopfhörern eines Walkman, die vorübergehend beiseite gelegt worden sind. Wenn jemand unmittelbar neben ihm gestanden hätte, hätte er vielleicht hören können, was Ralph sagte, aber Ralph wußte, die Worte hätten sich wie das klägliche, atemlose Keuchen eines Mannes angehört, der gerade einen Schlag in den Magen bekommen hat. In seinem Kopf jedoch hörte er sich an wie seit Jahren nicht mehr -jung, kräftig und voller Selbstvertrauen.
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Doc Nr. 3 mußte seine Worte auf die zweite Weise gehört haben, denn er zauderte einen Augenblick und hob erneut einen Augenblick die Waffe (Ralph war jetzt fast sicher, daß es sich um ein Skalpell handelte) wie zur Selbstverteidigung. Dann schien er sich wieder zu fangen. Er ging vom Bürgersteig zum Rand der Harris Avenue und blieb auf dem laubübersäten Grasstreifen zwischen Bürgersteig und Straße stehen. Er zupfte am Bund seiner Jeans, die er unter dem schmutzigen Kittel hochzog, und sah Ralph einige Momente grimmig an. Dann hob er das rostige Skalpell in die Luft und machte eine unangenehme, vielsagende sägende Geste damit.
[Du kannst mich sehen – tolle Geschichte! Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen, Kurzfristiger! Der Köter gehört mir!]
Der kahlköpfige Doc drehte sich wieder zu dem ängstlichen Hund um.
[Ich habe es satt, mich mit dir rumzuärgern, Rover! Komm hierher! Sofort!]
Rosalie schenkte Ralph einen flehenden, verzweifelten Blick und begann, die Straße zu überqueren.
Ich mische mich nicht in langfristige Geschäfte ein, hatte der alte Dor an dem Tag zu ihm gesagt, als er ihm den Gedichtband von Stephen Dobyns gegeben hatte. Ich habe dir gesagt, daß du es auch nicht tun solltest.
Ja, das hatte er tatsächlich, aber Ralph hatte das Gefühl, daß es jetzt zu spät war. Und selbst wenn nicht, er hatte keineswegs die Absicht, Rosalie diesem unangenehmen kleinen Gnom zu überlassen, der auf der anderen Straßenseite vor der Münzwäscherei stand. Das hieß, nicht, wenn er es verhindern konnte.
[»Rosalie! Komm hierher, Mädchen! Los!«]
Rosalie stieß ein kurzes Bellen aus und kam zu Ralph getrottet. Sie versteckte sich hinter seinem rechten Bein, setzte sich und sah hechelnd zu ihm auf. Und Ralph sah noch einen Ausdruck, den er mühelos lesen konnte: ein Teil Erleichterung und zwei Teile Dankbarkeit.
Das Gesicht von Doc Nr. 3 verzerrte sich zu einer so haßerfüllten Grimasse, daß es fast wie eine Karikatur aussah.
[Du solltest sie besser herüberschicken, Kurzer! Ich warne dich!]
[»Nein!«]
[Ich mach dich zur Sau, Kurzer. Ich mach dich im großen Stil zur Sau. Und ch mach deine Freunde zur Sau. Hast du mich verstanden? Hast du… ]
Ralph hob plötzlich eine Hand mit nach innen gekehrter Handfläche zum Kopf, als wollte er einen Karateschlag führen. Er ließ die Hand herunterfahren und sah zu seinem Erstaunen, wie ein gebündelter blauer Lichtstrahl von seinen Fingerspitzen flog und wie ein Speer über die Straße sauste. Doc Nr. 3 duckte sich gerade noch rechtzeitig und legte eine Hand auf McGoverns Panama, damit er nicht fortflog. Der blaue Strahl zischte sechs bis acht Zentimeter über die kleine Hand hinweg und prallte gegen das Fenster des Buffy-Buffy. Dort breitete er sich wie eine übernatürliche Flüssigkeit aus, und einen Augenblick nahm die staubige Scheibe die klare, blaue Farbe des Himmels an. Diese verblaßte nach einem Moment wieder, und Ralph konnte die Frauen in der Wäscherei sehen, die ihre Wäsche zusammenlegten und die Waschmaschinen füllten, als wäre nichts geschehen.
Der kahlköpfige Zwerg streckte sich, ballte die Hände zu Fäusten und drohte Ralph damit. Dann riß er McGoverns Hut vom Kopf, steckte die Krempe in den Mund und biß ein Stück davon ab. Während er dieses bizarre Gegenstück zum Wutanfall eines Kindes ausführte, ließ die Sonne feurige Funken von seinen kleinen, perfekt geformten Ohrläppchen abprallen. Er spie den Mundvoll Stroh aus und setzte sich den Hut wieder auf den Kopf.
[Dieser Hund hat mir gehört, Kurzer! Ich wollte mit ihm spielen! Ich schätze, ich werde statt dessen mit dir spielen müssen, hm? Und mit deinen Freunden, den Arschlöchern!]
[»Verzieh dich.«]
[Fotzenlecker! Du hast deine Mutter gefickt und ihre Fotze geleckt!]
Ralph wußte genau, wo er diesen netten Spruch schon einmal gehört hatte: von Ed. Deepneau, draußen beim Flughafen, an dem Tag, als er den Mann im Ford Ranger geschlagen hatte. So etwas vergaß er nicht. Und mit einemmal hatte er schreckliche Angst. Wo, in Gottes Namen, war er da nur hineingestolpert?
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Ralph hob die Hand wieder zum Kopf, aber etwas in seinem Inneren hatte sich verändert. Er hätte sie wieder heruntersausen lassen können, war aber fest davon überzeugt, daß diesmal kein blauer Strahl herauskommen würde.
Aber der Doc schien nicht zu wissen, daß er mit einer leeren Waffe bedroht wurde. Er wich zurück und hob die Hand mit dem Skalpell zu einer abwehrenden Geste. Der grotesk angebissene Hut rutschte ihm in die Augen, und einen Augenblick sah er wie eine melodramatische Bühnenversion von Jack the Ripper aus… einer, der durch extreme Kleinwüchsigkeit bedingte pathologische Perversionen auslebte.
[Das wirst du mir büßen, Kurzer1. Wart’s nur ab! Wirst schon sehen! Kein Kurzfristiger hält mich zum Narren!]
Aber vorläufig hatte der kleine kahlköpfige Doktor genug. Er wirbelte herum und lief den unkrautüberwucherten Weg zwischen der Wäscherei und dem Mietshaus entlang, und sein schmutziger, zu langer Kittel flatterte um die Beine der Jeans. Mit ihm verschwand die Helligkeit aus dem Tag. Ralph verfolgte seine Flucht zum größten Teil mit Sinnen, von denen er nicht einmal etwas geahnt hatte. Er fühlte sich hellwach, belebt und explodierte fast vor entzückter Aufregung.
Ich habe ihn vertrieben, bei Gott! Ich habe den kleinen Hurensohn vertrieben!
Er hatte keine Ahnung, was die Kreatur in dem weißen Kittel tatsächlich sein konnte, aber er wußte, er hatte Rosalie davor gerettet, und das genügte vorerst. Wenn er morgen in den frühen Morgenstunden in seinem Ohrensessel saß und auf die verlassene Straße hinuntersah, stellten sich vielleicht wieder nagende Zweifel an seinem Geisteszustand ein… aber im Augenblick fühlte er sich pudelwohl.
»Du hast ihn gesehen, Rosalie, oder nicht? Du hast den häßlichen kleinen -«
Er sah nach unten, stellte fest, daß Rosalie nicht mehr neben seinem Fuß saß, und konnte gerade noch erkennen, wie sie in den Park hinkte – sie ließ den Kopf hängen, und ihr rechtes Bein wurde bei jedem schmerzhaften Schritt steif abgespreizt.
»Rosalie!« rief er. »He, Mädchen!« Und ohne zu wissen warum
– davon abgesehen, daß sie beide gerade etwas Außergewöhnliches durchgemacht hatten -, folgte Ralph ihr in den Park, zuerst gehend, dann laufend, und zuletzt in einem regelrechten Sprint.
Aber er sprintete nicht lange. Ein Schmerz wie der Stich einer heißen Chromnadel bohrte sich in seine linke Seite und breitete sich dann über die ganze linke Hälfte seines Brustkorbs aus. Er blieb dicht innerhalb des Parks stehen, bückte sich an der Kreuzung zweier Wege und stemmte die Hände dicht oberhalb der Knie an die Beine. Schweiß lief ihm in die Augen und brannte wie Tränen. Er keuchte abgehackt und fragte sich, ob es sich um ein ganz normales Seitenstechen handeln konnte, wie er es von den letzten Metern des HighSchool-Wettlauf s über eine Meile in Erinnerung hatte, oder ob sich so ein tödlicher Herzinfarkt ankündigte.
Nach dreißig oder vierzig Sekunden ließen die Schmerzen allmählich nach, daher war es vielleicht doch nur ein Seitenstechen gewesen. Aber es stützte McGoverns These nicht unerheblich, oder? Ich will dir was sagen, Ralph – in unserem Alter sind Geisteskrankheiten was ganz Normales! In unserem Alter sind sie was völlig Normales! Ralph wußte nicht, ob das stimmte, aber er wußte, die Zeit, als er an dem Rennen teilgenommen hatte, lag über ein halbes Jahrhundert zurück, daher war es dumm und wahrscheinlich gefährlich gewesen, einfach so hinter Rosalie herzulaufen. Wenn er einen Herzanfall bekommen hätte, dann wäre er wahrscheinlich nicht der einzige alte Mann gewesen, der mit einer Koronarthrombose dafür bestraft wurde, wenn er sich aufregte und vergaß, daß man die Achtzehn für immer überschritten hatte, wenn man sie einmal überschritten hatte.
Die Schmerzen waren fast abgeklungen, als er wieder zu Atem kam, aber seine Beine schienen immer noch weich zu sein, als könnten sie an den Knien abknicken und ihn ohne Vorwarnung auf den Kiesboden stürzen lassen. Ralph hob den Kopf, schaute zur nächsten Bank und sah etwas, bei dem er streunende Hunde, wacklige Beine und sogar mögliche Herzanfälle im Handumdrehen vergaß. Die nächste Bank lag zwölf Meter entfernt am linken Weg auf einem sanft geschwungenen Hügel. Lois Chasse saß in ihrem guten blauen Herbstmantel auf dieser Bank. Sie trug Handschuhe, hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und schluchzte, als würde ihr das Herz brechen.
Kapitel 12
»Was hast du, Lois?«
Sie sah zu ihm auf, und Ralph erschrak im ersten Moment. Der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war eine Erinnerung: an ein Theaterstück, das er vor acht oder neun Jahren mit Carolyn im Penobscot Theater in Bangor besucht hatte. Einige der Personen darin waren angeblich tot gewesen, und ihr Make-up bestand aus weißer Clownsschminke mit dunklen Ringen unter den Augen, die den Eindruck riesiger, leerer Augenhöhlen vermitteln sollten.
Sein zweiter Gedanke war einfacher: Waschbär.
Sie sah ihm ein paar seiner Gedanken entweder an oder wußte, wie sie aussehen mußte, denn sie wandte sich ab, machte sich kurz am Griff ihrer Handtasche zu schaffen und hob dann einfach die Hände, um das Gesicht dahinter zu verbergen.