Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Sie sind wirklich und wahrhaftig keine Götter, was? dachte Ralph. Ihm war übel vor Grauen und Ekel. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns besteht darin, daß sie länger leben und nicht so leicht zu sehen sind. Und ich schätze, ich bin kein guter Soldat – wenn ich das viele Blut nur sehe, könnte ich schon umkippen. Scheiße.
[Ja, gut, ich verspreche es! Hör auf, mich zu schneiden! Nicht mehr! Bitte, nicht mehr!]
[»Das ist immerhin ein Anfang, aber du wirst schon etwas deutlicher werden müssen. Ich möchte hören, wie du mir versprichst, daß du von mir und Los wegbleibst, und von Ed auch, bis die Veranstaltung im Bürgerzentrum vorbei ist.«]
Er rechnete mit weiteren Ausflüchten und Gegenwehr, aber Atropos überraschte ihn.
[Ich verspreche es! Ich verspreche, daß ich mich von dir fernhalte, und von dem Weibsstück, mit dem du dich herumtreibst -]
[»Lois. Sag ihren Namen. Lois.«]
[»Ja, ja – sie – Lois Chasse! Ich verspreche, daß ich nicht in ihre Nähe kommen, und auch nicht in die von Deepneau. Ich halte mich von euch allen fern, wenn du nur versprichst, daß du mich nicht mehr schneidest. Bist du nun zufrieden? Ist das gut genug? Gottverdammt!]
Ralph entschied, daß er zufrieden war… so zufrieden ein Mann nur sein kann, den seine Methoden und sein eigenes Vorgehen zutiefst abstoßen. Er glaubte nicht, daß es Stolperfallen in Atropos’ Versprechen gab; der kleine Mann wußte, später würde er vielleicht einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, daß er jetzt nachgegeben hatte, aber letzten Endes hatte das die Schmerzen und die Angst nicht übertreffen können, die Ralph über ihn gebracht hatte.
[»Ja, Mr. A., ich glaube, das ist gut genug.«]
Als Ralph von seinem kleinen Opfer herunterrollte, hatte er ein flaues Gefühl im Magen und den Eindruck – der falsch sein mußte, oder nicht? -, daß sich sein Hals öffnete und schloß wie die Schale einer Muschel. Er betrachtete einen Moment das blutbefleckte Skalpell, dann beugte er den Arm und warf es so weit weg, wie er konnte. Es flog durch den Torbogen und verschwand im angrenzenden Lagerraum.
Aber dafür, dachte Ralph. Nun war ihm nicht mehr nach Erbrechen zumute. Mehr zum Weinen.
Atropos erhob sich langsam auf die Knie und sah sich mit den benommenen Augen eines Mannes um, der einen ungeheuren Sturm überlebt hat. Er sah sein Ohr auf dem Boden liegen und hob es auf. Er drehte es in seinen kleinen Händen und betrachtete die Knorpelstränge an der Rückseite. Dann sah er zu Ralph auf. Tränen des Schmerzes und der Demütigung schwammen in seinen Augen, aber es war auch noch etwas anderes darin zu sehen – eine so ungeheure und tödliche Wut, daß Ralph davor zurückschrak. Seine Vorsichtsmaßnahmen und Vorkehrungen wirkten angesichts dieser Wut lächerlich unzureichend. Er wich einen taumelnden Schritt zurück und zeigte mit einem zitternden Finger auf Atropos.
[»Denk an dein Versprechen.«]
Atropos fletschte die Zähne zu einem tückischen Grinsen. Der Hautlappen an der Seite seines Gesichts schwang hin und her wie ein schlaffes Segel, das rohe Fleisch darunter näßte und blutete.
[Selbstverständlich denke ich daran – wie könnte ich es vergessen? Ich werde dir sogar noch eines machen. Zwei zum Preis von einem, könnte man sagen.]
Atropos machte eine Geste, an die sich Ralph noch deutlich vom Dach des Krankenhauses erinnerte, er spreizte die ersten beiden Finger der rechten Hand zu einem V und zog sie nach oben, so daß ein roter Bogen in der Luft entstand. Dahinter konnte man undeutlich, wie durch einen Nebel aus Blutstropfen, das Red Apple erkennen. Er wollte fragen, wer da im Vordergrund am Bordstein der Harris Avenue stand… aber dann wußte er es plötzlich. Er sah Atropos mit erschrockenen Augen an.
[»Himmel, nein! Das kannst du nicht!«]
Das Grinsen auf Atropos’ Gesicht wurde noch breiter.
[Weißt du, das hatte ich auch von dir gedacht, Kurzer. Aber ich habe mich geirrt. Du auch. Paß auf.]
Atropos bewegte die gespreizten Finger ein Stück weiter. Ralph sah jemand mit einer Baseballmütze der Boston Red Sox aus dem Red Apple kommen, und diesmal wußte Ralph sofort, wen er vor sich sah. Diese Peerson rief der anderen auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwas zu, und dann spielte sich etwas Schreckliches ab. Ralph wandte sich voller Ekel von dem blutigen Bild der Zukunft zwischen Atropos’ winzigen Fingern ab.
Aber er hörte, als es passierte.
[Der, den ich dir als ersten gezeigt habe, gehört dem Zufall, Kurzer – mit anderen Worten, mir. Und nun kommt mein Versprechen: Wenn du mir weiter in die Quere kommst, wird passieren, was ich dir gerade gezeigt habe. Du kannst nichts tun, keine Warnung aussprechen, die es verhindern wird. Aber wenn du jetzt aufgibst – wenn du und die Frau, wenn ihr beide einfach zur Seite tretet und die Ereignisse ihren Lauf nehmen laßt -, dann verzichte ich darauf.]
Die Obszönitäten, die so einen großen Teil von Atropos üblichen Sprüchen bildeten, waren abgestreift worden wie ein gebrauchtes Kostüm, und zum erstenmal wurde Ralph bewußt, wie wahrhaft alt und auf bösartige Weise gerissen dieses Wesen war.
[Denk daran, was die Junkies sagen, Kurzer: Sterben ist leicht, Leben ist hart. Das ist ein wahres Sprichwort. Wenn einer das wissen muß, dann ich. Also, was meinst du? Kommen dir Zweifel?]
Ralph stand mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten in der schmutzigen Kammer. Lois’ Ohrringe brannten in einer Hand wie kleine, heiße Kohlen. Auch Eds Ring schien an seinem Körper zu brennen, und er wußte, nichts auf der Welt würde ihn daran hindern, ihn aus der Tasche zu holen und wie das Skalpell ins Nebenzimmer zu werfen. Er erinnerte sich an eine Geschichte, die er vor etwa tausend Jahren in der Schule gelesen hatte. Sie trug den Titel »Die Dame – oder der Tiger?«, und nun wußte er, wie es war, wenn man eine so schreckliche Macht besaß… und vor einer so schrecklichen Entscheidung stand. Oberflächlich gesehen schien es einfach zu sein; was war schon ein Leben verglichen mit zweitausenddreihundert?
Aber dieses eine Leben-!
Aber es ist ja nicht so, daß es jemals jemand erfahren müßte, dachte er kalt. Niemand, abgesehen vielleicht von Lois… und Lois würde meine Entscheidung akzeptieren. Carolyn hätte es vielleicht nicht getan, aber sie sind grundverschiedene Frauen.
Ja, aber hatte er das Recht?
[Selbstverständlich, Ralph – darum geht es bei diesen Fragen von Leben und Tod in Wirklichkeit: Wer das Recht hat. Diesmal bist du es. Also, was sagst du?]
[»Ich weiß nicht, was ich sage. Ich weiß nicht, was ich denke. Ich weiß nur, ich wünschte, ihr drei hättet mich EINFACH IN RUHE GELASSEN!«]
Ralph Roberts hob den Kopf zur wurzeldurchzogenen Decke von Atropos’ Behausung und schrie.
Kapitel 27
Fünf Minuten später streckte Ralph den Kopf aus den Schatten unter der alten umgestürzten Eiche heraus. Er sah Lois sofort. Sie kniete vor ihm und sah ihm ängstlich durch das Dickicht der Wurzeln ins Gesicht. Er hob eine schmutzige, blutüberströmte Hand, die sie ergriff, um ihm einen Halt zu geben, während er die letzten Stufen heraufkam – knorrige Wurzeln, die mehr Ähnlichkeit mit Leitersprossen hatten.
Ralph wand sich unter dem Baum hervor, drehte sich auf den Rücken und atmete die herrliche, frische Luft in vollen Zügen ein. Er glaubte, daß die Luft in seinem ganzen Leben noch nie so angenehm gerochen hätte. Trotz allem war er ungeheuer dankbar, draußen zu sein. Frei zu sein.
[»Ralph? Alles in Ordnung?«]
Er drehte ihre Hand um, küßte die Handfläche und legte die Ohrringe dann dorthin, wo seine Lippen gewesen waren.
[»Ja. Bestens. Die gehören dir.«]
Sie betrachtete sie neugierig, als hätte sie noch nie Ohrringe gesehen – weder diese noch andere -, dann steckte sie sie in die Tasche.
[»Du hast sie im Spiegel gesehen, Lois, richtig?«]
[»Ja, und es hat mich wütend gemacht… aber ich glaube, eigentlich war ich nicht überrascht, im tiefsten Inneren nicht.«]
[»Weil du es gewußt hast.«]
[»Ja, ich schätze, das habe ich. Vielleicht schon, als wir Atropos zum erstenmal mit Bills Hut gesehen haben. Ich habe es nur…du weißt schon… verdrängt.«]
Sie sah ihn durchdringend und abschätzend an.
[»Aber lassen wir meine Ohrringe jetzt – was ist da unten passiert? Wie bist du entkommen?«]
Ralph hatte Angst, daß sie zuviel sehen würde, wenn sie ihn lange auf diese gründliche Art und Weise betrachtete.
Außerdem fürchtete er, wenn er sich nicht bald in Bewegung setzen würde, würde er nie mehr aufstehen können; seine Müdigkeit war inzwischen so gewaltig, sie glich einem riesigen, verkrusteten Objekt – möglicherweise einem vor langer Zeit gesunkenen Ozeanriesen -, das in ihm lag, ihn rief und versuchte, ihn in die Tiefe zu ziehen. Er stand auf. Er durfte nicht zulassen, daß einer von ihnen in die Tiefe gezogen wurde, jetzt nicht. Die Neuigkeiten, die der Himmel verkündete, waren nicht so schlimm, wie sie hätten sein können, aber schlimm genug – es war mindestens achtzehn Uhr. Überall in Derry setzten sich Leute, die das Thema Abtreibung keinen Scheißdreck interessierte (mit anderen Worten, die große Mehrheit), zum Abendessen hin. Im Bürgerzentrum würden die Türen jetzt geöffnet werden; 1000 Fernsehscheinwerfer würden sie anstrahlen, Minicams würden Livebilder der ersten Abtreibungsbefürworter übertragen, die an Dan Dalton und seinen schilderschwingenden Friends of Life vorbeifuhren. Nicht weit von hier entfernt sangen Leute das alte Lieblingslied von Ed Deepneau: Hey, hey, Susan Day, how many kids did you kill today? Was auch immer er und Lois tun würden, sie mußten es in den nächsten sechzig bis neunzig Minuten tun. Die Uhr tickte.
[»Komm mit, Lois. Wir müssen uns beeilen.«]
[»Gehen wir ins Bürgerzentrum zurück?«]
[»Nein, nicht gleich. Ich glaube, vorher müssen wir -«]
Ralph stellte fest, daß er es einfach nicht erwarten konnte, zu hören, was er zu sagen hatte. Wohin mußten sie seiner Meinung nach vorher? Ins Derry Home zurück? Ins Red Apple? Sein Haus? Wohin ging man, wenn man zwei wohlmeinende, aber alles andere als allwissende Burschen suchte, die einen selbst und seine engsten Freunde in eine Welt voller Schmerzen und Sorgen gestürzt hatten? Oder konnte man davon ausgehen, daß sie einen fanden?
Vielleicht wollen sie dich nicht finden, mein Lieber. Möglicherweise verstecken sie sich sogar vor dir.
[»Ralph, bist du sicher, daß du -«]
Plötzlich dachte er an Rosalie und wußte es.
[»Der Park, Lois. Strawford Park. Dorthin müssen wir. Aber unterwegs müssen wir noch einmal haltmachen.«]
Er führte sie am Sturmzaun entlang, und wenig später hörten sie das träge Murmeln verschiedener Stimmen. Ralph konnte gegrillte Hot Dogs riechen, und nach dem Gestank von Atropos’ Bau kam ihm der Duft wie Ambrosia vor. Eine oder zwei Minuten später gelangten er und Lois an den Rand des kleinen Picknickgeländes in der Nähe der Startbahn 3.
Dorrance stand in seiner erstaunlichen vielfarbigen Aura dort und beobachtete ein Kleinflugzeug, das sich der Landebahn näherte. Hinter ihm saßen Faye Chapin und Don Veazie mit einem Schachbrett zwischen sich und einer halbvollen Flasche Blue Nun griffbereit an einem der Picknicktische. Stan und Georgina Eberly tranken Bier und schwenkten Gabeln mit aufgespießten Hot Dogs in der flimmernden Hitze – für Ralph hatte dieses Flimmern einen seltsam trockenen rosa Farbton, wie korallenfarbener Sand – über einem der Grillplätze des Picknickgeländes.
Einen Augenblick stand Ralph nur, wo er war, wie vom Donner gerührt von ihrer Schönheit – die vergängliche, außerordentliche Schönheit, die, vermutete er, das Wesentliche im Leben der Kurzfristigen bildete. Ein Stück aus einem mindestens fünfundzwanzig Jahre alten Lied fiel ihm ein: We are stardust, we are golden. Dorrance’ Aura war anders – auf sagenhafte Weise anders -, aber selbst die prosaischste Aura von den anderen funkelte wie seltene und unendlich kostbare Edelsteine.
[»O Ralph, siehst du es? Siehst du, wie wunderschön sie sind?«]
[»Ja.«]
[»Jammerschade, daß sie es nicht wissen.«]
Stimmte das? Im Licht der jüngsten Ereignisse war Ralph da nicht mehr so sicher. Und er hatte eine Ahnung – eine undeutliche, aber ausgeprägte Intuition, die er niemals in Worte hätte fassen können -, daß wahre Schönheit etwas war, das das bewußte Selbst gar nicht erkannte, ein ständig im Entstehen begriffenes Kunstwerk, etwas, das mehr Sein als Sehen war.
»Los doch, Dummkopf, mach deinen Zug«, sagte eine Stimme. Ralph wirbelte herum, weil er zuerst dachte, die Stimme hätte ihn angesprochen, aber es war Faye, der sich mit Don Veazie unterhielt. »Du bist eine lahme Ente.«
»Hör auf«, sagte Don. »Ich denke nach.«
»Du kannst nachdenken, bis die Hölle zufriert, und bist trotzdem in sechs Zügen matt.«
Don goß etwas Wein in einen Pappbecher und verdrehte die Augen. »Pest und Hölle!« rief er. »Ich hab nicht gewußt, daß ich gegen Boris Spasski Schach spiele! Ich dachte, es wäre nur der gute alte Faye Chapin! Ich wälze mich vor dir im Staub!«
»Echt Klasse, Don. Mit der Show könntest du auf Tournee gehen und eine Million Dollar verdienen. Und du mußt nicht einmal lange warten – noch sechs Züge, und du kannst aufbrechen.«
»Was für ein Klugscheißer«, sagte Don. »Du weißt einfach nicht, wann du -«
»Pssst!« sagte Georgina Eberly schneidend. »Was war das? Hat sich angehört, als wäre was explodiert!«
»Das« war Lois, die eine regenwaldgrüne Flut aus Georginas Aura saugte.
Ralph hob die rechte Hand, krümmte sie zu einer Röhre um die Lippen und inhalierte einen ähnlichen blauen Strom aus der Aura von Stan Eberly. Er spürte auf der Stelle, wie ihn frische Energie erfüllte; es war, als wären Neonröhren in seinem Gehirn eingeschaltet worden. Aber das gewaltige versunkene Schiff, bei dem es sich überwiegend um vier Monate weitgehend schlafloser Nächte handelte, war immer noch da und versuchte, ihn dorthin hinunterzuziehen, wo es lag.
Und auch die Entscheidung war noch da – sie war weder so noch so getroffen worden, sondern nur aufgeschoben.
Stan sah sich ebenfalls um. So viel Ralph auch von seiner Aura nahm (und ihm kam es so vor, als hätte er eine gewaltige Menge genommen), die Quelle blieb so hell strahlend wie immer. Offenbar entsprach alles, was sie über die fast endlosen Energievorräte eines jeden menschlichen Wesens erfahren hatten, der Wahrheit.
»Nun«, sagte Stan, »ich hab auch was gehört -«
»Ich nicht«, sagte Faye.
»Logisch, du bist ja auch eine taube Nuß«, antwortete Stan. »Hör auf, einen ständig zu unterbrechen, ja? Ich wollte sagen, es war kein Treibstofftank, weil kein Feuer und kein Rauch zu sehen sind. Kann auch nicht sein, daß Don gefurzt hat, weil keine toten Eichhörnchen mit versengtem Fell von den Bäumen fallen. Muß eine Fehlzündung von einem der großen Lastwagen der Air National Guard gewesen sein. Keine Bange, Liebling. Ich werd dich beschützen.«
»Beschütz das da«, sagte Georgina, schlug eine Hand in die Ellbogenbeuge und ballte die Faust in seine Richtung. Aber sie lächelte dabei.
»O Mann«, sagte Faye, »seht euch mal den alten Dor an.«
Sie sahen alle zu Dorrance, der lächelte und n Richtung der Harris Avenue Extension winkte.
»Wen siehst du denn da, altes Haus?« fragte ihn Don Veazie grinsend.
»Ralph und Lois«, sagte Dorrance und lächelte strahlend. »Ich sehe Ralph und Lois. Sie sind gerade unter dem alten Baum hervorgekommen!«
»Klar«, sagte Stan. Er schirmte die Augen ab, dann zeigte er direkt auf sie. Das jagte einen Stromschlag durch Ralphs Nervensystem, der erst abflaute, als ihm klar wurde, daß Stan nur auf die Stelle zeigte, wohin Dorrance winkte. »Und seht doch! Elvis und Glenn Miller kommen gleich hinter ihnen! Gottverdammt!«
Georgina stieß mit dem Ellbogen nach ihm, und Stan wich grinsend einen Schritt zur Seite.
[»Hallo, Ralph! Hallo, Lois!«]
[»Dorrance! Wir gehen zum Strawford Park? Ist das richtig?«]
Dorrance, glücklich grinsend: [»Weiß nicht. Das sind jetzt alles langfristige Angelegenheiten, und ich bin fertig damit. Ich geh bald nach Hause und lese Walt Whitman. Es wird eine stürmische Nacht werden, und Walt Whitman ist immer am besten, wenn der Wind weht.«]
Lois, beinahe hysterisch: [»Dorrance, hilf uns!«]
Dors Grinser verlosch, und er sah sie ernst an.
[»Ich kann nicht. Es wurde mir aus den Händen genommen. Was getan werden muß, müssen du und Ralph jetzt tun.«]
»Bäh«, sagte Georgina. »Ich hasse es, wenn er so glotzt. Man könnte fast meinen, daß er wirklich jemanden sieht.« Sie griff nach der Grillgabel mit dem langen Stiel und grillte ihren Hot Dog weiter. »Übrigens, hat jemand Ralph und Lois gesehen?«
»Nein«, sagte Don.
»Die haben sich mit einem Kasten Bier und einer Flasche Johnson’s Babyöl in einem der Stundenhotels an der Küste verbarrikadiert«, sagte Stan. »Einer großen Flasche. Das hab ich euch gestern schon gesagt.«
»Schmutziger alter Mann«, sagte Georgina, die ihre Ellbogengeste diesmal nachdrücklicher und akkurater ausführte.
Ralph: [»Dorrance, kannst du uns überhaupt keine Hilfe geben? Uns wenigstens sagen, ob wir auf der richtigen Spur sind?«]
Einen Augenblick war er überzeugt, daß Dor antworten würde. Dann ertönte ein summendes Dröhnen am Himmel, das langsam näherkam, und der alte Mann sah auf. Sein strahlendes, wunderschönes Lächeln tauchte wieder auf. »Seht!« rief er. »Eine alte Grauman Yellow Bird! Was für ein toller Vogel!« Er lief zum Maschendrahtzaun, um die Landung der kleinen gelben Maschine zu verfolgen, und drehte ihnen den Rücken zu.
Ralph ergriff Lois’ Arm und versuchte, selbst zu lächeln. Es fiel ihm schwer – er glaubte, daß er sich in seinem ganzen Leben noch nie so ängstlich und verwirrt gewesen war -, aber er versuchte es trotzdem.
[»Komm mit, Liebste. Gehen wir.«]
Ralph erinnerte sich, wie er gedacht hatte – als sie sich auf dem stillgelegten Gleis fortbewegten, das sie zuletzt zum Flughafen zurückgeführt hatte -, daß Gehen nicht der richtige Ausdruck für ihre Art von Fortbewegung war; es war mehr ein Gleiten gewesen. Sie bewegten sich auf dieselbe Weise vom Picknickplatz am Ende der Startbahn 3 zum Strawford Park zurück. Nur war das Gleiten jetzt schneller und ausgeprägter. Es war, als würden sie von einem unsichtbaren Förderband transportiert werden.
Er hörte versuchsweise einmal auf zu gehen. Die Häuser und Geschäftsfassaden glitten weiter vorbei. Er sah auf seine Füße hinunter, um ganz sicherzugehen, und tatsächlich, sie blieben völlig reglos. Es schien, als würde sich der Bürgersteig bewegen, nicht er.
Da kam Mr. Dugan, Leiter der Kreditabteilung der Derry Trust’s, in seinem üblichen dreiteiligen Anzug und der randlosen Brille. Wie immer sah er für Ralph wie der einzige Mann der Menschheitsgeschichte aus, der ohne Arschloch zur Welt gekommen war. Er hatte einmal Ralphs Antrag auf einen Ratenkredit abgelehnt, und Ralph vermutete, daß das ein Grund für seine negative Einstellung dem Mann gegenüber sein mochte. Jetzt sah er, daß Dugans Aura die stumpfe, graue Farbe der Flure in einem Militärkrankenhaus hatte, und Ralph überlegte sich, daß ihn das nicht sonderlich überraschte. Er hielt sich die Nase zu wie ein Mann, der gezwungen ist, durch einen verschmutzten Kanal zu schwimmen, und ging direkt durch den Banker hindurch. Dugan zuckte nicht einmal zusammen.
Das war irgendwie lustig, aber als Ralph Lois ansah, verflog seine Heiterkeit schlagartig. Er sah ihren besorgten Gesichtsausdruck und die Fragen, die sie stellen wollte. Fragen, auf die er keine zufriedenstellenden Antworten hatte.
Vor ihnen lag der Strawford Park. Vor Ralphs Augen gingen plötzlich die Straßenlampen an. Der kleine Spielplatz, wo er und McGovern – oft in Gesellschaft von Lois – den Kindern beim Spielen zugesehen hatten, war fast verlassen. Zwei Kids der Junior High saßen nebeneinander auf den Schaukeln, rauchten Zigaretten und unterhielten sich, aber die Mütter und Kleinkinder, die tagsüber hierher kamen, waren alle fort.
Ralph dachte an McGovern – an sein unablässiges morbides Geschwätz und sein Selbstmitleid, die einem kaum auffielen, wenn man ihn kennenlernte, aber allgegenwärtig schienen, wenn man länger mit ihm zusammen war, allerdings durch seinen respektlosen Witz und seine überraschenden, impulsiven Freundlichkeiten gemildert und in etwas Besseres verwandelt wurden – und spürte, wie ihn eine tiefe Traurigkeit überkam. Kurzfristige waren vielleicht Sternenstaub, und sie waren vielleicht golden, aber wenn sie fort waren, dann waren sie fort, genau wie die Mütter und Babys, die an sonnigen Sommernachmittagen für kurze Zeit zum Spielen hierher kamen.
[»Ralph, was machen wir hier? Das Leichentuch ist über dem Bürgerzentrum, nicht über dem Strawford Park!«]
Ralph führte sie zu der Parkbank, wo er sie vor mehreren Jahrhunderten gefunden hatte, als sie wegen eines Streits mit ihrem Sohn und ihrer Tochter weinte… und wegen ihrer verlorenen Ohrringe. Unten am Hügel glänzten die beiden Port-O-Sans in der zunehmenden Dämmerung.
Ralph machte die Augen zu. Ich werde verrückt, dachte er, und ich bin mit dem Schnellzug dorthin unterwegs, nicht mit der Bummelbahn. Was wird es sein? Die Dame… oder der Tiger?
[»Ralph, wir müssen etwas tun. Die Menschen… Tausende von Menschen…«]
In der Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern sah Ralph jemanden aus dem Red Apple kommen. Eine Gestalt in dunklen Kordhosen und einer Red-Sox-Mütze. Gleich würde das Schickliche wieder seinen Lauf nehmen, und weil Ralph es nicht sehen wollte, schlug er die Augen auf und betrachtete die Frau neben sich.
[»Jedes Menschenleben ist wichtig, Lois, würdest du das nicht auch sagen? Jedes einzelne.«
Er wußte nicht, was sie in seiner Aura sah, aber es bereitete ihr eindeutig Todesängste.
[»Was ist da unten passiert, nachdem ich gegangen bin? Was hat er dir gesagt oder getan? Sag es mir, Ralph! Sag es mir!«]
Was sollte es sein? Eine oder viele? Die Dame oder der Tiger? Wenn er nicht bald handelte, würde ihm die Entscheidung einfach von der verrinnenden Zeit aus der Hand genommen werden. Also was? Was?
»Keines… oder beides«, sagte er heiser und merkte in seiner schrecklichen Zwickmühle gar nicht, daß er es laut und auf mehreren Ebenen gleichzeitig aussprach. »Ich werde mich nicht so oder so entscheiden. Niemals. Habt ihr gehört?«
Er sprang von der Bank auf und sah wild um sich.
»Habt ihr mich gehört?« schrie er. »Ich lehne die Entscheidung ab! Entweder BEIDES oder KEINS VON BEIDEM!«
Auf einem der Wege nördlich von ihnen sah ein Penner auf, der nach Pfandflaschen und -dosen gesucht hatte, warf einen Blick auf Ralph und suchte das Weite. Er hatte einen Mann gesehen, der in Flammen zu stehen schien.
Lois stand auf und nahm sein Gesicht zwischen die Hände.
[»Ralph, was ist denn? Wer ist es? Ich? Du? Denn wenn ich es bin, wenn du dich wegen mir zurückhältst, möchte ich nicht -«]
Er holte tief und schwer Luft, dann berührte er ihre Stirn mit seiner und sah ihr in die Augen.
[»Du bist es nicht, Lois, und ich auch nicht. Wäre es einer von uns, könnte ich mich vielleicht entscheiden. Aber wir sind es nicht, und der Teufel soll mich holen, wenn ich weiter ein Bauer auf dem Schachbrett sein will.«]
Er riß sich los und ging einen Schritt von ihr weg. Seine Aura loderte so grell auf, daß sie die Hand vor die Augen halten mußte; es war, als würde er irgendwie explodieren. Und als er die Stimme erhob, hallte sie wie Donner in ihrem Kopf.
[»KLOTHO! LACHESIS! KOMMT ZU MIR, VERDAMMT, UND ZWAR SOFORT!«]
Er ging zwei oder drei Schritte weiter und sah bergab. Die beiden Jungs von der Junior High, die auf den Schaukeln saßen, sahen mit denselben ängstlichen Mienen zu ihm auf. Sie flohen in dem Moment, als Ralphs Blick auf sie fiel, flohen aufgeschreckt wie zwei Rehe zu den Lichtern der Witcham Street und ließen die schwelenden Zigaretten in den Fußspuren unter den Schaukeln zurück.
[»KLOTHO! LACHESIS!«]
Er brannte wie ein elektrischer Lichtbogen, und plötzlich floß sämtliche Kraft wie Wasser aus Lois’ Beinen heraus. Sie wich einen Schritt zurück und ließ sich auf die Parkbank fallen. Ihre Gedanken kreisten in ihrem Kopf, ihr Herz schlug rasend schnell, und unter allem lag diese grenzenlose Erschöpfung. Ralph sah sie als gesunkenes Schiff; Lois sah sie als Grube, um die sie in einer immer engeren Spirale gehen mußte, eine Grube, in die sie am Ende fallen würde.
[»KLOTHO! LACHESIS! EURE LETZTE CHANCE! DAS IST MEIN ERNST!«]
Einen Augenblick tat sich gar nichts, dann gingen die Türen der Port-O-Sans unten am Hügel in perfektem Einklang auf. Klotho kam aus der mit der Aufschrift MÄNNER, Lachesis aus der mit der Aufschrift FRAUEN. Ihre Auren, gleißend grüngolden wie Libellen im Sommer, schimmerten im äschernen Licht des frühen Abends. Sie rückten zusammen, bis ihre Auren sich überlappten, dann kamen sie langsam bergauf, während ihre weißgekleideten Schultern sich fast berührten. Sie sahen wie zwei ängstliche Kinder aus.
Ralph drehte sich zu Lois um. Seine Aura loderte immer noch. [»Bleib hier.«]
[»Ja, Ralph.«]
Sie ließ ihn fast den Hügel hinuntergehen, dann nahm sie allen Mut zusammen und sprach ihn an.
[»Aber ich werde versuchen, Ed aufzuhalten, wenn du es nicht tust. Das ist mein Ernst.«]
Selbstverständlich, und ihre Tapferkeit rührte ihm das Herz… aber sie wußte nicht, was er wußte. Hatte nicht gesehen, was er gesehen hatte.
Er sah einen Moment zu ihr, dann ging er zu den beiden kleinen kahlköpfigen Ärzten, die ihn mit ihren leuchtenden, ängstlichen Augen betrachteten.
Lachesis, nervös: [Wir haben Sie nicht belogen – haben wir nicht.]
Klotho, noch nervöser (falls das überhaupt möglich war): [Deepneau ist auf dem Weg. Sie müssen ihn aufhalten, Ralph -Sie müssen es wenigstens versuchen.]
Tatsache ist, ich muß gar nichts, und das sieht man euren Gesichtern an, dachte er. Dann drehte er sich zu Klotho um und stellte zufrieden fest, daß der kleine kahlköpfige Mann vor seinem Blick zurückschreckte und die dunklen, pupillenlosen Augen niederschlug.
[»Ist das so? Auf dem Dach des Krankenhauses haben Sie uns gesagt, wir sollten uns von Ed Deepneau fernhalten, Mr. K. Das haben Sie ausdrücklich betont.«]
Klotho wand sich unbehaglich und rang die Hände.
[Ich…das soll heißen, wir… können uns irren. Diesmal haben wir uns geirrt.]
Aber Ralph wußte, geirrt war nicht der passende Ausdruck dafür; einer Selbsttäuschung erlegen wäre besser gewesen. Er wollte sie deshalb beschimpfen – oh, um die Wahrheit zu sagen, er wollte sie beschimpfen, weil sie ihn überhaupt erst in diese beschissene Lage gebracht hatten -, stellte aber fest, daß er es nicht konnte. Denn dem alten Dor zufolge hatte sogar ihre Selbsttäuschung dem Plan gedient; der Umweg nach High Ridge war aus irgendeinem Grund gar kein Umweg gewesen. Er begriff nicht, warum oder wie das sein konnte, hatte aber vor, es herauszufinden, wenn er es herausfinden konnte.
[»Vergessen wir das vorerst einmal, meine Herren, und unterhalten uns darüber, warum das alles passiert. Wenn ihr Hilfe von mir und Lois wollt, solltet ihr mir das besser sagen.«]
Sie sahen einander mit ihren großen, ängstlichen Augen an, dann wieder Ralph.
Lachesis: [Ralph, bezweifeln Sie, daß die vielen Menschen wirklich sterben werden? Denn wenn ja -]
[»Nein, aber ich habe es satt, daß sie mir andauernd vor Augen geführt werden. Wenn ein Erdbeben in dieser Gegend stattfinden würde, das dem Plan dient, und wenn die Zahl der Opfer bei zehntausend statt bei zweitausend und ein paar Zerquetschten liegen würde, dann würdet ihr beiden doch nicht einmal mit der Wimper zucken. Also, was ist so Besonderes an der Situation? Sagt es mir!«]
Klotho: [Ralph, wir machen die Regeln ebensowenig wie Sie. Wir haben gedacht, Sie wüßten das.]
Ralph seufzte.
[»Ihr weicht schon wieder aus, und damit vergeudet ihr nur eure eigene Zeit.«]
Klotho, unbehaglich: [Nun gut, vielleicht war die Version, die wir Ihnen geschildert haben, nicht völlig klar, aber die Zeit war knapp, und wir hatten Angst. Und Sie müssen wissen, was auch passiert, diese Menschen werden sterben, wenn Sie Ed Deepneau nicht aufhalten!]
[»Vergeßt sie alle vorerst mal; ich will nur über eine Person etwas wissen – diejenige, die dem Plan gehört und nicht übergeben werden kann, nur weil ein nicht eingeplanter Pisser mit einem Kopf voll lockerer Schrauben und einem Flugzeug voller Sprengstoff daherkommt. Wen könnt ihr dem Zufall nicht übergeben? Es ist Ms. Day, richtig? Susan Day.«]
Lachesis: [Nein. Susan Day gehört dem Zufall. Sie geht uns nichts an, unterliegt nicht unserem Einfluß.]
[»Wer dann?«]
Klotho und Lachesis wechselten wieder einen Blick. Klotho nickte stumm, dann wandten sie sich beide wieder Ralph zu. Wieder streckte Lachesis die ersten beiden Finger der rechten Hand in die Höhe und erzeugte das Pfauenrad aus Licht.
Diesmal sah Ralph aber nicht McGovern, sondern einen kleinen Jungen mit blondem Haar, das ihm strähnig in die Stirn hing, und einer hakenförmigen Narbe auf dem Nasenrücken. Ralph wußte sofort, wer es war – der Junge aus dem Keller von High Ridge, der mit der mißhandelten Mutter. Der ihn und Lois Engel genannt hatte.
Und ein kleines Kind wird sie führen, dachte er völlig verblüfft. O mein Gott. Er sah Klotho und Lachesis ungläubig an.
[»Verstehe ich das richtig? Dies alles dreht sich nur um diesen kleinen Jungen?«]
Er rechnete mit weiteren Ausflüchten, aber die Antwort von Klotho war einfach und direkt: [Ja, Ralph.]
Lachesis: [Er hält sich gerade im Bürgerzentrum auf. Seine Mutter, deren Leben ihr heute morgen auch gerettet habt, bekam vor einer knappen Stunde einen Anruf von ihrer Babysitterin, daß sie sich schlimm an einem Stück Glas verletzt hat und heute abend doch nicht auf das Kind aufpassen kann. Da war es selbstverständlich schon zu spät, einen anderen Babysitter zu finden, und diese Frau ist seit Wochen fest entschlossen, Susan Day zu sehen… ihr de Hand zu schütteln, wenn möglich, sie sogar zu umarmen. Sie vergöttert diese Day.]
Ralph, der sich an die verblassenden Blutergüsse in ihrem Gesicht erinnern konnte, stellte fest, daß er Verständnis für diese Vergötterung hatte. Etwas anderes verstand er noch besser: Die Verletzung des Babysitters war kein Zufall gewesen. Etwas war entschlossen, den kleinen Jungen mit den blonden Strähnen und den vom Rauch geröteten Augen ins Bürgerzentrum zu bringen, und war bereit, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um es zu erreichen. Seine Mutter hatte ihn nicht mitgenommen, weil sie eine schlechte Mutter war, sondern auch nur ein Mensch, wie alle anderen. Sie hatte ihre große Chance, Susan Day kennenzulernen, nicht verpassen wollen, das war alles.