Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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[»Wenn es sein muß, werde ich dir dabei helfen.«]
Das rührte ihn auf absurde Weise… und er gab sich allergrößte Mühe, den Rest seiner Gedanken vor ihr zu verbergen: daß sie nur noch deshalb bei ihm war, damit er sie im Auge behalten und beschützen konnte. Der Gedanke rief ihm die Ohrringe wieder ins Gedächtnis zurück, aber er verdrängte das Bild hastig, weil er nicht wollte, daß sie seiner Aura etwas ansah -oder es auch nur vermutete.
Derweil waren Lois’ Gedanken in eine andere, etwas sicherere Richtung abgeschweift.
[»Selbst wenn wir reingehen und wieder rauskommen, ohne daß er auftaucht, wird er wissen, daß jemand da gewesen ist, oder nicht? Und wahrscheinlich wird er auch wissen, wer es war.«]
Ralph konnte es nicht bestreiten, sah aber nicht, was das großartig ausmachen sollte; sie hatten keine Alternative, zumindest momentan. Sie würden einen Schritt nach dem anderen machen und einfach hoffen, daß sie den morgigen Sonnenaufgang noch erleben würden. Aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn wahrscheinlich lieber verschlafen, dachte Ralph, und ein kleines, sehnsüchtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Herrgott, es scheint Jahre her zu sein, seit ich zum letztenmal ausgeschlafen habe. Von da aus schweiften seine Gedanken zu Carolyns Lieblingsspruch ab, daß es ein langer Weg zurück ins Paradies war. Im Augenblick schien ihm, als wäre es das Paradies, einfach mal bis zum Mittag zu schlafen… oder ein bißchen länger.
Er nahm Lois’ Hand, dann folgten sie weiter der Spur von Atropos.
Zwölf Meter östlich des Sturmzauns an der Grenze des Flughafens hörten die rostigen Schienen auf. Atropos’ Spur allerdings ging weiter, wenn auch nicht lange; Ralph war ziemlich sicher, daß er die Stelle sehen konnte, wo sie aufhörte, und das Bild, daß er und Lois an die Speichen eines großen Rads gebunden waren, kam ihm wieder in den Sinn. Wenn er recht hatte, dann war Atropos’ Bau nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo Ed auf den dicken Mann mit den Düngerfässern auf der Ladefläche seines Pickups gestoßen war.
Windstöße trugen einen ekelhaften, fauligen Geruch aus unmittelbarer Nähe herbei, und aus etwas größerer Entfernung die Stimme von Faye Chapin, der jemandem mit seinem Lieblingsthema auf den Geist ging: »… was ich immer sage! Mah-jongg ist wie Schach, Schach ist wie das Leben, wenn man also eins von beiden spielen kann -« Der Wind legte sich wieder. Ralph konnte Fayes Stimme immer noch hören, wenn er die Ohren spitzte, aber die einzelnen Worte bekam er nicht mehr mit. Aber das machte nichts. Er hatte die Ansprache oft genug gehört und wußte ziemlich gut, wie sie ging. [»Ralph, dieser Gestank ist gräßlich! Oder etwa nicht?«] Er nickte, glaubte aber nicht, daß Lois ihn sah. Sie hielt seine Hand fest zwischen ihren beiden und sah mit großen Augen starr geradeaus. Die fleckige Spur, die vor den Türen des Bürgerzentrums angefangen hatte, endete sechzig Meter entfernt am Stamm einer windschiefen abgestorbenen Eiche. Die Ursache dafür, daß der Baum abgestorben war und nun so schief dastand, war offensichtlich: Eine Seite des stattlichen Relikts war von einem Blitz wie eine Banane geschält worden. Die Risse und Furchen und Wölbungen der grauen Rinde schienen die Umrisse halb versunkener Gesichter zu bilden, die lautlose Schreie ausstießen, und der Baum streckte die nackten Äste wie grimmige Schriftzeichen in den Himmel… sie hatten, jedenfalls in Ralphs Phantasie, eine unheimliche Ähnlichkeit mit den japanischen Schriftzeichen für Kamikaze. Der Blitz, der das Ende des Baums besiegelt hatte, hatte ihn nicht umwerfen können, aber er hatte sich auf jeden Fall größte Mühe gegeben. Der Teil des verzweigten Wurzelsystems Richtung Flughafen war aus dem Boden herausgerissen worden. Diese Wurzeln waren unter dem Maschendrahtzaun hindurchgewachsen und hatten ihn ein Stück weit in die Höhe gedrückt, eine glockenförmige Kurve, bei deren Anblick Ralph zum erstenmal seit Jahren an einen Freund aus Kindertagen namens Charles Engstrom denken mußte.
»Spiel nicht mit Chuckie«, pflegte Ralphs Mutter zu sagen. »Er ist ein schmutziger Junge. Ralph wußte nicht, ob Chuckie ein schmutziger Junge war oder nicht, aber er war total Banane, das stand fest. Chuckie Engstrom versteckte sich gerne mit einem langen Zweig, den er seinen »Spickestab« nannte, hinter dem Baum im Vorgarten seines Hauses. Wenn eine Frau im Rock vorbeikam, schlich Chuckie ihr auf Zehenspitzen hinterher, steckte den Zweig unter den Rocksaum und hob ihn hoch. Meistens konnte er die Farbe der Unterwäsche erkennen (die Farbe von Damenunterwäsche faszinierte Chuckie ungeheuer), bis ihnen klar wurde, was vor sich ging, und sie den hysterisch kichernden Jungen bis zu seinem Haus verfolgten und drohten, sie würden es seiner Mutter erzählen. Der Flughafenzaun, den die Wurzeln der alten Eiche aus dem Boden gezogen und nach oben gedrückt hatten, erinnerte Ralph daran, wie die Röcke von Chuckies Opfern ausgesehen hatten, wenn er sie mit seinem Spickestab hochgehoben hatte.
[»Ralph?«]
Er sah sie an.
[»Wer ist Biggy Stab? Und warum denkst du ausgerechnet jetzt an sie?«]
Ralph prustete vor Lachen.
[»Hast du das in meiner Aura gesehen?«]
[»Wahrscheinlich – ich kann es nicht mehr sagen. Wer ist sie?«]
[»Erzähl ich dir ein andermal. Komm jetzt.«]
Er nahm ihre Hand, dann gingen sie langsam auf die Eiche zu, wo Atropos’ Spur aufhörte, und in den immer stärkeren Fäulnisgeruch hinein, der seine Duftnote war.
Kapitel 25
Sie standen am Fuß der Eiche und sahen nach unten. Lois nagte zwanghaft an ihrer Unterlippe.
[»Müssen wir da runter, Ralph? Müssen wir wirklich?«]
[»Ja.«]
[»Aber warum? Was sollen wir tun? Atropos aussperren? Den Bau niederbrennen? Etwas zurückholen, das er gestohlen hat? Ihn töten? Was?«]
Er wußte es nicht davon abgesehen, daß er Joes Kamm und Lois’ Ohrringe wiederhaben wollte… aber er war sicher, er würde es wissen, sie beide würden es wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen war.
[»Ich glaube, im Augenblick sollten wir einfach nur in Bewegung bleiben, Lois.«]
Der Blitz hatte wie eine kräftige Hand gewirkt, den Baum brutal nach Osten gestoßen und gleichzeitig ein klaffendes Loch am Wurzelansatz der Westseite gerissen. Für einen Mann oder eine Frau mit dem Sehvermögen der Kurzfristigen hätte dieses Loch zweifellos dunkel ausgesehen – und mit seinen abbröckelnden Rändern und den kaum sichtbaren Wurzeln, die sich im Inneren wanden wie Schlangen, vielleicht ein wenig furchteinflößend, aber ansonsten nicht besonders ungewöhnlich.
Ein Kind mit einer ausgeprägten Phantasie würde vielleicht mehr sehen, dachte Ralph. Der dunkle Raum unter dem Baumstamm weckt vielleicht Gedanken an Piratenschätze… Verstecke von Banditen… die Höhle eines Trolls…
Aber Ralph glaubte, daß nicht einmal das phantasievollste Kind das düstere rote Leuchten würde sehen können, das unter dem Baum hervordrang, oder daß die zuckenden Wurzeln in Wirklichkeit holperige Sprossen waren, die an einen unbekannten (und zweifellos unerfreulichen) Ort hinabführten.
Nein – nicht einmal ein phantasievolles Kind würde das sehen… aber möglicherweise spüren.
Richtig. Und wenn es genügend Verstand hatte, würde es weglaufen als wären ihm sämtliche Dämonen der Hölle auf den Fersen. Wie er und Lois, wenn sie der Vernunft gehorchen würden. Wären da nicht Lois’ Ohrringe. Wäre da nicht Joe Wyzers Kamm. Wäre da nicht sein eigener verlorener Platz im Plan. Und wären da selbstverständlich nicht Helen (und möglicherweise Nat) und die zweitausend anderen, die sich heute abend im Bürgerzentrum aufhalten würden. Lois hatte recht. Sie mußten etwas tun, und wenn sie jetzt kniffen, würde dieses Etwas für immer ungeschehenes Geschehen bleiben.
Und das sind die Seile, dachte er. Die Seile, mit denen die Mächtigen uns arme, verwirrte kurzfristige Kreaturen an ihr Rad fesseln.
Er stellte sich Klotho und Lachesis nun durch eine helle Linse des Hasses vor, und er dachte, wenn die beiden jetzt hier wären, hätten sie einen ihrer unsicheren Blicke gewechselt und wären einen Schritt oder zwei zurückgewichen.
Und dazu hätten sie einen Grund gehabt, dacht er. Allen Grund.
[»Ralph? Was ist los? Warum bist du so wütend?«]
Er hob ihre Hand an die Lippen und küßte sie.
[»Nichts weiter. Komm mit. Gehen wir, bevor wir den Mut verlieren.«]
Sie sah ihn noch einen Moment an, dann nickte sie. Und als Ralph die Beine in das klaffende, mit Wurzeln eingefaßte Loch am Fuß des Baums steckte, war sie direkt neben ihm.
Ralph rutschte auf dem Rücken unter den Baum und hielt die freie Hand vor das Gesicht, damit ihm keine Erde in die offenen Augen fiel. Er versuchte, nicht zusammenzuzucken, wenn Wurzeln ihm über den Hals strichen oder sich ihm in den Rücken bohrten. Der Geruch unter dem Baum war so durchdringend, daß man ihn fast greifen konnte, ein abstoßender Affenhausgestank, bei dem einem kotzübel wurde. Er konnte sich einreden, daß er sich daran gewöhnen würde, bis er ganz unter dem Loch in der Eiche war, doch dann ging es nicht mehr. Er stützte sich auf einen Ellbogen und spürte, wie kleinere Wurzeln nach seiner Kopfhaut griffen und baumelnde Rindenstücke ihm die Wangen streichelten, und dann gab er das gesamte Frühstück von sich, das sich noch im Vorratstank befand. Er konnte hören, wie Lois links von ihm seinem Beispiel folgte.
Eine schrecklicher, von Schwindel begleiteter Schwächeanfall schlug über ihm zusammen wie eine Welle am Strand. Der Gestank war so überwältigend, daß er ihn fast zu essen schien, und er konnte die rote Substanz, der sie zu diesem Ort des Grauens unter dem Baum gefolgt waren, überall auf seinen Händen und Armen sehen. Es war schlimm gewesen, das Zeug nur anzusehen; jetzt badete er regelrecht darin, um Gottes willen.
Etwas griff nach seiner Hand, und er ließ sich fast von seiner Panik überwältigen, bis ihm klar wurde, daß es Lois war. Er verschränkte seine Finger mit ihren.
[»Ralph, du mußt ein Stückchen emporsteigen! Dann ist es besser! Du kannst atmen!«]
Er begriff sofort, was sie meinte, und mußte sich zurückhalten, sich im letzten Moment wieder tiefer sinken lassen. Hätte er das nicht getan, wäre er wie eine Rakete mit vollem Schub die Leiter der Wahrnehmung hinaufgeschossen.
Die Welt flackerte, und plötzlich schien etwas mehr Licht in diesem stinkenden Loch zu sein… und auch etwas mehr Platz. Der Geruch verschwand nicht, aber er wurde erträglich. Jetzt war es, als hielte man sich in einem kleinen Zelt voller Leute mit schmutzigen Füßen und Achselschweiß auf – nicht angenehm, aber man konnte damit leben, jedenfalls eine Weile.
Ralph stellte sich plötzlich das Zifferblatt einer Taschenuhr vor, deren Zeiger sich rasch bewegten. Ohne den erstickenden Geruch war es besser, aber dennoch blieb es ein gefährlicher Aufenthaltsort – angenommen, sie kämen erst morgen früh hier wieder heraus, und das Bürgerzentrum wäre nur noch ein rauchendes Loch an der Main Street? Und das war nicht ausgeschlossen. Hier unten war es unmöglich, die Zeit zu messen – kurzfristig, langfristig oder wie auch immer. Der Gedanke an sich war ein Witz.
Laß gut sein, Ralph-du kannst nichts dagegen tun, und du mußt atmen, also laß es gut sein.
Er versuchte es, und dabei fiel ihm ein, daß der alt Dor am Tag, als Ed mit dem Lastwagen von Mr. West Side Gardeners zusammengestoßen war, hundertprozentig recht gehabt hatte; es war besser, sich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Und doch waren sie hier, der älteste Peter Pan und die älteste Wendy der Welt, und glitten unter einem verzauberten Baum in eine schleimige Unterwelt hinab, die keiner von ihnen sehen wollte.
Lois sah ihn an, das widerliche rote Leuchten erhellte ihr Gesicht, und ihre Augen blickten ängstlich umher. Er sah dunkle Spuren auf ihrem Bonn und stellte fest, daß es sich um Blut handelte. Sie nagte nicht mehr nur an ihrer Unterlippe, sie biß regelrecht hinein.
[»Ralph, alles in Ordnung?«]
[»Ich kann mit einem hübschen Mädchen unter eine alte Eiche kriechen, und da fragst du noch? Mir geht es bestens, Lois. Aber ich denke, wir sollten uns besser beeilen.«]
[»Gut.«]
Er tastete unter sich herum und stellte den Fuß auf eine knorrige Eichenwurzel. Sie hielt sein Gewicht aus, und er ließ sich den steinigen Hang hinunterrutschen, zwängte sich unter einer weiteren Wurzel durch und hielt Lois dabei um die Taille gefaßt. Ihr Rock rutschte bis zu den Oberschenkeln hoch, und Ralph mußte wieder kurz an Chuckie Engstrom und seinen Spickestab denken. Er stellte amüsiert und verärgert zugleich fest, daß Lois sich bemühte, den Rock wieder nach unten zu ziehen.
[»Ich weiß, daß eine Dame nach Möglichkeit immer versucht, den Rock unten zu lassen, aber ich glaube, wenn man unter alten Eichen in Trollhöhlen hinabrutscht, geht diese Regel über Bord. Okay?«]
Sie schenkte ihm ein verlegenes, ängstliches Lächeln.
[»Wenn ich gewußt hätte, was wir vorhaben, hätte ich Hosen angezogen. Ich dachte, wir würden nur ins Krankenhaus gehen.«]
Wenn ich gewußt hätte, was wir vorhaben, dachte Ralph, hätte ich meine Aktien verkauft, sich abzeichnende Baisse am Aktienmarkt hin oder her, und hätte uns zwei Flugtickets nach Rio gekauft, Teuerste.
Er tastete mit einem Fuß umher, weil er wußte, wenn er abrutschte, würde er wahrscheinlich an einem Ort weit außerhalb der Reichweite der Ambulanzen von Derry landen. Direkt vor seinen Augen kam ein rötlicher Wurm aus dem Boden und ließ kleine Erdkrümel auf Ralphs Stirn rieseln.
Scheinbar eine Ewigkeit lang spürte er nichts, dann fand sein Fuß glattes Holz – diesmal keine Wurzel, sondern so etwas wie eine richtige Stufe. Er rutschte nach unten, ohne Lois’ Taille loszulassen, und wartete, ob das Ding, worauf er stand, unter ihrer beider Gewicht zerbrechen würde.
Es hielt und war breit genug für sie beide. Ralph sah nach unten und stellte fest, daß es sich um die oberste Stufe einer schmalen Treppe handelte, die in eine rot getönte Dunkelheit hinabführte. Sie war für ein – und möglicherweise von einem -Geschöpf gebaut worden, das viel kleiner als sie selbst war, weshalb sie sich ducken mußten, aber es war immer noch besser als der Alptraum der letzten Augenblicke.
Ralph sah Tageslicht durch das gezackte Loch über ihnen, und seine Augen schauten mit einem Ausdruck dümmlicher Sehnsucht aus seinem schmutzigen, schweißüberströmten Gesicht. Das Tageslicht war ihm noch nie so verlockend und so fern vorgekommen. Er drehte sich zu Lois um und nickte ihr zu. Sie drückte seine Hand und erwiderte das Nicken. Gebückt und jedesmal zusammenzuckend, wenn eine herabhängende Wurzel ihnen über die Hälse strich, gingen sie die Treppe hinunter.
Der Abstieg schien endlos zu sein. Das rote Licht wurde heller, der Gestank von Atropos durchdringender, und Ralph stellte fest, daß sie beide »emporstiegen«, während sie nach unten gingen; ihnen blieb keine andere Wahl, wenn sie nicht von dem Gestank überwältigt werden wollten. Er redete sich immer wieder ein, daß sie nur taten, was sie tun mußten, daß bei einem Unternehmen dieser Bedeutung jemand den Zeitplan im Auge behalten würde -jemand, der ihnen einen Stoß versetzte, wenn es zu knapp wurde -, aber Sorgen machte er sich trotzdem. Denn möglicherweise gab es keinen mit einer Stoppuhr, keinen Unparteiischen oder Linienrichter in Zebrastreifenhemden. Alles ist offen, hatte Klotho gesagt.
Als Ralph sich gerade fragte, ob die Treppe bis in die Hölle hinunterführte, hörte sie auf. Ein kurzer, gemauerter Korridor, nicht höher als ein Meter zwanzig und etwa sechs Meter lang, führte zu einem Torbogen. Dahinter flackerte und pulsierte das rote Leuchten wie der Widerschein eines Brennofens.
[»Komm mit Lois, aber rechne mit allem. Rechne mit ihm.«]
Sie nickte, zog ihren rutschenden Slip wieder hoch und ging neben ihm den schmalen Flur entlang. Ralph trat gegen etwas, das kein Stein war, und bückte sich, um es aufzuheben. Es war ein roter Plastikzylinder, an einem Ende breiter als am anderen. Nach einem Moment wurde ihm klar, worum es sich handelte: um den Griff eines Springseils. Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein.
Misch dch in nichts ein, was dich nichts angeht, Kurzfristiger, hatte Atropos gesagt, aber er hatte sich eingemischt, und nicht nur deswegen, was die kleinen kahlköpfigen Ärzte Ka nannten. Er hatte sich eingemischt, weil ihn doch etwas anging, was der kleine Dreckskerl vorhatte, auch wenn dieser das Gegenteil denken mochte. Derry war seine Stadt, Lois Chasse war seine Freundin, und Ralph verspürte den aufrichtigen Wunsch in sich, Doc Nr. 3 dafür büßen zu lassen, daß er Lois’ Diamantohrringe genommen hatte.
Er warf den Griff des Springseils weg und ging weiter. Einen Augenblick später gingen er und Lois unter dem Torbogen durch, blieben wie angewurzelt stehen und sahen in Atropos’ unterirdische Behausung. Mit den ineinander verschränkten Händen und den aufgerissenen Augen sahen sie mehr denn je wie Kinder in einem Märchen aus – nicht wie Peter Pan und Wendy, sondern wie Hansel und Gretel, die nach tagelangem Herumirren im dichten Wald das Knusperhaus der Hexe gefunden hatten.
[»Oh, Ralph. O mein Gott, Ralph… siehst du das?«]
[»Pssst, Lois.«]
Direkt vor ihnen lag eine kleine, finstere Kammer, die Küche und Schlafzimmer in einem zu sein schien. Der Raum wirkte schmutzig und unheimlich zugleich. In der Mitte stand ein niederer runder Tisch, bei dem es sich, wie Ralph annahm, um das abgesägte Oberteil eines Fasses handelte. Die Überreste einer Mahlzeit – ein grauer, ranziger Brei, der wie aufgelöste Hirnmasse aussah, die in einer gesprungenen Suppenterrine gerann – stand darauf. Es gab einen einzigen schmutzigen Klappstuhl. Rechts vom Tisch stand eine primitive Kommode, die aus einer rostigen Stahltonne bestand, auf der eine Toilettenschüssel balancierte. Ein unvorstellbar übler Gestank ging davon aus. Einziger Schmuck des Zimmers war ein Spiegel mit Messingrahmen an einer Wand, dessen Oberfläche durch das Alter so nachgedunkelt und beschlagen war, daß Ralph und Lois darin aussahen, als würden sie drei Meter unter der Wasseroberfläche treiben.
Links von dem Tisch befand sich eine karge Schlafgelegenheit, die aus einer schmutzigen Matratze und einem mit Stroh oder Federn vollgestopften Jutesackbestand. Auf diesem Kissen und der Matratze, auf der es lag, leuchtete der nächtliche Schweiß der Kreatur, die hier zu schlafen pflegte. Die Träume in diesem Jutekissen würden mich in den Wahnsinn treiben, dachte Ralph.
Irgendwo, Gott allein wußte, wie tief unter der Erde, tropfte Wasser.
Auf der anderen Seite der Behausung befand sich ein zweiter Torbogen, hinter dem sie eine vollgestopfte, surrealistische Rumpelkammer erkennen konnten. Ralph blinzelte tatsächlich zwei-oder dreimal, um ganz sicher zu sein, daß er tatsächlich sah, was er zu sehen glaubte.
Genau das ist die Stelle, dachte er. Was immer wir suchen, es ist hier.
Lois ging wie hypnotisiert auf den zweiten Torbogen zu. Ihre Lippen bebten ängstlich, aber in ihren Augen stand eine hilflose Neugier – ganz bestimmt hatte Blaubarts Frau denselben Gesichtsausdruck gehabt, als sie den Schlüssel im Schloß des verbotenen Zimmers ihres Mannes umgedreht hatte. Ralph war plötzlich überzeugt, daß Atropos mit hoch erhobenem rostigen Skalpell direkt hinter diesem Torbogen lauern würde. Er eilte hinter Lois her und hielt sie auf, bevor sie durchgehen konnte. Er hielt sie am Oberarm fest, legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf, bevor sie sprechen konnte.
Er kauerte sich nieder und preßte die Finger einer Hand auf den gestampften Boden, wodurch er wie ein Läufer aussah, der auf den Knall der Startpistole wartet. Dann schnellte er durch den Torbogen (und genoß die blitzschnelle Reaktion seines Körpers selbst in diesem Augenblick), landete auf der Schulter und rollte sich ab. Mit den Füßen traf er eine Pappschachtel, die ein Durcheinander von Gegenständen preisgab, als sie umkippte: Handschuhe und Socken, die nicht zusammenpaßten, ein paar alte Taschenbücher, ein Paar Bermudashorts, einen Schraubenzieher mit einer rostroten Substanz – möglicherweise Farbe oder Blut – darauf.
Ralph ließ sich auf die Knie sinken und sah zu Lois, die unter dem Torbogen stand und die Hände unters Kinn hielt. Es war niemand neben dem Torbogen zu sehen, und es hätte auch niemand Platz gehabt. Auf beiden Seiten waren weitere Kartons gestapelt. Ralph las die Aufschriften darauf staunend: Jack Daniels, Gilbey’s, Smirnoff, J&B. Atropos, schien es, war ebenso verrückt nach Spirituosenkartons wie alle anderen, die es nicht fertigbrachten, etwas wegzuwerfen.
[»Ralph? Ist es sicher?«]
Sicher? Das Wort war ein Witz. Aber er nickte und streckte die Hand aus. Sie kam hastig zu ihm, zog unterwegs noch einmal heftig den Slip hoch und sah sich mit wachsendem Staunen um.
Als sie auf der anderen Seite des Torbogens in Atropos’ trostloser kleiner Wohnung gestanden hatten, hatte dieser Stauraum groß ausgesehen. Jetzt, wo sie tatsächlich darin standen, sah Ralph, daß er mehr als das war; Räume dieser Größe nannte man normalerweise Lagerhallen. Gänge verliefen zwischen gewaltigen, baufälligen Türmen aus Gerumpel. Nur die Sachen direkt an der Tür waren in Kartons verstaut; der Rest lag bunt durcheinandergewürfelt und bildete etwas, das zu zwei Teilen Irrgarten und zu drei Teilen eine Falle war. Ralph kam zum Ergebnis, daß nicht einmal das Wort Lagerhalle eine hinreichende Beschreibung bot – dies war ein unterirdischer Vorort, und Atropos konnte überall lauern… und wenn er hier war, beobachtete er sie wahrscheinlich.
Lois fragte nicht, was sie da vor sich hatten; er sah ihrem Gesicht an, daß sie es bereits wußte. Als sie das Wort ergriff, sprach sie mit einer verträumten Stimme die Ralph eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
[»Er muß so ungeheuer alt sein, Ralph.«]
Ja. So ungeheuer alt.
Zwanzig Meter tiefer in dem Raum, der von dem selben geisterhaften roten Leuchten wie die Treppe erhellt wurde, konnte Ralph ein großes Speichenrad auf einem Lehnstuhl liegen sehen, der wiederum auf einer gesprungenen alten Heißmangel stand. Als er dieses Rad sah, fröstelte ihn noch mehr; es war, als wäre die Metapher, die er sich im Geiste zurechtgelegt hatte, um das Prinzip des Ka zu versinnbildlichen, plötzlich zum Leben erwacht. Dann bemerkte er das rostige Eisenband um das Rad herum und überlegte sich, daß es wahrscheinlich von einem jener »Gay-Nineties«-Fahrräder stammen mußte, die wie zu groß geratene Dreiräder aussahen.
Es ist tatsächlich der Reifen eines Fahrrads, und er ist mindestens hundert Jahre alt, dachte er. Der Gedanke führte ihn zu der Frage, wie viele Menschen – wie viele Tausende und Zehntausende – in und um Derry gestorben waren, seit Atropos dieses Rad irgendwie hier heruntergeschafft hatte. Und wie viele von diesen Tausenden waren zufällige Tode gewesen?
Und wie weit geht er zurück? Wie viele Jahrhunderte?
Das konnte man selbstverständlich unmöglich sagen; möglicherweise bis zum Anbeginn, wann immer und wie immer der auch gewesen sein mochte. Und während dieser ganzen Zeit hatte er von jedem, den er sich vorgeknöpft hatte, ein kleines Andenken genommen… und hier waren sie alle.
Hier waren sie alle.
[»Ralph!«]
Er drehte sich um und sah, daß Lois beide Hände ausstreckte. In einer hielt sie einen Panama, aus dessen Krempe ein Stüc k herausgebissen worden war. In der anderen einen schwarzen Nylonkamm, wie man ihn in jedem Kramladen für einsneunundzwanzig kaufen konnte. Ein geisterhafter orangegelber Schimmer haftete ihm noch an, was Ralph nicht überraschte. Jedesmal, wenn sein Besitzer ihn benutzt hatte, mußte er ein wenig von dem Leuchten der Aura und der Ballonschnur angenommen haben, wie Schuppen. Und es überraschte ihn nicht, daß der Kamm bei dem Hut lag; als er beide zum letztenmal gesehen hatte, waren sie auch zusammen gewesen. Er erinnerte sich an das sarkastische Grinsen von Atropos, als er den Panama abgezogen und so getan hatte, als würde er den Kamm an seinem eigenen kahlen Schädel benützen.
Und dann ist er hochgesprungen und hat die Hacken zusammengeschlagen.
Lois deutete auf einen alten Schaukelstuhl mit gebrochener Kufe.
[»Der Hut lag gleich dort auf dem Stuhl. Der Kamm darunter. Er gehört Mr. Wyzer, nicht?«]
[»Ja.«]
Sie hielt ihn ihm sofort hin.
[»Nimm du ihn. Ich bin nicht so schusselig, wie Bill immer geglaubt hat, aber manchmal verliere ich schon etwas. Und wenn ich den verlieren würde, würde ich es mir nie verzeihen.«]
Er nahm den Kamm, wollte ihn in die Tasche stecken, dann dachte er daran, wie mühelos Atropos ihn aus einer Gesäßtasche herausgezogen hatte. Im Handumdrehen war es passiert. Er steckte ihn statt dessen in die vordere Tasche und sah wieder zu Lois, die McGoverns angebissenen Hut so traurig und verwundert betrachtete wie Hamlet den Schädel seines alten Freundes Yorrick. Als sie aufschaute, sah Ralph Tränen in ihren Augen.
[»Er hat diesen Hut geliebt. Er dachte, er würde ausgesprochen draufgängerisch und keck aussehen, wenn er ihn aufhätte. Das hat er nicht – er hat einfach nur wie Bill ausgesehen -, aber er dachte, daß er gut aussah, und daraufkommt es an. Findest du nicht auch, Ralph?«]
[»Ja.«]
Sie warf den Hut wieder auf den alten Schaukelstuhl, drehte sich um und begutachtete eine Kiste, die – wie es aussah – voll mit Kleidern für den Ramsch war. Kaum hatte sie ihm den Rücken zugedreht, ging Ralph in die Hocke, sah unter den Stuhl und hoffte, ein Funkeln von Edelsteinsplittern in der Dunkelheit zu sehen. Wenn Bills Hut und Joes Kamm hier waren, dann vielleicht auch Lois’ Ohrringe…
Unter dem Schaukelstuhl lagen nur Staub und ein gestrickter rosa Babyschuh.
Ich hätte wissen müssen, daß es nicht so einfach sein würde, dachte Ralph und stand wieder auf. Plötzlich fühlte er sich erschöpft. Sie hatten Joes Kamm ohne Probleme gefunden, und das war gut, das war absolut super, aber Ralph befürchtete, daß es sich auch um einen spektakulären Fall von Anfängerglück handelte. Sie mußten sich immer noch um Lois’ Ohrringe kümmern… und selbstverständlich erledigen, weshalb sie hergeschickt worden waren. Und was war das? Er wußte es nicht, und wenn jemand von weiter oben Anweisungen sendete, bekam er sie nicht mit.
[»Lois, hast du eine Ahnung, was -«]
[»Pssst.«]
[»Was ist, Lois? Ist er es?«]
[»Nein! Sei still, Ralph! Sei still und hör zul.«]
Er lauschte. Zuerst hörte er nichts, und dann spürte er wieder das zuckende Gefühl – das Blinzeln – im Kopf. Diesmal war es sehr langsam und vorsichtig. Er stieg ein wenig weiter empor, so leicht wie eine Feder in einem warmen Aufwind. Er bemerkte ein langgezogenes, leises Stöhnen, wie eine endlos quietschende Tür. Es hatte etwas Vertrautes an sich – nicht das Geräusch selbst, aber die damit verbundenen Assoziationen. Es war wie – ein Einbruchalarm oder möglicherweise ein Rauchdetektor. Es sagt uns, wo es ist. Es ruft uns.
Lois ergriff seine Hand mit eiskalten Fingern.
[»Das ist es, Ralph-das ist es, wonach wir suchen. Hörst du es?«]
Ja, er hörte es. Selbstverständlich. Aber was immer das Geräusch auch sein mochte, es hatte nichts mit Lois’ Ohrringen zu tun… und ohne Lois’ Ohrringe würde er hier nicht weggehen.
Das hoffst du, Liebling, antwortete die Carolyn in seinem Kopf. Das hoffst du.
Ja. Das hoffte er.
[»Komm schon, Ralph! Komm mit! Wir müssen es finden!«]
Er ließ sich von ihr tiefer in den Raum führen. An den meisten Stellen waren die Andenken von Atropos mehr als einen Meter über ihre Köpfe hinaus gestapelt. Ralph hatte keine Ahnung, wie ein Wurzelzwerg wie er das bewerkstelligen konnte -möglicherweise durch Levitation -, aber als Folge davon verlor Ralph bald die Orientierung, als sie sich hindurchzwängten, abbogen und manchmal auf den Weg zurückzugehen schienen, den sie gerade eingeschlagen hatten. Er wußte nur mit Sicherheit, daß das klägliche Stöhnen lauter wurde; je mehr sie sich dem Ursprung näherten, desto mehr glich es einem insektenhaften Summen, das Ralph immer unangenehmer fand. Er rechnete damit, daß er um eine Ecke biegen und vor einer riesigen Heuschrecke stehen würde, die ihn mit dunkelbraunen Augen so groß wie Grapefruits ansah.
Die unterschiedlichen Auren der Gegenstände in diesem Lagerhaus waren zwar verblaßt wie der Duft zwischen den Seiten eines Buchs gepreßter Blüten, aber unter dem Gestank von Atropos existierten sie noch, und auf dieser Stufe der Wahrnehmung, wo ihre sämtlichen Sinne hellwach und empfänglich waren, war es unmöglich, sie nicht zu spüren und von ihnen beeinflußt zu sein. Die stummen Erinnerungen an die Opfer des Zufalls waren schrecklich und mitleiderregend zugleich. Ralph wurde klar, daß dieser Ort hier mehr als ein Museum oder der Bau einer Packratte war; er war eine profane Kirche, wo Atropos seine Version des Abendmahls einnahm -Kummer statt Brot, Tränen statt Wein.
Ihr Hindernislauf durch die schmalen, zickzackförmigen Reihen war ein schreckliches, zermürbendes Erlebnis. Hinter jeder nicht ganz ziellosen Biegung warteten hundert weitere Objekte, von denen Ralph wünschte, er hätte sie nie gesehen und würde sich nie daran erinnern; jedes verlieh seinem eigenen leisen Aufschrei des Schmerzes und der Bestürzung Ausdruck. Er mußte sich nicht fragen, ob Lois seine Empfindungen teilte – sie schluchzte in einem fort leise neben ihm.
Da war der zerschrammte Flexible-Flyer-Schlitten eines Kindes, an dessen Lenkstange noch das Seil zum Ziehen geknotet war. Der Junge, dem er gehört hatte, war an einem kalten Januartag des Jahres 1953 an Krämpfen gestorben.
Da lag der Tambourstab einer Majorette, dessen Schaft in purpurne und weiße Kreppspiralen gewickelt war – die Farben der Grant Academy. Sie war im Herbst 1967 vergewaltigt und mit einem Stein totgeschlagen worden. Ihr Mörder, den man nie gefaßt hatte, hatte den Leichnam in eine kleine Höhle geschafft, wo ihre Gebeine – zusammen mit denen von zwei weiteren unglücklichen Opfern – immer noch lagen.
Hier lag die Kameenbrosche einer Frau, die von einem herabfallenden Ziegelstein erschlagen worden war, als sie die Main Street entlang ging, um die neueste Ausgabe von Vogue zu kaufen; hätte sie ihr Haus dreißig Sekunden früher oder später verlassen, wäre ihr nichts geschehen.
Dort lag der Hirschfänger eines Mannes, der 1937 bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war.