Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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»Ralph?«
»Hm?« Er konzentrierte sich darauf, der Heckstoßstange eines der auf beiden Seiten der Fahrspur schräg parkenden Autos auszuweichen. Er wußte, die Durchfahrt war so breit, daß die Stoßstangen der anderen Autos kein Hindernis für ihn sein würden – intellektuell wußte er das -, aber in seinem Innersten wußte er es besser. Carolyn würde Zeter und Mordio wegen meiner Fahrweise schreien, dachte er mit einer gewissen geistesabwesenden Zuneigung.
»Weißt du, was wir hier wollen, oder tappst du im Dunkeln?«
»Einen Moment noch – laß mich erst die verdammte Karre parken.«
Er fuhr auf der ersten Etage an mehreren Parklücken vorbei, die groß genug für den Olds gewesen wären, aber er hatte nicht genügend Freiraum zum Manövrieren, daß er sich wohl in seiner Haut gefühlt hätte. Auf dem dritten Parkdeck fand er drei freie Plätze nebeneinander (zusammen hätte bequem ein Sherman Panzer Platz gehabt) und lotste den Olds in die mittlere Lücke. Er machte den Motor aus und drehte sich zu Lois um. Andere Motoren brummten ringsum im Leerlauf, aber aufgrund der Echos konnte man ihren Standort unmöglich bestimmen. Orangefarbenes Licht – das durchdringende, grelle Leuchten, das heutzutage sämtlichen derartigen Anlagen gemeinsam war, schien es – überzog ihre Haut wie eine dünne Schicht toxischer Farbe. Lois erwiderte seinen Blick gelassen. Er sah Nachwirkungen der Tränen, die sie wegen Rosalie vergossen hatte, an den aufgedunsenen, geschwollenen Lidern, aber die Augen selbst waren ruhig und sicher. Er registrierte erstaunt, wie sehr sie sich seit heute morgen verändert hatte, als er sie weinend und mit hängenden Schultern auf der Parkbank gesehen hatte. Lois, dachte er, wenn dein Sohn und deine Schwiegertochter dich heute abend sehen könnten, würden sie, glaube ich, schreiend davonlaufen. Aber nicht, weil du zum Fürchten aussiehst, sondern weil die Frau, die sie überreden wollten, ins Riverview Estates zu ziehen, nicht mehr da ist.
»Nun?« fragte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Wirst du mit mir reden oder mich nur ansehen?«
Ralph, normalerweise ein zurückhaltender Mann, sagte das erste, das ihm in den Sinn kam: »Ich glaube, ich möchte dich am liebsten schlecken wie ein Eis.«
Ihr Lächeln vertiefte sich so sehr, daß Grübchen an den Mundwinkeln sichtbar wurden. »Vielleicht versuchen wir später herauszufinden, wie groß dein Appetit auf Eis wirklich ist, Ralph. Im Augenblick solltest du mir nur sagen, weshalb du mich hierher gebracht hast. Und sag mir nicht, daß du es nicht weißt, das stimmt nämlich nicht.«
Ralph machte die Augen zu, holte tief Luft und schlug sie wieder auf. »Wir sind hier, um die beiden anderen Glatzköpfe zu finden. Die ich aus dem Haus von May Locher kommen gesehen habe. Wenn jemand erklären kann, was hier vor sich geht, dann sie.«
»Wie kommst du darauf, daß du sie hier finden wirst?«
»Ich glaube, sie haben Arbeit hier… zwei Männer, Jimmy V. und Bills Freund, liegen nebeneinander im Sterben. Ich hätte schon in dem Augenblick, als ich gesehen habe, wie die Notärzte Mrs. Locher zugedeckt auf der Bahre aus dem Haus brachten, wissen müssen, was die kahlköpfigen Ärzte sind was sie tun. Ich hätte es gewußt, wenn ich nicht so verdammt müde gewesen wäre. Die Schere wäre Beweis genug gewesen. Statt dessen bin ich erst heute nachmittag darauf gekommen, und das auch nur wegen etwas, das Mr. Polhursts Nichte zu mir gesagt hat.«
»Und das wäre?«
»Daß der Tod blöd ist. Wenn ein Geburtshelfer soviel Zeit brauchen würde, um eine Nabelschnur durchzuschneiden, würde er wegen Unfähigkeit gefeuert werden. Dabei mußte ich an einen Mythos denken, den ich in der Grundschule gelesen habe, als ich nicht genug von Göttern und Göttinnen und trojanischen Pferden bekommen konnte. Die Geschichte handelte von drei Schwestern – möglicherweise den griechischen Schwestern, möglicherweise auch den unheimlichen Schwestern. Scheiße, frag mich nicht; ich vergesse ja meistens sogar, den verfluchten Blinker zu setzen. Wie dem auch sei, diese drei Schwestern waren für den Verlauf des gesamten Menschenlebens verantwortlich. Eine spann den Faden, eine entschied, wie lang er sein würde… klingelt da was bei dir, Lois?«
»Aber natürlich!« rief sie fast. »Die Ballonschnüre!«
Ralph nickte. »Ja. Die Ballonschnüre. An die Namen der beiden ersten Schwestern kann ich mich nicht erinnern, aber den Namen der dritten habe ich nie vergessen – er lautet Atropos, und der Geschichte zufolge, besteht ihre Aufgabe darin, den Faden abzuschneiden, den die erste spinnt und die zweite mißt. Man konnte mit ihr diskutieren, man konnte sie anflehen, das alles änderte nichts. Wenn sie beschloß, daß es Zeit wurde, ihn abzuschneiden, dann schnitt sie ihn ab.«
Lois nickte. »Ja, ich erinnere mich an die Geschichte. Ich weiß nicht, ob ich sie gelesen habe oder ob sie mir als Kind jemand vorgelesen hat. Du glaubst, daß sie wirklich wahr ist, Ralph, oder nicht? Nur haben wir es statt mit den griechischen Schwestern mit den kahlköpfigen Brüdern zu tun.«
»Ja und nein. Soweit ich mich erinnern kann, standen die Schwestern alle auf derselben Seite – ein Team. Das ist auch der Eindruck, den ich bei den beiden Männern hatte, die aus Mrs. Lochers Haus gekommen sind, daß sie seit langer Zeit Partner sind und großen Respekt voreinander empfinden. Aber der andere Kerl, den wir heute abend wiedergesehen haben, ist nicht wie sie. Ich glaube, Doc Nr. 3 ist ein Schurke.«
Lois erschauerte, eine theatralische Geste, die erst im letzten Augenblick echt wurde. »Er ist schrecklich, Ralph. Ich hasse ihn.«
»Kann ich dir nicht verdenken.«
Er streckte die Hand zum Türgriff aus, aber Lois hielt ihn mit einer Berührung zurück. »Ich habe gesehen, wie er etwas getan hat.«
Ralph drehte sich um und sah sie an. Die Sehnen in seinem Hals ächzten eingerostet. Er wußte ziemlich genau, was sie sagen würde.
»Er hat dem Mann, der Rosalie überfahren hat, etwas aus der Tasche genommen. Aber es war nur ein Kamm. Und der Hut, den der Kahlköpfige getragen hat… ich bin ziemlich sicher, daß ich ihn kenne.«
Ralph sah sie an und hoffte inbrünstig, daß Lois’ Erinnerung an die Habseligkeiten von Doc Nr. 3 nicht weiter reichte.
»Es war Bills Hut, nicht? Bills Panama.«
Ralph nickte. »Das war er.«
Lois machte die Augen zu. »O Gott.«
»Was sagst du, Lois? Bist du noch dabei?«
»Ja.« Sie machte ihre Tür ajf und schwang die Beine hinaus. »Aber laß uns gleich gehen, bevor ich den Mut verliere.«
»Das sagst du ausgerechnet mir«, antwortete Ralph Roberts.
Als sie sich dem Haupttor des Derry Home näherten, beugte sich Ralph zu Lois’ Ohr und murmelte: »Spürst du es auch?«
»Ja.« Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Herrgott, ja. Diesmal ist es stark nicht?«
Als sie durch die elektronische Lichtschranke gingen und die Tür des Krankenhauses vor ihnen aufschwang, schälte sich die Oberfläche der Welt plötzlich ab wie die Schale einer exotischen Frucht und offenbarte eine andere Welt, die vor unsichtbaren Farben überquoll und von unsichtbaren Gestalten wimmelte. Oben jagten sich dunkelbraune Schatten vor dem Wandfresko, das Derry zeigte, wie es in seiner Blütezeit als Holzfällerstadt um die Jahrhundertwende gewesen war, und rückten immer dichter zusammen, bis sie einander berührten. Wenn das geschah, leuchteten sie kurz dunkelgrün auf und wechselten die Richtung. Ein heller, silberner Trichter, der wie eine Wasserhose oder ein Spielzeugzyklon aussah, kam die geschwungene Treppe herunter, die zu den Wartezimmern im ersten Stock, zur Cafeteria und zum Auditorium führte. Das breite obere Ende nickte hin und her, wenn es von einer Stufe zur nächsten sprang, und Ralph hatte das deutliche Gefühl, daß es sich um etwas Freundliches handelte, wie eine anthropomorphe Figur in einem Disney-Zeichentrickfilm. Vor Ralphs Augen eilten zwei Männer mit Aktentaschen die Treppe hinauf, und einer ging direkt durch den silbernen Trichter. Er machte nicht einmal eine Pause im Gespräch mit dem anderen Mann, aber als er auf der anderen Seite herauskam, konnte Ralph sehen, wie er sich abwesend mit der freien Hand die Haare glattstrich… obwohl kein einziges zerzaust worden war.
Der Trichter erreichte die unterste Stufe, sauste in einer engen Acht in der Mitte der Lobby herum und verschwand einfach; nur ein schwacher, rosiger Nebel blieb zurück, der sich rasch auflöste.
Lois stieß Ralph den Ellbogen in die Seite, wollte in die Richtung des Bereichs jenseits vom Empfang deuten, überlegte sich, daß sie von Menschen umgeben waren, und begnügte sich statt dessen damit, mit dem Kinn in die Richtung zu nicken. Vorhin hatte Ralph eine Gestalt am Himmel gesehen, die einem großen prähistorischen Vogel glich. Jetzt erblickte er so etwas wie eine lange, durchsichtige Schlange. Sie glitt über einem Schild an der Decke entlang, auf dem stand: ZUM BLUTTEST BITTE HIER WARTEN.
»Lebt es?« flüsterte Lois erschrocken.
Ralph sah genauer hin und stellte fest, daß das Ding keinen Kopf hatte… und auch keinen ersichtlichen Schwanz. Er vermutete, daß es lebte – wie er glaubte, daß alle Auras irgendwie von Leben beseelt waren -, aber er glaubte nicht, daß es sich tatsächlich um eine Schlange handelte und bezweifelte, daß es gefährlich sein würde, jedenfalls nicht für ihresgleichen.
»Reg dich nicht über Kleinigkeiten auf, Liebling«, flüsterte er zurück, während sie sich in die kurze Reihe der vor dem Informationsschalter Wartenden stellten, und noch während er das sagte, schien das Schlangenwesen mit der Decke zu verschmelzen und verschwand.
Ralph wußte nicht, wie bedeutend solche Wesen wie der Vogel oder der Zyklon im großen Plan der heimlichen Welt waren, aber er war überzeugt, daß Menschen trotz allem die Hauptattraktion bildeten. Die Halle des Derry Home glich den atemberaubenden Feuerwerken zum vierten Juli, nur übernahmen bei diesem Feuerwerk Menschen die Rolle von Wunderkerzen und Leuchtfontänen.
Lois steckte ihm einen Finger in den Kragen und zog seinen Kopf zu sich herunter. »Du wirst reden müssen, Ralph«, sagte sie mit einer kraftlosen, erstaunten dünnen Stimme. »Ich muß mich schon anstrengen, damit ich mir nicht in die Hose pinkle.«
Der Mann vor ihnen gab den Schalter frei, und Ralph rückte vor. Dabei wurde eine deutliche, nostalgisch gefärbte Erinnerung an Jimmy V. aus seinem Gedächtnis an die Oberfläche gespült. Sie waren irgendwo in Rhode Island unterwegs gewesen -möglicherweise Kingston – und hatten, einer Eingebung folgend, beschlossen, daß sie die Zeltmissionbesuchen wollten, die in der Nähe auf einer Wiese stattfand. Selbstverständlich waren sie beide sturzbetrunken gewesen. Zwei blitzsaubere junge Damen standen vor den zurückgeschlagenen Klappen des Zelteingangs und verteilten Broschüren, und als er und Jimmy sich dem Eingang genähert hatten, hatten sie einander mit alkoholgetränktem Atem zugeflüstert, sie wollten sichbenehmen, als wären sie nüchtern, verdammt, als wären sie nüchtern. Waren sie an dem Tag reingelassen worden? Oder -
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Frau an der Information in einem Tonfall, der ausdrückte, daß sie Ralph einen Riesengefallen tat, wenn sie überhaupt das Wort an ihn richtete. Er betrachtete sie durch das Glas des Schalters und sah die wahre Frau hinter der umwölkten orangefarbenen Aura, die wie ein brennender Dornbusch aussah. Hier haben wir eine Liebhaberin der schönen Literatur, die äußersten Wert auf Etikette legt, dachte er, und direkt im Anschluß daran erinnerte er sich, daß die beiden jungen Damen am Zelteingang einmal in ihre Richtung geschnuppert und sie höflich, aber bestimmt abgewiesen hatten. Er und Jimmy V. hatten den Abend in einer Spelunke in Central Falls verbracht, soweit er sich erinnerte, und konnten sich wahrscheinlich glücklich schätzen, daß sie nicht überfahren worden waren, als sie nach der Sperrstunde hinaustorkelten.
Sir?« fragte die Frau hinter dem verglasten Schalter ungeduldig. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ralph wurde mit einem Poltern in die Gegenwart zurückgeholt, das er fast spüren konnte. »Ja, Ma’am. Meine Frau und ich würden gern Jimmy Vandermeer im zweiten Stock besuchen, wenn -«
»Intensivstation!« bellte sie. »Ohne Sondergenehmigung dürfen Sie nicht in die Intensivstation.« Orangefarbene Haken bohrten sich aus dem Leuchten um ihren Kopf, und ihre Aura sah wie Stacheldraht um ein geisterhaftes Niemandsland herum aus.
»Ich weiß«, sagte Ralph unterwürfiger denn je, »aber mein Freund Lafayette Chapin hat gesagt -«
»Herrje!« unterbrach ihn die Frau. »Wunderbar, daß jeder einen Freund hat. Wirklich wunderbar.« Sie warf in gespielter Verzweiflung einen Blick zur Decke.
»Faye hat gesagt, daß Jimmy trotzdem Besuche empfangen darf. Sehen Sie, er hat Krebs und nicht mehr lange zu l -«
»Ich sehe in den Unterlagen nach«, sagte die Frau im verdrossenen Tonfall von jemanden, der weiß, daß er sich vergeblich die Mühe macht, »aber der Computer ist heute abend ziemlich langsam, daher wird es eine Weile dauern. Nennen Sie mir Ihren Namen, dann können Sie und Ihre Frau da drüben Platz nehmen. Ich rufe Sie auf, sobald -«
Ralph war der Meinung, daß er genug vor diesem bürokratischen Wachhund zu Kreuze gekrochen war. Schließlich wollte er kein Ausreisevisum aus Albanien; ein gottverdammter Passierschein für die Intensivstation genügte ja schon.
Unter der Glasplatte des Schalters befand sich ein Schlitz. Ralph streckte die Hand durch und ergriff das Handgelenk der Frau, bevor sie es wegziehen konnte. Er spürte das schmerzlose aber sehr deutliche Gefühl, wie die orangefarbenen Haken direkt durch sein Fleisch fuhren, ohne einen Halt zu finden. Ralph drückte sanft und verspürte ein geringes Quantum Kraft – nicht größer als ein Schrotkügelchen, wenn er es hätte sehen können -, das von ihm auf die Frau überging. Plötzlich nahm die offiziöse orangefarbene Aura um ihren linken Arm und die Seite herum den blassen Türkiston von Ralphs Aura an. Sie stöhnte und zuckte auf ihrem Stuhl nach vorne, als hätte ihr gerade jemand einen Pappbecher voll Eiswürfel in den Ausschnitt gekippt.
[»Vergessen Sie den Computer. Geben Sie mir bitte einfach zwei Passierscheine. Sofort.«]
»Ja, Sir«, sagte sie augenblicklich, worauf Ralph ihr Handgelenk losließ, damit sie unter den Schreibtisch greifen konnte. Das türkisfarbene Leuchten um ihren Arm herum wurde wieder orange; die Farbveränderung breitete sich von der Schulter am Arm entlang aus.
Aber ich hätte sie ganz blau machen können, dachte Ralph. Sie übernehmen. Sie durch den Raum tanzen lassen wie ein aufgezogenes Spielzeug.
Plötzlich fiel ihm ein, wie Ed das Evangelium nach Matthäus zitiert hatte – Da Herodes nun sah, daß er von den Weisen betrogen worden war, ward er sehr zornig – und eine Mischung aus Angst und Scham erfüllte ihn. Auch mußte er wieder an Vampirismus denken, und ein Text aus einem alten Pogo-Comic fiel ihm ein: Wir haben den Feind getroffen, und wir sind es selbst. Ja, wahrscheinlich hätte er mit diesem schlechtgelaunten Frauenzimmer in der orangefarbenen Aura alles anstellen können, was er wollte; seine Batterie war voll geladen. Das Problem war nur, der Saft in dieser Batterie – und in der von Lois – war gestohlen.
Als die Dame am Informationsschalter die Hand wieder unter dem Schreibtisch hervorholte, hielt sie zwei laminierte rosa Plaketten mit der Aufschrift INTENSIVSTATION/BESUCHER darin. »Hier sind sie, Sir«, sagte sie mit einer höflichen Stimme, die in krassem Gegensatz zu dem Feldwebelton stand, mit dem sie ihn zuerst angesprochen hatte. »Genießen Sie Ihren Besuch und herzlichen Dank für Ihre Geduld.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Ralph. Er nahm die beiden Plaketten und ergriff Lois’ Hand. »Komm mit, Teuerste. Wir müssen [»Ralph, was hast du mit ihr GEMACHT?«]
[»Nichts, schätze ich – ich denke, es geht ihr gut.«] nach oben gehen und unseren Besuch machen, bevor es zu spät ist.«
Lois sah zu der Frau am Informationsschalter. Sie kümmerte sich um ihren nächsten Kunden, aber langsam, als wäre ihr gerade eine ziemlich verblüffende Offenbarung zuteil geworden, über die sie erst nachdenken mußte. Das blaue Leuchten war jetzt nur noch an ihren Fingerspitzen zu sehen, und es verschwand vor Lois’ Augen völlig.
Lois sah wieder zu Ralph auf und lächelte.
[»Ja…es GEHT ihr gut. Also hör auf, so hart mit dir ins Gericht zugehen.«]
[»Habe ich das getan?«]
[»Ich glaube ja… wir reden schon wieder so, Ralph.«]
[»Ich weiß.«]
[»Ralph?«]
[»Ja?«]
[»Das ist alles ganz wunderbar, oder nicht?«]
[»Ja.«]
Ralph versuchte, was er sonst noch dachte, vor ihr zu verheimlichen: Wenn der Preis für etwas so Wunderbares verlangt wurde, würden sie feststellen, daß er sehr hoch sein würde.
[»Hör auf, das Baby anzustarren, Ralph. Du machst seine Mutter nervös.«]
Ralph betrachtete die Frau, in deren Armen das Baby schlief, und sah, daß sie recht hatte… aber es war schwer, nicht hinzusehen. Das Baby, nicht älter als drei Monate, lag in der Kapsel einer heftig wallenden grau-gelben Aura. Dieses mächtige, aber beunruhigende Wetterleuchten umkreiste den winzigen Körper mit der idiotischen Geschwindigkeit der Atmosphäre eines Riesenplaneten – Jupiter, zum Beispiel, oder Saturn.
[»Himmel, Lois, das ist ein Hirnschaden, nicht?«]
[»Ja. Die Frau spricht von einem Autounfall.«]
[»Spricht? Hast du mit ihr geredet?«]
[»Nein. Es ist—«J [»Ich verstehe nicht.«]
[»Willkommen im Club.«]
Der übergroße Krankenhausfahrstuhl quälte sich langsam in die Höhe. Die Insassen – die Lahmen, die Hinkenden, die wenigen schuldbewußten Gesunden – sagten kein Wort und richteten die Blicke entweder auf die Stockwerkanzeige über der Tür oder auf ihre eigenen Schuhe. Die einzige Ausnahme war die junge Frau mit dem behinderten Baby. Sie betrachtete Ralph mißtrauisch und erschrocken, als würde sie damit rechnen, daß er sich jeden Moment auf sie stürzen und versuchen würde, ihr das Baby aus den Armen zu reißen.
Es ist nicht nur, weil ich sie angesehen habe, dachte Ralph. Jedenfalls glaube ich das nicht. Sie hat gespürt, daß ich an ihr Baby gedacht habe. Hat mich gespürt… mich wahrgenommen… mich gehört… irgend so was.
Der Fahrstuhl hielt im ersten Stock, die Türen gingen quietschend auf. Die Frau mit dem Baby drehte sich zu Ralph um. Das Kind regte sich etwas dabei, und Ralph konnte seinen Scheitel sehen. Dort befand sich eine tiefe Furche in dem winzigen Schädel. Eine rote Narbe verlief darin. Ralph fand, sie sah wie Brackwasser auf dem Grund eines schmalen Grabens aus. Die häßliche und verwirrte grau-gelbe Aura, die das Baby umgab, drang aus dieser Narbe wie Dampf aus einer Erdspalte. Die Ballonschnur des Babys hatte dieselbe Farbe wie die Aura, aber keine Ähnlichkeit mit den Ballonschnüren, die Ralph bisher gesehen hatte – sie sah nicht ungesund aus, sondern kurz und häßlich, nicht mehr als ein Stummel.
»Hat Ihre Mutter Ihnen denn keine Manieren beigebracht?« wandte sich die Mutter des Babys an Ralph, aber nicht der Vorwurf machte Ralph betroffen, sondern die Art, wie sie ihn vorbrachte. Er hatte ihr einen großen Schrecken eingejagt-
»Madam ich versichere Ihnen -«
»Ja, versichern Sie, was Sie wollen«, sagte sie und verließ den Fahrstuhl. Die Fahrstuhltüren glitten langsam wieder zu. Ralph sah Lois an, und zwischen den beiden herrschte ein kurzes, aber vollkommenes Einvernehmen. Lois winkte mit dem Finger zur Tür, als wollte sie sie ausschimpfen, und eine graue, gitterähnliche Substanz strömt aus der Fingerspitze. Die Türen trafen darauf und glitten in ihre Schlitze zurück, wie es ihre Programmierung vorsah, wenn sie auf ein Hindernis trafen.
[»Madam!«]
Die Frau drehte sich eindeutig verwirrt um. Sie richtete argwöhnische Blicke überallhin, um festzustellen, wer sie angesprochen hatte. Ihre Aura hatte eine dunkelgelbe Butterfarbe mit hellen, orangefarbenen Schlieren, die aus dem Inneren kamen. Ralph sah ihr direkt in die Augen.
[»Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Dies ist alles ziemlich neu für mich und meine Freundin, Wir sind wie Kinder bei einem Galaempfang. Ich entschuldige mich.«]
Er wußte nicht genau, was sie übermitteln wollte – es war, als würde man jemanden in einer schalldichten Kabine sprechen sehen -, aber er spürte Erleichterung und ein tiefempfundenes Unbehagen… die Art von Unbehagen, die Menschen empfinden können, wenn sie denken, sie sind bei etwas beobachtet worden, das sie nicht tun sollten. Ihr zweifelnder Blick ruhte noch einen Moment auf seinem Gesicht, dann drehte sie sich um und ging hastig den Flur entlang auf ein Schild zu mit der Aufschrift NEUROLOGISCHE UNTERSUCHUNG. Das graue Gitter, das Lois zur Tür geschleudert hatte, wurde dünner, und als die Tür sich wieder schließen wollte, schnitt sie es sauber durch. Die Kabine setzte ihre langsame Aufwärtsfahrt fort.
[»Ralph… Ralph, ich glaube, ich weiß, was mit dem Baby passiert ist.«]
Sie streckte die rechte Hand nach seinem Gesicht aus und schob sie mit der Handfläche nach unten zwischen seine Nase und seinem Mund. Sie preßte den Daumenballen behutsam gegen einen seiner Wangenknochen und den Zeigefinger leicht gegen den anderen. Das geschah so schnell und selbstsicher, daß es sonst niemand im Fahrstuhl bemerkte. Und selbst wenn einem der drei anderen Mitfahrer etwas aufgefallen wäre, sie hätten nur eine ordentliche Ehefrau gesehen, die einen Tropfen Hautcreme oder ein Klümpchen Rasierschaum wegwischte -nur das, und sonst nichts.
Ralph war, als hätte jemand einen Starkstromschalter in seinem Gehirn gedrückt, der ganze Stadionflutlichter einschaltete. In deren grellem, kurz aufblitzenden Licht sah er ein Bild des Grauens: Hände in einer brutalen, purpur-braunen Aura, die in eine Wiege griffen und das Baby herauszogen, das er und Lois gerade gesehen hatten. Es wurde hin und her geschüttelt, der Kopf rollte und nickte auf dem dünnen Hals wie der einer Flickenpuppe – und es wurde geworfen -
Da wurden die Lichter in seinem Kopf schwarz, und Ralph stieß einen harschen, bebenden Seufzer der Erleichterung aus. Er dachte an die Abtreibungsgegner und ihre Demonstration, die er in den Abendnachrichten gesehen hatte, Männer und Frauen mit Spruchbändern, auf denen das Bild von Susan Day zu sehen war und WEGEN MORDES GESUCHT stand, Männer und Frauen im Gewand des Sensenmannes, Männer und Frauen mit einem Transparent, auf dem man lesen konnte: LEBEN, WAS FÜR EINE WUNDERBARE ENTSCHEIDUNG.
Er fragte sich, ob das behinderte Baby dazu nicht vielleicht eine andere Meinung hatte. Er sah Lois’ fassungslosen, gequälten Blick und tastete nach ihrer Hand.
[»Der Vater hat es getan, richtig? Er hat das Kind gegen die Wand geworfen.«]
[»Ja. Das Baby hat nicht aufgehört zu schreien.«]
[»Und sie weiß es. Sie weiß es, aber sie hat es keinem gesagt.«]
[»Nein… doch möglicherweise tut sie es, Ralph. Sie denkt darüber nach.«]
[»Vielleicht wartet sie auch, bis er es wieder tut. Und nächstesmal bringt er es vielleicht zu Ende.«]
Da kam Ralph ein schrecklicher Gedanke; er schoß wie ein Meteor, der kurzzeitig ein Feuer am mitternächtlichen Sommerhimmel entzündet, durch seinen Geist: Möglicherweise war es besser, wenn er es zu Ende brachte. Die Ballonschnur des behinderten Babys war nur ein Stummel gewesen, aber ein gesunder Stummel. Das Kind lebte vielleicht noch jahrelang, ohne zu wissen, wer es war oder wo es war, geschweige denn, warum es war, und es würde Leute kommen und gehen sehen wie Bäume im Nebel…
Lois stand mit hängenden Schultern da, betrachtete den Boden des Fahrstuhls und strahlte eine Traurigkeit aus, die Ralph fast das Herz brach. Er streckte die Hand aus, legte ihr einen Finger unter das Kinn und sah, wie eine filigrane blaue Rose aus der Stelle erblühte, wo seine Aura ihre berührte. Er hob ihren Kopf und war nicht überrascht, als er Tränen in ihren Augen sah.
»Findest du immer noch, daß alles wunderbar ist, Lois?« fragte er leise, und darauf erhielt er keine Antwort, weder akustisch noch im Geiste.
Sie waren die einzigen, die im zweiten Stock ausstiegen, wo die Stille so dicht war wie der Staub unter Bibliotheksregalen. Zwei Schwestern standen auf halbem Weg im Flur, drückten Notizblöcke an weißgekleidete Busen und unterhielten sich flüsternd. Alle anderen im Fahrstuhl sahen sie wahrscheinlich an und vermuteten eine Unterhaltung über Leben, Tod und heldenhafte Rettungsmaßnahmen; Ralph und Lois dagegen warfen nur einen Blick auf ihre sich überlappenden Auren und wußten, das Thema war, wohin sie nach Schichtende etwas trinken gehen sollten.
Ralph sah es und gleichzeitig auch nicht, so wie ein in tiefes Nachdenken versunkener Mann Verkehrsampeln sieht, ohne sie richtig wahrzunehmen. Der größte Teil seines Verstands war mit einem tödlichen Gefühl von deja vu beschäftigt, das über ihn gekommen war, als er und Lois aus dem Fahrstuhl in diese Welt getreten waren, wo das leise Quietschen der Schuhe der Krankenschwestern auf dem Linoleum sich fast genauso anhörte wie das leise Piepsen der Lebenserhaltungssysteme.
Zimmer mit geraden Nummern links; mit ungeraden Nummern rechts, dachte er, und 217, wo Carolyn gestorben ist, liegt neben der Schwesternstation. Es war 217 – daran erinnere ich mich. Jetzt, wo ich wieder hier bin, erinnere ich mich an alles. Wie jemand ihr Krankenblatt immer verkehrt herum in den kleinen Rahmen an der Tür gesteckt hat. Wie das Licht an sonnigen Tagen als verzerrtes Rechteck auf ihr Bett fiel. Wie man auf dem Besuchersessel sitzen und die Stationsschwester beobachten konnte, deren Aufgabe darin bestand, Monitorsignale, Telefonanrufe und Pizzabestellungen zu überwachen.
Dasselbe. Alles dasselbe. Es war wieder Anfang März, das düstere Ende eines grauen, verhangenen Tages, Hagel tschickschackte gegen das offene Fenster von Zimmer 217, und er saß seit dem frühen Morgen auf dem Besucherstuhl und hatte eine zugeklappte Ausgabe von Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reiches auf dem Schoß liegen. Er saß da und wollte nicht einmal aufstehen, um zur Toilette zu gehen, weil die Todesuhr mittlerweile fast abgelaufen war; jedes Ticken war ein Schlurfen, die Zeitspanne zwischen jedem Ticken ein Leben; seine Lebensgefährtin mußte einen Zug erwischen, und er wollte am Bahnsteig stehen und sie verabschieden. Er würde nur eine Chance bekommen, es richtig zu machen.
Er konnte die Hagelkörner mühelos hören, die immer schneller und heftiger wurden, denn das Lebenserhaltungssystem war abgeschaltet worden. In der letzten Februarwoche hatte Ralph aufgegeben; Carolyn, die in ihrem ganzen Leben niemals aufgegeben hatte, hatte etwas länger gebraucht, um die Botschaft zu verstehen. Aber was genau war die Botschaft? Nun, daß bei einem harten Kampf auf zehn Runden, Carolyn Roberts gegen den Krebs, der Krebs, der ungeschlagene Schwergewichtsweltmeister, als Sieger durch technischen K.o. hervorging.
Er hatte auf dem Besucherstuhl gesessen und beobachtet und gewartet, während ihr Atem immer schwerer ging – das lange, seufzende Ausatmen, die flache, fast reglose Brust, die zunehmende Gewißheit, daß der letzte Atemzug tatsächlich der letzte Atemzug gewesen, daß die Uhr abgelaufen war, der Zug den Bahnsteig erreicht hatte, um den einzigen Passagier an Bord zu nehmen… und dann kam ein gewaltiges, unbewußtes Keuchen, als sie die nächste Lungevoll der unfreundlichen Luft einsaugte, allerdings nicht mehr im normalen Sinne atmete, sondern sich von Atemzug zu Atemzug schleppte wie ein Betrunkener, der den dunklen Flur eines billigen Hotels entlangtorkelt.
Tschick-tschick-tschack-tschack: Hagel trommelte mit unsichtbaren Fingernägeln gegen die Fenster, während der schmutziggraue Märztag in eine schmutziggraue Dunkelheit überging und Carolyn die letzte Hälfte ihrer letzten Runde kämpfte. Da war sie selbstverständlich nur noch mit Autopilot geflogen; das Gehirn, das einmal in diesem wunderschön gearbeiteten Schädel existiert hatte, war nicht mehr. Es war von einem Mutanten ersetzt worden – einem dummen, grauschwarzen Delinquenten, der nicht denken oder fühlen konnte, nur fressen und fressen und fressen, bis er sich selbst zu Tode geschlungen hatte.
Tschick-tschick-tschack-tschack, und er hatte gesehen, daß sich das T-förmige Atmungsrohr in ihrer Nase verschoben hatte. Er wartete darauf, daß sie einen ihrer schrecklichen, gequälten Atemzüge aus der Luft saugen würde, und als sie ausatmete, beugte er sich nach vorne und rückte das kleine Plastikröhrchen wieder zurecht. Er hatte ein wenig Rotz an die Finger bekommen, daran erinnerte er sich noch, und wischte sie an einem Kleenex aus der Box auf dem Nachttisch ab. Er hatte sich zurückgelehnt, auf den nächsten Atemzug gewartet, wollte sich vergewissern, daß die Nasenröhre sich nicht wieder verschob, aber es kam kein nächster Atemzug, und ihm war klar geworden: Das Ticken, das er seit dem vergangenen Sommer überall gehört hatte, war verstummt.
Er erinnerte sich, wie er wartete, während die Minuten verstrichen – eine, dann drei, dann sechs -, weil er nicht glauben wollte, daß die guten Jahre und schönen Anlässe (nichtzu vergessen die wenigen unschönen) auf diese klägliche und tonlose Weise zu Ende gegangen sein sollten. Ihr Radio, das auf einen lokalen Musiksender eingestellt war, spielte leise in der Ecke, und er hörte »Scarborough Fair« von Simon and Garfunkel. Sie sangen es bis zum Ende. Danach kam Wayne Newton und sang »Danke Shoen.« Er sang es bis zum Ende. Danach kam der Wetterbericht, aber bevor der Sprecher erzählen konnte, wie das Wetter an Ralph Roberts erstem Tag als Witwer werden würde, die Einzelheiten über Tiefdruckzonen und Kälte und Windböen aus Nordost, sah Ralph es schließlich ein. Die Uhr hatte aufgehört zu ticken, der Zug war angekommen, der Boxkampf war vorbei. Und sämtliche Metaphern waren zu Boden gefallen, zurück blieb nur die Frau in dem Zimmer, in dem es endlich still geworden war. Ralph fing an zu weinen. Er war weinend in die Ecke gestolpert und hatte das Radio ausgeschaltet. Er erinnerte sich an den Sommer, als sie einen Kurs in Malen mit Fingerfarben besucht hatten, und an die Nacht, als sie ihre nackten Körper mit den Fingern bemalt hatten. Bei dieser Erinnerung mußte er noch mehr weinen. Er ging zum Fenster, lehnte den Kopf an die kalte Glasscheibe und weinte. Während dieser ersten, schrecklichen Minute der Einsicht wollte er nur eines: selber tot sein. Eine Schwester hörte ihn weinen und kam herein. Sie versuchte, Carolyns Puls zu messen. Ralph sagte ihr, sie sollte aufhören, sich wie eine Närrin zu benehmen. Sie kam zu Ralph herüber, und er glaubte einen Moment, sie würde versuchen, seinen Puls zu messen. Statt dessen hatte sie die Arme um ihn gelegt.