Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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»Ralph?« sagte Lois plötzlich besorgt. »Alles in Ordnung?« »Ja«, sagte er und sah wieder auf seine Hände. »Ja, klar.« »Du hast einen Gesichtsausdruck gehabt, als ob… nun, ich weiß auch nicht.«
Ralph fragte sich, ob das Zusammenwirken von Hitze und dem Spaziergang den Up-Mile Hill hinauf sein Gehirn doch ein bißchen durcheinandergebracht hatte. Schließlich war das Lois, die McGovern immer (mit einer klein wenig sardonisch hochgezogenen linken Augenbraue) »unsere Lois« nannte. Und ja, okay, sie war immer noch gut in Form – feste Beine, ansehnlicher Busen und diese bemerkenswerten Augen -, und möglicherweise würde es ihm nichts ausmachen, sie mit ins Bett zu nehmen, und möglicherweise würde es ihr nichts ausmachen, mitgenommen zu werden. Aber was würde danach kommen? Wenn sie die Kinokarte sah, die aus dem Buch herausragte, das er gerade las, würde sie sie auch herausziehen, weil sie zu neugierig war, welchen Film er gesehen hatte, um auf sein Lesezeichen zu achten?
Ralph glaubte nicht. Lois’ Augen waren bemerkenswert, und er hatte mehr als einmal festgestellt, wie sein Blick das V ihrer Bluse hinunterwanderte, wenn sie zu dritt auf der vorderen Veranda saßen und an kühlen Abenden Eistee tranken, aber er hatte eine Ahnung, daß der kleine Mann den großen Mann auch mit siebzig noch in Schwierigkeiten bringen konnte. Alt zu werden war keine Entschuldigung dafür, sorglos zu werden.
Er stand auf und spürte, wie Lois ihn ansah, weshalb er sich besonders um eine aufrechte Haltung bemühte. »Danke für deine Anteilnahme«, sagte er. »Möchtest du einen alten Mann die Straße hoch bringen?«
»Danke, aber ich fahre in die Innenstadt. Sie haben ein wunderschönes rosa Garn im Sewing Circle, und ich habe an einen Teppich gedacht. Derweil werde ich einfach hier auf den Bus warten und mich über meine Gutscheine freuen.«
Ralph grinste. »Mach das.« Er sah zu den Kindern auf dem Baseballfeld. Vor seinen Augen startete ein Junge mit einem außergewöhnlichen roten Haarschopf vom dritten Mal, warf sich mit dem Kopf voran nach vorne und prallte mit einem vernehmlichen Klonk mit den Schienbeinschonern des Fängers zusammen. Ralph zuckte zusammen und dachte an Krankenwagen mit Blinklichtem und heulenden Sirenen, aber der Rotschopf sprang lachend wieder auf die Füße.
»Hast nicht berührt, du Flasche!« rief er.
»Einen Scheißdreck hab ich!« antwortete der Fänger beleidigt, aber dann fing er auch an zu lachen.
»Wünschst du dir manchmal, du wärst auch noch in dem Alter, Ralph?« fragte Lois.
Er dachte darüber nach. »Manchmal«, sagte er. »Meistens sieht es mir einfach zu anstrengend aus. Komm heute abend vorbei, Lois – setz dich eine Weile zu uns.«
»Könnte ich machen«, sagte sie, und Ralph ging die Harris Avenue entlang, spürte den Blick ihrer bemerkenswerten Augen im Rücken und gab sich große Mühe, ihn geradezuhalten. Er dachte, daß es ihm ziemlich gut gelang, aber es war Schwerstarbeit. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so müde gefühlt.
Kapitel 2
Ralph vereinbarte keine Stunde nach seiner Unterhaltung mit Lois auf der Parkbank einen Termin mit Dr. Litchfield; die Arzthelferin mit der kühlen, sexy Stimme sagte ihm, sie könnte ihn am nächsten Dienstag vormittag um zehn eintragen, ob es ihm recht wäre, und Ralph sagte ihr, das wäre astrein. Dann legte er auf, ging in sein Wohnzimmer, setzte sich in den Sessel mit Blick auf die Harris Avenue und dachte daran, wie Dr. Litchfield den Gehirntumor seiner Frau anfangs mit Tylenol-3 und Broschüren über verschiedene Entspannungstechniken behandelt hatte. Dann ging er weiter zum Ausdruck in Litchfields Augen, als die Magnetresonanztomographietests die bösen Ergebnisse der CAT-Scans bestätigt hatten… den Ausdruck von Schuldbewußtsein und Unbehagen.
Auf der anderen Straßenseite kamen ein paar Kinder, die bald wieder in der Schule sein würden, mit Schokoriegeln und Slurpies aus dem Red Apple. Während Ralph ihnen zusah, wie sie auf ihre Fahrräder stiegen und in der grellen Elf-Uhr-Hitze davonfuhren, dachte er, was er immer dachte, wenn die Erinnerung an Dr. Litchfields Augen an die Oberfläche kam: daß es höchstwahrscheinlich eine falsche Erinnerung war.
Es ist so, alter Freund, du wolltest, daß Litchfield unbehaglich aussieht… aber noch mehr wolltest du, daß er schuldbewußt aussieht.
Wahrscheinlich war das zutreffend, wahrscheinlich war Carl Litchfield eine Seele von Mensch und ein super Arzt, aber Ralph stellte trotzdem fest, daß er eine halbe Stunde später wieder in Litchfields Praxis anrief. Er sagte der Arzthelferin mit der sexy Stimme, daß er gerade in seinen Terminkalender gesehen und festgestellt hätte, daß nächsten Dienstag um zehn doch nicht so gut wäre. Er hätte an dem Tag einen Termin bei der Fußpflege, den er vollkommen vergessen hätte.
»Mein Gedächtnis ist nicht mehr, was es einmal war«, sagte Ralph zu ihr.
Die Arzthelferin schlug nächsten Donnerstag um zwei vor. Ralph entgegnete, er würde zurückrufen.
Lügen haben kurze Beine, dachte er, als er den Hörer auflegte, langsam zum Sessel zurückging und sich darauf niederließ. Du bist fertig mit ihm, oder nicht?
Er ging davon aus. Nicht, daß Dr. Litchfield deswegen schlaflose Nächte haben würde; wenn er überhaupt an Ralph dachte, dann als einen alten Tattergreis weniger, der ihm bei der Prostata-Untersuchung ins Gesicht furzte.
Na gut, und was willst du gegen die Schlaflosigkeit tun, Ralph?
»Eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen still dasitzen und klassische Musik hören«, sagte er laut. »Und ein paar Pampers kaufen, falls die Natur doch ihr Recht verlangt.«
Er war selbst erstaunt, als er laut lachte, wie er sich vorstellte, wie er in seinem Sessel saß und nichts außer einer Wegwerfwindel für Erwachsene trug, während er Bach hörte. Das Lachen hatte einen hysterischen Unterton, der ihm nicht besonders gefiel – er war sogar verdammt unheimlich -, aber es dauerte trotzdem eine Weile, bis er wieder aufhören konnte.
Und doch vermutete er, daß er Hamilton Davenports Vorschlag ausprobieren würde (aber auf die Windeln würde er verzichten, herzlichen Dank), wie er die meisten Hausmittel ausprobiert hatte, die ihm wohlmeinende Zeitgenossen anvertraut hatten. Dabei mußte er an sein erstes Bona-fide-Hausmittel denken, und das bewirkte ein neuerliches Grinsen.
Es war McGoverns Vorschlag gewesen. Er hatte am Abend auf der Veranda gesessen, als Ralph mit Nudeln und Spaghettisauce aus dem Red Apple zurückkam, hatte seinen Nachbarn vom Stock über sich angesehen, ein Tss-tss von sich gegeben und traurig den Kopf geschüttelt.
»Was soll das heißen?« fragte Ralph und setzte sich neben ihn. Ein Stück weiter die Straße hinunter hatte ein kleines Mädchen in Jeans und einem zu großen weißen T-Shirt in der zunehmenden Düsternis gesungen und Seilhüpfen gespielt.
»Es heißt, daß du übernächtigt, hohlwangig und verstümmelt aussiehst«, sagte McGovern. Er schob den Panamahut auf dem Kopf mit dem Daumen zurück und sah Ralph eingehend an. »Immer noch kein Schlaf?«
»Immer noch kein Schlaf«, stimmte Ralph zu.
McGovern schwieg ein paar Augenblicke. Als er wieder sprach, geschah es in einem Tonfall absoluter – sogar beinahe apokalyptischer – Endgültigkeit. »Die Lösung ist Whiskey«, sagte er.
»Pardon?«
»Für deine Schlaflosigkeit, Ralph. Ich meine nicht, daß du darin baden solltest – dazu besteht kein Grund. Du solltest einfach einen Eßlöffel Honig mit einem halben Glas Whiskey mischen und das fünfzehn oder zwanzig Minuten, bevor du dich in die Falle haust, trinken.«
»Meinst du?« hatte Ralph hoffnungsvoll gefragt.
»Ich kann nur sagen, daß es mir geholfen hat, und ich hatte wirklich Schlafstörungen, als ich um die Vierzig war. Wenn ich heute zurückdenke, schätze ich, daß das meine Midlife-Crisis gewesen sein muß – sechs Monate Schlaflosigkeit und ein Jahr lang Depressionen wegen meiner kahlen Stelle.«
Obwohl in allen Büchern, die er konsultiert hatte, zu lesen stand, daß Alkohol ein weit überschätztes Mittel gegen Schlaflosigkeit sei – daß er das Problem nicht selten schlimmer statt besser mache -, hatte Ralph es trotzdem versucht. Er war nie ein nennenswerter Trinker gewesen, daher reduzierte er McGoverns empfohlene Dosis von einem halben Glas auf ein Viertelglas, aber nach einer Woche ohne Besserung hatte er sie auf ein volles Glas hochgeschraubt… dann zwei. Er wachte um 4:22 Uhr mit garstigen Kopfschmerzen auf, die den dumpfen braunen Geschmack von Early Times auf seinem Gaumen begleiteten, und hatte festgestellt, daß er mit dem ersten Kater seit fünfzehn Jahren aufgewacht war.
»Das Leben ist zu kurz für diesen Quatsch«, verkündete er seiner leeren Wohnung, und das war das Ende des großen Whiskeyexperiments gewesen.
2
Okay, dachte Ralph jetzt, während er den sporadischen Strom der Kunden beobachtete, die auf der anderen Straßenseite ins Red Apple hinein und wieder heraus gingen. Das ist die Situation: McGovern sagt, du siehst beschissen aus, heute morgen bist du fast vor Lois Chasse ohnmächtig geworden, und du hast gerade einen Termin beim alten Hausarzt abgesagt. Was nun? Läßt du es einfach dabei bewenden? Akzeptierst du die Situation und beläßt es dabei?
Der Gedanke besaß einen gewissen orientalischen Charme -Schicksal, Karma, und so weiter -, aber er würde mehr als Charme brauchen, um die langen, frühen Morgenstunden zu überstehen. In den Büchern stand, daß es Menschen auf der Welt gab, und nicht einmal wenige, die ganz gut mit nicht mehr als drei oder vier Stunden Schlaf täglich auskamen. Es gab sogar einige, denen reichten zwei. Sie waren eine extrem kleine Minderheit, aber sie existierten. Ralph Roberts jedoch gehörte nicht zu ihnen.
Wie er aussah, war ihm nicht besonders wichtig – er hatte das Gefühl, daß seine Tage als Fernseh-Idol vorbei waren -, aber wie er sich fühlte, das war ihm wichtig, und es ging nicht mehr darum, daß er sich schlecht fühlte, er fühlte sich beschissen. Die Schlaflosigkeit durchdrang jeden Aspekt seines Lebens, so wie der Geruch von brutzelndem Knoblauch im vierten Stock letztendlich das ganze Gebäude durchzieht. Die Umwelt verlor ihre Farben; die Welt nahm das graue, körnige Aussehen eines Zeitungsfotos an.
Einfache Entscheidungen – zum Beispiel ob er sich ein tiefgekühltes Fertiggericht auftauen oder sich im Red Apple ein Sandwich holen und zum Picknickplatz an der Startbahn 3 gehen sollte – wurden schwierig, fast quälend. In den vergangenen zwei Wochen war er immer häufiger mit leeren Händen von Dave’s Video Stop zurückgekommen, aber nicht, weil er bei Dave nichts fand, das er sehen wollte, sondern weil es zuviel gab – er konnte sich nicht entscheiden, ob er einen der Dirty Harry-Filme, eine Komödie mit Billy Crystal oder ein paar der alten Folgen von Raumschiff Enterprise sehen wollte. Nach ein paar erfolglosen Ausflügen war er in seinen Sessel gefallen und hatte vor Frustration fast geweint… und vor Angst, vermutete er.
Die schleichende Lähmung der Sinne und die Erosion seiner Entscheidungsfähigkeit waren aber nicht die einzigen Probleme, die er mit seiner Schlaflosigkeit in Verbindung brachte; sein Kurzzeitgedächtnis ließ ebenfalls deutlich nach. Er ging gewohnheitsmäßig mindestens einmal pro Woche ins Kino, mitunter zweimal, seit er von der Druckerei, wo er als Buchhalter und Mädchen für alles gearbeitet hatte, in den Ruhestand geschickt worden war. Bis letztes Jahr hatte er Carolyn mitgenommen, dann war sie so krank geworden, daß sie sich an nichts mehr erfreuen konnte. Nach ihrem Tod war er meistens alleine gegangen, nur ein-oder zweimal hatte ihn Helen Deepneau begleitet, wenn Ed zu Hause auf das Baby aufpaßte (Ed selbst ging fast nie aus; er behauptete, daß er im Kino Kopfschmerzen bekam). Ralph hatte die automatische Telefonauskunft des Kinos so häufig angewählt, um Anfangszeiten zu erfahren, daß er die Nummer auswendig kannte. Aber im Verlauf des Sommers mußte er sie immer häufiger in den Gelben Seiten nachschlagen – er war nicht mehr sicher, ob die letzten Ziffern 1317 oder 1713 waren.
»Sie sind 1713«, sagte er jetzt. »Ich weiß es.« Aber wußte er es wirklich?
Ruf Litchfield zurück. Los doch, Ralph – hör auf, in den Trümmern zu wühlen. Tu etwas Produktives. Und wenn dir Litchfield tatsächlich so gegen den Strich geht, dann ruf einen anderen Arzt an. Im Telefonbuch stehen mehr Ärzte denn je.
Das stimmte wahrscheinlich, aber mit siebzig war man vielleicht ein bißchen zu alt, um sich einen neuen Knochenflicker nach der Eene-meene-mu-Methode auszusuchen. Und Litchfield würde er nicht zurückrufen. Definitiv.
Okay, was dann, du störrischer alter Bock? Noch ein paar Hausmittel? Ich hoffe nicht, denn bei deinem Verschleiß wirst du in Null Komma nichts bei Lurchaugen und Krötenzungen landen.
Die Lösung, die ihm einfiel, war wie ein kühles Lüftchen an einem heißen Tag… und es war eine grotesk simple Lösung. Seine Lektüre den ganzen Sommer über hatte darauf abgezielt, das Problem zu verstehen, statt eine Lösung dafür zu finden. Wenn es um Lösungen ging, hatte er sich fast ausschließlich auf private Hausmittelchen wie Whiskey und Honig verlassen, selbst wenn die Bücher ihm versichert hatten, daß sie gar nicht oder nur kurze Zeit helfen würden. Obwohl man in den Büchern ein paar angeblich zuverlässige Methoden nachlesen konnte, mit Schlaflosigkeit fertigzuwerden, hatte Ralph bisher nur die einfachste und einsichtigste ausprobiert: früher am Abend ins Bett zu gehen. Diese Lösung hatte nicht funktioniert – er hatte einfach bis halb zwölf oder so wachgelegen, war dann eingeschlafen und zu einem neuen, früheren Zeitpunkt aufgewacht -, aber möglicherweise half etwas anderes.
Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
3
Statt den Nachmittag mit seiner üblichen hektischen Gartenarbeit zu verbringen, ging Ralph in die Bibliothek und blätterte ein paar Bücher durch, die er schon gelesen hatte. Der allgemeine Konsens schien zu sein, wenn es nichts half, früher ins Bett zu gehen, dann vielleicht, wenn man später ging. Ralph kehrte von verhaltener Hoffnung erfüllt nach Hause zurück (eingedenk seines früheren Abenteuers mit dem Bus). Es könnte klappen. Und wenn nicht, blieben ihm immer noch Bach, Beethoven und William Ackerman.
Sein erster Versuch, diese Technik auszuprobieren, die in einem der Bücher als »Schlafverzögerung« bezeichnet wurde, endete komisch. Er erwachte zur inzwischen üblichen Zeit (3:45, wie ihm die Digitaluhr auf dem Kaminsims im Wohnzimmer verriet) mit wundem Rücken und schmerzendem Hals und hatte zunächst keine Ahnung, wie er in den Sessel am Fenster gelangt war und weshalb der Fernseher lief, der außer Schnee und einem leisen, brandungsähnlichen Rauschen nichts sendete.
Erst als er den Kopf vorsichtig drehte und dabei den Nacken mit der Hand stützte, wurde ihm klar, was geschehen war. Er hatte vorgehabt, bis mindestens drei, wenn möglich vier Uhr wachzubleiben. Dann wollte er ins Bett gehen und den Schlaf des Gerechten schlafen. So jedenfalls hatte der Plan ausgesehen. Statt dessen war der Superschlaflose der Harris Avenue bei Jay Lenos Eröffnungsmonolog eingenickt wie ein Kind, das versucht, die ganze Nacht aufzubleiben, nur um zu sehen, wie es ist. Und dann hatte das Abenteuer selbstverständlich seinen Abschluß damit gefunden, daß er zur gewohnten Zeit wieder aufgewacht war. Das Problem war dasselbe, würde Joe Friday wahrscheinlich gesagt haben; nur der Schauplatz hatte sich verändert.
Ralph schlenderte trotzdem ins Bett und hoffte entgegen jeder Hoffnung, aber der Drang (wenn nicht das Bedürfnis) zu schlafen, war vergangen. Nachdem er eine Stunde wachgelegen hatte, war er wieder zu seinem Sessel gegangen, diesmal mit einem Kissen, das er hinter seinen steifen Hals steckte, und einem reumütigen Grinsen im Gesicht.
Sein zweiter Versuch, der in der darauffolgenden Nacht stattfand, hatte nichts Komisches. Die Müdigkeit stellte sich zur gewohnten Zeit ein – 23:20, als Pete Cherney gerade die Wettervorhersage für den folgenden Tag verlas. Diesmal kämpfte Ralph erfolgreich dagegen an und schaffte es, bis Whoopi wachzubleiben (obwohl er bei Whoopis Unterhaltung mit Roseanne Arnold, dem Gast des heutigen Abends, fast eingenickt wäre), ind dann bis zum anschließenden Spätfilm. Es handelte sich um einen alten Streifen mit Audie Murphy, in dem Audie den Krieg im Pazifik praktisch im Alleingang zu gewinnen schien. Manchmal hatte Ralph den Eindruck, als existiere eine unausgesprochene Abmachung zwischen den lokalen Fernsehsendern, wonach Filme, die in den frühen Morgenstunden gesendet wurden, nur Audie Murphy oder James Brolin in den Hauptrollen haben durften.
Nachdem der letzte japanische Bunker gesprengt worden war, verabschiedete sich Kanal 2. Ralph schaltete herum und suchte nach einem anderen Film, fand aber nichts als Flimmern. Er vermutete, wenn er Kabel gehabt hätte, hätte er die ganze Nacht Filme sehen können, wie Bill oder Lois; er erinnerte sich, daß er es auch auf seine Liste zu erledigender Dinge im neuen Jahr geschrieben hatte. Aber dann war Carolyn gestorben, und Kabelfernsehen schien – mit oder ohne Home Box Office – nicht mehr wichtig zu sein.
Er fand eine Ausgabe von Sports Illustrated und las einen Artikel über Damentennis durch, den er beim erstenmal vergessen hatte, und sah immer wieder auf die Uhr, als sich die Zeiger der Drei näherten. Er war fast überzeugt, daß es funktionieren würde. Seine Lider waren so schwer, daß ihm schien, sie wären in Beton getunkt worden, und obwohl er den Tennisartikel gründlich las, Wort für Wort, hatte er keine Ahnung, worauf der Verfasser hinauswollte. Ganze Sätze schössen durch sein Gehirn, ohne sich festzusetzen, wie kosmische Strahlen.
Ich werde heute nacht schlafen – das glaube ich wirklich. Zum erstenmal seit Monaten wird die Sonne ohne meine Hilfe aufgehen müssen, und das ist nicht nur gut, Freunde und Nachbarn, das ist großartig.
Kurz nach drei Uhr löste sich die angenehme Schläfrigkeit dann langsam auf. Sie ging nicht mit einem Knall, wie ein Sektkorken, sondern schien wegzutröpfeln wie Sand durch ein feines Sieb oder Wasser einen teilweise verstopften Abfluß hinunter. Als Ralph feststellte, was passierte, verspürte er keine Panik, sondern niedergeschlagene Resignation. Er kannte das Gefühl als wahres Gegenteil von Hoffnung, und als er um Viertel nach drei mit seinen Hausschuhen ins Schlafzimmer schlurfte, konnte er sich nicht erinnern, schon einmal eine Depression erlebt zu haben wie die, die ihn jetzt umfing. Ihm war, als müßte er daran ersticken.
»Bitte, Gott, nur ein kleines Nickerchen«, murmelte er, als er das Licht ausschaltete, aber er vermutete sehr, daß dieses Gebet nicht erhört werden würde.
Es wurde nicht erhört. Inzwischen war er fast vierundzwanzig Stunden wach, aber um Viertel vor vier war jedes Quentchen Müdigkeit aus seinem Geist und seinem Körper verschwunden. Er war müde, ja – müder und erschöpfter als jemals zuvor in seinem Leben -, aber müde und schläfrig zu sein, hatte er feststellen müssen, waren mitunter nicht immer dasselbe. Der Schlaf, der unparteiische Freund, die beste und zuverlässigste Krankenschwester der Menschheit seit Anbeginn der Zeit, hatte ihn wieder im Stich gelassen.
Um vier Uhr war ihm sein Bett verhaßt geworden, wie immer wenn er feststellte, daß er es nicht seinem Verwendungszweck zuführen konnte. Er schwang die Füße wieder auf den Boden und kratzte sich das – inzwischen fast graue Haar, das sich aus dem weitgehend aufgeknöpften Pyjamaoberteil kräuselte. Er schlüpfte in die Hausschuhe und schlurfte ins Wohnzimmer zurück, wo er sich in seinen Ohrensessel fallenließ und auf die Harris Avenue hinausschaute. Diese lag wie eine Bühnenkulisse vor ihm, und der einzige Schauspieler, der im Augenblick zu sehen war, war nicht einmal ein Mensch: Es war ein streunender Hund, der langsam Richtung Strawford Park und Up-Mile Hill die Harris Avenue entlanglief. Er hielt das linke Hinterbein so weit wie möglich hoch und hinkte so gut es ging auf den drei anderen.
»Hallo, Rosalie«, murmelte Ralph und strich sich mit einer Hand über die Augen.
Es war Donnerstag morgen, in der Harris Avenue wurde der Müll abgeholt, daher war er nicht überrascht, Rosalie hier zu sehen, die seit etwa einem Jahr quasi als wanderndes Inventar die Gegend unsicher machte. Sie schlich gemächlich die Straße entlang und untersuchte die Reihen und Gruppen der Mülltonnen so wählerisch wie ein Flohmarktprofi.
Rosalie – die heute morgen schlimmer denn je hinkte und so müde aussah wie Ralph sich fühlte – fand etwas, das wie ein mittelgroßer Rinderknochen aussah, und hinkte mit diesem Knochen im Maul davon. Ralph sah ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war, dann saß er einfach mit den Händen im Schoß da und betrachtete die stille Nachbarschaft, wo die grellen orangefarbenen Lampen die Illusion verstärkten, daß Harris Avenue eine Kulisse war, die nach Beendigung der Abendvorstellung, als die Schauspieler nach Hause gegangen waren, einsam und verlassen zurückgeblieben war; die Lampen leuchteten wie Scheinwerfer, eine perfekte, immer kleiner werdende Reihe, deren Perspektive wie eine Halluzination wirkte.
Ralph Roberts saß in dem Ohrensessel, wo er in letzter Zeit so viele frühe Morgenstunden verbracht hatte, und wartete darauf, daß Licht und Bewegung die leblose Welt unter ihm erfüllen würden. Schließlich betrat der erste menschliche Schauspieler -Pat, der Zeitungsjunge, der auf seinem Raleigh fuhr – die Bühne. Er radelte die Straße herauf, warf zusammengerollte Zeitungen aus dem Beutel, den er über der Schulter hängen hatte, und traf die Veranden, die er anvisierte, mit hinreichend großer Treffsicherheit.
Ralph beobachtete ihn eine Weile, dann stieß er ein Seufzen aus, das sich anhörte, als wäre es von ganz unten aus dem Keller gekommen, und stand auf, um sich Tee zu machen.
»Ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals etwas von dieser Scheiße in meinem Horoskop gelesen habe«, sagte er hohl, dann drehte er den Wasserhahn in der Küche auf und füllte den Kessel.
5
Der lange Donnerstagvormittag und der noch längere Donnerstagnachmittag lehrten Ralph Roberts eine wertvolle Lektion: drei oder vier Stunden Schlaf täglich nicht verächtlich abzutun, nur weil er sein ganzes Leben von der irrigen Voraussetzung ausgegangen war, daß er ein Anrecht auf mindestens sechs, normalerweise sieben Stunden hatte. Außerdem diente er als gräßliche Vorschau. Wenn sich sein Zustand nicht besserte, konnte er sich darauf einstellen, daß er sich bald meistens so fühlen würde. Verdammt, immer. Er ging um zehn Uhr ins Bett und dann wieder um eins und hoffte auf ein kleines Nickerchen – ein paar Minuten die Augen zumachen hätte ihm schon gereicht, und für eine halbe Stunde hätte er sein Leben hingegeben -, aber er konnte nicht einmal dösen. Er war erbärmlich müde, aber kein bißchen schläfrig.
Gegen drei Uhr beschloß er, sich eine Packung Lipton Cup-A-Soup zu machen. Er füllte den Teekessel mit frischem Wasser, stellte ihn auf die Herdplatte und machte den Schrank über dem Tresen auf, wo er Gewürze, Würzmischungen und verschiedene Tüten mit Essen aufbewahrte, die nur Astronauten und alte Männer tatsächlich zu sich zu nehmen schienen – Pulver, die der Verbraucher nur mit heißem Wasser aufgießen mußte.
Er schob ziellos Dosen und Flaschen herum und starrte dann einfach eine Weile in den Schrank, als würde er darauf warten, daß der Karton mit den Suppentüten auf wundersame Weise in dem freien Raum auftauchte, den er geschaffen hatte. Als das nicht geschah, wiederholte er den Vorgang, aber diesmal schob er alles wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück, bevor er wieder mit dem Ausdruck geistesabwesender Verwirrung hinstarrte, der (was Ralph barmherzigerweise nicht wußte) allmählich sein vorherrschender Gesichtsausdruck wurde.
Als der Teekessel pfiff, stellte er ihn auf eine der hinteren Platten und sah weiter in den Schrank. Dann dämmerte ihm sehr, sehr langsam -, daß er die letzte Packung Suppe gestern oder vorgestern aufgegossen haben mußte, obwohl er sich nicht daran hätte erinnern können, wenn sein Leben auf dem Spiel gestanden hätte.
»Ist das eine Überraschung?« fragte er die Kartons und Flaschen in dem offenen Schrank. »Ich bin so müde, daß ich mich nicht einmal an meinen eigenen Namen erinnern kann.«
Doch, das kann ich, dachte er. Er ist Leon Redbone. Na also!
Es war kein besonders guter Witz, trotzdem spürte er, wie ein zaghaftes Lächeln – leicht wie eine Feder – seine Lippen umspielte. Er ging ins Bad, kämmte sich das Haar und ging nach unten. Hier ist Audie Murphy auf dem Weg in feindliches Gebiet, um Vorräte zu beschaffen, dachte er. Primäres Ziel: ein Karton Lipton Cup-A-Soup Reis und Hühnerbrühe. Sollte es sich als unmöglich erweisen, dieses Ziel zu finden und anzuvisieren, werde ich auf das sekundäre Ziel ausweichen: Nudeln und Rindfleisch. Ich weiß, es ist ein riskantes Unternehmen, aber…
»… aber ich arbeite am besten allein«, sagte er laut, als er auf die Veranda trat.
Die alte Mrs. Perrine ging vorbei und warf Ralph einen stechenden Blick zu, sagte aber nichts. Er wartete, bis sie ein Stück weitergegangen war – er fühlte sich nicht imstande, heute nachmittag mit jemandem ein Gespräch zu führen, schon gar nicht mit Mrs. Perrine, die mit ihren zweiundachtzig immer noch nützliche Arbeit bei den Marines auf Parris Island gefunden hätte. Er tat so, als würde er den Farn betrachten, der vom Haken unter dem Giebel der Veranda hing, bis sie ihn sicherer Entfernung zu sein schien, dann überquerte er die Harris Avenue und betrat das Red Apple. Und da fing der Ärger des Tages erst richtig an.
Er betrat den Gemischtwarenladen, staunte wieder über das spektakuläre Scheitern des Schlafverzögerungsexperiments und fragte sich, ob die Ratschläge in den Büchern aus der Bibliothek nichts weiter waren als hochtrabende Versionen der Hausmittel, die ihm seine Bekannten nur zu gerne aufschwatzen wollten. Es war ein unangenehmer Gedanke, aber er glaubte, daß sein Verstand (oder die Kraft unter seinem Verstand, die für diese langsame Tortur verantwortlich zeichnete) ihm eine Botschaft geschickt hatte, die noch unangenehmer war: Du hast ein Schlaffenster, Ralph. Es ist nicht so groß, wie es einmal war, und es wird mit jeder Woche, die verstreicht, kleiner, aber du solltest besser dankbar für das sein, was du hast, denn ein kleines Fenster ist besser als gar kein Fenster. Das siehst du jetzt ein, oder?
»Ja«, murmelte Ralph, während er den Mittelgang entlang zu den hellroten Kartons mit Cup-A-Soup ging. »Das sehe ich jetzt voll und ganz ein.«
Sue, die Nachmittagskassiererin, lachte fröhlich. »Sie müssen Geld auf der Bank haben, Ralph«, sagte sie.
»Pardon?« Ralph drehte sich nicht um; er begutachtete die roten Kartons. Da war Zwiebel… Erbsen… Rindfleisch mit Nudeln… aber wo, zum Teufel, war Huhn mit Reis?
»Meine Mom hat immer gesagt, Leute, die Selbstgespräche führen, haben… O mein Gott!«
Einen Augenblick glaubte Ralph, sie hätte eine Bemerkung gemacht, die einfach zu komplex für seinen übermüdeten Verstand war, etwa daß Leute, die Selbstgespräche führten, Gott gefunden hätten, aber dann schrie sie. Er hatte sich gebückt, um die Kartons auf dem untersten Regal zu betrachten, aber bei dem Schrei schnellte er so ruckartig und hastig wieder hoch, daß seine Knie knackten. Er wirbelte zum Eingang des Ladens herum, stieß mit dem Ellbogen gegen den oberen Teil des Suppenregals und stieß ein halbes Dutzend rote Kartons in den Mittelgang.
»Sue? Was ist denn?«
Sue beachtete ihn gar nicht. Sie sah zur Tür hinaus, preßte die zur Faust geballte Hand an die Lippen und riß die braunen Augen darüber auf. »O Gott, seht euch das viele Blut an!« schrie sie mit erstickter Stimme.
Ralph drehte sich noch weiter herum, stieß einige weitere Lipton-Kartons auf den Boden und sah zum schmutzigen Schaufenster des Red Apple hinaus. Was er sah, entlockte ihm einen tiefen Seufzer, und er brauchte einige Sekunden – fünf, möglicherweise -, bis er erkannte, daß es sich bei der blutenden, verprügelten Frau, die auf das Red Apple zutaumelte, um Helen Deepneau handelte. Ralph hatte Helen stets für die hübscheste Frau im westlichen Teil der Stadt gehalten, aber heute hatte sie nichts Hübsches an sich. Eines ihrer Augen war so geschwollen, daß sie es nicht mehr aufbekam; an der linken Schläfe hatte sie eine Platzwunde, die bald zwischen den purpurnen Schwellungen verschwinden würde; ihre gesprungenen Lippen und Wangen waren mit Blut bedeckt. Das Blut kam aus ihrer Nase, die immer noch triefte. Sie schwankte wie eine Betrunkene über den Parkplatz des Red Apple auf die Tür zu, aber ihr unversehrtes Auge schien nichts zu sehen; es starrte nur blicklos.
Aber noch beängstigender als ihr Aussehen war die Art, wie sie mit Natalie umging. Sie hatte das brüllende, verängstigte Baby beiläufig um eine Hüfte geschwungen und trug es, wie sie vor zwölf Jahren ihre Bücher zur High School getragen haben könnte.
»O Gott, sie wird das Kind fallenlassen!« schrie Sue, aber obwohl sie zehn Schritte näher bei der Tür war als er, bewegte sie sich nicht – sie blieb einfach stehen, wo sie war, preßte die Hände auf den Mund, und ihre Augen schienen das ganze Gesicht verschlingen zu wollen.
Plötzlich fühlte sich Ralph überhaupt nicht mehr müde. Er sprintete den Gang entlang, riß die Tür auf und lief nach draußen. Er kam gerade noch rechtzeitig, um Helen an den Schultern zu halten, als diese mit der Hüfte an die Kühltruhe stieß – glücklicherweise nicht die Hüfte, auf der Natalie ruhte und in eine andere Richtung weitertorkelte.
»Helen!« rief er. »Mein Gott, Helen, was ist denn passiert?«
»Hmh?« fragte sie mit dumpf neugieriger Stimme, die keine Ähnlichkeit mit der Stimme der munteren jungen Frau hatte, die ihn manchmal ins Kino begleitete und wegen Mel Gibson seufzte. Ihr gutes Auge drehte sich zu ihm, und er sah dieselbe dumpfe Neugier darin, ein Ausdruck, der zeigte, sie wußte nicht, wer sie war, geschweige denn, wo sie war oder was geschehen war, oder wann. »Hmh? Ral? Wa?«
Das Baby rutschte. Ralph ließ Helen los, griff nach Natalie und schaffte es, einen Träger ihrer Strampelhose zu fassen zu bekommen. Nat schrie, ruderte mit den Händen und sah ihn mit ihren großen, dunkelblauen Augen an. Er schob die andere Hand einen Augenblick bevor der Träger der Strampelhose riß, zwischen Nats Beine. Einen Moment lang balancierte das weinende Baby auf seiner Hand wie ein Turner auf dem Schwebebalken, und Ralph konnte den feuchten Wulst seiner Windeln durch den Overall spüren, den es trug. Dann schob er die andere Hand hinter seinen Rücken und drückte es an seine Brust. Sein Herz schlug heftig, und obwohl er das Baby nun sicher in Händen hielt, sah er es immer noch wegrutschen, sah den Kopf mit dem seidenweichen Haar mit einem ekelerregenden Knirschen auf den abfallübersäten Asphalt prallen.