Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
сообщить о нарушении
Текущая страница: 33 (всего у книги 50 страниц)
Sie lächelte ihnen zögernd zu, ohne Lois zu erkennen, und deutete mit dem Finger auf die Uhr an der Wand. »Wir öffnen erst um acht«, sagte sie. »und ich glaube nicht, daß wir Ihnen heute helfen könnten. Sämtliche Ärzte sind abwesend – ich meine, Dr. Hamilton hat offiziell Dienst, aber ich bin nicht einmal sicher, ob ich sie erreichen könnte. Es ist eine Menge los – dies ist ein großer Tag für uns.«
»Ich weiß«, sagte Lois und drückte Ralphs Hand noch einmal, bevor sie sie losließ. Einen Augenblick hörte er ihre Stimme in seinem Geist, ganz leise – wie bei einem Überseetelefongespräch mit schlechter Verbindung -, aber verständlich:
[»Bleib, wo du bist, Ralph. Sie hat -«]
Lois schickte ihm ein Bild, das noch schwächer als der Gedanke und fast wieder verschwunden war, ehe Ralph es richtig erfassen konnte. Diese Art von Kommunikation fiel auf den höheren Ebenen wesentlich leichter, aber was er mitbekam, reichte aus. Die Hand, mit der Barbara Richards auf die Uhr gedeutet hatte, ruhte jetzt auf dem Schreibtisch, aber die andere hatte sie darunter, wo sich ein kleiner weißer Knopf neben der Knieöffnung befand. Sollte einer von ihnen das geringste Anzeichen seltsamen Verhaltens erkennen lassen, würde sie diesen Knopf drücken und zuerst ihren Freund mit dem Notizbrett rufen und danach den größten Teil der privaten Sheriffs in Derry.
Und mich betrachtet sie mit ganz besonderem Argwohn, weil ich ein Mann bin, dachte Ralph.
Als Lois sich dem Schreibtisch näherte, kam Ralph ein beunruhigender Gedanke: Angesichts der momentanen Atmosphäre in Derry, könnte diese Form der Geschlechterdiskriminierung – unbewußt, aber deshalb nicht weniger real – diese hübsche junge Frau in Gefahr bringen; sie könnte verletzt… möglicherweise sogar getötet werden. Er erinnerte sich, wie Leydecker ihm sagte, daß sich in Eds kleinem Kader von Mitverrückten auch eine Frau befand. Blasser Teint, hatte er gesagt, schlimme Akne, so dicke Brillengläser, daß ihre Augen wie pochierte Eier aussehen. Sandra Sowieso hieß sie. Und wenn Sandra Sowieso sich Ms. Richards Schreibtisch genähert hätte, wie Lois sich ihm jetzt näherte, wenn sie zuerst die Handtasche geöffnet und dann hineingegriffen hätte, würde die Frau mit der waldgrünen Aura dann den Alarmknopf gedrückt haben?
»Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht an mich, Barbara«, sagte Lois, »weil ich dich selten gesehen habe, seit du das College besucht hast; damals bist du mit dem jungen Sparkmeyer ausgegangen -«
»O mein Gott, Lennie Sparkmeyer, an den hab ich seit Jahren nicht mehr gedacht«, sagte Barbara Richards und stieß ein kurzes, verlegenes Lachen aus. »Aber ich erinnere mich an Sie. Lois Delancey. Tante Simones Pokerpartnerin. Spielt ihr immer noch?« »Ich heiße Chasse, nicht Delancey, und wir spielen noch.« Lois klang hocherfreut, weil Barbara sich an sie erinnerte, und Ralph hoffte, sie würde darüber nicht vergessen, weshalb sie eigentlich hier waren. Aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. »Wie dem auch sei, Simone hat mir eine Nachricht für Gretchen Tillbury aufgetragen.« Sie holte einen Zettel aus der Handtasche. »Ob du ihr die wohl geben könntest?«
»Ich bezweifle stark, daß ich heute auch nur mit Gretchen Tillbury telefonieren könnte«, sagte Ms. Richards. »Sie st so beschäftigt wie wir alle. Noch mehr.«
»Kann ich mir denken.« Lois stieß ein erstaunlich echtes kurzes Lachen aus. »Ich denke, es hat auch keine Eile. Gretchen hat eine Nichte, die ein Stipendium für die Universität von New Hampshire bekommen hat. Ist dir auch schon aufgefallen, daß sich die Leute viel mehr Mühe geben, wenn sie schlechte Nachrichten überbringen müssen? Seltsam, nicht?«
»Kann schon sein«, sagte Ms. Richards und streckte die Hand nach dem zusammengelegten Zettel aus. »Wie auch immer, ich werde es gern in Gretchens -«
Lois ergriff ihr Handgelenk, und ein Blitz grauen Lichts so grell, daß Ralph die Augen zukneifen mußte, um nicht geblendet zu werden – raste an Arm, Schultern und Hals der Frau hinauf. Er waberte kurz als Heiligenschein um ihren Kopf, dann verschwand er.
Nein, dachte Ralph. Er ist nicht verschwunden, er ist eingesunken.
»Was war das?« fragte die Putzfrau mißtrauisch. »Was war das für ein Knall?«
»Eine Fehlzündung«, sagte Ralph. »Mehr nicht.«
»Hm«, sagte sie. »Ihr verfluchten Männer glaubt, daß ihr alles wißt. Hast du das gehört, Barbie?«
»Ja«, sagte Ms. Richards. Für Ralph hörte sie sich völlig normal an, und er wußte, die Putzfrau würde den perlgrauen Nebel nicht sehen können, der jetzt in ihren Augen wallte. »Ich glaube, er hat recht, aber würdest du trotzdem draußen bei Peter nachsehen? Wir können gar nicht vorsichtig genug sein.«
»Auf jeden Fall«, sagte die Putzfrau. Sie stellte die Flasche Windex weg, marschierte zur Tür (schenkte Ralph einen letzten, finsteren Blick, der sagte: Du bist alt, aber ich gehe jede Wette ein, daß du irgendwo da unten noch einen Penis hast) und ging hinaus.
Kaum war sie fort, beugte sich Lois über den Schreibtisch. »Barbara, mein Freund und ich müssen noch heute morgen mit Gretchen sprechen«, sagte sie. »Persönlich.«
»Sie ist nicht hier. Sie ist in High Ridge.«
»Sag uns, wie wir dorthin kommen.«
Ms. Richards’ Blick wanderte zu Ralph. Der fand ihre grauen, pupillenlosen Augenhöhlen durch und durch beunruhigend. Als würde man eine klassische Statue ansehen, die irgendwie zum Leben erwacht war. Auch ihre dunkelgrüne Aura war deutlich blasser geworden.
Nein, dachte er. Sie wird nur vorübergehend von Lois’ grauer überlagert, das ist alles.
Lois drehte sich kurz um und folgte Barbara Richards’ Blick zu Ralph, dann drehte sie sich wieder zu der jungen Frau um. »Ja, er ist ein Mann, aber das macht nichts, ich verspreche es. Wir wollen Gretchen Tülbury oder den Frauen in High Ridge nichts tun, aber wir müssen mit ihr reden, also sag uns, wie wir dorthin kommen können.« Sie berührte wieder ihre Hand, worauf ihr Grau wieder am Arm der jungen Frau hinauf schoß.
»Tu ihr nicht weh«, sagte Ralph.
»Nein, aber sie muß reden.« Sie beugte sich dichter zu Richards. »Wo ist es? Komm schon, Barbara.«
»Ihr fahrt auf der Route 33 aus Derry hinaus«, sagte sie. »Die alte Newport Road. Nach etwa zehn Meilen seht ihr ein großes rotes Farmhaus links. Zwei Scheunen stehen dahinter. Danach biegt ihr die erste links ab…«
Die Putzfrau kam herein. »Peter hat nichts gehört -« Sie verstummte abrupt, weil ihr möglicherweise nicht gefiel, wie Lois sich über den Schreibtisch beugte, oder weil sie der leere Gesichtsausdruck ihrer Freundin beunruhigte.
»Barbara? Alles in Ord -«
»Seien Sie still«, sagte Ralph mit leiser, freundlicher Stimme. »Sie unterhalten sich.« Er ergriff den Arm der Putzfrau dicht über dem Ellbogen und verspürte dabei ein kurzes aber starkes Pulsieren von Energie. Einen Augenblick wurden alle Farben in der Welt heller. Die Putzfrau hieß Rachel Anderson. Sie war einmal mit einem Mann verheiratet gewesen, der sie oft und schwer verprügelt hatte, bis er vor acht Jahren verschwunden war. Heute hatte sie einen Hund und ihre Freundinnen bei Woman-Care, und das genügte ihr.
»Aber sicher«, sagte Rachel Anderson mit verträumter, nachdenklicher Stimme. »Sie unterhalten sich, und Peter sagt, es ist alles in Ordnung, also sollte ich wohl besser still sein.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Ralph, der sie immer noch sanft am Oberarm hielt.
Lois sah sich rasch um und vergewisserte sich, daß Ralph die Situation unter Kontrolle hatte, dann wandte sie sich wieder Barbara Richards zu. »Nach dem Farmhaus mit den beiden Scheunen links abbiegen. Okay, das haben wir. Was dann?«
»Dann kommt ein Feldweg. Der führt bergauf – etwa eineinhalb Meilen – und endet an einem weißen Farmhaus. Das ist High Ridge. Es hat die schönste Aussicht -«
»Jede Wette«, sagte Lois. »Barbara, es war schön, dich wiederzusehen. Aber jetzt müssen mein Freund und ich -«
»War auch schön, Sie wiederzusehen, Lois«, sagte Ms. Richards mit abwesender, desinteressierter Stimme.
»Mein Freund und ich werden jetzt gehen. Es ist alles in Ordnung.«
»Gut.«
»Du mußt dich nicht daran erinnern«, sagte Lois.
»Auf keinen Fall.«
Lois wollte schon gehen, da drehte sie sich noch einmal um und nahm das Blatt Papier, das sie aus der Handtasche genommen hatte. Es war auf den Schreibtisch gefallen, als Lois das Handgelenk der Frau ergriffen hatte.
»Warum gehen Sie nicht wieder an die Arbeit, Rachel?« fragte Ralph die Putzfrau. Er ließ vorsichtig ihren Arm los, war aber jederzeit bereit, ihn wieder zu packen, sollte sie zu erkennen geben, daß sie einer erneuten Behandlung bedurfte.
»Ja, ich sollte besser weitermachen«, sagte sie etwas freundlicher. »Ich möchte bis Mittag hier fertig sein, damit ich nach High Ridge fahren und mithelfen kann, Spruchbänder zu machen.«
Lois gesellte sich zu Ralph, während Rachel Anderson wieder zu ihrem Wägelchen mit Putzmitteln ging. Lois sah erstaunt und ein wenig erschüttert drein. »Mit ihnen ist doch alles in Ordnung, Ralph, oder?«
»Ja, ganz sicher. Geht es dir denn gut? Du wirst mir doch nicht ohnmächtig oder so?«
»Mir geht es gut. Kannst du dich an die Wegbeschreibung erinnern?«
»Freilich – sie meint das Gelände, das einmal Barrett’s Orchards gewesen ist. Carolyn und ich sind da jeden Herbst hingegangen, um Äpfel zu pflücken und Cidre zu kaufen, bis sie Anfang der achtziger Jahre schließen mußten. Wenn ich mir vorstelle, daß das High Ridge ist.«
»Du kannst dich später noch wundern, Ralph – ich bin jetzt wirklich am Verhungern.«
»Nun gut. Was stand eigentlich auf dem Zettel? Der Nachricht von der Nichte mit dem Stipendium der Uni?«
Sie lächelte ihn schalkhaft an und gab ihm das Blatt Papier. Es handelte sich um ihre Stromrechnung für den Monat September.
»Haben Sie Ihre Nachricht hinterlassen können?« fragte der Wachmann, als sie herauskamen und den Fußweg hinuntergingen.
»Ja, danke«, sagte Lois und schaltete ihr Megawattlächeln wieder ein. Aber sie blieb in Bewegung und umklammerte Ralphs Hand fest mit ihrer. Er wußte, wie ihr zumute war; er hatte keine Ahnung, wie lange die Suggestionen der beiden Frauen andauern würden.
»Gut«, sagte der Wachmann und folgte ihnen zum Ende des Fußwegs. »Das wird ein langer, langer Tag werden. Bin froh, wenn er vorbei ist. Wissen Sie, wieviel Wachpersonal wir von Mittag bis Mitternacht hier haben? Ein Dutzend. Und das nur hier. Beim Bürgerzentrum werden es über vierzig sein – und das zusätzlich zur hiesigen Polizei.«
Und es wird kein bißchen nützen, dachte Ralph.
»Und weshalb? Damit eine aufmüpfige Blondine ihr Maul aufreißen kann.« Er sah Lois an, als rechnete er damit, sie würde ihm vorwerfen, daß er ein sexistischer Stänkerer sei, aber Lois ließ nur ihr Lächeln wieder aufblitzen.
»Ich hoffe, daß alles gutgeht, Officer«, sagte Ralph und führte Lois über die Straße zu dem Oldsmobile. Er ließ ihn an, wendete mühsam in der Einfahrt von Woman-Care und rechnete jeden Moment damit, daß entweder Barbara Richards, Rachel Anderson, oder beide zur Tür herausgelaufen kommen, sich wild umsehen und mit Fingern auf sie zeigen würden. Schließlich hatte er den Olds in der richtigen Richtung und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Lois sah ihn an und nickte mitfühlend.
»Ich dachte, ich wäre der Vertreter«, sagte Ralph, »aber, Mann, ich habe noch nie gesehen, wie jemand einen Menschen so um den Finger wickelt.«
Lois lächelte bescheiden und verschränkte die Hände im Schoß.
Sie näherten sich dem Parkhaus des Hospitals, als Trigger aus seiner kleinen Kabine gelaufen kam und mit den Armen ruderte. Ralphs erster Gedanke war, daß sie doch keine saubere Flucht bewerkstelligt hatten – der Wachmann mit dem Notizbrett hatte etwas Verdächtiges bemerkt und Trigger über Funk oder Telefon gebeten, sie aufzuhalten. Dann sah er den Gesichtsausdruck – außer Atem, aber glücklich – und was Trigger in der rechten Hand hielt. Es war eine sehr alte und sehr zerschlissene schwarze Brieftasche. Bei jeder Armbewegung klappte sie auf und zu wie ein zahnloser Mund.
»Keine Sorge«, sagte Ralph und bremste den Olds ab. »Ich habe keine Ahnung, was er will, aber ich bin ziemlich sicher, daß es keinen Ärger gibt. Jedenfalls noch nicht.«
»Mir ist egal, was er will. Ich will nur hier weg und etwas essen. Wenn er anfängt, dir seine Angelbilder zu zeigen, Ralph, werde ich persönlich aufs Gaspedal treten.«
»Amen«, sagte Ralph, der genau wußte, daß Trigger nichts mit Angelbildern am Hut hatte. Er war immer noch nicht völlig im Bilde, aber eines wußte er ganz genau: Nichts geschah aus Zufall. Nicht mehr. Dies war der Plan mit all seiner Macht. Er hielt neben Trigger und drückte den Knopf, der das Fenster auf seiner Seite herunterließ. Es senkte sich mit einem ungehaltenen Heulen.
»Ehhh, Ralph!« rief Trigger. »Dacht schon, isch würde disch verpassen!«
»Was ist denn, Trig? Wir haben es ziemlich eilig -«
»Ja, ja, dauert nischt lange, ‘ab’s gleisch ‘ier inner Brieftasche, Ralph. Mann, isch ‘ab mein’ ganzen Papierkram ‘ier, und isch verlier nie was.«
Er spreizte die schlaffen Kiefer der alten Börse und offenbarte ein paar zerknitterte Geldscheine, ein Zellulloidleporello mit Fotos (und konnte Ralph nicht wirklich und wahrhaftig eines von Trigger sehen, wie er einen großen Barsch hochhielt?) und mindestens vierzig Visitenkarten, die meisten zerknittert und abgenutzt. Die suchte Trigger nun mit der Geschwindigkeit eines altgedienten Bankkassierers durch, der Geldscheine zählt.
»Isch werf die Dinger nie weg«, sagte Trigger. »Kann man prima drauf schreiben, besser wie in Notizbüscher, und umsonst. Jetzt aber Moment mal… Augenblick noch, wo steckst du, verfluchtes Ding?«
Lois warf Ralph einen ungeduldigen, besorgten Blick zu und deutete die Straße entlang. Ralph schenkte weder dem Blick noch der Geste Beachtung. Er verspürte ein seltsames Kribbeln in der Brust. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er den Finger ausstreckte und etwas auf die Scheibe von Triggers Lieferwagen schrieb, die beschlagen war – als Folge von kaltem Regen an einem heißen Tag.
»Ralph, erinnerst du disch noch an den Schal, den Ed Deepneau an dem Tag angehabt hat? Weiß mit roten Krakeln darauf?«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Ralph. Fotzenlecker, hatte Ed zu dem vierschrötigen Mann gesagt. Du hast deine Mutter gefickt und ihre Fotze geleckt. Ja, auch an den Schal erinnerte er sich -selbstverständlich. Aber das Rote waren nicht nur Krakel oder Flecken oder sinnlose Schnörkel gewesen, sondern ein oder mehrere Schriftzeichen. Der plötzliche Druck in seiner Magengegend verriet Ralph, daß Trigger aufhören konnte, durch seine alten Visitenkarten zu kramen. Er wußte, worum es ging. Er wußte es.
»Wir haben gedacht, es wäre Chinesisch«, sagte er mit einer Stimme, die von anderswo zu kommen schien. »Jedenfalls ich. Damals zumindest. Aber das stimmt nicht, richtig? Es war Japanisch.«
Trigger sah ihn mit vor Überraschung offenem Mund an. In einer Hand hielt er eine Visitenkarte, die er aus dem Stapel gezogen hatte. Auf der unbeschriebenen Seite sah Ralph eine ungefähre Kopie des doppelten Symbols, das Eds Schal geziert hatte, des doppelten Symbols, das Ralph auf die beschlagene Windschutzscheibe gemalt hatte.
»Worum geht es hier eigentlich?« fragte Lois, die jetzt nicht mehr ungeduldig klang, sondern durch und durch ängstlich.
»Ich hätte es wissen müssen«, hörte sich Ralph mit kläglicher, entsetzter Stimme sagen. »Ich hätte es sehen müssen.«
»Was sehen müssen?« Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Was sehen müssen?«
Er antwortete nicht. Mit einem Gefühl wie ein Mann in einem Traum griff er nach der Visitenkarte. Trigger Vachon lächelte nicht mehr, seine dunklen Augen betrachteten ernst und forschend Ralphs Gesicht.
»Bist du ganz sicher, Trig?« fragte er.
»‘unnert Prozent, Ralphie. Isch ‘ab’s abgemalt, bevor es von der Scheibe verschwunden war, weil isch wußte, daß isch’s schon mal gesehen’atte, und als isch an dem Abend nach ‘ause gekommen bin, da ‘ab isch auch gewußt wo. Marcel, mein großer Bruder, ‘at im letzten Kriegsjahr im Pazifik gekämpft. Und er ‘at einen Schal mit denselben Symbolen mitgebracht, im selben Rot. Isch ‘ab ihn gefragt, nur um ganz sischer zu sein, und er ‘at’s auf diese Karte geschrieben.« Trigger deutete auf die Karte, die Ralph zwischen den Fingern hielt. »Isch wollt’s dir sagen, sobald wir uns wiedersehn, aber isch ‘ab disch bis ‘eute nischt gesehn. Bin froh, daß es mir noch eingefallen ist, aber wenn isch disch so anseh, war’s wahrscheinlisch besser gewesen, ich ‘ätfs vergessen.«
»Nein, ist schon gut.«
Lois nahm ihm die Karte ab. »Was ist das? Was bedeutet es?« »Sag ich dir später.« Ralph griff nach dem Schalthebel. Sein Herz fühlte sich wie ein Stein in seiner Brust an. Lois betrachtete die Symbole auf der freien Seite der Karte, so daß Ralph die bedruckte Rückseite sehen konnte. R. H. FOSTER, BRUNNEN UND TROCKENMAUERN, stand darauf. Darunter hatte Trigs Bruder ein einziges Wort in schwarzen Großbuchstaben geschrieben.
KAMIKAZE.
DRITTER TEIL
Der Scharlachrote König
Wir sind alte Leute, jeder von uns besitzt ein zugeklapptes Rasiermesser.
Robert Lowell Walking in the Blue
Kapitel 20
Während sie mit dem Oldsmobile den Hospital Drive hinunterfuhren, kam es nur zu einem ganz kurzen Gespräch zwischen ihnen.
»Ralph?«
Er sah zu ihr, und dann hastig wieder auf die Straße. Das Ticken unter der Haube hatte wieder angefangen, aber Lois hatte es noch nicht erwähnt. Er hoffte, daß sie es jetzt auch nicht tun würde.
»Ich glaube, ich weiß, wo er ist«, sagte sie mit leiser, fast zaghafter Stimme. »Ed, meine ich. Ich war schon auf dem Dach ziemlich sicher, daß ich das alte Gebäude kenne, das sie uns gezeigt haben.«
»Was ist es? Und wo ist es?«
»Das Gebäude ist eine Flugzeuggarage. Wie sagt man gleich dazu? Ein Hangar.«
»O mein Gott«, sagte Ralph. »Coastal Air an der Bar Harbor Road?«
Lois nickte. »Sie veranstalten Charterflüge, Ausflüge mit dem Wasserflugzeug, solche Sachen. Als wir samstags mal einen Ausflug gemacht haben, ist Mr. Chasse da reingegangen und hat den Mann gefragt, der dort arbeitete, wieviel er für einen Rundflug über die Inseln verlangen würde. Der Mann sagte vierzig Dollar, was viel mehr war, als wir uns für so was leisten konnten, und ich bin sicher, im Sommer wäre der Mann hart geblieben, aber es war erst April, daher hat Mr. Chasse ihn auf zwanzig runterhandeln können. Ich fand das immer noch zuviel für eine Tour, die nicht einmal eine Stunde dauerte, aber ich bin froh, daß wir sie gemacht haben. Es war beängstigend, aber es war wunderschön.«
»Wie die Auren«, sagte Ralph.
»Ja, wie…« Ihre Stimme bebte. Ralph sah hinüber und erblickte Tränen, die ihre pausbäckigen Wangen hinunterliefen. »… wie die Auren.«
»Nicht weinen, Lois.«
Sie fand ein Kleenex in der Handtasche und wischte sich damit die Augen ab. »Ich kann nicht anders. Das japanische Wort auf der Karte bedeutet Kamikaze, oder nicht, Ralph? Göttlicher Wind.« Ihre Lippen bebten. »Selbstmordpilot.«
Ralph nickte. Er hielt das Lenkrad ganz fest umklammert. »Ja«, sagte er. »Das bedeutet es. Selbstmordpilot.«
Route 33 – die in der Stadt Newport Avenue genannt wurde führte in einem Abstand von vier Blocks an der Harris Avenue vorbei, aber Ralph hatte nicht die Absicht, ihrer langen Fastenzeit an der West Side ein Ende zu bereiten. Der Grund dafür war so einfach wie zwingend: Er und Lois konnten es sich nicht leisten, von ihren alten Freunden gesehen zu werden, da sie fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger aussahen als am Montag.
Hatten irgendwelche dieser alten Freunde sie bei der Polizei schon als vermißt gemeldet? Ralph wußte, es wäre möglich, verließ sich aber darauf, daß sie zumindest in seinem Kreis noch keine allzu große Aufmerksamkeit erregt hatten; Faye und die anderen, die auf dem Picknickplatz an der Extension herumhingen, wären zu sehr damit beschäftigt, über den Verlust von nicht nur einem, sondern zwei Mitgliedern der Airvorderen zu trauern, als sich zu fragen, wohin sich Ralph Roberts mit seinem hageren alten Arsch abgesetzt haben mochte.
Bill und Jimmy könnten mittlerweile beide Totenwache, Trauergottesdienst und Beerdigung hinter sich haben, dachte er.
»Wenn du sicher bist, daß wir Zeit für ein Frühstück haben, Ralph, dann solltest du so schnell wie möglich ein Restaurant suchen – ich bin so hungrig, daß ich en Pferd mit Haut und Haaren verspeisen könnte!«
Sie waren jetzt fast eine Meile westlich vom Krankenhaus – weit genug, daß sich Ralph einigermaßen sicher fühlen konnte -, und er sah das Derry Diner vor ihnen auftauchen. Er und Carolyn hatten ein paarmal dort zu Mittag gegessen, und es war nicht so übel. Als er blinkte und auf den Parkplatz abbog, überlegte er sich, daß er seit Carolyns Krankheit nicht mehr hier gewesen war… ein Jahr mindestens, wahrscheinlich länger.
»Da sind wir«, sagte er zu Lois. »Und wir werden nicht nur essen, wir werden soviel essen, wie wir können. Heute kommen wir vielleicht nicht mehr dazu.«
Sie grinste wie ein Schulkind. »Da hast du gerade eines meiner größten Talente angesprochen, Ralph.« Sie rutschte ein wenig auf dem Sitz hin und her. »Außerdem muß ich für kleine Mädchen.«
Ralph nickte. Sie hatten seit Dienstag nichts gegessen, und auf dem Klo gewesen waren sie auch nicht. Lois konnte ruhig für kleine Mädchen; er würde in die Herrentoilette stürmen und ganz doll für große Jungs gehen.
»Komm mit«, sagte er, machte den Motor aus und brachte so das beunruhigende Ticken unter der Haube zum Verstummen. »Zuerst das Klo, dann das große Fressen.«
Auf dem Weg zur Tür sagte sie ihm (mit einer Stimme, die Ralph für eine Spur zu beiläufig hielt), daß sie nicht glaubte, Mina oder Simone hätten sie schon als vermißt gemeldet, jedenfalls noch nicht. Als Ralph den Kopf drehte und nach dem Grund fragte, stellte er zu seinem Erstaunen und seiner Erheiterung fest, daß sie errötete.
»Weil sie beide wissen, daß ich schon seit Jahren in dich verknallt bin.«
»Ist das ein Witz?«
»Selbstverständlich nicht«, sagte sie und hörte sich ein wenig verschnupft an. »Carolyn wußte es auch. Manche Frauen hätte es gestört, aber sie wußte, wie harmlos es war. Wie harmlos ich war. Sie war so ein Schatz, Ralph.«
»Ja. Das war sie.«
»Wie dem auch sei, sie werden wahrscheinlich vermuten, daß wir… du weißt schon…«
»Uns auf ein Schäferstündchen verdrückt haben?«
Lois lachte. »So was in der Art.«
»Würdest du dich gerne mit mir auf ein Schäferstündchen verdrücken, Lois?«
Sie stellte sich auf Zehenspitzen, knabberte kurz an seinem Ohrläppchen, und da geschah etwas Erstaunliches: Er war innerhalb von Sekunden hart wie eine Eisenstange. »Wenn wir das hier lebend überstehen, frag mich noch mal.«
Er gab ihr einen Kuß auf den Mundwinkel, bevor er die Tür aufstieß. »Worauf du dich verlassen kannst.«
Sie gingen auf die Toilette, und als Ralph wieder zu ihr kam, sah Lois nachdenklich und ein wenig erschüttert aus. »Ich kann nicht glauben, daß ich es bin«, sagte sie. »Ich meine, ich muß mich mindestens zwei Stunden im Spiegel angesehen haben, und ich kann es immer noch nicht glauben. Die Krähenfüßchen um meine Augen herum sind verschwunden, und Ralph… mein Haar…«Ihre dunklen spanischen Augen sahen funkelnd und staunend zu ihm auf. »Und du! Mein Gott, ich bezweifle, daß du mit vierzig so gut ausgesehen hast.«
»Habe ich auch nicht, aber du hättest mich mit dreißig sehen sollen.«
Sie kicherte. »Komm schon, du Kindskopf, setzen wir uns und vernichten ein paar Kalorien.«
»Lois?«
Sie sah von der Speisekarte auf, die zusammen mit mehreren anderen zwischen Salz-und Pfefferstreuer gesteckt hatte.
»Als ich auf der Toilette war, habe ich versucht, die Auren zurückkommen zu lassen. Diesmal konnte ich es nicht.«
»Warum wolltest du es, Ralph?«
Er zuckte die Achseln, weil er ihr nichts von dem Gefühl der Paranoia erzählen wollte, das ihn überkommen hatte, als er in der kleinen Toilette stand, sich die Hände wusch und sein seltsam jugendliches Gesicht in dem wasserfleckigen Spiegel betrachtete. Plötzlich war ihm der Gedanke gekommen, er könnte nicht allein da drinnen sein. Schlimmer, Lois hätte nebenan in der Damentoilette nicht allein sein können. Möglicherweise schlich sich Atropos an sie an, völlig unsichtbar, mit an seinen winzigen Ohrläppchen baumelnden Diamantohrringen und ausgestrecktem Skalpell…
Aber statt Lois’ Ohrringen oder McGoverns Panama hatte Ralphs geistiges Auge das Springseil heraufbeschworen, das Atropos benützt hatte, als Ralph ihn (drei-sechs-neun, die Gans trank Wein) auf dem leeren Baugrundstück zwischen der Bäckerei und dem Bräunungsstudio entdeckt hatte, das Springseil, das einmal kostbarer Besitz eines kleinen Mädchens gewesen war, das beim Fangenspielen in der Wohnung stolperte, im ersten Stock aus dem Fenster fiel und sich das Genick brach (was für ein schrecklicher Unfall, sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, wenn es einen Gott gibt, warum läßt er so etwas zu, und so weiter, und so fort, ganz zu schweigen von bla-bla-bla).
Er sagte sich, daß er damit aufhören sollte, daß es schon schlimm genug sei, auch wenn er sich keine grausamen Bilder ausmalte, wie Atropos Lois’ Ballonschnur durchschnitt, aber das half nichts… zumal er wußte, Atropos könnte sich tatsächlich hier bei ihnen im Restaurant aufhalten, das Springseil in einer und das rostige Skalpell in der anderen Hand, und er könnte mit ihnen anstellen, was er wollte. Einfach alles.
Lois streckte die Hand über den Tisch aus und strich ihm über den Handrücken. »Keine Bange. Die Farben werden wiederkommen. Sie kommen immer wieder.«
»Wahrscheinlich.« Er nahm sich selbst eine Speisekarte, schlug sie auf und ließ den Blick über das Frühstücksangebot schweifen. Sein erster Eindruck war, daß er von allem etwas wollte.
»Als du zum erstenmal gesehen hast, daß Ed sich wie ein Verrückter aufgeführt hat, kam er vom Flughafen von Derry«, sagte Lois. »Jetzt wissen wir, warum. Er hat Flugstunden genommen, nicht?«
»Natürlich. Als Trig mich zur Harris Avenue zurückgefahren hat, hat er sogar erwähnt, daß man einen Paß braucht, wenn man diesen Weg benutzen will. Er fragte mich, ob ich wüßte, wie Ed einen bekommen haben könnte, und ich sagte nein. Jetzt weiß ich es. Wahrscheinlich bekommen alle Flugschüler einen.«
»Glaubst du, Helen hat von seinem Hobby gewußt?« fragte Lois. »Wahrscheinlich nicht, oder?«
»Mit Sicherheit nicht. Ich bin sicher, er ist, gleich nachdem er auf den Mann von West Side Gardeners getroffen war, zu Coastal Air gewechselt. Dieser kleine Zwischenfall hätte ihn überzeugen können, daß er die allmählich Kontrolle verlor und gut beraten wäre, wenn er seine Lektionen etwas weiter von zu Hause entfernt nehmen würde.«
»Vielleicht hat ihn auch Atropos überzeugt«, sagte Lois düster.
»Atropos oder jemand von noch weiter oben.«
Die Vorstellung gefiel Ralph nicht besonders, aber sie schien dennoch zutreffend zu sein. Wesenheiten, dachte er und erschauerte. Der Scharlachrote König.
»Sie lassen ihn tanzen wie eine Marionette, oder nicht?« fragte Lois.
»Du meinst Atropos?«
»Nein. Atropos ist ein widerlicher kleiner Pisser, aber sonst unterscheidet er sich, glaube ich, kaum von Mr. K. und Mr. L. -niederes Personal, im großen Weltplan wahrscheinlich nur eine Stufe über ungelernten Hilfsarbeitern.«
»Hausmeister.«
»Nun, ja, vielleicht«, stimmte Lois zu. »Hausmeister und Handlanger. Atropos ist wahrscheinlich derjenige, der Ed am gründlichsten bearbeitet hat, und ich gehe jede Wette ein, daß er seine Arbeit liebt, aber ich bin überzeugt, seine Befehle kommen von weiter oben. Viel weiter oben. Hört sich das mehr oder weniger logisch an?«
»Ja. Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, wie verrückt Ed. war, bevor das alles angefangen hat, oder wann genau Atropos seine Ballonschnur durchgeschnitten hat, aber was mich im Augenblick am meisten interessiert, ist ziemlich weltlich. Mich würde interessieren, wie, um alles in der Welt, er Charlie Pickerings Kaution zusammenbekommen hat, und wie er für seine verdammten Flugstunden bezahlen konnte.«
Bevor Lois antworten konnte, kam eine kaugummikauende Kellnerin näher und holte einen Bestellblock und einen Kugelschreiber aus der Tasche ihrer Schürze. »Was darfs sein?«
»Ein Käse-und Pilzomelette«, sagte Ralph.
»Hm-hmm.« Sie wechselte den Kaugummi von einer Seite auf die andere. »Zwei oder drei Eier, Schatz?«
»Vier, wenn’s recht ist.«
Sie zog eine Braue leicht in die Höhe und schrieb auf den Block. »Mir soll’s recht sein. Etwas dazu?«
»Ja, bitte. Ein Glas Orangensaft, groß, eine Portion Speck, eine Portion Würstchen und eine Portion Bratkartoffeln. Sagen wir lieber eine doppelte Portion Bratkartoffeln.« Die Kellnerin schrieb schnell und kaute noch schneller. »Oh, und haben Sie noch Blätterteigplunder?«
»Ich glaube, ich habe einen mit Käse und einen mit Apfel.« Sie sah ihn an. »Sie sind ziemlich hungrig, Schatz, was?«
»Als hätte ich seit einer Woche nichts gegessen«, sagte Ralph. »Ich nehme den Käseplunder. Und Kaffee. Jede Menge schwarzen Kaffee. Haben Sie alles mitbekommen?«
»Oh, das hab ich, Schatz. Ich möchte nur auch gern mitbekommen, wie Sie aussehen, wenn Sie wieder gehen.« Sie sah Lois an. »Und Sie, Ma’am?«
Lois lächelte zuckersüß. »Ich nehme dasselbe wie er. Schatz.«
Ralph sah der davoneilenden Kellnerin nach, dann zur Uhr an der Wand, stellte seine Armbanduhr neu und zog sie auf. Es war erst zehn nach sieben, was eine Erleichterung hätte sein sollen. Sie konnten es in weniger als einer halben Stunde bis zu Barrett’s Orchards schaffen, und wenn sie ihre geistigen Laser auf Gretchen Tillbury richteten, wäre es möglich, daß die Rede von Susan Day bis spätestens neun Uhr abgesagt werden konnte. Aber statt Erleichterung verspürte er eine unerbittliche, nagende Angst. Als hätte man einen schrecklichen Juckreiz an einer Stelle, die man mit den Fingern nicht erreichen konnte.
»Nun gut«, sagte er schließlich, »fassen wir zusammen. Ich denke, wir können davon ausgehen, daß sich Ed schon ziemlich lange Gedanken über die Abtreibung macht, daß er wahrscheinlich seit Jahren Abtreibungsgegner ist. Dann kann er plötzlich nicht mehr schlafen… hört Stimmen…« »… sieht kleine kahlköpfige Männer…« »Nun, speziell einen«, stimmte Ralph zu. »Atropos wird zu seinem Guru, erzählt ihm vom Scharlachroten König, den Zenturionen, dem ganzen Theater. Als Ed mir von König Herodes erzählte -«